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Wald E-Book

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Beschreibung

Der Wald ist Rückzugsort und Sehnsuchtsort, Ort der Erholung, aber auch des Geheimnisvollen, mitunter sogar Furchteinflößenden. Er ist ein beliebter Topos in Literatur (besonders in der deutschsprachigen) und Film und ein bedeutendes kulturwissenschaftliches Thema, das auch in Kunstprojekten aufgegriffen wird. Der Wald zeigt sich als liminaler Ort, als Ort der Selbstfindung, der Befreiung und des Ausgeliefertseins, aber auch der mystischen Erkundungen und Entdeckungen. Der Wald ist aber auch ein bedeutsames Symbol aktueller Umweltschutzbewegungen, gefährdet durch Abholzung und Zerstörung. Er stellt somit ein wichtiges Thema für Politische Bildung und Umweltbildung, für das Zusammenspiel von Natur und Gesellschaft und somit ein in den aktuellen Curricula verankertes Unterrichtsprinzip dar – im Unterrichtsfach Deutsch sowie als Gegenstand des fächerübergreifenden Unterrichts. INHALT Editorial Ursula Esterl, Nicola Mitterer: "Der Wald kann seine Einsamkeit nicht beschützen" (Maja Haderlap) Den Wald betreten: der Wald aus kulturwissenschaftlicher und ökologischer Perspektive Christian Hoiss: Den Wald ernten. Zum narrativen Umgang mit Holz im fachintegrativen Deutschunterricht Georg Gratzer: Der Wald als Lebensraum und Garant für Biodiversität und Klimaschutz. Über die vielfältigen Rollen der Wälder in der Welt Den Wald erlesen: der Wald als literarischer Topos Günther Bärnthaler: Der Wald als Topos der Literatur vom Mittelalter bis in die Gegenwart Christian Zolles: Denn im Wald da sind keine Räuberinnen. Entzivilisierte Waldheterotopien bei Elfriede Kern Lukas Pallitsch: Die Seuche im Wald. Der Wald als Heterotopos in Adalbert Stifters Erzählung Granit Joulia Köstenbaumer: Im russischen Märchenwald. Der Wald als mystischer, verwunschener Ort am Beispiel des russischen Volksmärchens Den Wald wahrnehmen: der Wald als ästhetischer Erfahrungsraum in Musik und (bewegten) Bildern Johannes Odendahl: Prophetische Vögel und entsorgte Hexen. Waldmotive in der musikalischen Romantik Andreas Hudelist, Nicola Mitterer: Der Wald als Fluchtpunkt und Widersacher in Marlen Haushofers Die Wand und Julian Pölslers gleichnamigem Film Gabriele Lieber, Bettina Uhlig: Unheimliche Begegnungen auf dem Weg zum Übergang. Bilderbücher zum Thema "Wald" am Beispiel von Wolfsbrot und Tina hat Mut Laura Puck, Katharina Blasge: Zwei Wege zum Wald. Didaktische Überlegungen zum Projekt "For Forest" und zum Wald im Bilderbuch Den Wald entdecken und schützen: der Wald als Lern- und Lebensraum Marlene Zöhrer: Waldwissen. Vom Thema zum Lesen Dieter Merlin: Wald im Film. Dokumentarisierende und fiktivisierende Lektüremodi als konzeptuelle Impulse einer theoriebasierten Filmdidaktik Uschi Meixner: Im Wald. Lernen mit Kopf, Herz und Hand Service Clara von Münster-Kistner: Die ungebrochene Anziehungskraft des Waldes. Auswahlbibliographie Magazin Kommentar: Douglas Godbold: Walddiversität und menschliches Wohlbefinden: Dr. Forest ide empfiehlt Sabine Fuchs: Linda Wolfsgruber (2020): Die kleine Waldfibel

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Seitenzahl: 331

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhalt

Editorial

URSULA ESTERL, NICOLA MITTERER:»Der Wald kann seine Einsamkeit nicht beschützen« (Maja Haderlap)

Den Wald betreten: der Wald aus kulturwissenschaftlicher und ökologischer Perspektive

CHRISTIAN HOISS: Den Wald ernten. Zum narrativen Umgang mit Holz im fachintegrativen Deutschunterricht

GEORG GRATZER: Der Wald als Lebensraum und Garant für Biodiversität und Klimaschutz. Über die vielfältigen Rollen der Wälder in der Welt

Den Wald erlesen: der Wald als literarischer Topos

GÜNTHER BÄRNTHALER: Der Wald als Topos der Literatur vom Mittelalter bis in die Gegenwart

CHRISTIAN ZOLLES: Denn im Wald da sind keine Räuberinnen. Entzivilisierte Waldheterotopien bei Elfriede Kern

LUKAS PALLITSCH: Die Seuche im Wald. Der Wald als Heterotopos in Adalbert Stifters Erzählung Granit

JOULIA KÖSTENBAUMER: Im russischen Märchenwald. Der Wald als mystischer, verwunschener Ort am Beispiel des russischen Volksmärchens

Den Wald wahrnehmen: der Wald als ästhetischer Erfahrungsraum in Musik und (bewegten) Bildern

JOHANNES ODENDAHL: Prophetische Vögel und entsorgte Hexen. Waldmotive in der musikalischen Romantik

ANDREAS HUDELIST, NICOLA MITTERER: Der Wald als Fluchtpunkt und Widersacher in Marlen Haushofers Die Wand und Julian Pölslers gleichnamigem Film

GABRIELE LIEBER, BETTINA UHLIG: Unheimliche Begegnungen auf dem Weg zum Übergang. Bilderbücher zum Thema »Wald« am Beispiel von Wolfsbrot und Tina hat Mut

LAURA PUCK, KATHARINA BLASGE: Zwei Wege zum Wald. Didaktische Überlegungen zum Projekt »For Forest« und zum Wald im Bilderbuch

Den Wald entdecken und schützen: der Wald als Lern- und Lebensraum

MARLENE ZÖHRER: Waldwissen. Vom Thema zum Lesen

DIETER MERLIN: Wald im Film. Dokumentarisierende und fiktivisierende Lektüremodi als konzeptuelle Impulse einer theoriebasierten Filmdidaktik

USCHI MEIXNER: Im Wald. Lernen mit Kopf, Herz und Hand

Service

CLARA VON MÜNSTER-KISTNER: Die ungebrochene Anziehungskraft des Waldes. Auswahlbibliographie

Magazin

KommentarDOUGLAS GODBOLD: Walddiversität und menschliches Wohlbefinden: Dr. Forest

ide empfiehltSABINE FUCHS: Linda Wolfsgruber (2020): Die kleine Waldfibel

Neu im Regal

 

»Wald« und »Kulturräume« in anderen ide-Heften

3-2020

Märchen

2-2017

Die Donau – Länder am Strome

1-2014

Berge

2-2007

Mittelmeer

1-2004

Europa

1-2000

Schöpfungsmythen

 

Das nächste ide-Heft

ide 3-2021

Sprachbewusstsein erscheint im September 2021

 

 

 

Vorschau

ide 4-2021

Global Citizenship Education und Deutschunterricht

ide 1-2022

Lesen: Wege zum Text

 

https://ide.aau.at

Besuchen Sie die ide-Webseite! Sie finden dort den Inhalt aller ide-Hefte seit 1988 sowie »Kostproben« aus den letzten Heften. Sie können die ide auch online bestellen.

www.aau.at/germanistik/fachdidaktik

Besuchen Sie auch die Webseite des Instituts für GermanistikAECC, Abteilung für Fachdidaktik an der AAU Klagenfurt: Informationen, Ansätze, Orientierungen.

»Der Wald kann seine Einsamkeit nicht beschützen«(Maja Haderlap)

Hefte der Zeitschrift ide waren schon mehrfach besonderen Landschaftsformation gewidmet, so etwa dem »Mittelmeer«, den »Bergen« oder der »Donau«. Was uns in diesen Erscheinungen, zu denen auch der Wald gehört, vermeintlich von außen gegenübertritt, ist, wenn man sich deren vielfältige und zahlreiche kulturelle Bearbeitungen ansieht, ins Innere des menschlichen Bewusstseins gesickert und hat dort, im Falle des Waldes, Wurzeln geschlagen. Diese sind allerdings so verschiedenartig wie die Kunst selbst und sie reichen, in literarischer Hinsicht, von der mit der Sehnsucht der Romantiker_innen erfüllten »Waldeinsamkeit«, die Thea Dorn, in Rückgriff auf Ludwig Tieck, als eines der charakteristischsten Wörter der deutschen Sprache identifiziert (vgl. Dorn/ Wagner 2011, S. 479 ff.), bis hin zur »Waldscheu« (Haderlap 2013, S. 82), die in Maja Haderlaps Engel des Vergessens ein mit den Tiefen des Waldes eng verbundenes, kollektives Trauma bei der Protagonistin hervorgerufen hat. Eine gewisse »Waldscheu« könnte man allerdings auch aufgrund all der Märchen, Sagen und Geschichten entwickeln, die uns diesen Ort von jeher ebenso als einen der Bedrohung wie als einen des Schutzes erzählen. Der Wald hat im Laufe der Zeit viele Facetten bekommen. An Bedeutung gewann der Topos Wald in der deutschsprachigen Kulturgeschichte vor allem in der Romantik. So dichtete etwa Karoline von Günderrode ein Orphi -sches Lied, das eine Symbiose zwischen lyrischem Ich und Natur beschwört, die noch heute in zahlreichen künstlerischen Begegnungen mit dem Wald als ein Idealbild auftaucht:

Also, o Phoibos Apoll! laß von begeistertem Munde

Strömen mir wogende Rhythmen des sinnbeherrschenden Wohllauts,

Daß sich der Wald mit beseele, die Dryas des Baumes mir lausche,

Schlängelnde Ströme mir folgen, und reißende Tiere unschädlich

Schmeichelnd zu mir sich gesellen.

(Günderrode 1979, S. 112 f.)

Mit Ende des 18. Jahrhunderts setzte Hölderlin die Freiheit der Eichbäume gegen die Zwänge der Zivilisation und gelangte damit bereits zur Konstruktion eines Gegensatzes, der letztlich unvereinbar, aber als »Fluchtpunkt« von höchster Bedeutsamkeit für das lyrische Ich bleibt: »Könnt’ ich die Knechtschaft nur erdulden, ich neidete nimmer / Diesen Wald und schmiegte mich gern ans gesellige Leben« (Hölderlin 1992, S. 181 f.). Hier wird die Souveränität des Waldes betont, die uns in vielen Geschichten und Filmen in diesem Heft begegnet, andererseits geht der Autor noch unbefangen davon aus, man könne sich auch aus der menschlichen Beschränkung heraus ein Beispiel an seiner Freiheit nehmen.

Anders dann Maja Haderlap im Jahr 2011, wenn sie den Wald als einen Ort beschreibt, der seine Unabhängigkeit von den Menschen eingebüßt hat: »Der Wald kann seine Einsamkeit nicht beschützen, seit die Menschen Zuflucht in ihm gesucht haben, seit er die Kontrolle über ihre Irrgänge verloren hat, seit ihn Holzfäller und Jäger durchstreifen, seit er zum Bandengebiet erklärt wurde« (Haderlap 2013, S. 85). Auch diese Facette eines von menschlichen Interessen eingenommenen Waldes wird in den Beiträgen dieses Heftes immer wieder auftauchen und uns nicht nur an den Wald als Kriegsund Krisengebiet, sondern auch als einen Raum des Wirtschaftens und der Ausbeutung erinnern. Doch selbst in Anbetracht menschlicher Übernahmen behält der Wald seine symbolische Macht und ist ein Ort, der »die Dunkelheit an sich zu ziehen« (ebd., S. 89) vermag und uns zu einer Begegnung mit den Gespenstern – jenen der Vergangenheit und den in uns wohnenden – einlädt oder zwingt. Letztlich scheint der Wald nicht nur eine Resonanz in uns hervorzurufen, sondern findet, so wird beim Blick auf Kulturgeschichten des Waldes deutlich, eine Entsprechung in unserem Inneren, die vielleicht gerade in der Phase der Adoleszenz besonders deutlich zutage tritt. Diesem Gedanken geht unter anderem ein Gedicht Durs Grünbeins nach, das den Titel Biologischer Walzer trägt, ans Ironische grenzt und damit eine Kategorie aufgreift, die in Zusammenhang mit dem Wald eher selten in Erscheinung getreten ist und doch nicht vernachlässigt werden sollte:

Zwischen Kapstadt und Grönland liegt dieser Wald

Aus Begierden, Begierden, die niemand kennt.

Wenn es stimmt, daß wir schwierige Tiere sind Sind wir schwierige Tiere, weil nichts mehr stimmt.

(Grünbein 1993, S. 246)

So facettenreich die ästhetischen Darstellungsweisen und so vielfältig die ökologische Bedeutsamkeit des Waldes für den Menschen zu allen Zeiten und auf allen Altersstufen ist, so reich an verschiedenen Perspektiven und Herangehensweisen sind auch die Beiträge dieses Bandes. Bereits beim Betreten des Waldes stoßen wir auf Fragen nach seiner Bedeutung für den Menschen, ob als (literarischer) Sehnsuchtsort, Erholungs- oder Nutzungsraum.

Einleitend setzt sich Christian Hoiß mit Verzerrungen in der gesellschaftlichen und literarischen Wahrnehmung des Waldes auseinander. Der Vorstellung vom Wald als Flucht- und Rückzugsort steht seine wirtschaftliche Bedeutung gegenüber, insbesondere der menschliche Umgang mit dem waldigen Stoff, dem Rohstoff Holz. Die Beschäftigung mit der ökonomischen Seite des Waldes an der Schnittstelle zwischen Natur und Kultur soll Schüler_innen zu (selbst-)reflexiven Prozessen anregen, die über die literarischästhetische Erfahrung hinausgehen und sie für eine »Bildung für nachhaltige Entwicklung« sensibilisieren.

Dieser fächerübergreifende Ansatz wird auch von Georg Gratzer aufgegriffen, der den vielfältigen Rollen des Waldes aus naturwissenschaftlicher Sicht nachspürt: ob als Hort der Biodiversität, Klimaschutz, Wasserspeicher, Ressourcenlieferant, Schutz vor Naturgewalten, Erholungsraum oder Arbeitsplatz. Nur ein gutes Verständnis der Vorgänge im Wald und ein reflektierter Umgang mit unterschiedlichen »Störungen«, wie Sturm, Feuer oder Dürreperioden, und Eingriffen durch den Menschen können dessen Fortbestand sichern, wozu auch die 2015 von den UN beschlossenen »Ziele für Nachhhaltige Entwicklung« beitragen sollen.

Im zweiten Teil des Heftes nähern wir uns dem Wald als literarischem Topos.

Zunächst skizziert Günther Bärnthaler mit Hilfe zahlreicher Zitate, die vor allem in Hinblick auf ihre Bezugnahme zum »Dionysischen« und »Apollinischen« betrachtet werden, eine kleine Literaturgeschichte des Waldes. Die zahlreichen Textbeispiele können im Deutschunterricht nicht zuletzt dazu genutzt werden, aufzuzeigen, inwiefern der Topos Wald stets auch kulturhistorische Ausdeutungen des Bezuges zwischen Mensch und Natur widerspiegelt.

Christian Zolles nimmt uns in seinem Beitrag mit auf eine kulturgeschichtliche Reise durch den »Heterotopos Wald«, der vom Mittelalter bis zur Neuzeit ein Ort männlicher Zuschreibungen war und von Elfriede Kerns Protagonistinnen auf eine Weise »erobert« wird, der es an kolonialistischem Ehrgeiz und dem Anspruch (moralischer) Überlegenheit vollkommen fehlt. Anklänge an Märchen und Mythen tauchen allerorts auf, erweisen sich aber letztlich als Trugbilder einer inexistenten »weiblichen heterotopen Repräsentationskultur«. Die Schülerinnen und Schüler mögen von den überraschend auf tauchenden Ritualen und matrimonialen Kulten in Kerns Texten angezogen oder irritiert sein – letztlich treffen sie in ihnen auf eine Utopie, die sich noch in der Gegenschrift zum Althergebrachten befindet und damit zur eigenen Ideenfindung in Hinblick auf eine »entzivilisierte« Zukunft einlädt.

Lukas Pallitsch widmet seinen Beitrag dem »Erfinder« des literarischen Stilllebens und legt erstaunlich zeitgemäße Schichten im Werk Adalbert Stifters frei. Dessen »Ästhetik des Unspektakulären, Ephemeren und Alltäglichen« wird hier als ein ästhetisch-ethisches Projekt erkennbar, das in Granit unter anderem die Auswirkungen einer Pestepidemie auf die moralischen Vorstellungen und die (fehlende) Möglichkeit einer kathartischen Verarbeitung der Katastrophe reflektiert und damit unmittelbar an drängende Fragen der Gegenwart anknüpft.

Mit Joulia Köstenbaumers Beitrag gerät dann ein in diesem Heft vielfach thematisiertes Genre ins Zentrum der Aufmerksamkeit: die Bedeutsamkeit des Waldes im (Volks-)Märchen. Die Autorin zieht Beispiele aus der reichen russischen Erzähltradition heran, die etwa mit der Figur der kleinen Maschenka eine Gestalt geschaffen hat, die mittlerweile überall auf der Welt bekannt geworden ist. Der Beitrag greift einerseits Erzählstrategien des Märchens wie etwa die Anthropomorphisierung auf, die allgemein bekannt sind, verweist andererseits aber auch auf die Spezifika des slawischen Märchens, wie etwa die Bevölkerung des Waldes durch – mitunter schlecht gelaunte – Naturwesen oder die Verbindung zwischen der Welt der Lebenden und der Toten, wie sie beispielsweise in der bekannten Figur der Baba Jaga sichtbar wird. Einmal mehr erweist sich der Wald hier als ein Ort des Übergangs, der für Initiationsriten wie geschaffen scheint.

Die Wahrnehmung des Waldes als ästhetischer Erfahrungsraum, in Bild und Ton, steht im Fokus der Beiträge im dritten Teil.

Zunächst lässt Johannes Odendahl Waldmotive der musikalischen Romantik erklingen, einer Epoche, in der nicht nur die Literatur, sondern auch die Musik vom Wald besonders inspiriert war. Die Instrumentalmusik jener Zeit widmete sich dabei jedoch »eher beiläufig dem Bildbereich des Waldes« und griff vorzugsweise auf klangmalerische Topoi wie Waldesrauschen, Vogelstimmen und das Geschmetter von Jagdhörnern zurück, wie an Robert Schumanns Waldszenen demonstriert wird. Diese Motive, eingebettet zwischen »sakraler Erhebung« und »Verrufenheit«, finden sich in eindrucksvoller, durch die Möglichkeiten der Opernbühne verstärkter Ausführung auch in den Opern der deutschen Romantik, in Carl Maria von Webers Freischütz, Richard Wagners Siegfried und Engelbert von Humperdincks Hänsel und Gretel.

Der Wald tritt im Beitrag von Andreas Hudelist und Nicola Mitterer zunächst noch einmal als ein literarisches Phänomen in Erscheinung, das mit Marlen Haushofers Die Wand einen besonderen Platz in der österreichischen Literaturgeschichte einnimmt. Der Wald als Schauplatz einer »weiblichen Robinsonade« bietet dabei zahlreiche Anknüpfungspunkte für einen Unterricht, der das Spannungsverhältnis zwischen Kultur und Natur in den Mittelpunkt stellen und die bisherigen gesellschaftlichen (Un-)Möglichkeiten der Frau in diesem Zusammenhang anhand einer Erzählung zur Disposition stellen möchte, die auch durch ihre zahlreichen Deutungsmöglichkeiten und eine einprägsame Motivik besticht. Die Verfilmung des Romans durch Julian Pölsler führt schließlich zu intermedialen und interpretatorischen Fragen, die im Unterricht anhand des – auch an intertextuellen Bezügen zu Die Wand reichen – Romans Wir töten Stella weiterverfolgt werden können, der vom selben Regissuer filmisch umgesetzt wurde und als eine Art Prequel zu seiner Verfilmung von Die Wand »gelesen« werden kann.

Gabriele Lieber und Bettina Uhlig eröffnen den »Bildraum Wald« in seiner nicht nur sprachlich-metaphorischen, sondern seiner gestalterischen Dimension anhand der Betrachtung der beiden Bilderbücher Wolfsbrot und Tina hat Mut. Bei aller Unterschiedlichkeit zeigen beide Bücher den Wald aus kindlicher Perspektive als ein – mitunter unheimliches – Faszinosum, das Herausforderungen bereithält und als ein Ort des Übergangs und der veränderten Wahrnehmung fungiert. Die unterschiedlichen Gestaltungsweisen der beiden Bilderbücher und die Verbindungen zwischen Bild und Text stehen hier im Zentrum der Aufmerksamkeit und führen auf eine Vielzahl an Aufgaben- und Fragestellungen hin, die für einen Unterricht genutzt werden können, der die Ästhetik der Bücher (auch) als eine inhaltliche Dimension zur Geltung bringt und eigenständiges Betrachten, Erleben und Deuten der Schüler_innen ermöglicht.

Im Beitrag »Zwei Wege zum Wald« werden zwei Bachelorarbeiten vorgestellt, die sich dem Thema über unterschiedliche Zugänge genähert haben. Laura Puck widmet sich dem im Herbst 2019 im Klagenfurter Wörthersee stadion, also einer Sportstätte, angesiedelten Kunstprojekt »For Forest«, das international für Aufsehen und lokal für einiges an Aufregung gesorgt hat. In einer empirischen Studie geht die Autorin der Frage nach, wie unterschiedliche Schüler_innengruppen dieses Projekt wahrgenommen, bewertet und in ihre Deutung des sozialen Raums einbezogen haben und welches Potenzial an Anregung für kreative Schreibprozesse diesem Kunst werk im öffentlichen Raum innewohnte.

Katharina Blasge hat ihre Arbeit als eine fächerübergreifende angelegt und unternimmt den Versuch, den Wald in seiner ökonomisch/ökologischen wie auch ästhetischen Bedeutsamkeit ins Klassenzimmer zu holen. Anhand der beiden Bilderbücher Der Traum vom Wald und Der Grüffelo nähert sich die Autorin einerseits der Gemachtheit des Kunstwerks Bilderbuch, andererseits der bildhaften wie sprachlichen Darstellung des Ökosystems Wald an, das Züge des Ursprünglichen und/oder kultureller und wirtschaftlicher Prägung und damit der Domestizierung aufweisen kann. Den Abschluss der kurzen Zusammenfassung dieser Bachelorarbeit bilden einige konkrete Unterrichtsideen, die dazu einladen, den Wald in diesen beiden vermeintlich so unterschiedlichen Dimensionen wahrzunehmen.

Wie der Wald als Lern- und Lebensraum genutzt werden kann, zeigen die Beiträge im letzten Teil dieses Heftes.

Marlene Zöhrers Beitrag nähert sich dem Wald als Wissensrepertoire an und unternimmt hierfür eine eingehende Betrachtung ausgewählter neuerer Sachbücher, die sich dem in den Bestsellerlisten der letzten Jahre gut vertretenen »Trendthema« widmen. Der Autorin ist dabei auch die Lesemotivation ein besonderes An -liegen, die gerade durch die zahlreichen Querverbindungen, die das Sujet »Wald« unter Bezugnahme auf unterschiedlichste Lernziele etwa »in den Bereichen Natur, Technik, Wirtschaft sowie Mensch und Gesundheit, Tiere und Pflanzen oder Ökologie und Umwelt« zulässt, gefördert werden kann. Die Bandbreite der von der Autorin näher betrachteten Bücher reicht vom klassischen bildbasierten Sachbuch über Mischformen, die faktuales und fiktionales Wissen präsentieren, bis hin zum Comic. Der Wunsch nach »mehr Waldwissen und mehr Buch« könnte sich mithilfe der in diesem Beitrag vorgestellten Bücher also im Deutschunterricht tatsächlich fast wie von selbst ergeben.

Mit Spiel- und Dokumentarfilmen zum Thema Wald beschäftigt sich der Beitrag von Dieter Merlin. Die große thematische und ästhetische Bandbreite jedes Filmbeispiels an der Grenze zwischen Spiel- und Dokumentarfilm ermöglicht, basierend auf dem theoretischen Zugang des französischen Filmwissenschaftlers Roger Odin, sowohl fiktivisierende als auch dokumentarisierende Lesarten. Die Anknüpfung an die Lebenswelt der Schüler_innen, für die der Wald »außerfilmisch wie filmisch bereits betretenes Terrain« ist, soll genutzt werden, um Neues und fremd Erscheinendes in den Blick zu nehmen. Alteritätserfahrungen stellen dabei wertvolle Möglichkeiten dar, um einen medienreflexiven Unterricht abwechslungsreich zu gestalten.

In einem abschließenden Bericht aus der Praxis gewährt die Waldpädagogin Uschi Meixner Einblicke in das vielfältige Tun, das ihren beruflichen Alltag prägt. Mit ihrem Unternehmen, dem »WaldWerk«, verfolgt die Autorin im waldreichen Ort Hallegg in der Nähe des Wörthersees wie viele ihrer Kolleg_innen in ganz Österreich das pädagogische Vorhaben, den Wald in seiner Funktion als Ökosystem und als einen Ort, der alle Sinne anspricht und ganzheitlich erlebt werden kann, in privaten und schulischen Kontexten für junge Menschen (wieder) bedeutsam und in besonderer Weise erfahrbar zu machen.

Abgerundet werden die Ausführungen von einer von Clara von Münster-Kistner sorgsam zusammengestellte umfassenden Bibliographie. Der Frage, warum wir uns im Wald so wohlfühlen, geht Douglas Godbold in seinem Kommentar nach. Das Projekt »Dr. Forest« erforscht den Einfluss von Licht, Geräuschen und Gerüchen auf das menschliche Wohlbefinden. Erste Erkenntnisse zeigen, dass die wohltuende Wirkung des Waldes auf die Komplexität und das Zusammenspiel der unterschiedlichen Sinneseindrücke zurückzuführen ist.

Auch ide-empfiehlt widmet sich dem Wald. Sabine Fuchs stellt Die kleine Waldfibel von Linda Wolfgruber vor, der wir auch die Illustrationen verdanken, die den Umschlag zu diesem besonderen Wald-Heft zieren.

Wir wünschen erholsame und anregende Wege durch den Wald!

URSULA ESTERL NICOLA MITTERER

Literatur

DORN, THEA; WAGNER, RICHARD (2011): Die deutsche Seele. München: Albrecht Klaus.

GRÜNBEIN, DURS (1993): Biologischer Walzer. In: Reich-Ranicki, Marcel (Hg.): Frankfurter Anthologie. Gedichte und Interpretationen. Sechzehnter Band. Frankfurt: Insel, S. 246.

GÜNDERRODE, KAROLINE VON(1979): Der Schatten eines Traumes. Gedichte, Prosa, Briefe, Zeugnisse von Zeitgenossen. Hg. von Christa Wolf. Darmstadt u. a.: Luchterhand.

HADERLAP, MAJA (2013):Engel des Vergessens. München: Btb.

HÖLDERLIN, FRIEDRICH (1992): Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Michael Knapp. München: Hanser.

TEXT+KRITIK (2002): Durs Grünbein, H. 153. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München: edition text+kritik.

URSULA ESTERL ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für GermanistikAECC der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt und Mitherausgeberin der Zeitschrift ide. Arbeitsschwerpunkte: Deutsch als Zweit- und Fremdsprache und Mehrsprachigkeit. E-Mail: [email protected]

NICOLA MITTERER ist Assoziierte Professorin am Institut für GermanistikAECC der AAU Klagenfurt und Mitherausgeberin der Zeitschrift ide. Ihre Forschungs- und Lehrschwerpunkte sind: Ästhetik/Ästhetisches Lernen, Phänomene des Fremden und deren Auswirkungen auf hermeneutische Prozesse in Literatur, Film und bildender Kunst. E-Mail: [email protected]

Christian Hoiß

Den Wald erntenZum narrativen Umgang mit Holz im fachintegrativen Deutschunterricht

Dieser Beitrag setzt sich mit einer Verzerrung in der gesellschaftlichen und literarischen Wahrnehmung des Waldes auseinander: Zwar ist der Wald für viele Menschen eine Quelle der Erholung, Imagination und Kreativität und fungiert als Flucht- und Rückzugsort. Doch die umwelthistorische Forschung zeigt, dass er seit jeher vor allem als wirtschaftliche Ressource (also zur Gewinnung von Holz) gedacht war. Daher geht der Beitrag literarischen Spuren nach, die speziell den menschlichen Umgang mit dem waldigen Stoff im Blick haben, den wir allgemein als Holz bezeichnen. Die Texte werden für fachintegrative Ansätze anschlussfähig gemacht und sensibilisieren im Sinne einer »Bildung für nachhaltige Entwicklung« (BNE) für das gegenwärtige Verhältnis der Menschen zur Natur.

Wer Wald sagt, träumt! – So ließen sich die Verzerrungen in der gesellschaftlichen und literarischen Wahrnehmung des Waldes pointiert zusammenfassen. Der Wald ist zwar für viele Menschen eine Quelle der Erholung, Imagination und Kreativität und fungiert als Flucht- und Rückzugsort. Doch die umwelthistorische Forschung zeigt, dass Wald seit Menschengedenken vor allem als wirtschaftliche Ressource (also zur Gewinnung von Holz) gedacht war (vgl. Radkau 2018). Die literarische Tradition und ebenso die motiv- und gattungsgeschichtliche Forschung lassen diesen Aspekt aber nahezu komplett fallen: In der Regel wurde und wird der Wald als mystisch aufgeladener Raum, als Ort von Ursprünglichkeit und Natur jenseits zivilisatorischer Strukturen dargestellt. Nur selten finden sich literarische Stoffgeschichten, die die ökonomische Seite des Waldes in den Vordergrund rücken und sich mit dem Rohstoff Holz und seiner »Gewinnung« auseinandersetzen. Sie bieten Anlass dazu, das angedeutete traditionelle Deutungsspektrum zu erweitern, indem die Reduktion des Waldes auf seine Materialität in den Mittelpunkt gestellt wird (vgl. Anselm/Hoiß 2021).

CHRISTIAN HOISS ist abgeordnete Lehrkraft und Koordinator des Zertifikatsprogramms »el mundo – Bildung für nachhaltige Entwicklung im Lehramt« an der LMU München. E-Mail: [email protected]

Für den Deutschunterricht ist dies bedeutsam, weil eine literarische Begegnung mit dem Wald über die literarisch-ästhetischen Erfahrungen hinaus (selbst-)reflexive Prozesse anregen kann, die mit einer perspektivischen Brechung der gewohnten Wahrnehmung der Welt – im konkreten Fall: des Waldes – einhergehen. Dies ist auch für die Anliegen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) relevant, weil dadurch bei der Erschließung des Waldes neben den kulturellen auch die ökologischen, sozialen und ökonomischen Facetten der Beziehung der Menschen zu »ihren« Wäldern sichtbar werden.

Der vorliegende Beitrag geht daher literarischen Texten nach, die speziell den menschlichen Umgang mit dem waldigen Stoff im Blick haben, den wir allgemein als Holz bezeichnen. Er macht diese Texte für fachintegrative Ansätze anschlussfähig, um die Potenziale einer interdisziplinären Betrachtung des Waldes vor Augen zu führen. Dabei steht der Gedanke im Vordergrund, dass auch Fächer wie Wirtschaft, Geografie, Biologie, Ethik, Religion, Fremdsprachen, Sport, Kunst, Musik etc. die literarischen Zugänge integrativ verwenden können und so neue Perspektiven auf ihren bisherigen »Gegenstand« Wald erhalten.

1. NaturenKulturen – kulturwissenschaftliche Grundlagen und Einordnung

Der traditionelle literarische Wald ist nicht erst im 21. Jahrhundert eine Projektionsfläche für menschliche Bedürfnisse wie Stille und saubere Luft oder ein gemeinsamer Erfahrungsraum mit Tieren und Pflanzen geworden, die in einer zunehmend urbanisierten und industrialisierten Gesellschaft nicht mehr selbstverständlicher Bestandteil der alltäglich erfahrbaren Realität sind. Erich Kästner schrieb dazu bereits 1936: »Die Seele wird vom Pflastertreten krumm./ Mit Bäumen kann man wie mit Brüdern reden/ und tauscht bei ihnen seine Seele um./ Die Wälder schweigen. Doch sie sind nicht stumm./ Und wer auch kommen mag, sie trösten jeden.« (Kästner 1959, S. 238)

Kästners Gedicht folgt einem in der westlichen Philosophie seit Jahrhunderten dominierenden binären Denkmuster, das Natur und Kultur voneinander abzugrenzen versucht. Auch die literarischen Repräsentationen des Waldes folgten in der Vergangenheit weitestgehend diesem Paradigma1 – und dabei ist der Wald eigentlich das beste Beispiel für ein Ineinandergreifen der Sphären Natur und Kultur. Denn die europäischen Wälder sind größtenteils Kulturlandschaften, die im großen Stil von menschlicher Hand angelegt wurden. Dabei bleibt unklar, wie viel »Natur« wirklich in den Wäldern steckt. Der Soziologe Bruno Latour spricht von Naturen-Kulturen (franz. natures-cultures, Latour 1995), um die Produktion solcher hybriden Konstrukte analysieren und reflektieren zu können. Der Begriff lege nahe, dass Natur nicht immer und überall gleich sei und keinen universellen Gesetzen gehorche, sondern im jeweiligen kulturellen Kontext produziert werde. Eine klare Trennung zwischen Natur und Kultur existiere folglich nicht (vgl. Gesing u. a. 2018, S. 8). Dieser Paradigmenwechsel eröffnet einen Denkraum für die konstruktive Auseinandersetzung mit »dem« Wald im fachintegrativen Deutschunterricht.

Verwendet man Wald zum Beispiel als Kollektivbegriff für eine zusammenhängende Menge an Bäumen und Pflanzen, ergeben sich für die Betrachtung der in der Literatur dargestellten Interaktion zwischen Mensch und Wald vielfältige Möglichkeiten. Allein die Annahme, es gäbe eine Form der Interaktion mit dem Wald – bei Kästner etwa wird der Wald zum Gesprächspartner –, entrückt ihn einem allgemein angenommenen Objektstatus. Als lebender (pflanzlicher) Ort von NaturenKulturen ist der Wald zudem für die kultur- bzw. literaturwissenschaftliche Pflanzenforschung (Cultural bzw. Literary Plant Studies) von Interesse, die ihr Augenmerk auf die Imaginations- und Darstellungsformen des Vegetabilen in Kunst und Literatur ebenso wie in der Alltagskultur richtet. Plant Studies »beschäftigen sich mit ethischen und philosophischen Fragen über den Status von Pflanzen, widmen sich den historischen wie gegenwärtigen Mensch-Pflanze-Verhältnissen und fragen nach den Praktiken der Interaktion zwischen Menschen und Pflanzen in Literatur, Kunst und Kultur« (Stobbe 2019, S. 95).

2. Der Wald als hölzerne Schatzkammer

Nahezu konträr dazu gestaltet sich die Beschaffenheit des europäischen Waldes, den man aus einer Perspektive der Verwertbarkeit eigentlich als Plantage bezeichnen müsste, in der realen Welt. In Deutschland beispielsweise ist der größte Teil der Waldgebiete – verstanden als »natürliche oder quasinatürliche Lebensgemeinschaft, deren Aufbau von großflächigen Baumbeständen geprägt ist« (Lexikon der Geographie 2001, o. S.) – eigentlich den Forsten zuzuordnen, die sich durch eine vorrangig forstwirtschaftliche Nutzung und menschliche Aufsicht auszeichnen (vgl. ebd.). Man kann sie als anthropogene Biome ansehen: Großlebensräume, deren Existenz auf den Einfluss menschlicher Landnutzung zurückzuführen ist. Im alltäglichen Sprachgebrauch werden die Begriffe Wald und Forst nahezu synonym verwendet. Dabei unterliegt die vorherrschende Imagination von Wald als unberührter Wildnis (vgl. Schama 1996; auch Spanier 2015) einer doppelten Verzerrung: Ein als Wildnis gedachter Wald ist bereits eine kontrastive (und damit verzerrte) Imagination, die sich nur in Abgrenzung zu den in Europa dominierenden Kulturlandschaften denken lässt; zudem ist sie verzerrt, weil diese Imagination in Europa auf gerade einmal zwei Prozent der Flächen überhaupt noch zutrifft (vgl. Forest Europe 2015, S. 28).

Dabei dient der Wald den Menschen in der Tat verschiedenartig als Ressource: in der Holzwirtschaft, als Lebensraum für Tiere (und damit auch als für den Menschen wichtige Basis für Biodiversität), für die Jagd, als Erholungsraum für die Bevölkerung, als Wasserspeicher und als Luftfilter. Ein interdisziplinärer Blick auf den Wald als Phänomen offenbart, dass es ihn – verstanden als Kollektivbegriff für eine zusammenhängende Menge an Bäumen und Pflanzen – nicht gibt. Was Wald (für uns) ist, wozu bzw. für wen er da ist und was mit ihm gemacht wird, lässt sich so pauschal nicht beantworten und rückt umweltethische Perspektiven in den Vordergrund, die die Bewertung von Natur zwischen ökologischen, ethischen und ökonomischen Argumentationsmustern vornehmen (vgl. Vogt 2021; Ott/Dierks/Voget-Kleschin 2016). Die umweltethische Perspektive führt vor Augen, dass das Verhältnis des Menschen zum Wald primär anthropozentrischen Wertvorstellungen folgt. Als hölzerne Schatzkammer diente der Wald dem Menschen nicht erst seit der Entdeckung des Feuers als wichtige Energiequelle, er bot Lebens- und Schutzraum, Nahrungsquellen und die hölzerne Basis für Werk- und Fahrzeuge aller Art (z. B. im Schiffsbau). Die Ernte des Waldes war schon immer die Grundlage für menschliches Handeln – auch wenn wir dies heute kaum noch wahrnehmen: Denn Produkte wie Papier, Kartonagen, Möbel, Böden, Streichhölzer oder Brennholz werden in einer industrialisierten Gesellschaft weit vom Ursprungsort entfernt konsumiert.

Die historische Perspektive hilft, die Abhängigkeit des Menschen vom Wald deutlich zu machen: So führte etwa die extensive Übernutzung der europäischen Wälder im Mittelalter – bei Weitem nicht nur für die Belange der Bevölkerung, sondern vor allem auch für militärische Zwecke wie den Schiffsbau (vgl. Schama 1996, S. 195–206) – zu regelrechten Ressourcenkrisen und Holznot. Denn die »lebenstragenden Ressourcen des Mittelalters lagen fast alle im Wald« (Hamberger 2013, S. 428). Es überrascht daher nicht, dass man in der Folge bald begann, die Ressourcen des Waldes umsichtiger und mit Blick auf ihre Endlichkeit zu begreifen. Entsprechend hat das Prinzip der Nachhaltigkeit seine Wurzeln historisch betrachtet in den Ressourcenkrisen des Mittelalters (vgl. ebd.): Es war im Jahre 1368 eine revolutionäre Idee, dass dem Nürnberger Montanunternehmer Peter Stromer in den Sinn kam, den drohenden Engpässen in der Holzversorgung mit der Nachzucht neuer Kiefernbäume zu begegnen. So wurde die bisher nicht wahrgenommene Lücke zwischen Ursache und Wirkung erkannt und dem generationenüberspannenden Zeitraum Tribut gezollt, den Holz zum Reifen benötigt, indem es nun zu einer Selbstverständlichkeit wird, über die Lebenszeit der eigenen Generation hinauszudenken. Auch heute noch wird im pädagogischen Kontext häufig auf diesen Zusammenhang verwiesen:

In pädagogischen Kontexten kann der Umgang mit der nachwachsenden Ressource Wald mit dem sogenannten »Streichholzspiel« oder »Walderntespiel« hergestellt werden.

»Die Übung macht den Teilnehmenden die Endlichkeit eines nachwachsenden Rohstoffes bei Übernutzung erfahrbar. Sie schlüpfen in die Rolle von drei Erb_innen eines Waldes, die zunächst, in einer ersten Runde, in Konkurrenz zueinander stehen und versuchen, so viele Bäume [symbolisiert durch ein Streichholz] wie möglich für sich selbst zu ernten. [Streichhölzer werden in jeder Runde von der Spielleitung in begrenztem Maß zur Verfügung gestellt.] In einer zweiten Runde kooperieren die Teilnehmenden miteinander und bewirtschaften den Wald gemeinsam.

In der Auswertung können sie feststellen, dass zu hohe Entnahmen das Bestehen des Waldes gefährden und dass eine nachhaltige Bewirtschaftung unter Konkurrenzbedingungen schwierig ist.« (FairBindung/Konzeptwerk Neue Ökonomie 2016, o. S.)2

Bei der Einbettung in den Unterricht sollte darauf geachtet werden, dass in einer Metadiskussion auch die dem Spiel zugrundeliegenden Denkmuster reflektiert werden. So ist angesichts der derzeitigen globalen Transformationsprozesse durchaus zu diskutieren, inwiefern eigentlich eine Veränderung der bislang bekannten und historisch tradierten Naturnutzungskonzepte sowie die Art und Weise, in welchen Kategorien über Natur gedacht wird, notwendig wären (vgl. Hoiß 2019, S. 207–231).

In Methoden wie dieser wird das Prinzip der Nachhaltigkeit im Spannungsfeld zwischen lang- und kurzfristigen Interessen sowie kapitalistischem Kalkül erfahren. Der Lerneffekt ist in der Regel groß, denn nicht selten ist das Spiel bereits nach wenigen Runden zu Ende, wenn die Holzbesitzer*innen zu gierig waren. Zugleich wird erkannt, dass Nachhaltigkeit kein Harmoniebegriff, sondern ein Naturnutzungskonzept ist. In ihrem Zentrum steht immer eine nachhaltige Nutzung naturgegebener Ressourcen durch den Menschen, verbunden mit einer Sicherung (und zugleich auch Steigerung) der Erträge für den Menschen. Die Ökologie – konkret der Wald – hat dieser Argumentationslogik zufolge vor allem dem Menschen zu dienen.

Neben diesen nutzenorientierten, anthropozentrischen Perspektiven auf den Wald hat es aber immer auch schon Stimmen gegeben, die einem uneingeschränkten Nutzungsrecht kritisch gegenüberstanden. Der 1805 in Böhmen geborene Adalbert Stifter etwa schildert in seiner Erzählung Granit von 1853 durchaus in kulturpessimistischer Manier den Umgang der Menschen mit dem Böhmerwald in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.3 Darin lenkt der Großvater des jungen Protagonisten dessen Blick auf die »Geschäfte der Menschen« im Wald, die letztlich genauso vergänglich sind wie die Rauchsäulen der Feuer, die ihre Geschäfte hervorbringen. Im Gegensatz dazu steht der Wald – nicht als Inbegriff der Natur, sondern als Ort des Handels, des Arbeitens und Produzierens, des Jagens und Sammelns.

Einst waren die Wälder noch viel größer als jetzt. Da ich ein Knabe war, reichten sie bis Spitzenberg und die vordern Stiftshäuser, es gab noch Wölfe darin, und die Hirsche konnten wir in der Nacht, wenn eben die Zeit war, bis in unser Bette hinein brüllen hören. […]

»Siehst du, diese Rauchsäulen kommen alle von den Menschen, die in dem Walde ihre Geschäfte treiben. Da sind zuerst die Holzknechte, die an Stellen die Bäume des Waldes umsägen, daß nichts übrig ist als Strünke und Strauchwerk. Sie zünden ein Feuer an, um ihre Speise daran zu kochen, und um auch das unnötige Reisig und die Äste zu verbrennen. Dann sind die Kohlenbrenner, die einen großen Meiler türmen, ihn mit Erde und Reisern bedecken und in ihm aus Scheitern die Kohlen brennen […]. Dann sind die Heusucher, die in den kleinen Wiesen und in den von Wald entblößten Stellen das Heu machen, […]. Dann sind die Sammler, welche Holzschwämme, Arzneidinge, Beeren und andere Sachen suchen, und auch gerne ein Feuer machen, sich daran zu laben. Endlich sind die Pechbrenner, die sich aus Walderde Öfen bauen, oder Löcher mit Lehm überwölben und daneben sich Hütten aus Waldbäumen aufrichten, […]. Wo ein ganz dünnes Rauchfädlein aufsteigt, mag es auch ein Jäger sein, der sich sein Stücklein Fleisch bratet oder der Ruhe pflegt. Alle diese Leute haben keine bleibende Stätte in dem Walde; denn sie gehen bald hierhin, bald dorthin, je nachdem sie ihre Arbeit getan haben oder ihre Gegenstände nicht mehr finden. Darum haben auch die Rauchsäulen keine bleibende Stelle, und heute siehest du sie hier und ein anderes Mal an einem anderen Platze.«

»Ja, Großvater.«

»Das ist das Leben der Wälder. Aber laß uns nun auch das außerhalb betrachten.«

(Stifter 1853, S. 37–39)

Gleich zu Beginn des Textausschnittes spricht der Großvater die negativen Folgen des menschlichen Schaffens an, indem er auf die fortschreitende Dezimierung des Waldbestands alleine in seiner Lebenszeit verweist. Wenn er so das »Leben der Wälder« beschreibt, so scheint es, als wäre der Mensch ein Schädling und Eindringling, der den Wäldern durch sein parasitäres Sein eine Last ist.

3. Waldernte – der Wald als Plantage

Auch bei Ludwig Thoma spielt der menschliche Umgang mit dem Wald eine Rolle, nicht zuletzt, weil er als Sohn eines Försters früh mit der ökonomischen Seite des Waldes in Berührung kommt.

Meine ersten Erinnerungen knüpfen sich an das einsame Forsthaus, an den geheimnisreichen Wald, der dicht daneben lag, an die kleine Kapelle, deren Decke ein blauer, mit vergoldeten Sternen übersäter Himmel war. […]

Drunten am Flusse kreischte eine Holzsäge, biß sich gellend in dicke Stämme ein und fraß sich durch, oder ging im gleichen Takte auf und ab. Ich betrachtete das Haus und die hoch aufgeschichteten Bretterlager von oben herab mit scheuer Angst, denn es war uns Kindern strenge verboten, hinunterzugehen […] (Thoma 1956, o. S.)

In seinen Erinnerungen aus dem Jahr 1919 ist dabei eine Spannung zwischen dem mystisch aufgeladenen »geheimnisreichen« Wald auf der einen Seite und der kruden Verwertung des Waldes auf der anderen Seite deutlich zu spüren und Latours NaturenKulturen-Konzept (vgl. Kapitel 1) gewinnt hier deutlich an Kontur: Der für den kindlichen Erzähler geheimnisvolle Wald ist in der Welt der Erwachsenen eine Nutzfläche. Der Wald bei Thoma ist nicht entweder Natur oder Kultur, sondern ein hybrides Konstrukt. Das Forsthaus stellt zwar eine lokale Grenze zum Wald dar, liegt aber »einsam[]« auch schon außerhalb menschlicher Siedlungen. Zudem ist es selbst ein hybrides Objekt: aus Ressourcen des Waldes gebaut, für die Bedürfnisse der Försterfamilie und unter Einsatz hoch entwickelter kultureller Praktiken (Architektur, Schreinerei, Zimmerei etc.) geschaffen. Die Waldarbeiter – sie werden bei Thoma im weiteren Verlauf ausdrücklich als »Männer« beschrieben – agieren an einem hybriden, gleichwohl transformativen Ort, der den Übergang von kollektiven pflanzlichen Daseinsformen hin zu konsumgerechten, standardisierten Objekten markiert (»hoch aufgeschichtete[] Bretterlager«). Es ist konkret die Säge, die diese Transformation herbeiführt und als Symbol für menschliche Schaffenskraft, nicht zuletzt aber auch für (männliche) Allmachtsfantasien und Zerstörung steht. Die lautmalerische Beschreibung des Ernteprozesses entlarvt den Umgang des Menschen mit den Bäumen als gewaltsam, wenn die Säge »kreischt« und sich »gellend« in die Stämme »hineinfrisst«.

Im 21. Jahrhundert ist der Wald der einst lokalen Nutzungslogik bei Stifter und Thoma längst entwachsen. Die Dynamik der globalen Landnutzung in der Gegenwart hat damit nicht mehr das Geringste zu tun. Sie erfolgt in solchen Dimensionen, dass man nicht mehr nur vom »Zeitalter des Menschen« spricht (vgl. Hoiß 2019), sondern manche sogar von einem »Zeitalter der Plantagen« (Haraway 2015) sprechen: Ölpalmenplantagen (vor allem in Malaysia und Indonesien), Tropenholzplantagen (z. B. Teak), aber auch der Anbau in Monokulturen wie bei Eukalyptus, Soja, Mais oder Tulpen sind hier zu nennen. Flächen für Energieholzplantagen, Weihnachtsbaumkulturen oder Waldweiden kommen hinzu, werden aber oft gar nicht mehr als Wald wahrgenommen.

Donna Haraway etwa brachte speziell den Begriff des Plantationozän (als Alternative zum Anthropozänbegriff) in die Diskussion, um einen Perspektivenwechsel auf die gravierenden globalen Veränderungen zu bewirken, die die menschlichen Transformationsprozesse im Agrarbereich und in der Landnutzung mit sich brachten (vgl. Haraway 2015). Neben der Erschaffung von Kulturlandschaften wie den europäischen Wäldern beinhaltet dieser Begriff auch die damit verbundene Ausbeutung und Versklavung von Menschen und Tieren, er bezieht sich insbesondere aber auf den verheerenden Wandel diverser Arten von Farmen, Weideflächen und Wäldern hin zu ausbeutenden und abgeschlossenen Plantagen. »Längst haben wir die Erde in eine durchchemisierte Plantage verwandelt. Alle anderen Spezies haben wir zurückgedrängt.« (Fuller 2017, S. 11) Die Auswirkungen auf die Ökosysteme sind horrend: In nie dagewesenem Tempo treibt unsere gegenwärtige Praxis der Landnutzung den Verlust der Artenvielfalt voran, was nicht nur die bestehenden Ökosysteme gefährdet, sondern letztlich auch die menschliche Spezies selbst. Zugleich ist der Wald nicht nur selbst eine Plantage, er fällt den Plantagen auch zum Opfer (vgl. Abb. 1). Das Satellitenbild von der bolivianischen Regenwaldgrenze zeigt zwar einerseits die Anstrengungen Boliviens, die Nahrungsmittelproduktion mithilfe neuer Agrarflächen (untere Hälfte) zu erhöhen, um der wachsenden Bevölkerung gerecht zu werden. Andererseits deutet die nadelstichartige Schneise in der Mitte des Bildes auf die fortschreitende Zerstörung der eigenen Regenwälder (obere Hälfte) hin. Analog zu Ludwig Thomas Erinnerungen zeigt sich hier die Hybridität des Waldes, wenngleich die kulturellen Bedingungen der beiden Szenen gänzlich unterschiedlich sind.

Abb. 1:Grenze des Regenwaldes in Santa Cruz, Bolivien (Grant 2016, S. 43 f.; Abbildung mit freundlicher Genehmigung von B. Grant)

Die Sorge um die Wälder, verbunden mit einer Kritik am sorglosen Umgang des Menschen mit ihnen, ist indes nicht neu. Bereits vor einem Jahrhundert bleibt bei Karl Kraus vom Wald nichts mehr übrig. In seinem Stück Die letzten Tage der Menschheit (1920), in dem er die Perversion und Absurdität des Ersten Weltkrieges verarbeitet, schallt den Leser*innen die vorwurfsvolle Stimme des Waldes entgegen:

Der tote Wald

Durch eure Macht, durch euer Mühnbin ich ergraut. Einst war ich grün.Seht meine jetzige Gestalt.Ich war ein Wald! Ich war ein Wald!

Der Seele war in meinem Dom,ihr Christen hört, ihr ewges Rom!In meinem Schweigen war das Wort.Und euer Tun bedeutet Mord!

Fluch euch, die das mir angetan!Nie wieder steig’ ich himmelan!Wie war ich grün. Wie bin ich alt.Ich war ein Wald! Ich war ein Wald!(Kraus 1920, S. 69)

Der personifizierte Wald spricht als organische Einheit für alle noch existierenden und bereits ermordeten Bäume. Er beklagt den erbarmungslosen Druck auf ihn, ausgelöst durch menschliche Produktivität (V. 1). Ähnlich wie die Figur des Großvaters bei Stifter erkennt er sich selbst nach Jahrzehnten bzw. Jahrhunderten nicht wieder. Der aufgezwungene Alterungsprozess wird nicht als Prozess der Reife beschrieben, sondern als Verfall, den nicht die Zeit hervorgerufen hat. »Ich war ein Wald!«, wirft er dem/der menschlichen Leser*in entgegen und man kann sich hinzudenken: Was habt ihr mir angetan? Kein Mensch spricht hier von Waldernte; ein Wald spricht hier von Mord.

4. Pinocchio – eine Stoffgeschichte

Auch Carlo Collodis Kinderbuchklassiker Pinocchio – Die Geschichte vom hölzernen Bengele (1925) fordert den menschlichen Blick auf Wald und Holz heraus. Aufgrund der hölzernen Leiblichkeit des Protagonisten – bereits Pinocchios Name verweist auf eine Pinie (ital. il pino) – kann man die Erzählung als Stoffgeschichte lesen, die folgendermaßen beginnt:

Es war einmal …

»Ein König!« – meinen gleich die klugen kleinen Leser.

Aber diesmal, Kinder, habt ihr weit daneben geraten. – Es war einmal: ein Stück Holz, ja, ein ganz gewöhnliches Holzscheit! Draußen lag es im Wald mit vielen andern Stücken auf der Beige. Ein Fuhrmann kam, lud sie alle auf den Wagen und fuhr damit zur Stadt dem Schreiner-Toni vor das Haus. Das Holz ward gesägt und gespaltet; denn im kalten Winter sollte es im knisternden Ofen die Stube wärmen. – Ein Glück, daß Toni das eine Scheit bemerkte. Es war so hübsch gerade und hatte keinen Ast; drum stellte es der Schreiner in eine Ecke seiner Werkstatt und dachte: »Ein gutes, glattes Stück, ’s wär schade, es zu verbrennen.« (Collodi 1925, o. S.)

Die Erzählung agiert zunächst im bekannten anthropozentrischen Paradigma, Holz als Ressource für den Menschen vorauszusetzen. Es scheint im Wald (»mit vielen andern Stücken«) vielfach verfügbar zu sein und wird als gewöhnlich beschrieben, was durch die antithetische Einführung betont wird: Nicht etwa von einem »König« handelt die Erzählung – und ruft dabei durch das formelhafte »Es war einmal« genretypische Assoziationen zum konventionellen Personal von Märchen auf –, sondern von einem gewöhnlichen Holzscheit. Es steht dem Schreiner, dessen Name »Meister Pflaum(e)« bzw. in neueren Übersetzungen »Meister Kirsche« im Übrigen auch auf eine Pflanze verweist, zur freien Verfügung: zum Sägen, zum Spalten, zum Verbrennen. Zugleich wird dem Holz ein großer Wert zugesprochen, denn der Schreiner weiß sowohl die wärmende Kraft des Holzes als auch den ästhetischen Mehrwert speziell dieses einen Scheits zu schätzen.

Als der Schreiner beginnt, den Holzscheit in ein Tischbein zu verwandeln, bricht die Erzählung mit der konventionellen Sicht auf das Holz: Das Holz bekommt eine Stimme, mit der es Empfindungen wie Schmerz oder Reaktionen auf Berührungen verbalisieren kann. Wie unglaublich diese biozentrische Perspektivierung ist (nicht nur für den/die Leser*in), drückt sich vor allem in der Reaktion des Schreiners aus, der zunächst einfach nur perplex ist, dabei seinen Sinnen immer weniger traut und schließlich in Ohnmacht fällt.

»Das Stück da kommt mir wie gerufen, es gibt einen Tischfuß.« Gleich nahm er das scharfe Beil, um die Rinde abzuschlagen. Der erste Hieb fiel auf das Holz, da – »Oje, oje«, wimmerte erbärmlich ein zartes Stimmchen, »nicht so arg schlagen, nicht so arg!« –

Potz Blitz! was war das? – Kalte Angst kam über den guten Schreiner […] »Ganz klar! Ich hab’s. – Das Stimmchen war eine närrische Einbildung. Nur wieder mutig an die Arbeit!« Fest nahm er das Beil in die Hand, kräftiger noch wie das erste Mal führte er den Hieb auf das Holz, tief drang die scharfe Schneide ein: »Au! Wie hat das wehgetan!« klagte laut das gleiche Stimmchen. Jetzt ward Meister Pflaum wie versteinert […]