Wahrheit oder Sylt - Jacob Walden - E-Book

Wahrheit oder Sylt E-Book

Jacob Walden

4,0

Beschreibung

Vier Freunde, eine schicksalhafte Begegnung. Drei Tage und Nächte in den Sylter Dünen. Zwei geheimnisvolle Mädchen. Ein verhängnisvolles Spiel … Sonne, Meer, Strand und Sex. Ein exzessives Wochenende in einem luxuriösen Ferienhaus in den Dünen. Vier Freunde und viele Geheimnisse. Was an einem heißen Augusttag als unbeschwertes Spiel beginnt, gerät bald außer Kontrolle und mündet in eine Katastrophe …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 323

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,0 (2 Bewertungen)
0
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Jacob Walden

Wahrheit oder Sylt

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

     

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2021 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © machh / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6808-7

Prolog

Sylt

Siebeneinhalb Monate danach

Seinen Trolley hinter sich her ziehend, verlässt er das winzige Flughafengebäude und tritt in den bleichen Sonnenschein, der sich noch nicht wie Frühling anfühlt. Kalt und feucht weht ihm der Wind ins Gesicht. Er fröstelt. Stets ist er aufs Neue überrascht, dass es hier so viel kälter ist als in Zürich – oder es einem zumindest so vorkommt. Wie so vieles anders scheint, als es ist. Die Wahrheit interessiert auf Sylt nicht, nur der Schein, der schöne Schein.

»Verdammte Nordsee, verdammte Insel«, murmelt er. Ginge es nach ihm, wäre sein erstes Mal auf Sylt vor zehn Jahren auch sein einziges Mal geblieben. Und eine sündhaft teure Villa in diesem grausigen Kampen hätten sie schon gar nicht gekauft.

Aber es geht nicht nach ihm, sondern nach Monika, seiner Frau, seiner Gattin, Herrin und Gebieterin, Walküre und Xanthippe.

Monika liebt die Insel, die raue Nordsee, den endlos langen Strand und den steten Wind, der ihr den Kopf frei blase, wie sie nicht müde wird zu betonen, und natürlich die exklusiven Boutiquen und Restaurants, in denen sie ihre Kreditkarten strapaziert, und die »Hobbithäuschen«, wie sie die reetgedeckten Anwesen nennt.

Ihm persönlich ist es schleierhaft, warum so viele Leute einen Narren an Sylt gefressen haben, trotz des unberechenbaren Wetters, das er nur als lästig empfindet.

Normalerweise fliegt er ausschließlich mit Monika und – sofern diese Lust hatten – seinen halbwüchsigen Kindern zwei Wochen in den Sommerferien hierher. Zum Glück kann er diese Aufenthalte mit geschäftlichen Treffen verbinden, sonst hätte er längst Depressionen bekommen.

Doch heute ist Monika weit weg und er trotzdem hier, tatsächlich das erste Mal ohne sie. Das hat sie nun davon. Hinter ihm kommt seine Praktikantin auf hohen Absätzen aus dem Flughafengebäude getrippelt.

Angelina ist sehr jung, sehr blond und sehr sexy und erst seit Kurzem in seiner Abteilung. Kurz entschlossen hat er sie gefragt, ob sie ihn auf eine Dienstreise nach Sylt begleiten wolle. Zunächst hat sie sich geziert. Fast schien es, als habe sie etwas gegen Sylt, was er ja gut nachvollziehen könnte. Im Grunde findet er mädchenhafte Zurückhaltung sehr erotisch. Es macht die Reise umso reizvoller. Sein Jagdinstinkt ist nach langer Zeit wieder zum Leben erwacht. Wann hat er dieses Gefühl das letzte Mal verspürt, diese Begierde gegen Widerstände?

Er hat ihr von seinem luxuriösen Anwesen in Kampen erzählt, von teuren Restaurants, und in Aussicht gestellt, ihr als Dankeschön für ihre Begleitung eine kleine Aufmerksamkeit von Bulgari zu schenken. Außerdem könne er sie dann gleich bei seinen dortigen Geschäftsfreunden und einigen besonderen Kunden einführen, das sei doch eine tolle Gelegenheit für sie. Daraufhin willigte sie mit einem verlegenen Lächeln ein.

Wenn alles glatt liefe, würde er noch etwas ganz anderes einführen, denkt er und grinst, als sie auf die Rückbank des Taxis gleiten.

»Kampen«, instruiert er den Fahrer. »Sie können uns am Ende des Wattweges absetzen.«

Die Reise ist nicht geplant gewesen, aber notwendig geworden. Er hat nicht mehr einfach so tun können, als sei alles in Ordnung. Seit zwei Monaten ist die halbjährliche Abrechnung seines Hausverwalters überfällig. Wahrscheinlich ist dieser schmierige Typ einfach abgehauen. Er hatte bei dem Kerl von Anfang an ein ungutes Gefühl gehabt, aber auf dieser Insel war es ja leichter, einen echten Piratenschatz zu finden als gutes Personal.

Angelina seufzt versonnen und drückt ihr Gesicht an die Scheibe, obwohl sie noch nicht einmal das Flughafengelände verlassen haben. Während des Flugs sind sie mithilfe einer kleinen Flasche Champagner zum Du übergegangen. Das ist doch schon mal ein Schritt in die richtige Richtung, denkt er. Er wird ihr natürlich eines der Gästeschlafzimmer anbieten. Sie solle sich das beste aussuchen, wird er sagen, das schönste sei gerade schön genug für sie. Sie wird leicht erröten, so wie immer, wenn er ihr ein Kompliment macht. Und nach dem Dinner in der Sansibar (vielleicht Fondue? Oder doch besser ein Menü? Hauptsache, viel Wein dazu!) würde das Bett im Gästezimmer kalt bleiben. So sein Plan.

Die Wattseite Kampens liegt ausgestorben da, wie fast immer. Er kennt es gar nicht anders. Selbst im Hochsommer ist kaum jemand auf den Straßen, in den Gärten, vor den Häusern zu sehen. Doch nun wirkt alles noch viel verlassener. Als hätte eine nukleare Katastrophe alles Leben vernichtet und nur die Kulissen stehen gelassen, denkt er.

Das Schloss des taubenblau gestrichenen Hoftors klemmt. Korrosion, Flugrost, lange nicht geölt? Er runzelt die Stirn. Doch was hat er erwartet? Warum ist er denn hergekommen, mal abgesehen davon, um seine Praktikantin flachzulegen? Auch Angelina sieht mit Befremden auf das verwelkte Unkraut vom Vorjahr, das sich vor dem Hoftor sanft im Wind wiegt.

Höchstwahrscheinlich hat der Hausverwalter bei ihm und seinen anderen Kunden alles ausgeräumt, was sich zu Geld machen ließ, und sich nach Kolumbien oder Mexiko abgesetzt. Der Typ hatte ihm mal erzählt, woher sein Vater stammt, aber es interessierte ihn so wenig, dass er es im selben Augenblick schon wieder vergessen hatte.

Trotz dieser Erwartungen verschlägt es ihm fast den Atem, als das Hoftor endlich quietschend aufschwingt. Der einstige Golfrasen hat sich in eine buschige Wiese verwandelt. Die Hecken haben zig wilde Triebe gebildet, armlang zittern die Zweige im Wind. Das Fähnchen, das das Hole seines kleinen Putting-Greens markiert, ist umgefallen. Ein undefinierbarer Haufen, der sich bei näherem Hinsehen als ein kopfloser ausgeweideter Vogel entpuppt, liegt mitten in der Einfahrt.

Scheiß Katzen, elende Drecksviecher, denkt er und dreht Angelina schnell in eine andere Richtung. Ihr Gesichtsausdruck wird mit jeder Sekunde skeptischer, ihr sonst wie in Stein gemeißeltes Lächeln ist mehr und mehr nervöser Anspannung gewichen.

Er schämt sich. Verdammt, da bezahlt er diesem Carlos ein kleines Vermögen, jahrein, jahraus, damitimmer alles picobello gepflegt ist, für den Fall, dass jemand spontan vorbeikommt, und nun, da dieser Fall das erste Mal überhaupt eintritt … Aber was hat er auch erwartet?

Hastig bugsiert er das Mädchen weiter in Richtung Haustür. Doch auf halber Strecke erstarrt er. Es muss etwas passiert sein, da ist er sich plötzlich ganz sicher. So einfach, dass Carlos sich abgesetzt hat, kann des Rätsels Lösung nicht sein. Das würde nicht erklären, was er jetzt sieht. Er lässt Angelina stehen und geht langsam, Schritt für Schritt, auf den Carport zu.

Der nicht mehr ganz neue – und deshalb nach Sylt degradierte – Porsche Cayenne steht da wie immer im Carport zwischen dem halben Klafter Kaminholz und den Mülltonnen, und doch ist etwas anders, unnormal. Sein Herz pocht. Angst legt sich wie zu enge Metallbänder um seinen Brustkorb.

Er starrt auf den vor Staub und Salz stumpf gewordenen Lack, auf den Möwendreck auf Dach und Scheiben. Verdammt, was haben diese geflügelten Ratten überhaupt in seinem Carport zu suchen? Ist es nicht mehr als genug, wenn sie draußen alles voll kacken? Was wird er im Inneren des Wagens entdecken? Ist da nicht irgendetwas hinter den abgedunkelten Scheiben des Fonds?

»Warum steht denn die Autotür offen?«, hört er Angelina hinter sich fragen. Ihre Stimme kiekst, und als er sich zu ihr umdreht, erkennt er ein nervöses Zucken in ihrem Gesicht. Just in diesem Moment flattert ihm etwas ins Gesicht, er schreit auf, schlägt um sich, taumelt zurück, eine Möwe fliegt kreischend in Richtung Watt davon. Sein Herz rast wie wahnsinnig. Er starrt auf die offen stehende Tür, auf den Vogelkot, der auch die hellbraunen Ledersitze über und über bedeckt, auf die Schatten auf den Rücksitzen. Und dann riecht er es. Er muss nicht mehr nachsehen, er weiß, was er im Inneren des Wagens sehen wird.

»Hast du dich verletzt?« Ihre Stimme scheint weit weg zu sein, er nimmt sie kaum wahr. Sie steht neben der offenen Fahrertür. Er will sie warnen, er will sie beschützen vor dem zu erwartenden Anblick, er stürzt zu ihr, doch zu spät, er kann sie nicht mehr davon abhalten, einen Blick in den Wagen zu werfen. Er muss sich abstützen, um nicht zusammen mit Angelina in den Wagen hineinzustürzen, seine Hand landet in einem dunklen, verkrusteten Fleck auf der Sitzfläche des Fahrersitzes, hastig rappelt er sich auf und sieht nun, was die ewig gierigen Möwen von den Gestalten auf den Rücksitzen übrig gelassen haben. Und dann fängt er an zu schreien, wie er noch nie zuvor in seinem Leben geschrien hat.

1

Irgendwo

Irgendwann

Die Schwärze vergraut. Schatten bilden sich und werden zu Konturen, zu Gegenständen.

Er blinzelt. Vorsichtig hebt er den Kopf.

Dröhnen.

Flackern.

Wo ist er?

Der Raum ist größer, als er überblicken kann. Unübersichtlich. Rechts ein Fenster, Jalousien mit horizontal gestellten Lamellen, dahinter nur Himmel, intensiv blau, unnatürlich blau. Links eine Glasfront, dahinter kaltes Neonlicht. Außerdem: eine Trennwand, eine Art Paravent. Niedrige Schränke, ein Tresen, leer.

Er ist sich absolut sicher, diesen Raum noch nie in seinem Leben gesehen zu haben.

Er lässt den Kopf wieder sinken. Das Dröhnen hört auf, das Flackern erlischt. Er versucht, seine nächste Umgebung zu erfassen, ohne noch einmal den Kopf heben zu müssen. Geräte. Schläuche. Kabel. Digitale Anzeigen, leuchtende Zahlen und Buchstaben, scheinbar zusammenhangslos.

Er stöhnt. Wo, verdammt, ist er hier gelandet? Und wie? Und warum? Er sucht in seiner Erinnerung nach einem Punkt zum Festhalten, zum Anknüpfen, Rekonstruieren.

Unfassbar laut explodiert das Gleiten der sich öffnenden Glastür in seinem Kopf. Ein Impuls fordert, die Augen zu schließen, sich zu verschließen vor dem unbekannten Ort, doch er kann nicht, ganz im Gegenteil, mit vor Angst geweiteten Augen starrt er in Richtung der Tür, von der sich nun Schritte auf ihn zubewegen.

2

Eine Frau mit graublonden Haaren beugt sich über ihn. Sie trägt ein sackförmiges hellblaues Oberteil, das jegliche Hinweise über ihre Figur verbirgt. Ihr aufgeschwemmtes Gesicht sieht müde aus. Die Augenringe sind dunkel und tief wie bei einem Junkie.

»Ruhig«, sagt sie mit rauchiger Stimme und legt eine kühle Hand auf seinen Unterarm. Er zuckt zusammen. »Alles in Ordnung.«

Sein Blick wird allmählich klarer. Er erkennt immer mehr Einzelheiten. Das schmucklose, weiß getünchte Zimmer, pastellfarbener Linoleumboden, ein mit transparenter Plastikfolie abgedecktes Krankenhausbett, dessen Fußende hinter dem Paravent hervorschaut. Die Zahlen, Buchstaben und Linien auf den Monitoren, die sich in unendlichen Zacken und Wellen wiederholen.

Nun bemerkt er auch den Schlauch, der in seiner Armbeuge verschwindet, eine Art Fingerhut an seinem Zeigefinger und einen Fremdkörper an seinem Penis. Vorsichtig tastet er an dem Fremdkörper herum und erkennt mit Schrecken, dass dieser sich nicht nur an seinem Penis befindet, sondern sogar in ihn hineinführt.

»Was ist passiert?«, bringt er mühsam hervor. Er spürt, wie sich Panik in ihm hochschaukelt, wie er innerlich hektisch wird, auch wenn sich sein Körper wie gelähmt anfühlt.

»Wie bin ich hierhergekommen?«

»Wir haben gehofft, Sie könnten uns das erzählen«, antwortet die Frau. »Im Moment wissen wir nicht einmal Ihren Namen.«

Er öffnet den Mund, selbstverständlich, seinen Namen, klar. Wenn er schon sonst nichts zu Protokoll geben kann, dann doch zumindest … Er sieht in die erwartungsvollen Augen der Krankenschwester, die auf seinen Mund starren, der den Namen ausspucken will, seinen Namen. Doch der Mund bleibt still.

»Ich hole den Arzt«, hört er schließlich die Schwester sagen. Ihre Stimme hat sich verändert. Sie wirkt jetzt abweisend, verächtlich, feindselig, oder kommt ihm das nur so vor?

»Helen hier«, sagt sie nach einigen Sekunden in ein schnurloses Telefon, das sie aus der Tasche ihres unförmigen Oberteils gezogen hat. »Er ist wach.«

3

Der Arzt ist noch jung, keine 30, schätzt er. Verschlafen und übernächtigt, die schlecht geschnittenen braunen Haare stehen in alle Richtungen. Der weiße Kittel und das Stethoskop verleihen ihm eine Aura von Autorität, die jedoch nicht vollständig seine Milchbubigkeit überdecken kann.

»Waldmann«, stellt er sich vor. »Ich bin der diensthabende Internist.« Erwartungsvoll sieht er ihm in die Augen. »Können Sie mir sagen, wie Sie heißen?«

»Ich weiß es nicht.« Flüstern, mehr nicht. Sein Mund fühlt sich an, als hätte er einen Prittstift gegessen.

Waldmann nickt. »Wie geht’s Ihnen?«

»Kopfweh. Durst.«

Waldmann nimmt eine Flasche vom Nachttisch und gießt Wasser in einen daneben stehenden Becher, auf den er einen Deckel mit schnabelförmiger Öffnung steckt.

»Nicht aufsetzen«, mahnt er. »Ich helfe Ihnen beim Trinken.«

Waldmann hält ihm den Becher an die Lippen. Er hebt vorsichtig den Kopf, nur ein Stückchen. Das Wasser in seinem Mund fühlt sich an, als müsse es dort eine Feuersbrunst löschen.

»Wissen Sie, wo Sie sind?«

»Krankenhaus?«

»Gut! Sehr richtig!«, lobt Waldmann. »Und zwar auf der Intensivstation. Aber keine Angst, bislang sieht alles gut aus. Wir haben uns allerdings etwas Sorgen um Sie gemacht.« Wieder Pause und erwartungsvoller Blick. Waldmann scheint darauf zu warten, dass er sich an irgendetwas erinnert, etwas erklären kann. Doch er kann nicht. Er hat keine Ahnung, nur einen alles verschleiernden Nebel im Kopf und diese Angst, die immer beklemmender wird.

»Wissen Sie, in welcher Stadt wir uns befinden?«

»Hamburg?«

»Warum Hamburg? Kommen Sie aus Hamburg?«

Er sieht den Arzt unsicher an. »Weiß nicht.«

»In Hamburg sind wir nicht. Sonst eine Idee?«

»Nein.«

»Vielleicht ungefähr die Gegend? Harz? Bodensee? Sauerland?«

Es summt kurz in seinem Kopf, ein Vibrieren, dann Pfeifen im linken Ohr. Schwindel. Er schließt die Augen. Blitzen. Licht, Sonne, ein Strand, Wasser, Wellen.

»Sylt?«, haucht er.

»Sehr gut«, lobt Waldmann erneut. »Und können Sie mir auch sagen, wie Sie auf Sylt ins Krankenhaus geraten sind?«

Wie in einem dunklen Keller, in dem die einzige Glühbirne durchgebrannt ist, tastet er sich an den spärlichen Bildern entlang, die der Schleier in seinem Kopf gerade freigibt.

Haus in den Dünen. Gesichter, die ihm vage bekannt vorkommen. Reden. Lachen. Geschrei. Aufregung. Wut. Etwas ist passiert, ist aus dem Ruder gelaufen. Er versucht, weiter in seine Erinnerung vorzudringen, doch je mehr er sich anstrengt, desto mehr verschwimmt alles in undurchsichtigem Nebel.

»Kommt die Erinnerung zurück?«, hört er den Arzt von weit entfernt fragen. »Wissen Sie wieder, wie Sie heißen?«

Er schüttelt den Kopf, was dieser mit erneutem Dröhnen quittiert. Ohnehin fühlt sich sein Kopf an, als wäre er viel zu weit weg, fast so, als wäre er durch einen Giraffenhals mit dem Rest des Körpers verbunden.

»Was ist das Letzte, woran Sie sich erinnern können?«, fragt der Arzt.

Schweigen.

»Mit wem sind Sie auf Sylt?«

Gesichter. Bekannte und weniger bekannte. Freundliche. Sympathische. Verzerrte. Abneigung. Ekel. Matze. Unwillkürlich zuckt er zusammen. Schmerz schießt durch seinen Kopf und von dort in den ganzen Körper. Er beginnt zu zittern.

»Freunde«, krächzt er. »Mit ein paar Freunden.«

Waldmann sieht ihn ernst an. »Was ist Ihnen eben eingefallen?«

»Nichts, nur …«

»Ja?«

»Nichts.«

Waldmann nickt langsam.

»Wo wohnen Sie auf Sylt?«

»Ein Haus in den Dünen, mit Reetdach, in der Nähe vom Strand.«

»Hmmm«, macht der Arzt und lächelt milde. »Ich fürchte, das bringt uns nicht wirklich weiter.«

»Hat niemand nach mir gefragt?«

Waldmann sieht ihn einige lange Sekunden stumm an.

»Okay«, sagt er schließlich. Er zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich neben das Bett. »Ich werde Ihnen jetzt erzählen, was wir über die Umstände wissen, die Sie hierher gebracht haben. Unterbrechen Sie mich, wenn das irgendwelche Erinnerungen bei Ihnen wachruft.«

4

»Heute Nacht gegen halb zwei rief eine Frau bei der Rettungsleitstelle an und meldete, dass sich an der Bushaltestelle Schauinsland in Wenningstedt zwei bewusstlose Personen befänden. Bevor die Rettungsstelle nachfragen konnte, legte sie auf, ohne ihren Namen zu sagen. Die Rettungsleitstelle hat versucht zurückzurufen, doch wie sich herausstellte, kam der Anruf von einer Telefonzelle ein paar 100 Meter von der Bushaltestelle entfernt. Die Sanitäter des Rettungswagens fanden Sie und eine weitere Person wie angekündigt bewusstlos im Wartehäuschen liegend vor.«

»Warum Wenningstedt?«

Der Arzt lacht. »Warum nicht? Ist das das Einzige, das Ihnen zu denken gibt?«

»Und warum Bushaltestelle?«

»Vielleicht wollten Sie nach Hause?«, schlägt Waldmann vor.

Schweigen. Ratlosigkeit.

»Setzen Sie sich nicht unter Druck. Meistens kommt die Erinnerung mit der Zeit zurück.« Der Arzt schenkt ihm ein Lächeln, das aufmunternd wirken soll.

»Es war jedenfalls großes Glück, dass Sie so schnell gefunden worden sind. Durch das heftige Gewitter hat es sich stark abgekühlt, und Sie waren nur notdürftig bekleidet.«

»Okay«, sagt er gedehnt. Sein Gehirn ringt um Bilder, Erinnerungen, irgendetwas.

»Die Sanis haben Sie dann hierher in die Nordseeklinik gebracht. In Ihrem Blut fand sich eine Alkoholkonzentration von zweieinhalb Promille. Ihre Zunge wies frische Bissspuren auf, wie sie typischerweise bei Krampfanfällen auftreten. Daher haben wir eine Computertomografie ihres Kopfes durchgeführt, die aber keine auffälligen Befunde erbracht hat. Sie waren einige Stunden in einer tiefen Bewusstlosigkeit.«

»Krampfanfälle? Wie ein epileptischer Anfall?«

»So in der Art. Aber im Rahmen einer schweren Alkoholintoxikation kann man noch nicht von Epilepsie sprechen. Oder ist bei Ihnen ein Epilepsieleiden bekannt?«

Aus dem Nebel in seinem Kopf taucht seine Mutter auf. Sie sieht frisch und erholt und um Jahrzehnte jünger aus als das abstoßende Bild, das er von ihr in seiner Erinnerung behalten hat.

»Als kleines Kind … meine Mutter … sie hat gesagt, dass ich mal einen … Anfall gehabt hätte. Ich sollte das jedem Arzt sagen. Das war ihr ganz wichtig.«

»Na, dann passt ja alles zusammen«, sagt der Arzt nickend. »Vielleicht haben Sie tatsächlich eine niedrigere Krampfschwelle als andere. Und irgendetwas hat dann gestern Abend die Sicherungen durchbrennen lassen.«

»Aber so etwas ist noch nie passiert!«

»Haben Sie gestern etwas anderes als Alkohol konsumiert?«

Er spürt, wie es in seinem Kopf heiß wird.

»Ecstasy, Kokain, Marihuana?«, schlägt Waldmann vor.

»Nein«, flüstert er. »Selbstverständlich nicht.«

»So selbstverständlich ist das überhaupt nicht«, sagt der Arzt und sieht sehr skeptisch aus. »Auf Sylt ist so einiges im Umlauf, vor allem in der Saison. Aber jetzt, da Sie wieder aufgewacht sind, ist es eigentlich auch egal. Zumindest aus medizinischer …«

»Wer noch?«, unterbricht er den Arzt. »Wer war der andere … an der Bushaltestelle?«

»Hmmm«, macht der Arzt nachdenklich, »das darf ich Ihnen nicht sagen. Schweigepflicht, Sie wissen schon.«

»Dann fragen Sie ihn!«, versucht er zu rufen, aber seine Stimme kommt noch immer nicht über ein heiseres Krächzen hinaus. »Sie können ihm von mir erzählen.«

»Ihr«, sagt der Arzt ruhig. »Es ist eine Frau. Und sie ist noch nicht wieder aufgewacht.«

»Wer ist es? Sagen Sie es mir!«

»Wir wissen von ihr genauso wenig wie von Ihnen. Sie hatten beide keine Papiere, keine Handys und auch sonst nichts dabei. Nur die Kleider, die Sie anhatten, und das waren, wie gesagt, auch nicht viele.«

»Wie sieht sie aus?«

»Wenn Ihnen dann ihr Name einfällt, verraten Sie ihn mir dann?«

»Ja. Natürlich.«

»Groß, schlank, etwa Mitte 20. Am auffälligsten sind ihre langen, welligen blonden Haare. Eine richtige Löwenmähne. Und … wie soll ich das jetzt sagen?« Er lacht verlegen. »Ziemlich große Brüste.«

Ein Bild, mehr nicht, das aber deutlich. Kein Name. Nur Gesicht. Gestalt. Er schweigt und zuckt lediglich mit den Schultern.

»Schade«, sagt der Arzt. »Was ist gestern Abend wirklich passiert? Was haben Sie sich alles reingezogen?«

»Ich habe keine Ahnung. Ehrlich!«

Waldmann seufzt und wendet sich zum Gehen.

»Wie geht’s denn jetzt weiter?«, krächzt er dem Arzt hinterher.

»Erst einmal müssen Sie hier bleiben. Aber da Sie jetzt wach sind, können Sie im Laufe des Tages auf die normale Station umziehen. Die Schwester wird Sie vorher vom Vitaldatenmonitor nehmen und Ihnen den Blasenkatheter ziehen. Morgen müssen ein paar Untersuchungen durchgeführt werden. Wenn alles okay ist, werden Sie in zwei, maximal drei Tagen draußen sein. Bis dahin werden sich sicher auch Ihre Freunde gemeldet haben. Dann werden wir bestimmt erfahren, wer Sie überhaupt sind.«

Es sollte beruhigend klingen, doch bewirkt das Gegenteil. Der Arzt lässt die Glastür hinter sich offen. Vom Flur ist ein Murmeln zu hören, leise Stimmen, unverständlich, doch irgendwie bedrohlich. Er ist sich sicher, dass die Stimmen über ihn reden.

5

Ein gebeugtes, hageres Männchen manövriert ihn in seinem Bett durch Gänge, in denen er sofort die Orientierung verliert.

Fahrstuhl. Mehr Gänge. Türen. Eine davon öffnet das Männchen, schiebt ein leeres, mit Plastikfolie überzogenes Bett hinaus und ihn hinein.

»Schwester kommt gleich. Alles Gute.« Das Männchen nimmt eine graue Mappe vom Fußende des Bettes und geht. Die Tür schließt sich, absolute Stille.

Auf einem Tisch in Reichweite eine Flasche Mineralwasser, ein eingeschweißter Plastikbecher. Begrüßungsritual, denkt er, wobei ihn eine Woge aus Angst überspült. Das abstrakte Aquarell über dem Tisch scheint auf ihn zuzukommen. Billiger Druck, schmuckloser weißer Rahmen. Blau und Orange verschwimmen zu undefinierbaren Formen und Figuren. Das Orange flackert. Das Orange droht. Das Orange schreit ihn an.

Er stöhnt und muss aufstoßen. Ein widerlich süß-saurer Geschmack flutet seinen Mund. Und plötzlich fühlt er etwas, eine Ahnung von Erinnerung. Gleißende Sonne, schnelle Bewegungen, schrilles Lachen, ein Impuls, Ambivalenz. Und Angst, immer wieder Angst.

6

Er taucht durch ein violettes Meer, in dem orangefarbene Wellen pulsieren. Seine Haut ist so glatt, dass das Violett nicht ganz zu ihm vordringen kann, sondern Millimeterbruchteile über seiner Haut abperlt.

Es ist angenehm in diesem Meer, ruhig und kühl.

Er ist unantastbar.

Unberührbar.

Mittendrin und doch wie in einem Kokon vor allem und jedem geschützt.

Aber hier gibt es sowieso nichts anderes als ihn und das pulsierende violett-orangefarbene Meer.

Er schreckt hoch und merkt, dass er einige Stunden geschlafen haben muss. Das Licht vor dem Fenster hat sich verändert. Unter dem Aquarell steht ein Tablett mit verschiedenen abgedeckten Tellern.

Dann erst bemerkt er den Mann. Er ist bullig wie ein Schwergewichtsboxer. Auf seiner Glatze glitzern Schweißperlen. Er steht neben dem Bett und blättert in einer Akte. Weiße unförmige Kleidung mit Namensschild, Blutdruckmanschette und Stethoskop um den Hals. Ein Pfleger.

»Na, ausgeschlafen?«, fragt der Mann.

Kopfschütteln. Das geht jetzt besser. Kein Dröhnen mehr. Doch sein Mund ist noch immer staubtrocken.

»Durst«, flüstert er.

Wortlos befreit der Mann den eingeschweißten Becher von der Plastikfolie, öffnet die Wasserflasche und gießt ihm ein. Mühsam rappelt er sich hoch und nimmt mit beiden Händen den Becher in Empfang. Gierig saugt er das Wasser ein.

»Gut gefeiert gestern, was?«

»Weiß nicht.«

»Ganz schön hinüber biste gewesen, als wir dich heut Nacht eingesammelt haben.«

Er starrt irritiert auf den spöttisch grinsenden Mund des Pflegers.

»Ich war der eine Sani«, fährt dieser fort. »Nebenjob. Sonst reicht das Geld nicht für die Insel der Schönen und Reichen.« Er malt ein paar Anführungszeichen in die Luft. »Solche wie dich haben wir in der Saison fast jeden Tag hier. Aber Junge, Junge, du warst mehr tot als lebendig. Und deine Freundin auch. Was habt ihr euch nur reingepfiffen, um alles in der Welt?«

»Ich weiß es nicht«, haucht er. »Ich kann mich an nichts erinnern.« Sani. Das Wort hallt in seinem Kopf nach. Sani, Sani, Sani.

»Schade auch, hätte mich ja mal interessiert.« Der Pfleger lacht. »Übrigens: Deine Schwester ist da. Soll ich sie reinlassen?«

7

Er hat keine Schwester. Auch wenn er momentan nicht viel weiß, das weiß er. Doch der Duft ist angenehm, vertraut. Er weiß, dass es Aromen von Jasmin, Pfirsich und Sandelholz sind. Er hat es einmal gegoogelt, vor Jahren, verliebt, unglücklich. Ein Parfum. Sunflowers.

Das Gesicht des Mädchens, das jetzt neben seinem Bett steht, kommt ihm vage bekannt vor. Kennt er sie? Sollte er sie kennen? Sani, Sani, Sani. Das Wort wabert in seinem Kopf. Dann trifft ihn die Erkenntnis wie ein Donnerschlag.

»Sunny!«, flüstert er.

»Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht, Sebastian!«, sagt sie und streicht ihm über die Wange.

»Ich lass euch dann mal alleine«, hört er den Pfleger aus dem Hintergrund. Das Mädchen bedankt sich höflich. Sekunden später fällt die Tür ins Schloss. Stille.

Das Mädchen hat lange, glatte blonde Haare, ist schlank und mag etwa 18 sein. Sie sieht übernächtigt aus. Dunkle Ringe zeichnen sich trotz Make-up unter ihren Augen ab.

»Sunny!«, sagt er nochmal.

Das Mädchen verzieht den Mund. »Das muss jetzt doch nicht mehr sein. Eigentlich möchte ich diesen Namen nie mehr hören.«

»Aber du bist Sunny, oder?«

»Ich bin Luna. Ich hab mich nur Sunny genannt. Erinnerst du dich nicht?«

»Nein!«

Sie runzelt die Stirn. »An was kannst du dich überhaupt erinnern?«

»Sylt. Ein Haus. Dünen. Ein paar Leute.«

»Ja und?«

»Nichts. Gar nichts. Bis eben wusste ich nicht einmal, dass ich Sebastian heiße. Kommt mir auch total fremd vor.«

»Nun ja.« Luna lacht leise. »Das könnte daran liegen, dass du gar nicht Sebastian heißt.«

»Aber …«

»Das war nur für den Pfleger«, flüstert sie. »Die wollten als Erstes deine Daten haben, Versichertenkarte und so. Ich hab gesagt, du hättest keine Karte, weil du privat versichert bist, und dass du Sebastian Krämer heißt und in Berlin wohnst.«

Er starrt sie verständnislos an. »Und warum das alles? Und wie heiße ich denn nun wirklich?«

»Karsten«, sagt Luna. »Du heißt Karsten. Und glaub mir, es ist besser, wenn niemand deinen richtigen Namen erfährt.«

»Warum?« Seine Stimme kiekst aufgeregt.

»Pst«, zischt Luna. »Nicht so laut. Der Pfleger meinte, du bräuchtest absolute Ruhe und dürftest dich nicht aufregen. Wenn du nicht ruhig bist, schmeißt er mich gleich wieder raus.«

»Karsten Straußberger«, flüstert Karsten. »Ich bin Karsten Straußberger, oder?«

Luna nickt. »So sieht’s aus.«

»Was ist passiert? Warum bin ich hier?«

»Du hattest einen Anfall.«

Karsten wartet auf weitere Ausführungen, doch Luna schweigt.

»Und warum bist du meine Schwester?«

»Sonst würden sie mir doch gar nichts erzählen. Wahrscheinlich dürfte ich gar nicht zu dir.«

»Clever.«

»Danke.«

Sie sieht hübsch aus, wenn sie lächelt, denkt er.

»Was ist alles geschehen gestern Abend?«, fragt Karsten. »Es war doch gestern? Oder?«

Luna nickt. Einen Augenblick lang scheint sie nachzudenken.

»Jetzt sag schon!«, drängt Karsten. »Hilf mir! Bitte!«

»Wir haben Party gemacht. Ziemlich viel getrunken. Flaschendrehen gespielt. Und dann ist alles außer Kontrolle geraten.«

Das Flackern. Es kommt schlagartig und aus dem Nichts. Ein eigenartiger Geruch sticht Karsten in der Nase. Eine bleierne Müdigkeit überfällt ihn. Luna verschwimmt vor seinen Augen, und Karsten taucht in bodenlose Schwärze.

8

Bremen. Stadtwerder

Davor

Ein Hauch von Verwesung. Süßlich und modrig. Er stieg aus der Kanalisation durch die Gullydeckel empor, vereinigte sich mit dem Geruch der Weser, die so wenig Wasser führte wie noch in keinem Sommer zuvor, und waberte schwer in der schmierigen Schwüle des Hochsommernachmittags. Über das Blau des Himmels hatte sich ein angegrautes Weiß gelegt, das trotz des Eindrucks von Schmutzigkeit grell in den Augen stach.

Hitze, Stille. Lethargisch, atemlos. Warten auf den großen Knall, das reinigende Gewitter, den erlösenden Regen.

Es hatte seit Wochen keinen Tropfen geregnet. Jeden Tag knallte die Sonne auf die Stadt und ließ die Menschen schmoren wie in einem Dampfgarer. Die Luft erhitzte sich auf fast 40 Grad im Schatten, und in den Nächten kühlte es kaum ab. Es wurde viel schwadroniert von einem Jahrhundertsommer, von Tropenhitze und Saharawinden. Jeden Tag meldeten die Medien neue Hitzerekorde und brachten Schauergeschichten von den Opfern der Temperaturen.

13. August, ein Donnerstag, Bremen.

An jenem Tag begann etwas, das wenig später Karstens Leben in Davor und Danach zerteilen wird wie mit einer Rasierklinge. Wie ein mit militärischer Präzision gezogener Scheitel.

Doch das weiß er in diesem Moment noch nicht, so wie Karsten im Moment sehr viel nicht weiß.

Karsten saß mit Lorenz direkt an der Weser am Strand des Café Sand und schwitzte. Abends wehte hier immer eine leichte Brise vom Fluss her. Doch jetzt am Nachmittag brannte die Sonne. Das Bier in den kleinen braunen Flaschen wurde schneller warm, als Karsten und Lorenz es trinken konnten.

Lorenz’ Handy piepste. »Die Mädels kommen«, sagte er nach einem kurzen Blick aufs Display. »Haben eine Überraschung für uns.«

»Aha. Und was?«

»Keine Ahnung. Überraschung eben.«

Lorenz und Karsten waren Freunde seit dem Kindergarten. Nach dem Abitur war Lorenz nach Heidelberg gezogen, um BWL zu studieren. Karsten war in Bremen geblieben und hatte halbherzig ein Jurastudium begonnen. Karsten sagte sich, dass die Entfernung ihre Freundschaft nicht verändert hätte, aber im Grunde wusste er, dass er sich da etwas einredete.

Nun waren Semesterferien. Lorenz war nach Bremen gekommen, um seinen Eltern Miriam vorzustellen, ein Mädchen, mit dem er seit Beginn des Sommersemesters zusammen war. Doch seine Eltern hatten den angekündigten Besuch vergessen und waren zum Golfen nach Schottland geflogen.

Wollte man Lorenz’ Eltern in einem Roman charakterisieren, dann müsste man nur diese Story erzählen, aber vermutlich würden dann alle denken: wie unrealistisch! Aber genau so waren Lorenz’ Eltern eben. Das hatte Karsten gedacht, als Lorenz und Miriam plötzlich vor ihm an der Gartenpforte standen.

Der Garten lag am Rande eines riesigen Parzellengebiets auf dem Stadtwerder, einer lang gestreckten Flussinsel in der Weser, mitten in Bremen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es den Gartenbesitzern wegen der Wohnungsnot erlaubt gewesen, kleine Häuser zum dauerhaften Wohnen hier zu bauen.

Die sogenannten Kaisenhäuser, benannt nach dem damaligen Bremer Bürgermeister Wilhelm Kaisen, standen noch immer. Wenn ein Eigentümer auszog oder starb, mussten sie eigentlich abgerissen werden. Fünf Jahre nach dem Tod von Karstens Großvater hatte sich noch keine Behörde gemeldet, also stand das Haus nach wie vor. Der Garten war, da sich niemand um ihn kümmerte, auf malerische Weise zugewachsen und verwildert, was gegen die Vorschriften des Kleingartenvereins war, aber zum Glück niemanden interessierte.

Karsten und seine Freundin Franziska verbrachten hier die heißen Augustwochen. Lorenz und Miriam mussten sich nicht lange bitten lassen und gesellten sich dazu.

Karsten wusste nicht, wo sein Vater den Sommer verbrachte, er tauchte jedenfalls nicht auf, und das war Kars­ten auch herzlich egal. Sein Vater ertrug es nicht, sich zu Hause in Bremen aufzuhalten, insbesondere nicht in dem großen alten Haus in Schwachhausen, in dem sich seine Frau das Leben genommen hatte, was er als Verrat empfand und als eine besonders niederträchtige Weise, ihn zu verlassen.

Bereits kurz nach ihrem Selbstmord, der in der besseren Bremer Gesellschaft für viel Klatsch und Tratsch gesorgt hatte, zog er sich von seiner Eigenschaft als Partner einer großen Kanzlei für Wirtschaftsrecht zurück.

Mit Vitamin B und dank des Todes eines Parteikollegen ergatterte er ein Bundestagsmandat und einen unwichtigen Posten in einem unwichtigen Ausschuss und verschwand aus Karstens Leben kaum weniger gründlich als kurz zuvor seine Mutter.

Wären nicht die monatlichen Überweisungen gewesen, die Karsten ein komfortables Leben ermöglichten, hätte er fast vergessen können, dass sein Vater noch lebte.

Sie fühlten sich vom Schicksal zusammengeführt, der Halb- oder eigentlich Quasi-Vollwaise Karsten, der von seinen Eltern versetzte Lorenz mit seiner Freundin Miriam, und Franziska, die den Sommer immer noch lieber in der stickigen Unibibliothek verbracht hätte, als zu ihrer Familie in den Harz zu fahren.

So ließen sie sich also zu viert durch den Sommer treiben, Franziska und Karsten, Miriam und Lorenz. Sie schliefen, bis die Hitze sie weckte. Sie hingen im Garten herum und tranken sich bereits nachmittags einen an. Sie gingen schwimmen im Werdersee, sie dösten zwischen den Bäumen, krochen dem Schatten nach, lauerten träge auf den Abend, machten die schwüle Sommernacht durch.

Plötzlich wurde es eine Spur kühler und dunkler. Als Karsten blinzelte, sah er, dass sich jemand zwischen ihn und die Sonne gestellt hatte. Die breite Silhouette vor dem blassen Himmel hatte die Arme in die Seiten gestützt und strahlte eine gewisse Bedrohlichkeit aus.

»Kasi! Renzo!«, sagte eine näselnde Männerstimme betont beiläufig. »Hätte ich mir ja denken können, dass ihr immer noch hier abhängt.«

Trotz der Hitze bekam Karsten eine Gänsehaut. Etwas in ihm begann sich zu verkrampfen. Es war Matze.

»Schau an, der Parvenü«, bemerkte Lorenz ebenso beiläufig.

»Leck mich, Renzo.«

Matthias Opdervelde war mit seinen Eltern zu Beginn der Oberstufe nach Bremen gezogen. Matzes Vater hatte sich vom einfachen Kaufmann zu einem der größten Konservenfabrikanten Deutschlands hochgearbeitet.

Über Lorenz’ Vater, spezialisiert auf die Vermittlung von Luxusimmobilien, hatte er sich und seiner Familie ein schlossähnliches Anwesen auf einem hektargroßen Parkgrundstück in Oberneuland gekauft. Da allen Opderveldes jegliches Gefühl für Understatement völlig fehlte, gingen sie bald ihrer Umgebung gewaltig auf die Nerven. In der Nachbarschaft, in den Klubs und Vereinen protzten sie so sehr herum, dass sich alle peinlich berührt abwendeten und niemand mit ihnen gesehen werden wollte. Auch Matzes Bemühungen um Anschluss und Freundschaften scheiterten über kurz oder lang an seinem übersteigerten Geltungsbedürfnis.

»Was machst du denn hier?«, fragte Karsten. »Ich dachte, du wärst jetzt in München.«

»Bin ich ja auch«, antwortete Matze. »Bin gestern mit einem Kumpel hochgefahren. Bin ich froh, aus dem Süden weg zu sein. Ihr glaubt nicht, wie heiß es dort war in den letzten Wochen.«

»Och, wir können auch nicht klagen«, warf Lorenz ein.

»Wir haben hier seit Wochen über 30 Grad«, fügte Karsten hinzu.

»Jaja«, fiel Matze Karsten ins Wort, »wir müssen jetzt nicht übers Wetter reden. Aber das hier …« Er breitete die Arme aus und ließ sie über Strand, Fluss und Menschen gleiten, »ist ein Scheiß gegen München. In München fühlt man sich wie im Dampfbad, jeden Tag, rund um die Uhr. Hier ist es richtig kühl dagegen.«

»Auch diesmal können wir nicht gegen dich anstinken, Matze«, sagte Karsten betont gelangweilt.

Matze winkte ab. »Ich sag ja nur, ihr könnt froh sein, nicht die Hitze im Süden erleben zu müssen. Das ist was ganz anderes, eine andere Liga, eine andere Klimazone.«

»Wir haben verstanden, Matze«, sagte Karsten. »Herzlich willkommen im Kühlschrank Deutschlands. Hoffentlich holst du dir keinen Schnupfen.«

Matze drehte sich suchend um die eigene Achse, winkte und pfiff mehrmals. Kurz dachte Karsten, er wolle einen Hund herbeirufen, doch dann tauchte ein Typ mit schwarzen zurück gegelten Haaren neben Matze auf. Er war nicht allein. Miriam und Franziska waren bei ihm. Sie trugen bunte, blumig gemusterte Sommerkleider, oben eng und figurbetont, unten weit und luftig. Karsten hatte die Kleider noch nie an den beiden gesehen.

Miriam ging direkt zu Lorenz und küsste ihn auf den Mund. Franziska setzte sich dicht neben Karsten, legte ihre Hand auf seine Brust und sagte: »Hallo, Schatz.«

Einen Moment herrschte Schweigen. Dann begann Matze meckernd zu lachen.

»Na so was!«, rief er laut. »Ich war ja echt gespannt auf die Freunde der beiden, aber dass das ausgerechnet ihr zwei Dünnbrettbohrer seid!«

Er klatschte sich grölend mit dem anderen ab, der etwas verdutzt daneben stand.

»Darf ich vorstellen, das ist Ricky, Kollege von der Uni in München. Ricky, sag hallo zu Kasi und Renzo, meinen alten Schulfreunden.«

»Hi«, sagte Ricky. »Ich bin Enrico, aber für dieses Genie hier ist der Name anscheinend zu anspruchsvoll.«

»Jaja«, winkte Matze ab. »Sei nicht so eine verdammte Pussy.«

»Stellt euch vor«, schaltete sich jetzt Miriam ein, »Matze und Enrico haben uns nach Sylt eingeladen, ist das nicht cool?«

»Und als wir gesagt haben«, warf Franziska ein, »aber nur mit unseren Männern, da haben sie sofort Ja gesagt, obwohl sie euch gar nicht kannten.«

»Aber ihr kennt euch ja doch!«, stellte Miriam fest. »Das ist ja umso besser.«

»Ja«, brummte Karsten, »ganz super.«

»Wenn ich mal aufklären darf«, sagte Matze. »Wir sind auf der Durchreise. Ich muss nach Sylt, nach unserem Haus dort sehen. Es ist eingebrochen worden, und jemand von der Familie muss dem Hausverwalter auf die Finger schauen, ihr versteht. Und als wir diese beiden bezaubernden Damen in der Stadt getroffen haben, haben wir sie kurz entschlossen gefragt, ob sie uns begleiten möchten. Wie ihr seht, sind eure Mädels begeistert von der Idee. Wenn ihr auch mitwollt, könnt ihr das gerne tun, aber ihr müsstet separat fahren, sechs Leute krieg ich nicht ins Auto. So ein Cayenne ist zwar geräumig, aber alles hat Grenzen.« Er meckerte erneut.

»Danke, kein Interesse«, brummte Karsten.

»Na dann, zu fünft passt’s!«

Miriam und Franziska wechselten Blicke.

»Also entweder kommen wir alle mit oder keiner.«

»Und natürlich fahren wir vier auch gemeinsam hoch«, fügte Miriam hinzu.

Was bedeutete: Karsten würde fahren müssen. Miriam hatte kein Auto, Franziska besaß einen 20 Jahre alten Polo, der schon bei Tempo 80 auseinanderzubrechen drohte, und Lorenz fuhr einen klassischen Mini Cooper, der nun wirklich zu klein war für vier Erwachsene mit Gepäck. Die einzige sinnvolle Möglichkeit war der Audi A6, die ehemalige Familienkutsche der Straußbergers, mit der Karsten gelegentlich durch die Gegend fuhr.

»Wir können auch einfach hier bleiben«, sagte Franziska leise zu Karsten, als Matze und Enrico bereits gegangen waren. »Wenn dir das mit Matze immer noch so viel ausmacht …«

»Nein, wir fahren!«, sagte Karsten bestimmt. »Soll er doch sehen, dass wir bessere Freunde sind, als er jemals hatte und haben wird. Aber wenn er es wagt, sich an eine von euch ranzuschmeißen, dann wird er bluten, dafür sorge ich!«

»Huch, wie männlich!«, sagte Franziska und lachte.

»Was ist denn los?«, fragte Miriam stirnrunzelnd, als sie Karstens Gesichtsausdruck bemerkte. »Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«

9

Westerland/Sylt. Nordseeklinik

Danach

Mit einem Ruck fährt er hoch. Er ist schweißgebadet. Sein Herz rast. Aber das Dröhnen in seinem Kopf ist weg, nur noch eine blasse Ahnung. Immerhin.

Luna, wo ist sie hin? Hektisch springt er auf und sackt beinahe vor dem Bett zusammen. Keuchend lehnt er an der Wand, spürt, wie das Pulsieren in seinen Ohren allmählich nachlässt, die Sternchen vor den Augen verschwinden. Vorsichtig tastet er sich an der Wand entlang, um die Ecke, zum Badezimmer.

Er erschrickt furchtbar, als wenige Sekunden nach der Beleuchtung lautstark die Lüftung anspringt.

Scheiße, warum bist du so nervös, denkt er. Du bist doch sonst nicht so schreckhaft. Als hättest du einen Geist gesehen, hatte Franziska gesagt. So fühlt er sich nun auch.

Luna. Sie wollte nicht mehr erzählen, hatte nur noch herumgedruckst. Er musste einfach eingeschlafen sein, noch während sie bei ihm saß. Warum? Warum ist er nur so dermaßen erschöpft?

Am Tisch setzt er die Mineralwasserflasche an die Lippen und trinkt sie aus, ohne abzusetzen. Einen Moment lang befürchtet er, alles wieder erbrechen zu müssen. Doch dann entfährt ihm ein fulminantes Rülpsen, und danach geht es ihm besser.

Sein Blick schweift durchs Zimmer. Auf dem Nachttisch liegt etwas. Er erstarrt. Ein Zettel.

Mit klopfendem Herzen beeilt er sich, seinen geschwächten Körper um das Fußende des Bettes herum zum Nachttisch zu manövrieren, stolpert über etwas, taumelt, flucht und fällt aufs Bett. Er erkennt seine Reisetasche, halb unters Bett gerutscht, doch dafür hat er jetzt keinen Blick. Er greift nach dem Zettel, ein kariertes Blatt Papier, DIN A4, aus einem Collegeblock gerissen, einmal in der Mitte gefaltet. Darauf mit blauem Kugelschreiber eine Mädchenschrift, unverkennbar, rund und verspielt, die i-Tüpfelchen sind kleine Kreise. Atemlos beginnt er zu lesen.

Lieber Karsten,

erhol dich noch gut und mach dir bitte keinen Kopf. Ich weiß, das ist leichter gesagt als getan, aber wir können die Dinge nun mal nicht rückgängig machen. Aber wir haben alles in Ordnung gebracht, auch wenn das nicht wirklich möglich ist, aber eben so gut es ging. Also mach dir keine Sorgen.

Schade, dass wir uns nicht unter anderen Umständen kennengelernt haben! Aber man trifft sich ja immer zweimal!? Egal, was kommt: Ich bin auf deiner Seite!

Alles Liebe,

Luna

Karsten lässt das Papier sinken und starrt zwischen den Lamellen der Jalousien hindurch. Ein Stück entfernt ist ein Kiefernhain zu sehen. Karsten betrachtet die sich im leichten Wind bewegenden Wipfel. Von den gleichförmigen Bewegungen geht eine hypnotisierende Wirkung aus.