Walden - Henry David Thoreau - E-Book

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Henry David Thoreau

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Beschreibung

Wie soll und will ich leben? – Thoreau sucht eine Antwort auf diese Frage und zieht sich in eine Blockhütte am Walden-See zurück. ›Walden‹ ist das Buch dieses Experiments. Es bietet Wege zur Entschleunigung für alle, die sich nach Ruhe, Gelassenheit und bewusstem Nichtstun sehnen.

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Seitenzahl: 559

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Henry David Thoreau

WaldenoderLeben in den Wäldern

Aus dem Amerikanischen von Emma Emmerich und Tatjana Fischer

Mit einem Vorwort von Walter E. Richartz, Anmerkungen, Sach- und Namenregister sowie einer Zeittafel

Titel der 1854 bei Ticknor and Field,

Boston, erschienenen Originalausgabe:

›Walden; or, Life in the Woods‹

Anmerkungen und Register zur vorliegenden

ungekürzten Ausgabe von Tatjana Fischer

Die Zeittafel wurde für die Hardcover-Ausgabe

2004 vom Verlag neu erstellt

Umschlagfoto von David Muench

(Ausschnitt)

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 20019 5 (27.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60408 5

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

Stichworte zu ›Walden‹, von Walter E. Richartz[7]

Ökonomie  [16]

Wo und wofür ich lebte  [89]

Lektüre  [106]

Töne  [117]

Einsamkeit  [134]

Besuch  [144]

Das Bohnenfeld  [158]

Das Dorf  [170]

Die Teiche  [176]

Baker Farm  [202]

Höhere Gesetze  [210]

Meine Nachbarn, die Tiere  [223]

Heizung  [237]

Frühere Bewohner und Wintergäste  [253]

Wintertiere  [267]

Der Teich im Winter  [277]

Frühling  [292]

Schluß  [311]

Anmerkungen[324]

Sach- und Namenregister

[7] Stichworte zu ›Walden‹

Im März 1845 begann der frühere Lehrer und spätere Landvermesser Henry David Thoreau, sich am einsamen Waldensee unweit der Stadt Concord, Massachusetts, ein Blockhaus zu zimmern. Thoreau, der 1817 in Concord geboren wurde und 1862 dort starb, lebte zweieinhalb Jahre in dieser Einsiedelei. Danach schrieb er ein Buch über Erfahrungen in der freien Natur, mit vielen nützlichen Tips, Wissenswertem aus Wald und Feld und Mitteilungen, die mit dem Anlaß überhaupt nichts zu tun hatten.

BUCHSCHREIBEN, BUCHFÜHREN

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$ 4,00   

Latten

$ 1,25   

Aus zweiter Hand zwei Glasfenster

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›Ökonomie‹ heißt das erste Kapitel, es ist zugleich das längste, das grundlegende. Waldsee – Blockhaus – einfaches Leben – schön und gut; aber was kostet es?

»Einer meiner Bekannten«, schreibt Thoreau, »der etwas Land geerbt hat, sagte zu mir, er würde gerne so leben wie ich, wenn er die Mittel dazu hätte.« Die Endabrechnung zeigt, daß der Mann recht hatte:

Kosten für 2½ Jahre ›Walden‹

$ 61,99¾

In dieser Zeit verdient

$ 36,78   

Defizit

$ 25,21¾

Geschäftlich war ›Walden‹ ein Mißerfolg – also: Keine Illusionen, lieber Leser!

ACHTUNG: WERTVOLLER INHALT

Was den sparsamen Yankee sehr erbittert, ist die [8] Verschwendung: »Der beste Teil des Menschen wird bald als Kompost unter den Boden gepflügt.«

Was ihn besonders freut: Wenn jemand statt um materielle Güter um ›sein Bestes‹ bittet, um seine ›Gedanken‹. Es wird gebeten, über den richtigen Umgang mit Wertsachen nachzudenken.

ZUFALL. Er läßt sich viel Zeit mit dem Bau seines Blockhauses. Am 4.Juli 1845 zieht er ein – ›zufällig‹, wie er schreibt. Der 4.Juli ist der Unabhängigkeitstag.

NÄCHSTENLIEBE

»›Gutes-Tun‹ – das ist einer der überfüllten Berufe. Übrigens habe ich das zur Genüge versucht, und – so seltsam es erscheint: Ich bin zufrieden, daß es nicht zu meiner Veranlagung paßt.« »Wenn ich sicher wüßte, daß jemand in mein Haus käme, mit der festen Absicht, mir Gutes zu tun, würde ich um mein Leben laufen.« (H. D. Thoreau, ›Walden‹)

»Das Eis in ihrer Brust ist aufgetaut. Zumindest der Rechtliche unter ihnen hat nicht versagt.

Angesprochen als Mensch, hat er menschlich geantwortet. Es gibt also Güte.

(In der Ferne knattern Maschinengewehre)

Was ist das für ein Geräusch?«

(Bert Brecht, ›Die heilige Johanna der Schlachthöfe‹)

GEGEN DEN STRICH. Er ist ein alter Widerspruchsgeist. Wenn irgend möglich, ist er dagegen.

»Plötzlich sah ich mich als Nachbarn der Vögel; nicht, weil ich einen gefangensetzte, sondern weil ich mir meinen Käfig in ihrer Nähe gebaut hatte.«

»Steht still, und festgemacht! Warum so scheinbar rasch und doch so tödlich schneckenhaft?«

»Mein Kopf ist Hände und Füße. Ich fühle meine besten Eigenschaften in ihm konzentriert.«

Der paradoxe Thoreau, so obstinat, geht einem auf die Nerven, reizt bis aufs Blut – wunderbar.

[9] ZWEIFELLOS DEMOKRATISCH. Aber die Widerrede folgt auch aus der Kunst der Rhetorik: unerwartete Antithesen sollen Hörer und Leser fesseln. Insofern steht Thoreau in der Tradition der amerikanischen Bürgerdemokratie: statt feudaler Autorität regiert die Macht der gutgebauten Rede, das Pathos der Jefferson, Webster und Lincoln. Die Juristen plädieren pro und contra. Der Bürger hat die Wahl. Die Mechanik der ›checks and balances‹ funktioniert mechanisch.

Rhetorische Dialektik ist veräußerlichter, entschärfter Zweifel. Wirklicher, quälender Zweifel an der Richtigkeit des Handelns findet sich bei Thoreau ebensowenig wie bei den Yankee-Kaufleuten und den frühimperialistischen Politikern, die er so heftig attackiert.

DEUTLICH LESEN, GUT ZUHÖREN

»This is a delicious evening, when the whole body is one sense and imbibes delight through every pore.«

»Ein köstlicher Abend, da alle Sinne eins sind mit dem Körper, der die Lust durch alle Poren trinkt.«?

»Dieser Abend… ist Wein… der ganze Körper… eine Zunge…«??

»Festlich ist dieser Abend, der ganze Körper nur Empfindung für die Lust, die er durch alle Poren saugt.«???

Nein nein.

Die Unmöglichkeit, diesen englischen Satz zu übersetzen, hängt mit der Utopie zusammen, die er zum Ausdruck bringen will.

Nicht viele gibt es, die so schamlos dem menschlichen Glück nachstellen, wie Thoreau in ›Walden‹. Das ist der Hauptgrund für seine Aktualität.

PLATO FÜR HOLZFÄLLER. Ein kanadischer Holzfäller wird beschrieben, ein einfacher, ›kreatürlicher‹ Mensch. Thoreau will ihn ein bißchen bilden. Er erklärt ihm, wie Plato den Menschen definiert: »Ein Zweibeiner ohne Federn«, und daß jemand mal einen gerupften Hahn vorzeigte: das sei Platos Mensch; ohne Absatz fährt Thoreau weiter fort: »Er meinte (was den Hahn betraf), ein wichtiger Unterschied sei der, daß die Knie [10] andersherum geknickt seien. Manchmal rief er aus: ›Oh, wie gern ich rede! Bei Gott, ich könnte den ganzen Tag lang reden!‹«

In dem aus heterogenen Details zusammengefügten Portrait dieses Menschen erkennt man seine noch unausgeschöpften Möglichkeiten: das Leben als ununterbrochenen Erziehungsprozeß. Wohlbekannt sind dem Lehrer Thoreau der pädagogische Wert von Anekdoten, die Richtigkeit falscher Antworten, die Verwendung der Montage als Aufklärungsmittel. Der (synthetische) Holzfäller redet und spricht unwissentlich eine Wahrheit aus; diese erkennend, möchte er am liebsten immer weiterreden.

MENSCHENSCHUTZ. Auf einmal wird man stutzig: wieviel wert ist ihm eigentlich ein Mensch?

»Wie ich im Wald spazierenging, mir die Vögel und Eichhörnchen anzusehen, so ging ich in das Dorf, mir die Männer und Knaben anzusehen.« Tiere und Menschen – für ihn kommt es auf dasselbe heraus.

Dieser Standpunkt muß uns provozieren: es ist der Standpunkt reaktionärer Ideologen, die Menschen als Naturwesen, nicht als eigengesetzliche Individuen und als Mitglieder einer Gesellschaft zu betrachten, die der ›Natur‹ entwachsen ist.

Man sieht den Unterschied mit einem Blick: Menschen werden gefoltert – Tierquäler werden bestraft. Ja, zugegeben: Thoreau ist ein Konservativer – aber machen wir doch erst mal ernst mit dem ›Tierschutzgedanken‹!

ERSCHRECKEND. Thoreau als Prediger: ein bißchen Pietismus – ein bißchen Abraham a Sancta Clara. »Unser Leben ist erschreckend moralisch. Niemals auch nur einen Augenblick Waffenruhe zwischen Tugend und Laster. Güte ist die einzige Aktie ohne Kursverfall.« Die Gleichnisse, in denen sonntags der Pfarrer den hartgesottenen Yankee-Geschäftsleuten die Religion handgreiflich macht, sind auch Thoreaus Gleichnisse. Er ist zwar ein Abtrünniger der Kirche, aber er wird deshalb gewiß nicht mißverstanden. (»Das ist die einzige Sprache, die sie verstehen«, rief der Friedensstifter und zog seinen Revolver.)

[11] SCIENCE FICTION. »Ich trug den Span, auf dem die drei Tiere – wie ich im einzelnen beschrieben habe – kämpften, legte ihn unter ein Wasserglas auf das Fensterbrett, um den Ausgang zu beobachten.«

»Ein Thermometer, das am 6.März 1847 in die Mitte des Waldensees gehalten wurde, zeigte 0° C an, also den Gefrierpunkt; in Ufernähe waren es ½°; in der Mitte des Flint-Teichs wurde am selben Tag 1° gemessen, etwa fünfzig Meter vom Ufer entfernt, noch im flachen Wasser, unter einer 1Fuß dicken Eisschicht, waren es 2°.«

»Endlich haben die Sonnenstrahlen einen Einfallswinkel von 90° erreicht, warme Winde vertreiben Nebel und Regen und schmelzen die Schneebänke.«

Die Zeit des Aufenthalts am Waldensee, das Leben in den Wäldern, ist für Thoreau ein ›Experiment‹ – er besteht auf diesem Wort. Die Präzision, ja Pedanterie, mit der jeder Aspekt seiner Einsiedlerexistenz unter der Lupe beobachtet und beschrieben wird, ist wissenschaftlich. Allein diese Haltung sollte jedes ›romantische‹ Mißverständnis ausschließen, als handele es sich um naive Naturschwärmerei.

Experiment – wozu? Die Versuchsanordnung soll zeigen, wie die freie Entfaltung der Persönlichkeit mit geringstem Aufwand erreicht werden kann. Das Journal ›Walden‹ ist das Versuchsprotokoll. Zur selben Zeit, in New York – ca. 300km südöstlich von Concord –, schrieb der Wissenschaftsfanatiker Edgar Allan Poe seinen bemerkenswerten ›Science Fiction‹-Text ›Heureca‹.

IST DER WALDENSEE WASSERDICHT? Noch einmal zum Thema Wissenschaft: beim Abernten des Wintereises auf dem Waldensee bemerkt man Anzeichen dafür, daß es entgegen der bisherigen Ansicht Zu- und Abflüsse gibt. Thoreau entwirft ein Experiment, mit dem Gewißheit zu erlangen wäre.

Aber nur keine Unruhe: schlimm kann es nicht sein mit der Undichtigkeit. »Solange sie kein größeres Loch finden, braucht sicher nicht gelötet zu werden.« Thoreau, der Hausvater des Waldes, der ›Haushaltungsvorstand‹ – mit einem zwinkernden Auge.

[12] UNERNST DES LEBENS. Aber ein ›Humorist‹ ist er noch lange nicht – das sollte man ihm wirklich nicht antun. Er lacht nicht und will nicht zum Lachen bringen. Ob es sein voller Unernst ist, was er vorträgt – man weiß es nie genau. Seine Pointen sind trocken, unterkühlt, geradezu surrealistisch: »Eines Tages kam ein Mann aus Lexington in meine Hütte und fragte nach seinem Jagdhund, der eine lohnende Spur gefunden und sie eine Woche lang allein verfolgt hatte. Aber aus dem, was ich ihm sagte, fürchte ich, wurde der Mann auch nicht klüger, denn jedesmal, wenn ich versuchte, seine Fragen zu beantworten, unterbrach er mich und fragte: ›Was machen Sie denn hier?‹

Er hatte einen Hund verloren, aber einen Menschen gefunden.«

Moment mal. Was war denn das? Haben wir richtig gelesen? Aus dem ausdruckslosen Tonfall des Erzählers gewinnt man keinen Anhaltspunkt. Haben wir auch das Vorhergehende richtig gelesen?

GROSSE DINGE. Um Text und Leseaufmerksamkeit zu erneuern – als Vitaminstoß –, empfiehlt sich die unerhörte Begebenheit. Sie kam als beispielhaftes Histörchen des moralisierenden Essayisten (Montaigne) vor oder als biographische Facette (Boswell). Thoreau benutzt sie darüber hinaus zur Darstellung außerordentlicher Bewußtseinslagen, als Sonde in tieferen Bedeutungsschichten: »Als der Schnee am tiefsten war, wagte sich kein Wanderer in die Nähe meiner Hütte, wochenlang – Zwei Wochenlang; aber ich lebte dort so behaglich wie eine Feldmaus (…) oder wie jene frühe Siedlerfamilie aus der Stadt Sutton in diesem Staat, deren Hütte vollständig von dem großen Schnee von 1717 bedeckt war, und ein Indianer fand sie nur wegen des Lochs, das der Atem des Kamins im Treibschnee machte, und rettete so die Familie.«

Die grammatikalische Unkorrektheit bezeichnet die Stelle des Stillstands, des Aufhorchens, das Zentrum konträrer Tendenzen, den Bedeutungsknoten.

UND KLEINE DINGE. Aber was ist wichtig? Nichts ist unwichtig. »Der Jäger… konnte sich an einen gewissen Sam [13] Nutting erinnern, der auf den »Fair Haven Ledges« Bären jagte und die Felle in Concord gegen Rum eintauschte; der hatte ihm erzählt, daß er dort sogar Büffel gesehen hätte. Dieser Nutting besaß einen berühmten Fuchshund namens Burgoyne – er sprach es ›Bjugaine‹ –, den mein Gewährsmann sich ausborgte.«

An Details wird nicht gespart – es ist die Erzählweise der Jäger, der genauen Naturbeobachter, die es gewohnt sind, auf jedes geknickte Ästchen zu achten. Ob aus der Nähe, ob nur vom Hörensagen bekannt, ob subjektive Mitteilung, Zahlenfolge oder offensichtliche Übertreibung – fürs erste ist alles gleichrangig.

Kein Vorurteil – aber sehr wohl ein Urteil.

PARS PRO TOTO. Abgesehen von kurzen Aufenthalten in New York, Minnesota und Kanada ist Thoreau sein Leben lang nicht aus Neuengland herausgekommen. Dieses, und vor allem den Umkreis von Concord, kannte er um so gründlicher. »Walden« ist das Katasterbuch für ein Gebiet von ca. zehn Meilen Länge und Breite, Vegetation und Gewässer, Gehöfte und Hütten, einschließlich der Vorgeschichte: Baker Farm, die Hütte des Sklaven Cato Ingraham, das Haus von Zilpha, der Weberin, die Hütte und das verzweifelte Leben des irischen Säufers Hugh Quoil. Der Landvermesser Thoreau fixiert – maßstabgetreu und übertragbar – Topographie und Biographie eines überschaubaren Areals und während eines begrenzten Zeitraums.

VERSTÖRUNG. Am 6.September 1847 räumte Thoreau das Blockhaus am Waldensee, um nicht mehr zurückzukehren. Das Experiment war beendet. War es geglückt?

Zunächst gab es Wichtigeres, als darüber Rechenschaft abzulegen. Vor einiger Zeit hatte man ihn als Steuerverweigerer ins Gefängnis gesetzt – wenn auch nur für eine Nacht. Den Hintergrund und Hergang dieses Vorfalls der Öffentlichkeit mitzuteilen, erschien ihm jetzt vordringlich. Schon im Januar 1848 hielt er einen Vortrag darüber in der ›Volkshochschule‹ von Concord – es war im wesentlichen der Text des Essays [14] ›Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat‹, der 1849 erstmals im Druck erschien.

Die Gefängnis-Episode ereignete sich 1846. Sie hat ihn nicht mehr losgelassen, sein Denken und weiteres Leben wurden deutlich durch sie verändert. In ›Walden‹, das erst 1854 als Buch erschien, zog er noch einmal sein Resümee. Vier Sätze, trocken und lapidar, umfassen die Theorie des gewaltlosen Widerstands:

»Sicher, ich hätte mich – mit mehr oder weniger Erfolg – gewaltsam widersetzen können, ich hätte ›Amok‹ gegen die Gesellschaft laufen können; aber lieber sollte die Gesellschaft gegen mich ›Amok‹ laufen, sie war doch die verzweifelte Partei. Ich wurde am nächsten Tag entlassen und (…) kehrte noch rechtzeitig in die Wälder zurück, um meine Heidelbeermahlzeit auf dem Fair Haven Hill einzunehmen. Nie bin ich von irgend jemandem belästigt worden, außer von den Vertretern des Staates.«

Thoreau machte es ganz deutlich: ›Gewaltloser Widerstand‹, das heißt nicht einfach Protest gegen staatliche Willkür; es heißt: Umlenkung der Staatsgewalt gegen den Staat selbst; es heißt: Anwendung des Judo-Prinzips in der Politik.

FREIHEIT, UND NOCH EINMAL ÖKONOMIE. Denkt man an Amerika vor 1850, so stellt man sieh die harte Natur vor, Indianerkriege, das Pionierleben. Da überrascht es, bei Thoreau zu lesen, daß die Nöte der Farmer schon damals weniger von solchen Umweltschwierigkeiten herrührten, die sich doch durch puritanische Tugenden nur verkleinern lassen; daß ihre Drangsal sich vielmehr vor allem aus dem Gesellschafts- und Wirtschaftssystem ergab:

»Ich bin überrascht zu erfahren, daß man kaum ein Dutzend in dieser Stadt nennen kann, die ihre Farm schuldenfrei besitzen. Wenn Ihr die Geschichte dieser Siedlerstellen wissen wollt, dann fragt bei der Bank nach, wo sie verschuldet sind. Der Mann, der seine Farm wirklich durch seiner Hände Arbeit abgezahlt hat, ist so selten, daß alle Nachbarn auf ihn zeigen.«

Das klingt fast wie eine Schande! Pflicht, Fleiß und Schuldendienst, das gehört wohl von Anfang an zusammen für die Einwanderer, die dem feudalen Europa entkommen waren, [15] aber die inneren Vorbedingungen für neue Knechtschaft gleich mitbrachten.

Thoreaus Grundmotiv für das ›Walden‹-Experiment lautet: Wie erlangt man wirkliche Freiheit? Thoreau hatte dafür ein empfindlicheres Sensorium als die meisten seiner Zeitgenossen. Um frei zu sein, muß man Bindungen aufgeben. Geld, Ruhm und andere Vorteile müssen gleichgültig werden, und schließlich ist es die Gleichgültigkeit selbst (z.B. für Menschen), die man hinter sich läßt. Und dann? Besitzen wir sie dann, die Freiheit? Wohlweislich: Thoreau gibt darauf keine Antwort. Das könnte uns so passen, daß er einem das Selbstdenken ersparte.

Walter E. Richartz

[16] Ökonomie

Als ich die folgenden Seiten, oder jedenfalls den größten Teil davon schrieb, wohnte ich eine Meile weit von meinem nächsten Nachbar entfernt, in einem Haus, das ich mir selbst am Ufer des Waldenteiches in Concord, Massachusetts, gebaut hatte, allein im Walde und verdiente meinen Lebensunterhalt einzig mit meiner Hände Arbeit. Dort lebte ich zwei Jahre und zwei Monate lang. Jetzt bin ich wieder in die Zivilisation zurückgekehrt.

Ich würde meine Angelegenheiten der Aufmerksamkeit meiner Leser nicht aufdrängen, wenn nicht von meinen Mitbürgern über meine Lebensweise die genauesten Erkundigungen eingezogen worden wären, Erkundigungen so eingehender Art, daß man sie fast als unverschämt bezeichnen könnte, wenn nicht die Verhältnisse sie natürlich und angemessen erscheinen ließen. Die einen fragten mich, was ich gegessen, ob ich mich nicht einsam gefühlt, mich nicht gefürchtet habe, und so weiter. Andre wünschten zu wissen, welchen Teil meines Einkommens ich zu wohltätigen Zwecken verwendet habe, und wieder andere, die große Familien hatten, interessierten sich dafür, wie viele arme Kinder ich unterstützte. Ich bitte deshalb diejenigen meiner Leser, welche kein besonderes Interesse an mir nehmen, um Entschuldigung, wenn ich versuche, einige dieser Fragen in diesem Buch zu beantworten. In den meisten Büchern wird die erste Person, das ›Ich‹ umschrieben; hier wird sie beibehalten. Das ist, was den Egoismus anbelangt, der Hauptunterschied. Wir erinnern uns gewöhnlich nicht daran, daß im Grund genommen ja doch nur die erste Person spricht. Ich würde nicht so viel über mich reden, wenn ich irgend jemand anderen ebenso gut kennte. Leider bin ich durch die Beschränktheit meiner Erfahrung auf dieses Thema angewiesen. Auch verlange ich von jedem Schriftsteller, zu Anfang oder am Ende, einen einfachen, aufrichtigen Bericht über sein eigenes Leben, und nicht einen solchen über das Leben anderer Leute; einen Bericht, wie er ihn wohl aus fernem Lande seinen [17] Verwandten zukommen ließe; denn wenn er aufrichtig gelebt hat, so muß das fern von hier gewesen sein. Vielleicht sind diese Zeilen mehr an arme Studenten gerichtet. Meine übrigen Leser müssen sich dasjenige daraus aneignen, was für sie paßt. Ich hoffe, daß niemand die Nähte ausdehnt, wenn er den Rock anprobiert, denn er kann dem, welchem er paßt, möglicherweise gute Dienste leisten.

Ich möchte gern mancherlei sagen, weniger über die Sandwichinsulaner oder die Chinesen als über euch, die ihr diese Zeilen lest, die Bewohner von Neuengland; allerhand über eure Verhältnisse, besonders eure äußeren Verhältnisse in dieser Welt, dieser Stadt; welcher Art sie sind, ob es notwendig ist, daß sie so schlecht sind, wie sie sind, und ob sie nicht ebenso leicht verbessert werden könnten.

Ich bin ziemlich viel in Concord herumgekommen und überall, in den Läden, den Schreibstuben und auf dem Feld, schienen mir die Einwohner auf tausenderlei merkwürdige Weise ihre Sünden abzubüßen. Was man so hört von Brahmanen, welche sich der Hitze von vier Feuern aussetzen und der Sonne ins Antlitz schauen, die sich mit dem Kopf nach unten über Flammen hängen, über ihre Schulter nach dem Himmel blicken, »bis es ihnen unmöglich wird, wieder ihre natürliche Stellung einzunehmen, während infolge ihres verdrehten Halses nur Flüssigkeiten in den Magen gelangen können«, die an einen Baum angekettet ihr Leben verbringen, auf dem Bauche kriechend, wie Raupen, weite Reiche durchmessen oder mit einem Bein auf der Spitze einer Säule stehen – selbst diese Ausdrucksformen bewußter Reue sind kaum unglaublicher und erstaunlicher als die Szenen, deren Zeuge ich täglich bin. Die zwölf Arbeiten des Herkules sind Kleinigkeiten im Vergleich mit denen, welche meine Nachbarn unternehmen; denn jene waren nur zwölf und sie hatten ein Ende; aber ich konnte noch nie bemerken, daß diese Leute ein Ungetüm einfingen oder eine Arbeit zu Ende brachten. Sie haben keinen Freund Jolaos, der mit glühendem Eisen die Hälse der Hydra versengt, sondern sobald ein Kopf zerschmettert ist, wachsen zwei neue nach.

Ich sehe junge Leute, meine Mitbürger, deren Unglück es ist, Güter, Häuser, Scheunen, Vieh und Ackergeräte geerbt zu haben; denn solche Dinge sind leichter zu haben, als wieder [18] loszuwerden. Besser wären sie auf offener Weide geboren und von einer Wölfin gesäugt worden, dann hätten sie mit klareren Augen gesehen, in welchem Feld zu arbeiten sie berufen sind. Wer machte sie zu Sklaven des Bodens? Warum sollen sie ihre 60Morgen Land verzehren, wenn der Mensch doch nur dazu verdammt ist, sein Häufchen Schmutz zu essen? Warum sollen sie anfangen ihr Grab zu graben, kaum daß sie geboren sind? Sie sollen ein Menschendasein leben, all diese Dinge vor sich herschieben und dabei so schnell als möglich vorwärtskommen. Wie mancher armen unsterblichen Seele bin ich begegnet, die fast erstickte und zusammenbrach unter ihrer Bürde; langsam kroch sie die Straße des Lebens hinab und schob dabei 75 auf 40Fuß große Ställe vor sich her, Augiasställe, die nie gereinigt wurden, und hundert Morgen Land, Äcker, Wiesen, Weiden und Waldparzellen. Die Unbegüterten, welche sich nicht mit so viel unnötigen ererbten Hindernissen abzuquälen haben, finden Arbeit genug, wenn sie nur ihre paar Kubikfuß Fleisch bezwingen und kultivieren wollen.

Aber die Menschheit krankt an einem Irrtum. Ihr besserer Teil ist bald als Dünger unter die Erde gepflügt. Infolge eines scheinbaren Verhängnisses, das man gewöhnlich Schicksal nennt, beschäftigt sie sich damit, Schätze zu sammeln, welche die Motten und der Rost fressen und denen die Diebe nachgraben, wie es in dem alten Buche heißt.1 Ein Narrenleben ist es, wird jeder an seinem Ende denken, wenn er zu seinem Ende gelangt, wenn nicht schon früher. Die Sage geht, daß Deukalion und Pyrrha Menschen erzeugten, indem sie Steine über ihre Häupter hinter sich warfen:

Inde genus durum sumus, experiensque laborum

Et documenta damus qua simus origine nati.

Seither sind wir ein hart’ Geschlecht, ausdauernd in Müh und Pein,

Und geben wir Beweis, daß unsre Körper sind aus Stein.

So geht es, wenn man einem unklaren Orakel blind vertraut, Steine über die Köpfe wirft und nicht schaut, wohin sie fallen.

Die meisten Menschen sind, selbst in unserm verhältnismäßig freien Land, aus lauter Unwissenheit und Irrtum so sehr durch die unnatürliche, überflüssige, grobe Arbeit für das Leben in [19] Anspruch genommen, daß seine edleren Früchte von ihnen nicht gepflückt werden können. Von der anstrengenden Arbeit sind ihre Finger zu plump geworden und zittern zu sehr. Tatsächlich hat der arbeitende Mensch Tag für Tag keine Muße zu einer wahren Ganzheit; er kann die Zeit nicht auf bringen, die menschlichsten Beziehungen zu den Menschen zu unterhalten; seine Arbeit würde auf dem Markte im Werte sinken, und er hat keine Zeit, etwas anderes zu sein als eine Maschine. Wie kann derjenige viel an seine Unwissenheit denken – und er muß es tun, wenn er vorwärtsschreiten will –, der so oft von dem, was er weiß, Gebrauch zu machen hat? Wir sollten ihn von Zeit zu Zeit umsonst verpflegen und kleiden und ihn mit einer belebenden Herzstärkung erquicken, ehe wir uns ein Urteil über ihn erlauben. Die schönsten und feinsten Eigenschaften unserer Natur können, wie der duftige Hauch, der auf den Früchten liegt, nur durch die zarteste Behandlung erhalten bleiben.

Aber wir behandeln weder uns selbst noch irgend jemand anders auf so zarte Weise.

Einige von euch sind, wir wissen es alle, arm, finden es hart, zu leben, und müssen hie und da sozusagen nach Luft schnappen. Ich bezweifle nicht, daß mancher, der dies Buch liest, nicht imstande ist, all die Mittagessen, die er in Wirklichkeit schon eingenommen hat, oder die Kleider und Schuhe, die schon abgetragen sind, zu bezahlen, und daß er bis zu dieser Seite nur gekommen ist, weil er zum Lesen geborgte oder gestohlene Zeit verwendet, eine Stunde, um die er seine Gläubiger betrügt. Ich sehe es wohl – denn mein Blick ist durch die Erfahrung geschärft –, was für ein niedriges, kriechendes Leben ihr führt, immer auf der Lauer, bemüht, in Stellung und aus den Schulden herauszukommen, aus dem uralten Sumpf, den die Lateiner aes alienum nannten, andrer Leute Erz, denn einige ihrer Münzen waren aus Erz verfertigt. Ihr lebt und sterbt und werdet begraben von andrer Leute Erz, ihr, die ihr immer zu bezahlen, morgen zu bezahlen versprecht und heute insolvent sterbt; die ihr auf jede Weise – nur nicht durch Gesetzesübertretungen, auf die Gefängnisstrafe droht – versucht, bevorzugt zu werden und Kunden zu bekommen; die ihr lügt und schmeichelt, eure Stimmen abgebt und euch in [20] eine Nußschale von Höflichkeit zusammenzieht oder euch zu einer Atmosphäre dunstiger Großmut ausdehnt, nur um euren Nächsten dazu zu bringen, daß ihr ihm die Schuhe, den Hut, den Wagen machen oder für ihn die Kolonialwaren einführen dürft; die ihr euch krank macht, damit ihr etwas habt, was ihr für Zeiten der Krankheit zurücklegen könnt, etwas, was man in einer alten Kommode oder in einem Strumpf, hinter dem Wandbewurf oder, sicherer, auf der Bank versteckt, auf das wo, wieviel oder wie wenig kommt es nicht an.

Ich wundere mich oft darüber, daß wir so – ich möchte fast sagen – leichtfertig sein können, uns um die grobe, aber etwas ferner liegende Form der Negersklaverei zu bekümmern, wo es so viele strenge und schlaue Herren gibt, die sowohl den Süden wie den Norden in Sklavenketten gefangenhalten. Es ist hart, unter einem südlichen Sklavenaufseher, härter, unter einem nördlichen zu stehen, am schlimmsten aber, wenn wir unsere eigenen Sklavenaufseher sind.

Da redet man vom Göttlichen im Menschen!

Betrachtet doch den Fuhrmann, der zu Markt fährt bei Tag oder bei Nacht. Wo rührt sich in ihm die Gottheit? Seine höchste Pflicht besteht darin, seine Pferde zu füttern und zu tränken. Was liegt ihm an seiner Bestimmung? Fährt er nicht für Herrn Geschaftlhuber? Wie göttlich, wie unsterblich ist der? Seht, wie er sich duckt und kriecht, wie er sich abmüht den ganzen Tag, nicht um unsterblich oder göttlich, sondern der Sklave und Gefangene seiner eigenen Meinung über sich zu sein, ein Ruhm, den er sich durch seine Taten erwirbt. Die öffentliche Meinung ist, mit unserer eigenen Privatmeinung verglichen, ein schwächlicher Tyrann. Das, was der Mensch von sich denkt, das bestimmt sein Schicksal oder weist ihm den Weg. Wo ist der Wilberforce, der in den westindischen Provinzen der Phantasie und Einbildung die Selbstbefreiung herbeiführt? Man denke nur auch an die Damen des Landes, die bis zum letzten Tage Zierkissen sticken, um ja nicht ein zu lebhaftes Interesse an ihrer Bestimmung zu verraten! Als ob man die Zeit totschlagen könnte, ohne die Ewigkeit zu verletzen.

Die große Masse der Menschen führt ein Leben voll Verzweiflung. Was man so Resignation nennt, ist bestätigte Verzweiflung. Aus der Verzweiflung der Stadt zieht man in die [21] Verzweiflung des Landes hinaus und tröstet sich an der Tapferkeit von Sumpfotter und Bisamratte. Eine stereotype, wenn auch unbewußte Verzweiflung ist selbst unter dem versteckt, was man gewöhnlich Vergnügungen und Unterhaltungen der Menschen nennt. Spiel steckt keines darin, denn das kommt nach der Arbeit. Es ist aber ein Kennzeichen der Vernunft, daß man nichts Verzweifeltes unternimmt. –

Wenn wir bedenken, was – um mit den Worten des Katechismus zu reden – die Hauptbestimmung des Menschen ist, und welches die wahren Lebensbedürfnisse und Mittel sind, so sieht es aus, als ob die Menschen die gewöhnliche Lebensweise wählten, weil sie diese jeder andern vorziehen. Dem ist aber nicht so, sie sind nur überzeugt, daß ihnen keine Wahl gelassen sei. Wache und gesunde Naturen aber erinnern sich daran, daß die Sonne klar aufging. Es ist nie zu spät, unsere Vorurteile aufzugeben; auf keine Ansicht, keine Lebensweise, und sei sie noch so alt, kann man sich ohne Prüfung verlassen.

Was heute jeder als wahr nachplappert oder stillschweigend geschehen läßt, kann sich morgen als falsch erweisen – als bloßer Ansichtsdunst, den man für eine Wolke hielt, welche Wiesen und Felder mit fruchtbarem Regen erquicken würde. Was alte Leute für unmöglich erklären, das probieren wir und finden, daß es gemacht werden kann. Alte Dinge für die alten Leute und neue Dinge für die neuen! Es gab eine Zeit, in der die alten Leute nicht einmal wußten, wie sie sich Brennmaterial verschaffen konnten, um ein Feuer anzuhalten. Die Neuen legen ein wenig trockenes Holz unter einen Kessel und sausen um die Erde herum, daß den Alten Hören und Sehen vergeht. Das Alter ist nicht besser, ja kaum so gut imstande zu lehren wie die Jugend, denn es hat nicht soviel gewonnen als es verloren hat. Man darf sogar bezweifeln, ob der weiseste Mensch irgend etwas von absolutem Wert durch das Leben gelernt hat. In Wirklichkeit haben die Alten keinen einzigen wichtigen Rat bereit, den sie den Jungen geben könnten. Ihre eigene Erfahrung war dazu viel zu einseitig, ihr Leben – aus Privatursachen, wie sie glauben – ein erbärmlicher Mißerfolg. Dennoch haben sie möglicherweise noch ein bißchen Vertrauen übrig, das ihre Erfahrung Lügen straft, und sie sind nur weniger jung, als sie waren. Ich habe dreißig Jahre auf diesem Planeten gelebt, [22] hätte aber noch die erste Silbe wertvollen und ernstgemeinten Rates von den Älteren zu vernehmen. Sie haben mir nichts Zweckentsprechendes gesagt und können mir wahrscheinlich nichts sagen. Da ist das Leben – ein zum großen Teil von mir noch nicht ausgeführtes Experiment. Was hilft es mir, daß sie es ausführten? Wenn ich irgendeine Erfahrung gemacht habe, die ich für wertvoll halte, so hatten, ich kann mich darüber besinnen wie ich will, meine Ratgeber mir nichts davon gesagt.

Ein Farmer erklärte mir: »Sie können nicht von Pflanzenkost allein leben, denn sie enthält nichts für den Knochenbau«; und so weiht er andachtsvoll einen Teil seines Tages der Beschäftigung, seine Konstitution mit dem Rohmaterial für Knochen zu versehen; und während er mir vordoziert, geht er hinter seinen Ochsen her, die mit ihren vegetarisch aufgebauten Knochen ihn mitsamt seinem wackeligen Pflug über alle Hindernisse hinwegziehen. Manche Dinge sind in manchen Kreisen, und zwar den ärmsten und hilflosesten, wirkliche Lebensbedürfnisse, in anderen bloße Luxusgegenstände und wieder in anderen gänzlich unbekannt.

Das ganze Gebiet des menschlichen Lebens, Höhen und Tiefen, scheint von unsern Vorfahren begangen und alles bedacht worden zu sein. Nach Evelyn »gab der weise Salomon Vorschriften für die Entfernung der Bäume voneinander; und die römischen Prätoren setzten fest, wie oft jemand auf seines Nachbars Acker gehen dürfe, um die heruntergefallenen Eicheln aufzulesen, und ein wie großer Anteil davon dem Nachbar zukomme«. Hippokrates hat uns angewiesen, wie wir unsere Nägel schneiden sollen: gleich mit den Fingerspitzen, nicht länger und nicht kürzer. Zweifellos sind auch Überdruß und Langeweile, die voraussetzen, Mannigfaltigkeit und Freuden des Lebens ausgekostet zu haben, so alt wie Adam. Aber die menschlichen Fähigkeiten sind noch nie gemessen worden, und wir sind nicht imstande, von dem, was bis jetzt geschehen ist, auf das zu schließen, was geschehen kann, so wenig ist noch versucht worden.

Was auch dein Versehen gewesen sein mag, »betrübe dich nicht, mein Kind, denn wer wird dir anrechnen, was du ungetan ließest?«

[23] An tausend einfachen Proben können wir sehen, ob unser Leben das richtige ist. Dieselbe Sonne, welche meine Bohnen zur Reife bringt, beleuchtet zugleich ein ganzes System von Weltkörpern gleich unserer Erde. Hätte ich rechtzeitig daran gedacht, so wären einige Fehler vermieden worden. Solche Erleuchtung besaß ich nicht, als ich die Bohnen harkte. Wie wunderbar sind die Dreiecke, deren Spitzen von Sternen gebildet werden! Wie viele und verschiedene Wesen betrachten sie im gleichen Moment aus den bunten Wohnungen des Weltalls! Die Natur und das menschliche Leben sind so verschiedenartig wie unsere Konstitution. Wer kann sagen, welche Aussicht das Leben einem andern bietet? Könnte es ein größeres Wunder geben, als wenn es uns ermöglicht wäre, einen Augenblick mit den Augen der andern zu sehen? Alle Jahrtausende der Welt würden wir in einer Stunde durchleben, ja alle Welten der Jahrtausende. Geschichte, Dichtkunst, Mythologie! – Ich habe über die Erfahrung anderer nichts gelesen, das so viel Erstaunliches und Belehrendes mitteilen könnte.

Den größeren Teil von dem, was meine Mitbürger gut nennen, halte ich innerlich für schlecht, und wenn ich irgend etwas bereue, so ist es höchstwahrscheinlich mein gutes Betragen. Von welchem Dämon war ich besessen, daß ich mich so gut benahm? Du kannst so weise sprechen wie nur möglich, alter Mann, der du siebzig Jahre lang nicht ohne eine gewisse Ehre gelebt hast – ich höre eine unwiderstehliche Stimme, die mich von all dem weglockt. Eine Generation verläßt die Unternehmungen der andern wie gestrandete Schiffe.

Wir sollten mehr Vertrauen haben, gerade nur soviel Sorge uns selbst widmen, wie wir aufrichtig anderen zuwenden. Die Natur paßt sich ebensogut unserer Schwäche wie unserer Stärke an. Die unaufhörliche Aufregung und Sorge vieler Menschen ist eine fast unheilbare Krankheitsform. Wir übertreiben die Wichtigkeit von allem, was wir tun, und wie vieles geschieht doch ohne uns! Und wenn wir krank wären? Wie passen wir auf! Wie entschlossen sind wir, ja nicht auf Treu und Glauben zu bauen, wenn wir es vermeiden können! Wie liegen wir auf der Lauer bei Tag und bei Nacht! Ungern nur sagen wir unser Nachtgebet, und zögernd überlassen wir uns der Ungewißheit. So heftig fühlen wir den Drang zu leben, daß [24] wir das Leben anbeten und die Möglichkeit einer Änderung leugnen. »Nur so geht es«, sagen wir. Es geht aber auf so vielerlei Weise, als wir Radien von einem Zentrum ziehen können. Jede Veränderung erscheint uns als ein Wunder: doch vollzieht sich so ein Wunder jeden Augenblick. Konfuzius sagte: »Zu wissen, daß wir wissen, was wir wissen, und daß wir nicht wissen, was wir nicht wissen, das ist wahres Wissen.« Wenn ein Mensch einmal dahin gelangt sein wird, ein Ergebnis seiner Phantasie als Ergebnis seines Verstandes zu erkennen, so werden meiner Voraussicht nach alle Menschen schließlich ihr Leben auf dieser Basis aufbauen.

Laßt uns einmal betrachten, um was sich die erwähnte Sorge und Unruhe dreht und in welchem Maße es nötig ist, daß wir uns beunruhigen oder wenigstens vorsehen. Es wäre von einigem Vorteil, ein bedürfnisloses Grenzleben zu führen, wenn auch inmitten äußerlicher Zivilisation, bloß um zu erfahren, welches die gröberen Lebensbedürfnisse sind und auf welche Weise man zu ihnen gekommen ist; oder alte Geschäftsbücher der Kaufleute zu durchblättern, um zu sehen, was die Menschen am häufigsten kauften, was vor allem auf Lager geführt werden mußte. Denn die Fortschritte von Jahrhunderten haben nur geringen Einfluß auf die Grundgesetze der menschlichen Existenz gehabt: wie unsere Skelette wahrscheinlich nicht von denen unserer Vorfahren zu unterscheiden sind.

Unter dem Worte ›Lebensbedürfnisse‹ verstehe ich alles, was der Mensch sich durch seine Bemühungen erwirbt, was von Anfang an für sein Leben so wichtig war oder es durch langen Gebrauch wurde, daß nur wenige Menschen, wenn überhaupt jemand, sei es aus Wildheit, Armut oder Philosophie, je versuchten, sich ohne dasselbe zu behelfen. Für viele Wesen gibt es in diesem Sinne nur ein Lebensbedürfnis – die Nahrung. Für den Büffel der Prärie bedeutet sie ein paar Quadratzoll schmackhaften Grases und einen Trunk Wasser, vielleicht auch den Schutz des Waldes und den Schatten des Berges. Kein Tier bedarf mehr als Nahrung und Obdach. Die Lebensbedürfnisse des Menschen in unserm Klima lassen sich ziemlich genau unter die Rubriken Nahrung, Wohnung, Kleidung und [25] Brennmaterial verteilen; denn nicht bevor wir uns dieser Dinge versichert haben, sind wir bereit, an die wahren Probleme des Lebens mit Freiheit und einiger Aussicht auf Erfolg heranzutreten. Der Mensch hat nicht bloß Häuser erfunden, sondern auch Kleider und gekochtes Essen, und wahrscheinlich entstand durch die zufällige Entdeckung der Wärme des Feuers und ihrer daraus folgenden Verwendung, die erst nur Luxus war, unser heutiges Bedürfnis nach Heizung. Wir sehen, daß Katzen und Hunde ebenfalls diese zweite Natur annehmen. Durch geeignete Wohnung und Kleidung bewahren wir uns mit Recht unsere innere Wärme. Findet aber durch Übertreibung bei dem Gebrauch dieser Dinge nicht ein förmliches Verbrühen statt? Der Naturforscher Darwin erzählt von den Feuerländern: während er und sein Reisebegleiter gut angezogen um ein Feuer herumsaßen und keiner von ihnen zu warm hatte, sei, zu ihrem Erstaunen, von den weiter hinten stehenden nackten Wilden der Schweiß ›ob solchen Röstens‹ nur so heruntergelaufen. Wir wissen, daß der Neuholländer vergnüglich nackt herumspaziert, während der Europäer in seinen Kleidern friert. Ist es unmöglich, die Abhärtung dieser Wilden mit dem intellektuellen Dasein des zivilisierten Menschen zu verbinden? Nach Liebig ist der Körper ein Ofen und die Nahrung das Brennmaterial, welches die innere Heizung in den Lungen besorgt; bei kaltem Wetter essen wir mehr, bei heißem weniger. Die animalische Wärme ist das Resultat einer langsamen Verbrennung, und Krankheit und Tod treten ein, wenn sie zu rasch vor sich geht oder wenn wegen Mangel an Brennmaterial oder Sauerstoffzufuhr das Feuer ausgeht. Natürlich kann die Lebenswärme nicht mit dem Feuer verglichen werden. Doch genug von dieser Analogie. Der Ausdruck ›animalisches Leben‹ ist also nach Obigem fast gleichlautend mit ›animalischer Wärme‹; denn während die Nahrung als Brennmaterial angesehen werden kann, welches unser inneres Feuer erhält, und das wirkliche Brennmaterial nur dazu dient, diese Nahrung herzustellen oder unsere Körperwärme durch Hinzufügen von außen zu erhöhen, dienen Wohnung und Kleidung nur dazu, die also erzeugte und absorbierte Wärme zu bewahren.

Das große Bedürfnis für unsern Körper besteht also im Warmbleiben, im Erhalten unserer Lebenswärme. Wir geben [26] uns Mühe genug damit, nicht nur mit unserer Nahrung, Kleidung und Wohnung, sondern auch mit unsern Betten, die unsere Nachtkleider sind, indem wir die Nester der Vögel berauben und ihre Brust entblößen, um uns diesen Zufluchtsort innerhalb der Wohnung herzurichten, wie der Maulwurf am Ende seines Ganges sein Bett von Gras und Blättern hat! Der Arme beklagt sich gern darüber, daß dies eine kalte Welt sei, und auf die Kälte, physische sowohl als soziale, führen wir direkt die Entstehung eines großen Teiles unserer Leiden zurück. Unter andern Himmelsstrichen ermöglicht der Sommer dem Menschen ein sozusagen paradiesisches Leben. Brennmaterial braucht er keines, außer um sein Essen zu kochen. Die Sonne ist sein Feuer, und viele Früchte kocht sie genügend mit ihren Strahlen, während abwechslungsreiche Nahrung leicht zu beschaffen ist und Wohnung und Kleidung ganz oder teilweise überflüssig werden. In unserer Zeit und in diesem Land kommen nach meiner eigenen Erfahrung gleich nach diesen Lebensnotwendigkeiten einige Geräte, wie ein Messer, eine Axt, ein Spaten, ein Schubkarren etc. und für den Studierenden Lampenlicht, Schreibmaterial und die Möglichkeit des Gebrauches einiger weniger Bücher. Alles das ist um wenig Geld zu haben. Und doch gibt es Leute – Weise kann ich sie nicht nennen –, welche auf die andere Seite des Erdballs in barbarische, ungesunde Gegenden gehen und sich io bis 20Jahre lang dem Handel widmen, um leben, das heißt sich gemütlich warm halten, und schließlich in Neuengland sterben zu können. Die in Reichtum und Luxus Lebenden halten sich nicht nur gemütlich warm, sondern unnatürlich heiß. Sie werden gekocht, aber natürlich à la mode. –

Das meiste von dem, was man unter dem Namen Luxus zusammenfaßt, und viele der sogenannten Bequemlichkeiten des Lebens sind nicht nur zu entbehren, sondern geradezu Hindernisse für den Aufstieg des Menschengeschlechtes. Was Luxus und Bequemlichkeiten anbelangt, so haben die Weisesten immer ein einfacheres und ärmlicheres Leben geführt als die Armen. Niemand war ärmer an äußern Reichtümern als die alten chinesischen, indischen, persischen und griechischen Philosophen, niemand aber auch so reich an innern. Wir wissen nicht viel von ihnen. Merkwürdig ist, daß wir so viel von ihnen [27] wissen. Das gleiche läßt sich von den neueren Reformatoren und Wohltätern der Menschheit sagen. Nur von dem günstigen Standpunkt aus, den wir freiwillige Armut nennen, kann das menschliche Leben unparteiisch und vernünftig beurteilt werden. Die Frucht eines Luxuslebens ist Luxus, sei es im Ackerbau, im Handel, in Literatur oder Kunst. Heutzutage gibt es Professoren der Philosophie, aber keine Philosophen. Es läßt sich trefflich darüber dozieren, wie trefflich man einst sein Leben verbrachte. Um ein Philosoph zu sein, ist es nicht genug, geistreiche Gedanken zu haben oder eine Schule zu gründen, sondern man muß die Weisheit so lieben, daß man nach ihr lebt, ein Leben der Einfachheit, der Unabhängigkeit, der Großmut und des Vertrauens. Man muß einige der Lebensrätsel nicht theoretisch, sondern praktisch lösen. Der Erfolg großer Gelehrter und Denker ist gewöhnlich ein Höflingserfolg, kein königlicher, männlicher. Mit Hilfe ihres Anpassungsvermögens drücken sie sich kümmerlich durchs Leben, wie es ihre Väter taten, und sind nach keiner Richtung hin die Erzeuger einer edleren Menschenrasse. Warum aber degenerieren die Menschen immer? Was verursacht das Aussterben von Familien? Welcher Art ist der Luxus, der Nationen entnervt und zerstört? Sind wir sicher, daß nichts davon in unserm eigenen Leben ist? Der Philosoph eilt seiner Zeit voraus, auch in seiner äußeren Lebensweise. Er wohnt nicht, nährt, kleidet und wärmt sich nicht wie seine Zeitgenossen. Wie kann jemand ein Philosoph und doch nicht imstande sein, seine Lebenswärme besser zu bewahren als die andern Leute?

Wenn der Mensch durch die verschiedenen besprochenen Methoden warm gehalten wird, was braucht er dann zunächst? Gewiß nicht noch mehr Wärme von der gleichen Art, wie mehr und reichere Nahrung, größere und prächtigere Häuser, feinere und zahlreichere Kleider, mehr, anhaltendere und ausgiebigere Heizungen und so weiter. Wenn er die Dinge hat, die zum Leben nötig sind, so gibt es noch andere Bestrebungen, als sich um das Überflüssige zu bemühen: es steht ihm jetzt frei, sich dem Leben selbst zuzuwenden, da er von der niederen Arbeit beurlaubt ist. Der Boden scheint für den Samen geeignet zu sein, denn der Keim, den der Mensch hinabsenkte, hat Wurzel gefaßt; jetzt darf er vertrauensvoll nach oben [28] streben. Warum hat sich der Mensch so tief in der Erde eingewurzelt, wenn er nicht im gleichen Verhältnis dem Himmel über sich entgegenwachsen will? Die edleren Pflanzen werden nach den Früchten geschätzt, die sie schließlich in Sonne und Licht fern von der Erde zeitigen. Man behandelt sie nicht wie die niederen Nährpflanzen, die oft, auch wenn sie mehrjährig sind, nur so lang gezogen werden, bis ihre Wurzel ausgewachsen ist, ja deren oberer Teil oft ganz weggeschnitten wird, so daß die meisten Leute sie in ihrer Blütezeit gar nicht kennen würden.

Ich habe nicht vor, kräftigen und mutigen Naturen Vorschriften zu machen, solchen, die, sei es im Himmel oder in der Hölle, für sich selbst zu sorgen wissen, die großartiger bauen und verschwenderischer leben als die Reichsten und dabei doch nicht verarmen, die selbst nicht wissen, auf welchem Fuß sie leben – wenn es solche gibt, wie die Sage geht. Auch jenen nicht, die Aufmunterung und Begeisterung gerade in den gegenwärtigen Zuständen finden, und dieselben mit der Zärtlichkeit und dem Enthusiasmus Liebender hegen – in gewissem Sinne rechne ich mich selbst unter diese Zahl. Ich spreche auch nicht zu denen, die sich, unter welchen Umständen es auch sei, gut beschäftigen und sich darüber klar sind, ob sie sich gut beschäftigen oder nicht. Nur zu der Masse jener Menschen spreche ich, die unzufrieden sind und sich vergeblich über die Härte des Schicksals oder der Zeiten beklagen, während sie beides doch verbessern könnten. Manche sind deswegen ungemein heftig und untröstlich in ihren Klagen, weil sie, wie sie behaupten, ihre Pflicht tun. Ferner denke ich an die scheinbar wohlhabende, aber bemitleidenswerteste und ärmste Klasse von allen: die Menschen, welche Geld aufgehäuft haben und nicht wissen, wie sie es gebrauchen oder wieder anbringen sollen, und die damit selbst ihre goldenen oder silbernen Ketten schmiedeten.

Wenn ich versuchen wollte zu erzählen, wie ich früher mein Leben verbrachte, so wären wahrscheinlich diejenigen meiner Leser, welche einigermaßen mit seiner wirklichen Geschichte bekannt sind, etwas überrascht; noch mehr würde es die [29] erstaunen, welche nichts davon wissen. Ich will nur einige meiner Lieblingsunternehmungen andeuten.

Bei jedem Wetter, zu jeder Tages- und Nachtstunde war ich bemüht, den rechten Moment auszunützen und meinen Stock entsprechend einzukerben; auf der Linie zu stehen, wo zwei Ewigkeiten Zusammentreffen, die Vergangenheit und die Zukunft, welches genau – der gegenwärtige Augenblick ist. Man wird mir einige Unklarheit verzeihen müssen, denn in meinem Geschäft gibt es mehr Geheimnisse als in den meisten andern, aber sie werden nicht absichtlich bewahrt, sondern die Natur der Sache bringt es mit sich. Ich würde gern alles ausplaudern und niemals »Eintritt verboten!« auf das Tor schreiben.

Vor langen Jahren verlor ich einen Jagdhund, ein braunes Pferd und eine Turteltaube2, und immer bin ich darnach auf der Suche. Mit vielen Wanderern, die mir begegneten, sprach ich darüber, beschrieb ihnen die Spuren, die Verlorenen und auf welchen Ruf sie hörten. Einige hatten das Bellen des Hundes und den Hufschlag des Pferdes gehört, hatten selbst die Taube hinter einer Wolke verschwinden sehen, und sie zeigten sich so begierig, sie wieder einzufangen, als ob sie selbst sie verloren hätten.

Wie oft war ich – um nicht nur dem Sonnenaufgang und der Morgendämmerung, nein, womöglich der Natur selbst zuvorzukommen – frühmorgens im Sommer und Winter, ehe noch ein Nachbar sich rührte, um an die Arbeit zu gehen, schon an der meinen! Viele meiner Mitbürger müssen mich gesehen haben, wenn ich von diesem Unternehmen zurückkehrte, Farmer, die im Zwielicht nach Boston reisten, oder Holzhauer, die zur Arbeit gingen. Freilich unterstützte ich die Sonne nicht erheblich beim Aufgehen, doch bezweifle ich nicht, daß meine bloße Gegenwart bei dem Akt von größter Wichtigkeit war.

Wie viele Herbst- und Wintertage verbrachte ich außerhalb der Stadt, um zu hören, was der Wind sagte, und die Botschaft als Eilgut weiterzutragen. Fast mein ganzes Kapital steckte ich hinein und meinen Atem dazu, wenn ich ihm entgegenlief. Seine Botschaft betraf keine der politischen Parteien, sonst wäre sie so schnell wie möglich in der Zeitung erschienen, verlaßt euch darauf. Dann hielt ich wieder Wache von dem Observatorium eines Felsens oder Baumes aus, um eine [30] interessante Ankunft weiterzutelegraphieren; oder ich wartete abends auf den Hügelspitzen, ob der Himmel herunterkäme, damit ich etwas davon erwischen könnte, aber ich erwischte nie viel, und selbst das wurde wie Manna von der Sonne wieder aufgezehrt.

Ziemlich lange war ich Reporter bei einer nicht sehr weitverbreiteten Zeitung, deren Herausgeber sich noch nicht veranlaßt gesehen hat, den größeren Teil meiner Beiträge drucken zu lassen, und so hatte ich, wie es den Schriftstellern nur zu häufig ergeht, für meine Mühe keine andere Bezahlung als meine Arbeit. In diesem Fall aber trug meine Mühe ihren Lohn in sich.

Viele Jahre war ich selbstangestellter Inspektor von Schneestürmen, Regengüssen und Gewittern, und ich erfüllte getreulich meine Pflicht; Aufseher, wenn nicht von Landstraßen, so doch von Waldpfaden, die ich das ganze Jahr hindurch gangbar erhielt, kleinen Schluchten, die ich überall dort überbrückte, wo Fußstapfen des Publikums den Nutzen davon nachwiesen.

Ich kümmerte mich um den Wildstand des Stadtgebietes und hatte als getreuer Hirte Arbeit genug damit, weil die Tiere immer über die Zäune setzten; den stillen Ecken und Winkeln der Farm wendete ich meine Aufmerksamkeit zu, wenn ich auch nicht immer wußte, ob Jonas oder Salomo auf einem bestimmten Feld heute arbeitete – das ging mich auch nichts an.

Ich begoß die roten Heidelbeeren, die Sandkirsche und den Nesselbaum, die Rottanne und Schwarzesche, den weißen Wein und das Gelbveilchen, die sonst in der trockenen Jahreszeit hätten verdorren können.

So tat ich lang und unverdrossen meine Pflicht, bis es immer augenscheinlicher wurde, daß trotz alledem meine Mitbürger nicht beabsichtigten, mich in den Stadtrat zu wählen oder meine Anstellung zu einer festen mit mäßigem Gehalte zu machen. Meine Rechnung, deren gewissenhafte Zusammenstellung ich beschwören kann, ist niemals in Augenschein genommen worden, ja sie wurde niemals akzeptiert, noch weniger bezahlt und beglichen. Doch daran habe ich mein Herz nicht gehängt.

Vor kurzem kam ein hausierender Indianer zum Hause eines in meiner Nachbarschaft wohlbekannten Rechtsanwaltes, um Körbe zu verkaufen.

[31] »Wollen Sie Körbe kaufen?« fragte er.

»Nein, wir brauchen keine«, war die Antwort.

»Was«, rief der Indianer, als er zum Tor herauskam, »wollt Ihr uns vielleicht verhungern lassen?«

Da er gesehen hatte, wie gut es seinen fleißigen weißen Nachbarn erging, daß der Anwalt nur Argumente zu flechten brauchte und wie durch Zauberei Wohlstand und Ansehen folgten, dachte er bei sich: ›Ich will auch ein Geschäft anfangen, will Körbe flechten, das ist etwas, was ich kann.‹ Er glaubte, daß er seine Schuldigkeit getan habe, nachdem er die Körbe gemacht hatte, und daß es die Schuldigkeit der Weißen sei, sie zu kaufen. Er hatte nicht entdeckt, daß er dafür Sorge zu tragen habe, daß es dem andern der Mühe wert sei, sie zu kaufen, oder ihn dies wenigstens glauben zu machen oder irgendwas anderes zu fabrizieren, das der andere für kaufenswert ansähe. Ich hatte auch eine Art Körbchen aus zartem Geflecht gearbeitet, aber niemand hielt es der Mühe wert, es zu kaufen. Nichtsdestoweniger hielt ich’s der Mühe wert, es zu flechten, und statt damit hausieren zu gehen, überlegte ich, wie ich der Notwendigkeit, es zu verkaufen, enthoben werden könnte. Es gibt nur eine Lebensweise, welche von den Menschen gepriesen und als ein Erfolg angesehen wird. Warum sollten wir aber die eine auf Kosten der andern aufbauschen?

Als ich nun einsah, daß meine Mitbürger kaum geneigt schienen, mir eine Wohnung im Rathaus oder irgendwo sonst eine Anstellung anzubieten, sondern daß ich selbst Zusehen müsse, wie ich durchkomme, so wandte ich mich mehr als je dem Walde zu, wo ich besser bekannt war. Ich beschloß, sogleich ins Geschäft zu gehen und nicht erst noch das gewöhnliche Kapital zu erwerben, sondern die bescheidenen Mittel, die ich schon besaß, zu nützen. Als ich mich zum Waldenteich zurückzog, beabsichtigte ich nicht, dort billiger oder teurer zu leben als vorher, sondern eine Privatangelegenheit unter den geringstmöglichen Hindernissen zu erledigen. Es wäre weniger bedauerlich als töricht gewesen, sich davon aus Mangel an ein wenig gesundem Menschenverstand, Unternehmungsgeist und Geschäftstalent abhalten zu lassen.

Ich gab mir immer Mühe, mir eine strenge Geschäftsroutine anzueignen. Sie ist für jedermann unerläßlich. Für den, der [32] mit dem ›Himmlischen Reich3‹ in Handelsbeziehungen tritt, ist es vorteilhaft, eine kleine Geschäftsstelle an der Küste, in irgendeinem Salem-Hafen zu errichten. Man exportiert, was das Land hervorbringt, viel Eis und Tannenholz, auch etwas Granit.

Das wird sich als ganz rentabel erweisen. Alle Details persönlich zu überwachen, Lotse und Kapitän, Eigentümer und Prokurist zu sein, zu kaufen, zu verkaufen und Buch zu führen, jeden Brief, der ankommt, zu lesen und jeden, der abgeht, zu schreiben und zu lesen, die Erledigung des Importgeschäftes Tag und Nacht zu überwachen, an vielen Orten der Küste fast gleichzeitig zu sein, sein eigener Telegraph zu sein, der unermüdlich den Horizont absucht und alle zum Landen bestimmten Schiffe anspricht, über den Markt stets informiert zu bleiben, die Aussichten auf Krieg oder Frieden in allen Ländern und die Tendenz des Handels und der Zivilisation vorherzusehen, sich die Resultate aller Forschungsreisen nutzbar zu machen, indem man neue Durchfahrten und alle Verbesserungen in der Schiffahrt ausnützt; Karten zu studieren, die Lage von Riffen, Leuchttürmen und Bojen festzustellen und immer und ewig Logarithmentabellen zu korrigieren, denn oft schon zerbarst infolge eines Berechnungsfehlers ein Schiff auf einem Felsen, statt die freundliche Landungsstelle zu erreichen – man denke nur an die noch unerzählte Geschichte von La Pérouse; Schritt zu halten mit der universellen Wissenschaft, indem das Leben aller großen Entdecker und Schiffahrer, aller Unternehmer und Kaufleute, von Hanno und den Phöniziern bis auf den heutigen Tag, studiert wird; schließlich von Zeit zu Zeit das Inventar aufzunehmen und die Bilanz zu ziehen, um zu wissen, wie man steht – das ist Arbeit genug, um die Leistungsfähigkeit eines Mannes zu prüfen. Solche Probleme von Gewinn und Verlust, von Verzinsung, von Brutto, Tara und Eichung verlangen wohl zu ihrer Lösung ein universelles Wissen.

Ich dachte mir, der Waldenteich müßte ein guter Geschäftsplatz sein, nicht bloß wegen der Eisenbahn und des Eishandels; er bietet Vorteile, die man, wenn man politisch klug verfahren will, am besten nicht bekanntmacht; es ist ein guter Posten mit guter Fundierung. Keine Newasümpfe sind auszufüllen, und doch muß man überall auf selbstgefügtem Fundamente bauen. [33] Es heißt, daß eine Sturmflut bei Westwind mit Eisgang in der Newa St.Petersburg vom Angesicht der Erde wegfegen würde.

Da das Geschäft ohne das sonst übliche Kapital angefangen werden mußte, so wird es nicht leicht sein zu erraten, woher die zu einem derartigen Unternehmen unentbehrlichen Mittel beschafft werden sollten.

Was die Kleidung anbelangt, um gleich zum praktischen Teil der Frage zu gelangen, so lassen wir uns vielleicht häufiger durch Neuerungssucht und die Rücksicht auf die Ansicht der Leute bestimmen, als durch die wahre Nützlichkeit. Wer zu arbeiten hat, der möge bedenken, daß der Zweck der Kleidung erstens der ist, die Lebenswärme zu bewahren – und zweitens in unserer Gesellschaftsordnung die Nacktheit zu verdecken; er wird dann ermessen, wieviel nötige oder wichtige Arbeit verrichtet werden kann, ohne daß er seine Garderobe bereichert. – Könige und Königinnen, die einen Anzug nur einmal tragen, können, obwohl dieser von königlichen Hoflieferanten hergestellt ist, nicht wissen, wie bequem ein Anzug ist, der sitzt. Sie sind nur hölzerne Ständer, über welche die Kleider gehängt werden. Mit jedem Tag werden unsere Kleider uns selbst ähnlicher, erhalten immer mehr das Gepräge des Charakters ihres Trägers, und schließlich legen wir sie nur ungern ab, nachdem wir den Zeitpunkt so lang als möglich hinausgeschoben, an ihnen herumkuriert und allerhand Feierlichkeiten mit ihnen veranstaltet haben, wie mit unserm Körper selber. Kein Mensch stand noch deshalb tiefer in meiner Achtung, weil er einen Fleck auf dem Rock hatte, doch bin ich überzeugt, daß man im allgemeinen mehr darauf besorgt ist, moderne oder wenigstens reine und ungeflickte Kleider zu besitzen, als ein reines Gewissen. Aber selbst wenn der Riß nicht geflickt ist, so ist vielleicht das schlimmste Laster, das er verrät, Unbedachtsamkeit. Manchmal stelle ich meine Bekannten durch Fragen wie die folgende auf die Probe: »Wer kann einen Flecken oder auch nur zwei Extranähte über dem Knie tragen?« – Die meisten benehmen sich, als ob sie glaubten, ihre Lebensaussichten wären ruiniert, wenn sie es täten. Für sie wäre es leichter, mit einem gebrochenen Bein als mit einem zerrissenen Beinkleid zur Stadt zu humpeln. Stößt den Beinen eines Herrn ein Unfall zu, [34] so läßt sich das oft wiedergutmachen, passiert aber ein ähnlicher Unfall seinen Hosenbeinen, so gibt es dafür keine Hilfe; denn er kümmert sich nicht um das, was Achtung verdient, sondern um das, was geachtet wird. Wir kennen nur wenig Männer, aber viele Röcke und Beinkleider. Ziehe einer Vogelscheuche deinen neuesten Anzug an und stelle dich ohne Anzug nebendran, wer würde da nicht zuerst die Vogelscheuche grüßen? Als ich kürzlich an einem Kornfeld, wo Hut und Rock auf einem Stock hingen, vorbeikam, erkannte ich sofort den Besitzer der Farm. Er sah nur ein bißchen verwitterter aus als das letzte Mal, da ich ihn sah. Ich hörte einmal von einem Hund, der jeden Fremden, der sich in Kleidern dem Hause näherte, anbellte, sich aber leicht von einem nackten Dieb beruhigen ließ. Es ist eine interessante Frage, bis zu welchem Grad die Menschen ihren relativen Rang behaupten würden, wenn sie ihrer Kleider entledigt wären. Könnte man in diesem Fall wirklich eine Gruppe zivilisierter Menschen mit Bestimmtheit als die am meisten geachtete Klasse bezeichnen? Als Madame Pfeiffer nach ihrer abenteuerreichen Reise von Ost nach Westen um die Erde und bei der Rückkehr ins asiatische Rußland gekommen war, »fühlte sie die Notwendigkeit, ihr Reisekostüm, um mit den Behörden verkehren zu können, mit einem andern zu vertauschen, denn sie war jetzt in einem zivilisierten Land, wo die Menschen nach ihren Kleidern beurteilt werden«. Selbst in unsern demokratischen neuenglischen Städten verschafft allein der zufällige Besitz von Vermögen und dessen Manifestation in Kleidung und Ausstattung dem Besitzer fast allgemeine Achtung. Aber die, welche diese Achtung zollen, sind, wie zahlreich sie auch sind, nur Götzendiener, denen man einen Missionar schicken sollte. Ferner hat die Kleidung das Nähen eingeführt, eine Arbeit, die man endlos nennen kann; ein Frauenkleid wenigstens wird niemals fertig.

Der Mensch, der endlich etwas zu tun gefunden hat, wird für diese Beschäftigung keinen neuen Anzug brauchen; der alte, der staubig seit unbestimmter Zeit auf dem Speicher gelegen, tut es noch. Alte Schuhe dienen einem Helden länger, als sie seinem Kammerdiener dienen würden – wenn ein Held jemals einen Kammerdiener hat –, nackte Füße sind älter als Schuhe, und auch mit ihnen kann er sich begnügen. Nur [35] diejenigen, welche Soireen und politisierende Gesellschaften besuchen, brauchen neue Röcke, die sie so oft wechseln müssen, wie der Mensch darinnen wechselt. Sind aber meine Jacke und Hosen, mein Hut und meine Schuhe gut genug, um Gott darin zu dienen, so sind sie überhaupt gut genug, oder nicht? Wer hat jemals seine alten Kleider, seinen alten Rock so abgetragen, so in seine ursprünglichen Elemente aufgelöst, daß es keine Wohltat mehr war, ihn einem armen Jungen zu schenken, damit der ihn vielleicht einem noch ärmeren schenkte? Oder sollen wir ihn einen reicheren nennen, da er sich mit weniger begnügen konnte? Ich sage euch aber: Hütet euch vor allen Unternehmungen, die neue Kleider und nicht vielmehr einen neuen Träger derselben verlangen. Ist der Mensch nicht neu, wie soll der neue Anzug passen? Die Menschen brauchen nicht etwas, womit oder worin sie es tun, sondern sie müssen etwas tun schlechthin oder vielmehr: etwas sein. Vielleicht sollten wir nie einen neuen Anzug anschaffen – wie lumpig und zerrissen der alte auch sei –, bis wir so gelebt, derartiges ausgeführt haben und unser Lebensschiff so gelenkt haben, daß wir uns im alten Gewand als neue Menschen fühlen, und es beizubehalten, neuen Wein in alte Schläuche füllen hieße. Das Mausern muß wie bei den Vögeln eine Krisis in unserem Leben sein. Der Taucher zieht sich während ihrer Dauer auf einsame Teiche zurück. Auch die Schlange wirft ihre Haut und die Raupe ihren wurmigen Rock infolge einer inneren Arbeit und Ausdehnung ab; denn die Kleider sind nur unsere äußere Haut. Sonst wird einmal entdeckt, daß wir unter falscher Flagge segeln, und wir werden unfehlbar von unserer eigenen Meinung und der der Menschen kassiert.

Wir ziehen ein Gewand über das andere an, als ob wir wie exogene Pflanzen durch Zunahme von außen wüchsen. Unsere äußeren, oft dünnen und phantastischen Kleider sind die Epidermis oder falsche Haut, die nicht viel an unserem Leben teilnimmt und ohne schwere Folgen hier und dort abgestreift werden kann; die dickeren, beständig getragenen Kleider sind das Zellengewebe oder die Borke; aber das Hemd ist unser hast, die wahre Rinde, die, außer zum Verderben des Menschen, nicht entfernt werden kann. Ich glaube, daß alle Rassen zu bestimmten Jahreszeiten etwas unserm Hemd [36] Ähnliches tragen. Der Mensch sollte sich so einfach kleiden, daß er sich im Dunkeln anziehen kann, und sollte in jeder Hinsicht so geschlossen und vorbereitet leben, daß er, wenn der Feind die Stadt einnimmt, ohne Sorge mit leeren Händen, wie jener alte Philosoph, zum Tore hinausgehen kann. Ein dickes Kleidungsstück ist in den meisten Fällen so gut wie drei dünne, und Kleider können wirklich billig und preiswert gekauft werden: ein dicker Rock, der ebenso viele Jahre lang hält, für fünf Dollar, dicke Beinkleider für zwei Dollar, rindslederne Schuhe für anderthalb Dollar das Paar, ein Sommerhut für 25Cent und eine Wintermütze für 62½ Cent, während eine bessere um den gleichen Preis zu Hause gemacht wird; wo ist jemand, der so arm wäre, daß sich, wenn er in einem solchen selbstverdienten Anzug steckt, nicht ein weiser Mann fände, der seinen Hut vor ihm herunternähme?

Wenn ich ein Kleidungsstück von einer bestimmten Form bestelle, so sagt mir meine Schneiderin mit ernster Miene: »Man macht das jetzt nicht so«, ohne das ›man‹ irgendwie zu betonen, als ob sie eine so unpersönliche Autorität zitierte wie das Schicksal. Ich finde es dann schwierig, das gemacht zu erhalten, was ich haben will, nur weil sie nicht glauben kann, daß ich wirklich meine, was ich sage, und mich für unbesonnen hält. Wenn ich ihren orakelhaften Ausspruch höre, so versinke ich einen Moment in Nachdenken; ich muß mir jedes Wort einzeln wiederholen, um daraufzukommen, was es heißen soll, um herauszufinden, in welchem Grad der Blutsverwandtschaft ›man‹ zu mir steht und welche Autorität ›man‹ in einer Angelegenheit hat, die mich so nah angeht. Schließlich sehe ich mich veranlaßt, ihr gleich geheimnisvoll und indem ich ebensowenig das ›man‹ betone, zu antworten: »Es ist wahr, man machte das kürzlich nicht so, aber jetzt tut man es.« Wozu ist das Messen gut, wenn sie nicht auch von meinem Charakter, statt nur von der Schulterbreite das Maß nimmt, als ob ich ein Gestell wäre, auf das der Rock gehängt werden soll? Wir beten nicht die Grazien und nicht die Parzen, sondern nur die Mode an. Sie spinnt und webt und schneidet ab mit voller Autorität. Der Oberaffe in Paris setzt eine Reisemütze auf, und alle Affen in Amerika tun das gleiche.

Ich möchte manchmal verzweifeln bei dem Gedanken, ob [37] irgend etwas ganz Einfaches und Ehrliches überhaupt durch die Menschen zustande gebracht werden kann. Man müßte sie erst durch eine gewaltige Presse hindurchtreiben, bis all ihre alten Anschauungen aus ihnen herausgequetscht wären, so daß sie nicht so bald wieder auf die Beine kämen. Und doch: es brauchte nur einer dabeigewesen zu sein mit einer Larve im Kopf, die aus irgendeinem Ei kam, von dem niemand weiß, wann es gelegt wurde – denn nicht einmal das Feuer bringt solches Zeug um –, und die ganze Arbeit wäre umsonst gewesen. Nichtsdestoweniger wollen wir nicht vergessen, daß wir durch eine Mumie in Besitz von ägyptischem Weizen gelangten.

Im allgemeinen kann, meiner Ansicht nach, nicht behauptet werden, die Bekleidung sei in unserm oder einem andern Land zur Würde einer Kunst emporgestiegen. Heutzutage begnügen sich die Menschen damit, zu tragen, was sie kriegen können. Wie Schiffbrüchige ziehen sie an, was sie am Ufer finden, und nach kurzem Abstand von Zeit oder Raum lachen sie einander wegen ihrer Maskerade aus.

Jede Generation lacht über die alte Mode und folgt andachtsvoll der neuen. Wir amüsieren uns beim Anblick der Tracht Heinrichs VIII