Waldesgrab - Lene Schwarz - E-Book

Waldesgrab E-Book

Lene Schwarz

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Beschreibung

Im dunklen, dunklen Wald … Ruhig und idyllisch liegt das urtümliche Gasthaus «Quellbach» inmitten eines riesigen Waldgebiets im Harz. Auch der Koch Leon Bosch schätzt die Abgeschiedenheit – bis er im Dunkel der hohen Bäume eine grauenvolle Entdeckung macht: eine tote Frau, in deren Brust kein Herz mehr steckt, sondern ein pechschwarzer Quarzstein. Weitere ähnlich zugerichtete Leichen tauchen auf, und Leon macht sich auf die fieberhafte Suche nach dem Mörder. Sein größter Alptraum ist wahr geworden: Der Wald hat sein Schweigen gebrochen. Denn die Steine in den Toten drohen, das dunkle Geheimnis zu verraten, das Leon Jahre zuvor unter den hohen Bäumen vergraben und für immer in Sicherheit geglaubt hatte. … lauert das Böse.

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Seitenzahl: 510

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Ähnliche


Lene Schwarz

Waldesgrab

Kriminalroman

Über dieses Buch

Im dunklen, dunklen Wald …

 

Ruhig und idyllisch liegt das urtümliche Gasthaus «Quellbach» inmitten eines riesigen Waldgebiets im Harz. Auch der Koch Leon Bosch schätzt die Abgeschiedenheit – bis er im Dunkel der hohen Bäume eine grauenvolle Entdeckung macht: eine tote Frau, in deren Brust kein Herz mehr steckt, sondern ein pechschwarzer Quarzstein. Weitere ähnlich zugerichtete Leichen tauchen auf, und Leon macht sich auf die fieberhafte Suche nach dem Mörder. Sein größter Albtraum ist wahr geworden: Der Wald hat sein Schweigen gebrochen. Denn die Steine in den Toten drohen, das dunkle Geheimnis zu verraten, das Leon Jahre zuvor unter den hohen Bäumen vergraben und für immer in Sicherheit geglaubt hatte.

 

… lauert das Böse.

Vita

Lene Schwarz wurde 1976 in Thüringen geboren. Nach Abschluss des Studiums der Literaturwissenschaften in Berlin und Bologna hat es sie in die Verlagsbranche verschlagen. Ihre große Leidenschaft gilt spannenden Kriminalfällen. Sie lebt mit ihrer Familie in einer alten Mühle am Stadtrand von München und träumt davon, über den perfekten Mord zu schreiben. «Waldesgrab» ist ihr Debütroman.

Ein Baum strebt immer nach dem Licht –

der Mensch aber hat die Wahl zwischen hell und dunkel.

Prolog

Als Leon durch das offene Eisentor rollte, war es schon nach fünf. Das satte Azurblau des Spätnachmittags ergoss sich über die spitzen Wipfel, deren Grün im abnehmenden Licht langsam dunkler wurde. Sein Parkplatz war der erste auf dem Grundstück, etwa fünfzig Meter hinter dem Tor nach links in eine kleine Waldbucht hinein, wo außer ihm nur im Winter der Schneepflug-Jeep des Hausmeisters stand.

Er hielt vor der großen Lärche, stieg aus und warf die Fahrertür zu. In der Stille des Waldes klang der Schlag wie ein Gewehrschuss. Besitzergreifend warf die Lärche ihren ausladenden Schatten auf ihn. Er mochte den Baum, der im Winter ohne seine weichen Nadeln irgendwie schutzlos und nackt wirkte, zwischen all den immergrünen Fichten und Kiefern ringsum. Jetzt im Sommer jedoch strahlte die Lärche etwas Majestätisches aus. Ihre langen, krummen Zweige waren weit ausgebreitet, als forderte sie von den benachbarten Bäumen einen gebührenden Abstand. Diese schienen zu gehorchen, sodass in ihrem Rücken und zu ihren Seiten ein Halbkreis aus Sonnenlicht auf den Waldboden traf.

Hinter dem Lärchenstamm, neben einer Wurzelschlaufe, stand noch immer der Steinpilz, den Leon bereits beim Wegfahren entdeckt hatte, und so holte er sein Taschenmesser aus der Hosentasche. Kaum hatte er einen Schritt in den Wald gesetzt, da sah er das Reh. Es stand keine fünf Meter entfernt im Zwielicht unter den Bäumen. Leon traute seinen Augen nicht. Was machte es so nah am Gasthaus? Und wieso rannte es nicht weg? Hatte es ihn nicht gehört, obwohl er gerade die Autotür zugeschlagen hatte?

Er rechnete damit, dass das Tier jeden Moment wegsprang. Doch es blieb reglos stehen und starrte ihn mit seinen riesigen schwarzen Augen unentwegt an. Sie waren matt, ohne jeglichen Glanz. Auch die großen, weit aufgestellten Lauscher zuckten nicht. Das Reh stand tot im Wald.

Leon blinzelte, um seine Augen an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Das Tier stand nicht aufrecht, er sah keine Beine. Vielmehr schien es irgendwie in sich zusammengesackt, nur sein Rumpf lehnte seitlich am Stamm einer Fichte, in einer ungewöhnlichen Haltung. Es wirkte wie ein erschöpfter Wanderer, der neben einem Baum saß und sich mit Schulter und Schläfe an den Stamm schmiegte, um ein Nickerchen zu machen. Leon bemerkte, dass noch etwas mit dem Reh nicht stimmte. An seinem Hals befand sich eine seltsame Verdickung, sein Rumpf wirkte unförmig und viel zu lang.

Langsam und gebückt ging er unter der Lärche hindurch. Konturen schärften sich, Farben traten deutlicher hervor. Das rostbraune Fell war stumpf, fast so, als sei das Tier schon länger tot. Er richtete sich auf und ging in einem Bogen um das Reh herum, bevor er sich ihm mit vorsichtigen Schritten näherte. Der säuerliche Geruch von ausgenommenem Wild drang ihm in die Nase, und er hielt sich die Hand vors Gesicht.

Er war bis auf zwei Schritte herangekommen, als er abrupt stehenblieb. Die Fragmente des Bildes, das sich ihm bot, waren so unglaublich und falsch, dass er sich mit aller Kraft konzentrieren musste, um sie zu einem logischen Ganzen zusammenzusetzen. Als es ihm schließlich gelang, hatte er das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Die deutliche Verdickung, die das Tier anstelle eines Halses hatte, war nicht mit Fell bewachsen. Es waren Haare. Blonde Haare, zu schmutzigen Strähnen verklumpt. Leons Zehen krümmten sich in seinen Schuhen. Er brauchte Halt, musste sich irgendwo abstützen. Seine Hand krallte sich in die raue Rinde einer Kiefer, er rutschte ab. Aus seinem aufgeschürften Handballen rann Blut.

Er ignorierte das brennende Gefühl und zwang sich, erneut zu den verklebten Strähnen zu sehen. Er blickte auf den Kopf eines Menschen, dem das Haupt eines toten Rehs wie eine Haube übergestülpt war. Dieser Mensch saß auf dem Waldboden, mit der linken Seite lehnte er an der Fichte. Was Leon für den Rumpf des Tieres gehalten hatte, war in Wirklichkeit ein menschlicher Rücken. Er war unter einem Rehpelz verborgen.

Leons Beine zitterten, als er sich dem hässlichen Gebilde so weit näherte, dass er in das Gesicht des Menschen sehen konnte. Ein schmaler Kegel aus Sonnenlicht hatte sich durch die Fichtenwipfel gebohrt. Winzige Mücken tanzten darin. Der Sonnenstrahl fiel auf eine kalkweiße Stirn und versickerte in einem Paar milchig grüner Augen. Vor Angst und Entsetzen aufgerissen starrten sie Leon an.

Ein unsichtbarer Schlag in die Magengrube ließ ihn aufschreien. Nein, in diesen Augen war rein gar nichts zu lesen, aus ihnen sprach nur der Tod. Sie waren so ausdruckslos und leer, dass sie dem fahlen Gesicht mit den dünnen, farblosen Lippen etwas Maskenhaftes verliehen. Auch wenn Leons Verstand ihm sagte, dass das Gesicht einmal Linda gehört haben musste, drang diese Wahrheit nicht ganz bis zu ihm durch. Sie glich einem anschwellenden dunklen Fluss, der höher und höher stieg, aber bis jetzt von einem breiten Deich zurückgehalten wurde.

Leons Beine gaben nach, er sackte in die Knie. Dabei glitt sein Blick von Lindas Gesicht hinab zu ihrem Oberkörper, und er fuhr zusammen. Das Rehfell, das ihren Rücken umhüllte, lag wie eine Decke über ihren Schultern. Vorn dagegen war ihr Oberkörper nackt. Nein, es war mehr als das. Eine hässliche blutrote Höhle klaffte in ihm.

Auf den Knien versuchte Leon zurückzuweichen. Er verlor das Gleichgewicht und kippte zur Seite. Panisch rappelte er sich auf. Er keuchte. Lindas Bauchdecke und Brustkorb waren aufgeschlitzt, vom Schambein bis hinauf zur Luftröhre. Der tiefe Schnitt hatte Gewebe und Muskeln zerteilt. Als wäre ihre Haut nicht mehr als ein Mantel gewesen, den man öffnen und aufklappen konnte. Doch das, was die Haut normalerweise schützend unter sich verbarg, war nicht mehr da. Sämtliche inneren Organe fehlten. Jemand hatte Linda ausgeweidet wie ein totes Tier. Mit der Erkenntnis kam der Ekel, der Leon wie eine mächtige Flutwelle erfasste, über ihm zusammenschlug und ihm die Luft zum Atmen nahm. Die Wahrheit zog ihn in die Tiefe. Linda war ermordet worden, auf eine unfassbar grausame Weise. Er krümmte sich, wollte schreien, doch brennende Magensäure schoss ihm in den Mund. Nur mühsam kam er auf die Beine, während er hustete und sich übergab.

Welcher Mensch hatte ihr das angetan? Welcher Mensch hatte sie aufgeschlitzt und sich wie ein Monster über ihre Innereien hergemacht? Lindas Wirbelsäule, ihre Rippen und die verbliebene Haut waren nicht mehr als eine schaurige Hülle. Ihr Körper war leer.

Aber nein, etwas hatte dieser Mensch zurückgelassen. Auf der linken Seite des Brustkorbs, dort, wo zwei Rippen fehlten, steckte es. Leon wurde eiskalt, als ihm klar wurde, dass dieser Klumpen Lindas Herz sein musste. Es war schwarz wie Teer.

Teil Eins

Herz aus Stein

EINS

Es war der 24. Juli, als die Buchen am Waldweg, den Leonhard Bosch jeden Morgen entlangging, über Nacht beschlossen hatten, dass der Herbst gekommen war.

Das Erste, was er wahrnahm, war der Duft. Ein betörender Duft, vertraut und doch gänzlich unpassend zu dieser Jahreszeit. Er kündete von tiefen Nebelschwaden, die sich wie feuchte Watte um die Baumstämme legten, vom ersten Raureif auf Gräsern und Sträuchern, von der heimeligen Düsternis kurzer Tage, von Ruhe und Gemütlichkeit.

Gedankenverloren raschelte Leon mit seinen Turnschuhen durch das dichte Laub, bevor er erstaunt den Blick hob und die aufgehende Sommersonne durch die schütteren goldgelben Baumkronen blitzen sah. Die wenigen verbliebenen Blätter an den kahlen Ästen waren nicht mehr grün, sie waren gelb, orange, rotbraun. Wie war das möglich? Wie konnte es sein, dass die Bäume dem Lauf der Jahreszeiten um ein Vierteljahr voraus waren? Gestern erst hatten die Hundstage begonnen, die heißeste Zeit des Sommers. Die Nächte waren kurz, tagsüber wanderte die Sonne steil den Himmel hinauf – der Herbst war noch lange nicht in Sicht.

Wie so oft war Leon auch an diesem Tag früh um acht aufgebrochen, war an den beiden Nachbarhäusern vorbei den Hügel hinauf auf den plateauartigen Forstweg gestapft und nach ein paar Minuten auf einen schmalen Pfad abgebogen, der ihn tiefer in den Wald hineinbrachte, dorthin, wo die besonderen Kräuter und Zutaten für seine ungewöhnlichen Gerichte zu finden waren.

Er sah zurück auf seine im trockenen Laub verborgenen Füße. Ungläubig verfolgte er, wie sie mit jedem Schritt die braunen Blätterhaufen durchpflügten. Der altbekannte Duft von Regen und Wind, von frischer Erde und vermoderndem Leben, von Dunkelheit und Zerfall stieg auf. Mitten im Hochsommer konnte Leon den Herbst mit Händen greifen. Trotz der Wärme spürte er, wie klirrende Kälte ihn umschloss, und er versuchte, sich in einen breiten Flecken Sonnenlicht zu retten. Fast ungehindert fielen die Strahlen nun durch das lichte Geäst. Neugierig betastete die Sommersonne den welligen Boden über dem dichten Wurzelgeflecht der Buchen, den sie sonst nie zu Gesicht bekam.

Doch ihre Wärme konnte nicht verhindern, dass eine kribbelnde Ahnung an Leon hinaufkroch wie ein langer Tausendfüßler, der in ein Hosenbein geschlüpft war. Der Wald hatte sein Schweigen gebrochen. Nach fünf Jahren. Ohne Vorwarnung. So als wollte er nicht länger Leons schuldiger Komplize sein. Als hätte er keine Kraft mehr für dieses unrühmliche Versteckspiel. Die Bäume warfen ihre Blätter ab, sie streckten die Waffen. Mit selbstzerstörerischer Gewalt schienen sie erzwingen zu wollen, dass die Wahrheit endlich ans Licht kam.

Nackt und vorwurfsvoll schienen sie ihn anzustarren. Er drehte sich im Kreis, glaubte Blicke im Nacken zu spüren und rieb sich über die Gänsehaut auf den Armen. Gestern noch war hier, wo er jetzt stand, dichter Schatten gewesen. Mit ihrem breiten Blätterdach hatten die Rotbuchen Menschen, Tiere und Pflanzen vor der Hitze beschirmt. Jetzt streckte die Sonne ihre Finger bis zu den Baumwurzeln am Waldboden vor, unter denen ein Kapitel aus Leons Vergangenheit begraben war, das er am liebsten für immer aus seinem Gedächtnis gestrichen hätte.

Er kannte die etwa zwanzig Buchen gut. Seit sicher mehr als einem Jahrhundert standen sie hier, am oberen Rand einer Lichtung, von der aus man fast die ganze Stadt überblicken konnte. Im Grunde kannte er sie besser, als ihm lieb war, und ihm wurde bewusst, wie sehr sein eigenes Schicksal mit dem der Bäume verknüpft war. Die Leichtigkeit, die er noch vor wenigen Minuten verspürt hatte, war wie weggefegt. Voller Tatendrang war er den Berg hinaufgegangen, um Eichenholz und Kräuter zu suchen. Doch sein Elan war einem diffusen Gefühl der Beklemmung gewichen.

Unwillkürlich schlugen seine Beine den bekannten Weg ein, an den Buchen vorbei und auf einem engen Pfad hinein in den dunklen Wald, zwischen dicken Stämmen über Wurzelverwerfungen, knackendes Totholz und einen Teppich aus gelben Nadeln weiter den Berg hinauf, bis die Kuppe erreicht war und der Pfad in eine stille Senke führte. Hinter einem Bach lichteten sich die Kronen, vereinzelte Wiesenflecken tauchten auf. An schattigen Stellen waren sie mit Moos gepolstert, an sonnigen überwuchert von den Zwergsträuchern der Heidelbeere.

Leon ging in die Hocke und bog die winzigen Äste mit den runden Blättchen auseinander, die seit einer Woche glänzende blaue Früchte trugen. Er pflückte einige von ihnen und steckte sie sich in den Mund. Obwohl er wusste, dass sie saftig und süß waren, nahm er nur einen schalen Geschmack wahr. Seine Fingerspitzen waren taub. Das passierte ihm seit Annas Tod immer wieder.

Er streifte durchs Unterholz, sammelte Sauerampfer und Waldsauerklee und wickelte beides in Geschirrtücher. Mit dem Taschenmesser sägte er einen dreifingerdicken Zweig von einer Eiche ab. Mit diesen Schätzen in seinem Rucksack schlug er den Weg zum «Quellbach» ein und wanderte eine gute Stunde bis zu seinem abgelegenen Arbeitsplatz mitten im Grün des Harzes. Normalerweise fuhr er mit dem Auto zm Gasthof, aber hin und wieder, wenn keine Übernachtungsgäste da waren, die ein Frühstück verlangten, gönnte er sich diesen Luxus einer morgendlichen Wanderung.

Kurz vor dem Gasthaus betrat er einen breiten Forstweg und kam an einem Stapel frisch gefällter Bäume vorbei. Er roch den intensiven Duft von Harz, Borke und grünen Fichtennadeln. Eine Handvoll davon zupfte er von einem unverletzten Wedel und ließ sie in eine kleine Papiertüte rieseln.

Ein paar Schritte weiter bog er auf die asphaltierte Zufahrtsstraße zum Gasthaus ab. Hinter einer scharfen Linkskurve passierte er zwischen zwei gemauerten Säulen das hohe, dunkelgrün lackierte Eisentor, das dem Neuankömmling eine gewisse Ehrfurcht einflößen sollte, das allerdings – auf den zweiten Blick erkennbar – von dicken Rostflecken durchsetzt war. Außerdem stand es, wie Leon recht schnell herausgefunden hatte, zu jeder Tag- und Nachtzeit offen.

Nach einer weiteren Kurve in die entgegengesetzte Richtung rückte das längliche zweistöckige Gebäude des Gasthauses ins Sichtfeld. Es machte einen eher schüchternen ersten Eindruck. Zurückhaltend duckte es sich mit seiner dunkelgrauen Schindelverkleidung seit nunmehr fast zwei Jahrhunderten unter die hohen Bäume ringsum. Hätte nicht der weiße Schriftzug Quellbach über dem Eingang geprangt, hätte das Haus regelrecht abweisend gewirkt, und wohl kein Gast hätte sich je dort hineinverirrt.

Die Fenster starrten finster in den Wald. Und wie fast jeden Tag seit vier Jahren ließ sich Leon einen Moment täuschen und glaubte, dass das Gasthaus ausgestorben sei. Sosehr er auch jedes Mal im Nachhinein über sich selbst lachte, durchzuckte ihn an dieser Stelle doch immer der Gedanke, dass etwas Schlimmes passiert sein musste, weil kein Mensch in dem düsteren Wirtshaus zu sehen war. Erst ein paar Schritte weiter war das trüborange Licht zu erkennen, das aus den Fenstern sickerte. In den meisten Räumen glomm es Tag und Nacht, denn die Sonne schaffte es nur zwischen Mai und August, über die hohen Bäume zu steigen, und selbst dann für kaum mehr als ein paar Minuten um die Mittagszeit.

Durch den Lieferanteneingang an der Rückseite des Gebäudes betrat Leon die Küche. Obwohl es noch früh war, stand dicker Dunst in dem viel zu kleinen Raum, und es roch deftig nach angeschwitzten Zwiebeln und leicht angebranntem Fleisch. Jan-Philipp, der zweite Auszubildende im Team, ein vorlauter Teenager mit schwarzen zurückgegelten Haaren, war mit dem Rinderbraten beschäftigt, der schnellstens aus der Pfanne in den Ofen musste. Wie immer hantierte der Junge, der außerdem Neffe des Gasthauschefs war, mit aufgesetzter Gelassenheit und demonstrativer Behändigkeit herum. So als würde er sich in einem angesagten Gourmettempel befinden, wo die Gäste bereits Monate im Voraus reserviert hatten, und nicht in einem betagten Wirtshaus, wo man schon froh war, wenn wenigstens am Wochenende der Gastraum voll war.

Leon ließ dieser Umstand nicht kalt, und er tat alles dafür, dass das Gasthaus seinen muffigen Ruf loswurde, aber an schlechten Tagen musste selbst er sich eingestehen, dass das Quellbach seine besten Zeiten längst hinter sich hatte.

Er warf Beata einen kurzen Blick zu, die sofort verstand, was ihr Chef von ihr wollte. Sie hatte ohnehin nicht vorgehabt, den gefährlich selbstsicheren Jungen aus den Augen zu lassen. Viel zu oft schon waren seine «Kreationen» – wie er selbst die Speisen nannte, an die er Hand anlegte – statt auf dem Teller im Müll gelandet.

Nachdem sie Jan-Philipp zum mindestens zwanzigsten Mal erklärt hatte, wie der Ofen zu bedienen war, kehrte die kleine Polin mit den kurzen roten Haaren, die Leons Aushilfe für die Sommermonate war, zurück an ihre Arbeitsfläche. Dort lagen vier gerupfte Fasane, aus denen sie mit einer Pinzette die Schrotkugeln zog.

Leon machte sich gar nicht erst die Mühe, sich über diese Kleinwild-Lieferung zu wundern, die er nicht in Auftrag gegeben hatte. Hierzulande hatten Fasane bis Oktober Schonzeit, die Jagd auf die Tiere wäre illegal gewesen. Das alles konnte nur bedeuten, dass der Hausherr da war. Sicher hatte er die Vögel irgendwo in Polen oder Tschechien geschossen und plante, sie am Abend mit ein paar guten Freunden im Jagdsalon zu verspeisen.

«Sind die von Lohmann?», fragte Leon, und Beata nickte nur.

Im Grunde hätte auch ein Blick auf die vielen Schrotkugeln, die sie aus dem rötlichen Fleisch pulte, als Antwort gereicht. Reinhard Lohmann war der größte Bauunternehmer vor Ort und seit vier Jahren Besitzer des Quellbach. Und er war ein schlechter Jäger, dem es nur selten gelang, ein Tier waidgerecht zu töten.

«Er wünscht sich für den Abend die Fasane im Speckmantel mit Rotweinsauce, vorweg eine Pfifferlingsuppe», teilte Beata sachlich mit, ohne eine Miene zu verziehen. Ihr starker polnischer Akzent stand in gewissem Widerspruch zu dem ungewöhnlich korrekten Deutsch, das sie sprach, obwohl sie erst seit vier Wochen im Lande war. Ob sie schon länger geplant hatte hierherzukommen? Leon wusste es nicht. Ohnehin wusste er kaum etwas von ihr.

In dem Abstellraum mit dem kleinen Fenster, der ihnen als Umkleide diente, legte Leon seine Alltagskleidung ab und schlüpfte in seine Kochmontur. Nachdem er ein großes Glas Wasser hinuntergekippt hatte, machte er sich an die Arbeit.

Als er zum ersten Mal an diesem Tag auf die große Wanduhr blickte, war es bereits später Nachmittag. Mit seinem Einverständnis hatte Beata Jan-Philipp zum Putzen der Pfifferlinge verdonnert, und der Junge, der sich längst zu Höherem berufen fühlte, versuchte in einem vermeintlich unbeobachteten Augenblick, die Arbeit an die stille Linda zu delegieren. Erst da nahm Leon das Mädchen mit dem langen blonden Flechtzopf, dem blassen Gesicht und den feingliedrigen Fingern an diesem Tag überhaupt wahr. Gewissenhaft und beinah lautlos arbeitete die elfenhafte Zwanzigjährige vor sich hin.

Jan-Philipp wusste genau, dass es ihr grundsätzlich schwerfiel, nein zu sagen. Aber Linda war nicht dumm und hatte ein feines Gespür dafür, wenn jemand diese Schwäche ausnutzen wollte. Mit dem freundlichen Hinweis, dass sie noch Waldbeeren suchen und ebenfalls putzen musste, ließ sie seine Bitte an sich abperlen.

«Chef, wir hatten doch ausgemacht, dass ich heute den Rinderbraten beaufsichtige», beklagte sich Jan-Philipp, und Leon musste sich das Lachen verkneifen. Der Braten garte allein im Ofen vor sich hin und hatte keinerlei Aufsicht nötig.

«Dazu hast du noch genug Zeit, wenn du mit den Pilzen fertig bist. Dein Onkel will seine Pfifferlingsuppe pünktlich um sechs auf dem Tisch haben.» Damit nahm Leon ihm den letzten Wind aus den Segeln.

Widerwillig fügte sich der Junge in die – in seinen Augen – Strafarbeit und begann, die erdverkrusteten Stiele und Hütchen zu säubern. Es würde mehr als nur einen Durchgang brauchen, bis die Pilze in reinem Goldgeld erstrahlten.

Eigentlich hätte Leon keinen zweiten Azubi gebraucht und erst recht keinen, der mehr Arbeit machte, als er erledigte. Aber natürlich hatte er Lohmann nicht in diese Personalentscheidung hineingeredet. Immerhin blieb ihm an diesem Abend so genug Zeit, eine neue Nachspeise auszuprobieren, und er wagte sich an die Zubereitung einer Eiscreme mit Eichenholz, auch wenn er wusste, dass dieses kulinarische Experiment im Grunde Perlen vor die Säue war.

Beata hatte ihn in ihren ersten Tagen misstrauisch beäugt und sich garantiert gefragt, ob sie nicht bei einem Verrückten gelandet war. Für einen Außenstehenden war es sicher kaum zu verstehen, warum sich jemand in einem Gasthaus wie dem Quellbach derart verkünstelte. Aber für Leon war es eine Art Therapie. Und so nahm er sich den Eichenzweig vor, den er am Morgen von seiner Wanderung mitgebracht hatte, zerteilte ihn und schabte vorsichtig das helle, weiche Mark heraus. Anstelle von Bourbonvanille rührte er es in ein selbstgemachtes Sahneeis, das er anschließend mit den karamellisierten Fichtennadeln garnierte. Als Versuchskaninchen mussten Lohmann und seine Kumpane herhalten. Der Hausherr war der perfekte Testesser, da er alles andere als ein Feinschmecker war und im Grunde nur zwei Kategorien kannte: «schmeckt» oder «schmeckt nicht».

Als er sich am Ende des Abends in die kleine Küche zwängte, warteten seine Angestellten gespannt auf sein Urteil. Mit seinem massigen Körper und seiner lauten, sonoren Stimme hätte Lohmann als Opernsänger durchgehen können, wäre er nicht so nachlässig mit seinem Äußeren umgegangen. Er schien stets dasselbe hellblaue Hemd und dieselbe beigefarbene Hose zu tragen, die immer ein paar Flecken aufwies, weil er überall mit anpackte. Waren irgendwo Handwerker im Haus, konnten sie sicher sein, dass Lohmann ihnen zeigte, wie man es besser machte. Auch sein Gesicht war ungepflegt. Barthaare sprossen ihm aus jeder Pore von den Ohren bis zum Hals und bildeten einen löchrigen Vollbart.

«Die Vögelchen im Speck waren echte Gaumenschmeichler», lobte er gönnerhaft, nachdem er mit Leon und seinem Neffen leutselig über das Wetter geplaudert hatte.

Leon sah, wie Beata bei diesen Worten schnell zu Boden blickte, um die Abneigung zu verstecken, die aus ihren Augen sprach.

«Mein Ranzen wird zwar immer runder, wie ich ständig von meiner Frau zu hören kriege, aber was soll’s – das Leben ist zu kurz für Langeweile und Diäten.» Lohmann schlug sich mit der flachen Hand auf sein Hemd, dessen Knopfleiste über dem gewölbten Bauch gefährlich spannte, bevor er seinem Küchenchef kräftig auf die Schulter klopfte.

Obwohl Leon einige Zentimeter größer war, wirkte er gegenüber dem bulligen Lohmann wie ein Zwerg.

«Und, Leonhard, du musst zugeben, dass ich das beste Aushängeschild für deine Küche bin.» Lohmann lachte jovial, seine gerötete Knollennase glänzte. «Ganz anders als du selbst! Ich hoffe, du lässt dich nicht so oft draußen bei den Gästen blicken – die denken ja sonst, dir schmeckt dein eigenes Essen nicht!»

Leon lachte mit. Von den harmlosen Witzen Lohmanns fühlte er sich nicht beleidigt. Er war schon immer ein eher hagerer Typ gewesen. Nach Annas Tod hatte er allerdings noch ein paar Kilos mehr verloren.

«Aber im Ernst, mein Lieber, auch die Pilzsuppe war ein Gedicht», meinte Lohmann, und Leon gab das Kompliment an Jan-Philipp weiter. Der Azubi strahlte seinen Onkel mit stolzgeschwellter Brust an, auch wenn er nur die Pfifferlinge geputzt hatte. Um das Aufkochen, Andicken und Abschmecken der Suppe hatte sich Beata gekümmert, weil der Junge nach seinem anstrengenden Part erst einmal eine Zigarette rauchen gegangen war.

«Und das Vanilleeis war ein Traum.» Lohmann war in seiner Begeisterung kaum zu bremsen, und Leon klärte ihn nicht über seinen Irrtum auf. «Und wie du das verfeinert hast, mit diesem Whiskyaroma – genial! Das kannst du in einer Woche, wenn die ersten Jäger kommen, gleich noch mal machen!» Lohmann hatte augenscheinlich Spaß an Leons Experimenten. Manchmal kam sich Leon wie eine Art Hofnarr vor, den sich Lohmann zu seinem persönlichen Vergnügen hielt und um seine Freunde zu beeindrucken.

In jedem Fall war Leon so etwas wie Lohmanns Leibkoch, mit all den Vorzügen und Nachteilen, die das mit sich brachte. Er hatte freie Hand, wenn es darum ging, exklusive Lebensmittel für die Gelage im Jagdsalon zu beschaffen, Lohmanns Weinvorrat im Keller mit edlen Tropfen zu bestücken und teure Gewürze für die exotischen Wildgerichte zu besorgen, die Lohmanns Frau so liebte. Erst neulich hatte ihn Lohmann, der oft kein Maß kannte, hundert Gramm Safranfäden aus dem Kaschmir bestellen lassen, von denen das Gramm acht Euro kam. Leon hatte überschlagen, dass sie mit dieser Menge ungefähr zwei Jahre hinkommen würden, selbst wenn sich Lohmanns Frau jede Woche ihr geliebtes Kaninchencurry mit Safran wünschen sollte.

Lohmann verabschiedete sich, indem er noch einmal allen auf die Schulter klopfte. Er würde in nächster Zeit also häufiger im Quellbach anzutreffen sein. In einer Woche war der Juli zu Ende, und die Schonzeit für das ältere Rotwild lief ab. Der Abschuss der kapitalen Hirsche konnte beginnen. Wohlhabende Männer aus der ganzen Republik würden sich dann in Lohmanns Obhut ein blutiges Abenteuer gönnen, das für sie selbst keinerlei Gefahren barg. Wie schon in den letzten Jahren hatte er anscheinend zahlende Hobbyjäger angeworben und ihnen eine hiesige Jagderlaubnis verschafft. Für den ansässigen Förster, einen seiner besten Freunde, bedeutete das zusätzliche Forsteinnahmen in fünfstelliger Höhe und für ihn selbst Gäste für sein Gasthaus und nicht zuletzt die Möglichkeit, seiner größten Leidenschaft nachzugehen: der Jagd auf die großen Tiere des Waldes.

Sobald der Hausherr fort war, schloss August Haffmann – Lohmanns rechte Hand, Hausmeister, Zimmermädchen, Kellner und Schankwirt in einem – die Theke und zog sich in den ersten Stock zurück, wo er in einer winzigen Kammer hauste. Die anderen brachten derweil die Küche auf Hochglanz. Um kurz vor Mitternacht schickte Leon die beiden Auszubildenden nach Hause. Während Beata in der Umkleide war, wollte er mit einem Stapel zertretener Pappkartons unter dem Arm noch kurz nach draußen, hinter das Haus zu den Mülltonnen. Diese waren in einem Schuppen untergebracht, nicht nur aus Rücksichtnahme auf die Gäste, sondern vor allem um Wildschweine, Füchse und Waschbären abzuhalten, die jegliche Scheu verloren, sobald sie die Küchenreste witterten. Bevor Leon Feierabend machte, kontrollierte er stets, ob der Schuppen auch abgeschlossen war, denn für die schlauen Waschbären stellte eine einfache Türklinke kein Hindernis dar.

Er trat aus dem Hinterausgang, und die Außenbeleuchtung schaltete sich automatisch ein. Gerade wollte er die zwei Steinstufen hinuntersteigen, als ihn die Bewegung eines undeutlichen Schattens vor dem Schuppen innehalten ließ. Im ersten Moment glaubte er, ein Tier aufgeschreckt zu haben. Der Schatten war schmal und lang. Das konnte nur ein Reh sein, wobei sich die scheuen Tiere selten so nah an das Gasthaus herantrauten.

Sobald ihm jedoch bewusst wurde, dass er kein Tier aufgescheucht hatte, sondern hier ein Mensch vor ihm floh, war dieser schon in Richtung Wald gehastet. Die Schuppentür war hinter ihm zugefallen, und es sah so aus, als trüge er etwas mit sich davon.

«Was soll das? Warten Sie!», rief Leon überrascht. Seine laute Stimme hallte durch die Nacht und wurde von der schwarzen Wand des Waldes wie ein Fremdkörper zurückgeworfen.

Der Mann dachte nicht daran zu warten. Er warf nur einen gehetzten Blick über die Schulter, bevor er zwischen hohen schwarzen Baumstämmen in der völligen Finsternis verschwand.

Perplex stand Leon auf der Treppe. Von dem Mann war kaum etwas zu erkennen gewesen. Er hatte ein viel zu großes Oberhemd getragen, und um seine Beine hatte eine weite Hose geschlackert. Unter einem Baseballcap waren lange, ungepflegte Haare zu sehen gewesen, die grau geschimmert hatten.

Hatte der Alte im Müll gewühlt und war mit Essensresten weggerannt? Oder hatte er etwas anderes aus dem Schuppen mitgenommen? Nein, bis auf die Abfalltonnen gab es dort nichts zu holen. Doch seit wann streiften die Armen durch den Wald? Welcher notleidende Mensch nahm die mehr als zehn Kilometer von der Stadt bis zum Quellbach auf sich, um hier im Müll nach Essbarem zu suchen, während es in der Stadt genügend Tonnen hinter Restaurants und Supermärkten gab und außerdem eine ehrenamtliche Tafel, die gespendete Lebensmittel an Bedürftige verteilte?

Langsam ging Leon zum Schuppen und öffnete die Tür. Das Licht brannte, und tatsächlich stand die große Restmülltonne einen Spaltbreit offen, der Deckel der Biotonne war sogar ganz aufgeklappt. Er entsorgte das Altpapier, klappte die Tonnen wieder zu und schloss, nachdem er auch das Licht gelöscht hatte, von außen den Schuppen zu. Sollte er Lohmann von dieser seltsamen Begegnung erzählen? Im Grunde war er dazu verpflichtet, denn wenn sich hier etwas Ungewöhnliches oder gar Kriminelles abspielte, musste der Hausherr davon wissen. Doch jetzt war schon Mitternacht, und Lohmann lag zu Hause im Bett. Die Sache konnte auch bis morgen warten.

Leon ging zurück in die Küche. Der Raum war verwinkelt und ungünstig geschnitten, viel zu eng für vier Köche. Auf seinem einsamen Kontrollgang überzeugte er sich davon, dass sämtliche Gasplatten, Öfen und sonstige Geräte ausgeschaltet waren und das Kühlhaus richtig geschlossen war. Dass hier vor kurzem noch gekocht und gebrutzelt worden war, schien mit einem Mal völlig unwirklich. In dem verwaisten Raum kam sich Leon wie ein ungebetener Eindringling vor. Er fühlte sich nicht mehr wie der Koch dieses Gasthauses, sondern wie der einfache, gewöhnliche Mann, der er war. Was unterschied ihn im Grunde von dem Menschen da draußen, der eben vor ihm weggerannt war? Nur zu gut wusste Leon, dass zwischen der Sonnenseite des Lebens und seiner Schattenseite oft nur ein einziger Schritt lag.

Er zog sich um und ging hinaus in die kühle, sternenklare Waldnacht. Anders als tagsüber, wenn die Sonne den Wald aufheizte und eine aromatische Mischung aus Harz, Fichtennadeln und Erde freisetzte, schien die Luft jetzt geradezu kristallrein, so als atmeten die schlafenden Bäume puren Sauerstoff aus. Das Geräusch von Leons Schritten auf dem Pfad zum Parkplatz wurde von einer weichen Schicht aus Blättern und Nadeln geschluckt.

Unwillkürlich wandte er sich noch einmal um und blickte auf das Gasthaus, das genauso dunkel und unbelebt wie am Morgen schien, auch wenn mindestens fünf Personen die Nacht dort verbrachten. Zwei Wanderpaare hatten am Nachmittag ihr Quartier bezogen und wurden sowohl umsorgt als auch kontrolliert von Lohmanns Faktotum August Haffmann. Der Rentner war dem Hausherrn treu ergeben und stets zur Stelle, wenn er gerufen wurde. Wohl auch deshalb und nicht nur wegen seiner schlaffen, hängenden Wangen und den wässrigen Augen erinnerte er Leon immer an einen Hund.

Vier parkende Autos dösten scheinbar verlassen am Waldrand, doch Leon wusste, dass er in einem davon erwartet wurde. Zielstrebig steuerte er auf den kleinen grauen Renault zu, der bei Tageslicht silbern glänzte. Wie von Zauberhand öffnete sich die Beifahrertür, und er ließ sich neben Beata nieder. Es passte zu ihr, dass sie aus Rücksicht auf die Urlauber im Quellbach keine Sekunde zu früh den Motor startete oder die Scheinwerfer einschaltete. Sie war ein zurückhaltender Mensch, mitdenkend und einfühlsam, der nichts mehr hasste, als aufzufallen oder anderen Umstände zu bereiten.

«Alles okay?», fragte sie, bevor sie den Wagen anließ und langsam durch das geöffnete Eisentor fuhr, so als hätte sie Leons Unruhe sofort gespürt.

«Ja, nur ein wenig müde», antwortete er ausweichend. Er hatte beschlossen, ihr vorerst nichts von dem Mann aus dem Wald zu erzählen, denn er wollte sie nicht ängstigen. Beata war erst seit einem Monat hier und hatte bestimmt genug damit zu tun, sich einzugewöhnen.

Sie bog auf die Bundesstraße ab, die weiter durch den dichten Wald führte. Um diese Uhrzeit war kein anderes Auto unterwegs, und sie folgten den gelben Scheinwerferkegeln durch eine vollkommene Schwärze. Es war, als würden sie durch den Weltraum schweben.

Leon musste nicht zu Beata hinüberschauen, um zu wissen, dass sie mit durchgedrücktem Rücken auf der Vorderkante ihres weit vorgeschobenen Sitzes saß, das Lenkrad fest umklammert, das aufmerksame Gesicht direkt darüber. Alles, was sie tat, tat sie hochkonzentriert, egal ob es das Kochen oder das Autofahren betraf. Beata war jemand, der alles unter Kontrolle haben musste. Obwohl sie schon Anfang dreißig war, hätte sie mit ihrer kleinen, schlanken Statur, ihren kurzen roten Haaren und den grau-gelben Katzenaugen durchaus noch als Mädchen durchgehen können. Nur der strenge Zug um ihren Mund wollte nicht in dieses Bild passen. Er hatte bereits die ersten deutlichen Falten in ihr Gesicht gezeichnet.

«Wie geht es Thea?», fragte sie.

Leon hatte ihr von den Problemen mit seiner Tochter erzählt. Kurz vor den Ferien, gleich in Beatas erster Arbeitswoche, hatte er sich nachmittags ein paar Stunden freinehmen müssen, weil er einen Termin bei der Schulpsychologin hatte. Da er nichts von anstrengenden Ausreden hielt, hatte er Beata damals offen den Grund für seine Abwesenheit erklärt.

«Sie war mit Freunden drei Wochen am Atlantik surfen. Das hat ihr gutgetan», antwortete er nun. «Jetzt will sie sich so langsam mit dem Schulstoff aus dem vergangenen Jahr beschäftigen, denn sie hat ja noch einiges nachzuholen, bevor ihr letztes Schuljahr beginnt. Jedenfalls legt sie dabei einen ganz ungekannten Ehrgeiz an den Tag. Wahrscheinlich will sie nur das Abi schaffen und dann nichts wie weg.» Er lachte kurz auf, weil er den Freiheitsdrang seiner Tochter absolut nachvollziehen konnte, obwohl ihn die Idee, dass sie in einem Jahr ausziehen würde, schon jetzt in Panik versetzte.

«Schön zu hören», meinte Beata. «Dann wird sicher doch noch alles gut.»

Leon ahnte, dass sie Theas Schuleschwänzen, ihre Leistungsverweigerung und ihr provozierendes Auftreten gegenüber den Lehrern vor allem dem Alter seiner Tochter und dem Verlust der Mutter zuschrieb. Dass noch mehr dahintersteckte, konnte sie nicht wissen.

«War das die Schulpsychologin, die letzte Woche in der Küche vorbeigeschaut hat?», fragte sie, während sie weiter über das Lenkrad durch die Scheibe starrte. Sie hatten das Ortsschild passiert, fuhren eine breite Straße mit alten Villen hinab. «Kennt ihr euch schon länger?»

«Julia hat mit ein paar Freunden ihren Geburtstag im Quellbach gefeiert. Wir kennen uns noch von früher, sind eine Zeitlang auf dieselbe Schule gegangen. Erst letzten Herbst haben wir uns dann zufällig wiedergetroffen, als sie als Lehrerin und Psychologin an Theas Schule angefangen hat.» Seltsamerweise hatte Leon mit einem Mal das Gefühl, sich gegenüber Beata für diese nähere Bekanntschaft rechtfertigen zu müssen.

Dass sie alles um sich herum aufmerksam beobachtete, wusste er längst. Gerade hatte er jedoch etwas Neues über sie gelernt, das nicht so recht zu ihrer spröden und zurückhaltenden Persönlichkeit passen wollte – sie war auch neugierig. Er merkte, wie sich ein Schmunzeln auf seine Lippen stahl, das sie zum Glück nicht sah. Es würde wohl noch eine ganze Weile dauern, bis er sie wirklich kannte.

Vor seinem Haus stellte sie den Motor ab und schaltete die Scheinwerfer aus. Wieder war es, als wollte sie sich unsichtbar machen. Leon nahm seinen Rucksack aus dem Fußraum und wünschte ihr eine gute Nacht.

Er stieg aus dem dunklen Wagen und kam sich vor wie ein Dieb, während er sich seinem eigenen Haus näherte. Erst als er das Gartentor hinter sich schloss, ließ Beata den Motor wieder an und fuhr davon. Er würde sie demnächst einmal einladen müssen, an einem freien Nachmittag zu einem Kaffee oder einem Glas Wein. Sie hatte ihn schon ein paar Mal nachts nach Hause gefahren, und es war offensichtlich, dass sie sich für sein Leben interessierte. Er hingegen wusste nur grob, dass sie in einer kleinen Wohnung in den sanierten Plattenbauten hinter dem Krankenhaus lebte, aber er hätte nicht einmal sagen können, ob es ihr dort gefiel und ob sie irgendwelche Freunde in der Stadt hatte.

Nirgends im Haus brannte Licht, und Leon spürte sofort, dass Thea nicht da war. Auch wenn sie alt genug war und ausgehen konnte, so lange sie wollte, überkam ihn jedes Mal eine Mischung aus Sorge und Beklemmung, wenn sie zu so später Stunde noch nicht zurück war.

Bei Marlene und Jack nebenan waren Wohnzimmer und Küche hingegen noch hell erleuchtet. Wahrscheinlich war Marlene gerade von ihrer Schicht zurück. Oder sie machte sich gerade fertig. Der Dienstplan einer Krankenschwester nahm keine Rücksicht auf den menschlichen Biorhythmus.

Leon war kurz versucht, bei ihr zu klingeln und zu fragen, ob sie wisse, wo Thea sei, aber er widerstand dem Drang. Marlene war weder Theas Mutter noch ihre Babysitterin, auch wenn es Zeiten gegeben hatte, in denen sie fast zur Familie gehört hatte. Aus Annas bester Freundin war nach Annas Tod eine unverzichtbare Stütze geworden, ohne die die winzige Restfamilie zerbrochen wäre. Leon wusste, dass er Marlene mehr als nur seinen Job im Quellbach zu verdanken hatte. Sie hatte die Zukunft seiner Tochter gerettet. Wenn sie nicht gewesen wäre, säße Thea heute wahrscheinlich mit einer Jugendstrafe in einem Erziehungsheim.

Fahrig kramte Leon in seinem Rucksack nach dem Haustürschlüssel. Die Taubheit war in seine Fingerspitzen zurückgekehrt. Erst jetzt kamen ihm die kahlen Buchen aus dem Wald wieder in den Sinn. Während der Arbeit im Quellbach hatte er den Gedanken daran erfolgreich verdrängt – genauso wie die Konsequenzen, die dieses unerklärliche Naturphänomen nach sich ziehen konnte. Denn auch wenn nicht davon auszugehen war, dass die Bäume verrückt geworden waren, so waren sie sicherlich krank. Und kranke Bäume starben, tote Bäume wurden gefällt. Vor allem wenn sie so nah am Wegrand standen und eine Gefahr für Wanderer und Jäger darstellten, sobald der erste Herbststurm an dem morschen Holz rüttelte. Was war, wenn der Förster sie mit Stumpf und Stiel aus dem Boden riss? Leon lief es kalt den Rücken hinunter, wenn er sich vorstellte, was dabei womöglich zum Vorschein käme.

Er stand in seinem dunklen, leeren Haus. Im Flur war es kühl, selbst jetzt Ende Juli. Er warf seine Jacke auf die Sitztruhe. Ohne Licht zu machen, schlängelte er sich durch den viel zu engen Gang, vorbei an Theas neuesten Anschaffungen, einem alten Schrank und zwei Kommoden. Der Mond und Marlenes helle Fenster gegenüber leuchteten ihm den Weg ins Schlafzimmer.

Er machte sich nicht die Mühe, sich auszuziehen. Die Taubheit breitete sich aus und schlich von seinen Fingern über die Arme durch seinen gesamten Körper. Er fühlte sich schwer wie Blei. Hundemüde fiel er aufs Bett und blieb auf der Decke liegen, starr wie ein Stück Holz. Dennoch würde er nicht schlafen können. Er wusste, dass er kein Auge zutun würde, bevor Thea nicht nach Hause kam.

ZWEI

Es dauerte nicht lange, bis sich das seltsame Naturschauspiel herumgesprochen hatte. Die kahlen Buchen wurden zu einer Attraktion für Sommerurlauber und Wanderer. Hierhin machte man einen Abstecher, bevor es weiterging zu schroffen Gipfeln mit Aussichtstürmen, stillgelegten Bergwerken, mystischen Grotten und zum Brocken, dem sagenumwobenen Blocksberg mit seinen Geister- und Hexengeschichten.

Auch im Quellbach hatte Leon aufgeschnappt, wie sich Gäste über das Phänomen der Buchen im Winterschlaf unterhielten. Gerade einmal drei Tage waren vergangen, seit er selbst fassungslos auf das viele Laub und hinauf in die fast kahlen Baumkronen gestarrt hatte. Es war Freitagmorgen, und er stapfte die Straße hinauf in den Wald, während er im Geist noch einmal die Wochenkarte durchging. Er zählte die einzelnen Gerichte und die dazugehörigen Zutaten auf und hatte das ungute Gefühl, dass irgendetwas Wichtiges nicht mehr ausreichend vorrätig war. Aber sosehr er sich auch das Hirn zermarterte, er kam nicht darauf, was in der Küche fehlen könnte.

Spätestens als er die Buchen erreichte, konnte er sich ohnehin nicht mehr konzentrieren. Er umrundete ihre dicken Stämme mit der glatten, grau schimmernden Rinde und blickte hinauf zu den nackten Zweigen, an denen nur noch einzelne gelbe Blätter wie winzige schlaffe Fähnchen hingen. Der weißliche Morgenhimmel blendete ihn ungehindert.

Die Bäume waren riesig, bestimmt an die dreißig Meter groß. Wie alt sie wohl waren? Fünfzig Jahre? Hundert? Zweihundert? Leon hatte einmal gehört, dass Buchen über dreihundert Jahre alt werden konnten.

Was aber hatte ihr Zeitgefühl mit einem Mal so durcheinandergebracht? Oder wollten sie nicht mehr leben und hatten sich von heute auf morgen dazu entschieden zu sterben? Wie ein alter Mensch, der das Ende kommen sieht und beschließt, sich das Schlimmste zu ersparen. Leon ahnte, dass dieser Gedanke vollkommen abwegig war. Selbst den spirituellen Waldliebhabern, die hin und wieder zum Quellbach kamen, wäre die Idee eines kollektiven Buchenselbstmords sicherlich absurd erschienen.

Er kehrte den Bäumen den Rücken und machte sich auf zu der Lichtung mit den Kräutern. Trotz der Hitze lief ihm ein eisiger Schauer die Wirbelsäule hinab, und er hatte das durchdringende Gefühl, dass jemand hinter ihm stand. Er fuhr herum, doch da waren nur die blätterlosen Buchen, die ihn mit ihrer aufdringlichen Nacktheit zu verhöhnen schienen.

Als sei es eine lästige Pflicht, riss er diesmal die Stängel und Blättchen aus, die sonst der Lichtblick in seinem Küchenalltag waren. Normalerweise liebte er diese kleine, bescheidene Aufgabe, die für ihn zu einer Art Meditation geworden war. Heute allerdings wünschte er sich nur fort aus dem dunklen, schweigsamen und unübersichtlichen Wald, in dem der Mensch nichts verloren zu haben schien. Vielleicht sollte er ja wirklich das Angebot annehmen, das ihm ein Hotelier aus Südfrankreich gemacht hatte, den es vor ein paar Wochen in das abgelegene Harzer Gasthaus verschlagen hatte. Thea jedenfalls war ganz begeistert von der Idee gewesen. Und auch Marlene hatte sich schon vorgestellt, wie es wäre, jedes Jahr mit Jack Urlaub bei ihnen an der Côte d’Azur zu machen.

Er stieg den Berg hinab zu seinem Haus und ließ den Wald für einen Moment hinter sich, bevor er sich in seinen schwarzen Volvo setzte und zum Quellbach fuhr. Heute nahm er das Auto, weil Thea ihn später am Tag noch einspannen wollte. Sie sammelte alte Möbel und hatte über das Internet einen Beistelltisch aus den fünfziger Jahren erworben, zur Selbstabholung, wie sich verstand. Das ganze Haus hatte sie schon mit den seltsamsten Errungenschaften zugestellt, und Leon fragte sich, wann der Zeitpunkt gewesen wäre, ihr Einhalt zu gebieten. Er hatte ihn in jedem Fall verpasst.

Während er auf seinen Parkplatz vor dem Quellbach rollte, schüttelte er den Kopf über seine Tochter, die sich mit jeder Menge Krempel umgab, obwohl sie doch angeblich nichts lieber wollte als weg aus dieser Stadt, weg aus diesem Haus. Doch es gelang ihm nicht, sich mit diesem fröhlichen Kopfschütteln selbst zu täuschen. Ihm war alles andere als leicht ums Herz, wenn er an das bedauernswerte Mädchen dachte, das erst seine Mutter und dann all seine Gewissheiten verloren hatte und für das die Worte «Heimat» und «Zukunft» ein so zerbrechliches Konzept geworden waren, dass es sie nicht einmal mehr auszusprechen wagte.

In der Küche erwartete ihn der typische Frühstücksdunst, den er hasste – Kaffeegeruch und der fettige Dampf von Eiern mit Speck. Und eine genervte Beata, die alle Hände voll zu tun hatte.

«Linda ist nicht gekommen», teilte sie Leon mit, während sie ein Auge auf ein goldgelbes Omelette hatte, das in einer Pfanne auf dem Herd brutzelte.

«Sie ist nicht gekommen?», wiederholte Leon ihre Worte, als habe er sie akustisch nicht richtig verstanden. Weil am Vorabend zehn Wanderer im Quellbach abgestiegen waren, die ein Frühstück bestellt hatten, war eigentlich ausgemacht gewesen, dass die Auszubildende Haffmann am Morgen aushalf. Dass sie krank werden konnte, lag so fern, dass es fast unmöglich schien. Das stille und gewissenhafte Mädchen hatte während seines ersten Lehrjahres nicht einen Tag in der Küche gefehlt.

«Sie ist nicht gekommen», bestätigte Beata noch einen Ton genervter und schlug ein weiteres Ei auf der stählernen Arbeitsfläche auf.

«Was ist mit Jan-Philipp? Konnte der nicht einspringen?»

Beata schüttelte den Kopf. «Ist nicht erreichbar.» Dann fügte sie hinzu: «Ich glaube nicht, dass sie krank ist. Zumindest hat sie sich nicht krankgemeldet.»

Überrascht sah Leon sie an. «Du meinst, sie hat bis jetzt nicht angerufen?» Er hatte es schon erlebt, dass Azubis Hals über Kopf, über Nacht sozusagen, alles hinschmissen und beschlossen, dass ihnen die Kochlehre zu anstrengend war. Aber so einen Sinneswandel traute er Linda nicht zu.

Er holte sein Handy aus der Tasche und wählte ihre Nummer. Doch nicht Linda beantwortete seinen Anruf, sondern eine weibliche Computerstimme, die ihm freundlich erklärte, dass der gewünschte Teilnehmer nicht erreichbar sei.

War es wirklich so undenkbar, dass die Zwanzigjährige einfach nur ihr Handy ausgeschaltet und verschlafen hatte? Vielleicht hatte sie sich lediglich zu Herzen genommen, was er ihr letzte Woche in dem Mitarbeitergespräch zum Abschluss des ersten Lehrjahres geraten hatte: dass sie sich mehr entspannen, hin und wieder mal jung und unvernünftig sein und ihrem Perfektionismus ein wenig entgegenwirken sollte.

Doch so schnell konnte niemand aus seiner Haut, und Linda war die Letzte, die ihren Chef enttäuschen wollte. Bei dem Vier-Augen-Gespräch in Leons Garten hatte sie ihm in blumigen Worten dargelegt, was ihr die Arbeit in der Küche bedeutete und warum sie die schlechtbezahlte Ausbildung einem Studium vorzog, und Leon hatte begriffen, wie wichtig es ihr war, gemocht zu werden. In ihrem Bemühen, charmant zu sein, vergaß sie sogar ihre Schüchternheit.

Leon hatte die Chance genutzt und sie ermutigt, sich mehr gegen Jan-Philipp zur Wehr zu setzen. «Immerhin besitzt du Talent und er nur einen großen Mund.»

Linda hatte leise gekichert, während sie an ihrem Glas Ingwerlimonade nippte und ihre langen dunklen Wimpern niederschlug, die fast schon aufreizend aus ihrem blassen Elfengesicht hervorstachen. Jeder andere hätte ihre Reaktion wahrscheinlich als Anmache ausgelegt, aber Leon kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie nicht vorhatte, ihn zu verführen. Was sie suchte, waren Lob und Harmonie.

Sie saßen unter der windschiefen Tanne auf den rostigen Gartenmöbeln aus rot bemaltem Eisen, die laut Thea «original Sechziger» sein sollten. Wenigstens waren die gestreiften Sitzpolster darauf neu, ohne die man sich an dem abblätternden Lack garantiert die Hosen aufgerissen hätte. Leon fragte sich, ob sich Linda hier wohlfühlte – allein mit ihrem Chef in dessen Garten. Doch er hatte dieses Gespräch nicht im Quellbach führen wollen. Aus Erfahrung wusste er, dass seine Mitarbeiter freier redeten, wenn ein gewisser Abstand zum Arbeitsplatz gegeben war. Natürlich hätte er sich auch an einem öffentlichen Ort, beispielsweise in einem Café, mit ihr verabreden können. Doch die Stadt war nicht groß, und er hatte keine Lust auf die Gerüchte, die eifrig die Runde machen würden, sobald man den verwitweten Koch beim Kaffee mit einer hübschen jungen Frau entdecken würde.

«Wenn du es einmal weit bringen willst, musst du dir abgewöhnen, immer nett zu sein und es allen recht machen zu wollen.» Er hatte das Gefühl, Linda aufrütteln zu müssen. «Das ist eine weitverbreitete Fehlannahme unter jungen Frauen. Durch Fleiß und Ergebenheit kletterst du vielleicht ein, zwei Stufen hinauf, aber du schaffst es nicht ganz nach oben. Natürlich will jeder für seine Leistung Anerkennung, aber manchmal muss man eben auch Ellbogen einsetzen oder – wie man so schön sagt – über Leichen gehen.»

Linda wurde ganz still und starrte ihn schockiert aus ihren großen grünen Augen an.

«Nimm dir ein Beispiel an Beata», fügte Leon hinzu, und sie brachen beide in Lachen aus.

Ein kurzer Pfiff ertönte in seinem Rücken. Als er sich umdrehte, sah er Jack hinterm Gartenzaun stehen. Auch wenn sein Gesicht wie immer durch die Basecap auf seinem Kopf beschattet war, waren sein breites Grinsen und das anerkennende Zwinkern nicht zu übersehen. Leons amerikanischer Nachbar schickte ihm sozusagen ein kumpelhaftes Schulterklopfen über den Zaun, mit dem er seine vermeintlich neue Eroberung kommentierte. Normalerweise mochte Leon Jacks kernige Art, mit der der sportliche Texaner, der bei Wind und Wetter nur im T-Shirt anzutreffen war, immer ein wenig an Lance Armstrong erinnerte. Doch diesmal fand er das aufgesetzte Machogehabe einfach nur schlüpfrig.

«Wir führen ein Mitarbeitergespräch», sagte er laut in Jacks Richtung, wobei seine Klarstellung einen ungewollt ironischen Unterton bekam und alles nur schlimmer machte.

«Aber sicher!», rief Jack vielsagend über den Zaun, und sein Grinsen wurde noch breiter. «Einen schönen Abend noch!» Er wandte sich um und ging zu Marlene, die neben dem geöffneten Kofferraum des Land Rovers darauf wartete, dass er ihr beim Ausladen der Einkäufe half. Sie warf Leon nur einen gequälten Blick zu, und er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie sich für Jack schämte.

Doch war ihre leise Scham nichts im Vergleich zu dem Unbehagen, das Linda in diesem Moment empfinden musste. Als sich Leon zu ihr zurückdrehte, erschrak er über die Farbe ihres sonst so blassen Teints.

Es hatte ihm leidgetan, sie in diese Lage gebracht zu haben, und das tat es noch immer. Selbst jetzt, während er in der Küche stand und sie ein zweites Mal anzurufen versuchte, war das Gesicht, an das er dabei dachte, leuchtend rot.

So hatte er sie vor der Schule im Garten im Grunde nur einmal gesehen. Und zwar als Lohmann ihr ein zweifelhaftes Kompliment in Bezug auf ihre Kochkünste gemacht hatte. Nach einem opulenten Essen mit Geschäftsfreunden war er in der Küche aufgetaucht und hatte wissen wollen, wer den köstlichen Rehrücken zubereitet hatte. Natürlich war sofort sein Neffe zur Stelle gewesen, um das Lob für sich zu beanspruchen, obwohl er lediglich am Vortag das Fleisch ausgelöst hatte. Doch Leon stellte klar, dass Linda das Fleisch gebraten, gewendet, gesalzen und seine heikle Garzeit überwacht hatte. Lohmann schien die Auszubildende zum ersten Mal wahrzunehmen und musterte sie wohlwollend von oben bis unten. «Dann halt dich mal ran, mein Junge», riet er seinem Neffen. «Wär doch gar nicht verkehrt, wenn diese zauberhafte Küchenfee irgendwann auch an deinem Herd kocht.»

Angewidert erinnerte sich Leon an Lohmanns selbstgefälliges Lachen, Jan-Phillips leere Miene und an den verlegenen und zugleich gedemütigten Ausdruck in Lindas grünen Augen. Und an ihr krebsrotes Gesicht.

Wie aufs Stichwort ließ Leon sein Handy sinken. Ein neues Problem war aufgetaucht, denn er wusste jetzt wieder, was in der Küche fehlte. Er hatte vergessen, Garnelen nachzubestellen.

An diesem Abend war noch mit einigen Gästen zu rechnen. Außerdem musste Lohmann mit Anhang im Jagdsalon verköstigt werden. Der siebzehnte Geburtstag seiner jüngsten Tochter wurde begangen. «Verdammt, die Garnelen werden höchstwahrscheinlich nicht reichen», schimpfte Leon. «Da bleibt wohl nur der Supermarkt.»

Als am Nachmittag Jan-Philipp auftauchte, verabschiedete er sich kurz und zog sich eilig um. Er hatte die Zeit aus den Augen verloren, Thea würde schon auf ihn warten. Er plante, in einer Stunde zurück zu sein.

Draußen kam Lohmann hektisch winkend auf ihn zu. Leon hatte ihm immer noch nicht von dem Mann an den Mülltonnen berichtet, aber Lohmann schien gerade ein dringenderes Problem zu haben.

Das Telefon in Leons Hosentasche vibrierte. Das musste Thea sein, die wissen wollte, wo er blieb. Leon würde sie zurückrufen, sobald er mit Lohmann geredet hatte und wusste, was ihm auf dem Herzen lag.

Es ging um das heutige Geburtstagsabendessen. Wie Lohmann anscheinend erst an diesem Tag erfahren hatte, vertrug seine Tochter keinerlei Milchprodukte. Mit großer Geste entschuldigte er sich, weil er fürchtete, die Küche mit dieser kurzfristigen Information in Bedrängnis zu bringen, aber Leon konnte ihn beruhigen. Sie verfügten über genügend Milchersatzprodukte. In den letzten Jahren hatte sich die Laktoseintoleranz zu einem regelrechten Modetrend entwickelt, auf den nun anscheinend auch Lohmanns Teenagertochter aufgesprungen war.

«Aber für mich bitte nichts von diesem Sojazeugs!», lachte Lohmann erleichtert und verschwand in sein Gasthaus.

Auf dem Weg zum Auto rief Leon Beata in der Küche an und teilte ihr den kurzfristigen Sonderwunsch der Lohmann-Familie mit. Sie war alles andere als begeistert.

Hinter der Lärche, vor der sein Volvo parkte, glänzte ein wunderschöner Steinpilz. Er würde ihn abschneiden, wenn er wiederkam. Jetzt hatte er keine Zeit. Er saß kaum im Auto, als sich seine Tochter erneut meldete. Schon das Klingeln seines Telefons klang genervt.

«Wo bleibst du? Wir hatten Viertel nach drei ausgemacht, und jetzt ist es kurz nach halb vier!», blaffte sie ihn vorwurfsvoll an.

Sie hatte Ferien und den ganzen Tag über nichts Wichtiges zu tun. Trotzdem regte sie sich maßlos über eine Viertelstunde Verspätung auf, weil sie es nicht ertrug, dass man sie warten ließ. In ihrer wütenden Unnachgiebigkeit erinnerte sie ihn oft an Anna.

«Entschuldige, aber ich bin aufgehalten worden. Ich fahre gerade los.» Ihm dagegen gelang es selten, wirklich sauer auf sie zu sein.

«Sicher? Ich habe nämlich keine Lust, noch eine halbe Stunde zu warten.» Auch den Hang zur Übertreibung hatte sie von ihrer Mutter geerbt. «Und die Frau mit dem Tisch hat sicher auch nicht ewig Zeit.»

«Sie ist Rentnerin.»

«Wenn du keine Zeit hast, kann mich auch Marlene fahren. Ich hab sie eben angerufen.»

«Nein, ich bin ja schon auf dem Weg», beschwichtigte Leon und bog vom Waldweg auf die Bundesstraße. «Du kannst Marlene wieder absagen.» Auch das war typisch – sobald Thea aus irgendeinem Grund sauer auf ihn war, musste sie ihm zeigen, dass es auch ohne ihn ging.

Leon gab Gas. Dunkelgrüne Fichten säumten die Straße wie ein dichtes Band. Trotzdem dachte er an die kahlen Buchen. Für ihn stand fest, dass er Thea nichts davon erzählen würde. Marlene und er hatten ihr ohnehin nie gesagt, wo sie die beiden Säcke vergraben hatten.

Mit einem Mal drang der faulige Geruch feuchter Walderde in seine Nase, und in seinen Ohren erklang dröhnendes Motorengetöse. Er sah den Förster und seine Gehilfen vor sich, wie sie mit schwerem Gerät die kranken Buchenstümpfe aus dem Boden rissen und wie die langen, toten Wurzeln das Erdreich aufbrachen und zwischen schweren dunklen Klumpen zwei schmutzige Säcke zutage förderten.

Das Bild verschwamm und wurde von zwei gelben Scheinwerfern im Rückspiegel zerstört, die rasend schnell auf Leon zukamen. Er kniff die Augen zusammen und spannte die Nackenmuskeln an, weil er sich sicher war, dass ihn der andere Wagen im nächsten Moment rammen würde. Doch keinen Wimpernschlag später schoss das Auto hupend an ihm vorbei, das Gesicht des Fahrers erschrocken und wütend zugleich.

Leon atmete tief durch. Der Geruch in seiner Nase verflüchtigte sich, der Lärm ebbte ab. Reglos harrten die Fichten neben der Straße aus. Erst da bemerkte Leon, dass er mitten auf der Fahrbahn stehengeblieben war und das Lenkrad so fest umklammerte, dass seine Fingerknöchel hervortraten.

Bevor der nächste Wagen von hinten heranbrausen konnte, fuhr er langsam an und legte wie in Trance die restlichen Kilometer zu seinem Haus zurück. Als er dort ankam, hatte er das Gefühl, Stunden gebraucht zu haben.

Aber Theas freundliche Begrüßung überzeugte ihn davon, dass dem nicht so war. Ihre Laune war wie ausgewechselt, als sie sich in ihrem kurzen Jeansrock auf den Beifahrersitz warf und ihn auf die Wange küsste. Aufgekratzt erzählte sie ihm irgendetwas von ihren Freundinnen und von einem Film, während sie ihn durch die Stadt zur Adresse der Rentnerin lotste. Dicke Fransen ihrer gestuften, langen braunen Haare fielen ihr immer wieder in die Augen, sodass Leon nur den lachenden Mund mit den großen weißen Zähnen sah, wenn er zur Seite blickte.

Er stand immer noch neben sich und bekam nicht wirklich viel mit von dem, was sie redete. Aber Thea wunderte sich nicht weiter darüber, weil das im Grunde nichts Neues für sie war. Schließlich gehörte ein mehr oder minder ausgeprägtes Kommunikationsproblem zu einer Beziehung zwischen Vater und älterer Tochter zwangsläufig dazu.

Ihre gute Laune steigerte sich noch, nachdem die beiden den hübschen schwarzen Nierentisch in eine Decke gehüllt in den Kofferraum verladen hatten. Auf der Rückfahrt amüsierte sie sich über die wunderliche alte Frau, die ihr Wohnzimmer mit Eiche rustikal zugestellt hatte, während sie kostbare Schätze der Einrichtungskultur quasi verschenkte.

In der Innenstadt ließ sie Leon vor dem Café halten, in dem sie jobbte. Allein machte er sich auf den Rückweg zum Quellbach. Er stoppte kurz beim großen Einkaufszentrum am südlichen Stadtrand und lud mehrere Packungen mit Garnelen in seinen Einkaufswagen.

Zurück auf dem Parkplatz, entdeckte er ein paar Reihen weiter Marlenes Land Rover. Sie saß auf dem Beifahrersitz, Leon erkannte ihren kurzen blonden Pferdeschwanz. Doch er hatte es eilig und steuerte auf seinen Volvo zu. Da sah er Jack aus dem Einkaufszentrum kommen. Leon lud die Garnelen in den Kofferraum und wartete darauf, dass Jack zu ihm herüberkam. Der Amerikaner ließ sich nie die Gelegenheit für einen Smalltalk entgehen. Aber diesmal grüßte er nur kurz mit erhobener Hand und sprang zu Marlene in den Land Rover. Die beiden schienen es ebenfalls eilig zu haben. Oder Jack war beleidigt, weil Leon ihn in der letzten Woche kühl behandelt hatte, nachdem er sich Linda gegenüber so unmöglich verhalten hatte.

Leon konnte nicht verhindern, dass auf der Fahrt zurück in den Wald erneut ihr vor Scham gerötetes Gesicht vor ihm auftauchte. Obwohl er sich an jenem Nachmittag in seinem Garten ihr gegenüber völlig korrekt verhalten hatte, fühlte er sich schuldig. Es war ein unerklärliches Gefühl, dem mit Vernunft allein nicht beizukommen war. Als hätte ihn jemand mit Linda zusammen beobachtet und ganz und gar nicht gutgeheißen, was er da sah. Selbst jetzt, im Rückblick, war dieses Missfallen geradezu greifbar.

Und so trug er das unerklärliche Gefühl der Schuld mit sich, als er durch das offene Eisentor rollte, seinen Wagen parkte und hinter der Lärche Lindas Leiche fand.

DREI

Im Auto war es kalt geworden. Anna drehte die Heizung auf und stellte das Radio leiser. Das Lied, das gespielt wurde, hatte sie oft gehört, als sie Leon kennengelernt hatte. Es brachte alte Erinnerungen zurück, auf die sie heute keine Lust hatte. Aber sie war zu faul, den Sender zu wechseln. Sie war müde und wollte nur noch nach Hause. Der Tag in der Schule war lang gewesen. Draußen war es bereits stockfinster, obwohl es erst sechs war. Vor fünf Tagen waren die Uhren umgestellt worden, es war Winterzeit, aber sie hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt.

Pünktlich mit der Dunkelheit war die Kälte gekommen. Am Mittag hatte es aufgehört zu regnen. Kalter Nordwind hatte die Wolken vertrieben und die letzten Blätter von den Bäumen geblasen, die Temperatur war innerhalb weniger Stunden rapide gefallen. Der Wind hatte am Fenster des Klassenzimmers gerüttelt, und die Kinder hatten die Wirbel aus braunen Blättern bestaunt, bevor sie am Nachmittag in die Pfützen gesprungen waren, auf denen sich eine dünne Eishaut gebildet hatte.

Am Montag hatte Anna einen Termin in der Werkstatt für die Winterreifen. Eigentlich war das Leons Aufgabe, aber seit er arbeitslos war, bekam er den Alltag nicht mehr geregelt, lag nur noch im Bett oder trank. Am Anfang hatte sie geglaubt, das sei nur eine Phase, doch diese Phase dauerte nun schon mehr als ein Jahr an. Denn vor mehr als einem Jahr hatte ein völlig ausgebrannter und abgestumpfter Leon alles dafür getan, dass er seinen Traumjob in einem noblen Wellnesshotel verlor. Er war so überarbeitet gewesen, dass er immer öfter zur Flasche griff und die zwangsläufig folgende Kündigung nur noch mit einem Schulterzucken zur Kenntnis nahm. Danach hatte er sich geschworen, nie wieder auch nur einen Fuß in das ausbeuterische Gastgewerbe zu setzen.

Deshalb war es Anna auch wie ein Wunder vorgekommen, dass sich dieses Hamburger Restaurant eine Woche zuvor gemeldet und Leon zu einem Gespräch eingeladen hatte. Wenn es sein musste, wäre sie mit ihm und Thea bis nach Norwegen gegangen. Hauptsache, er wurde wieder der Alte und gab seinem Leben einen neuen Sinn. In einer guten Stunde würde sein Vorstellungsgespräch beginnen. Anna hätte ihm jetzt schon die Daumen gedrückt, wenn ihre Finger nicht das Steuerrad umschlossen hätten.

Ihre Augen konzentrierten sich auf den weißen Mittelstreifen. Nur er bot Orientierung in diesem finsteren Waldabschnitt. Entgegenkommende Autos gab es kaum, und auch hinter ihr fuhr niemand. Sie hatte das Gefühl, in einer Kapsel durch ewige Dunkelheit zu reisen. Die langen, dicht stehenden Fichten rechts und links des Wegs schienen sich über dem Dach ihres Wagens zu vereinen und einen endlosen schwarzen Tunnel zu formen.

Am Morgen hatten sie sich gestritten. Leon war schlecht gelaunt gewesen und hatte lustlos gewirkt. Sie hatte ihm vorgeschlagen, besser gleich zu Hause zu bleiben, als dermaßen unmotiviert zu einem Vorstellungsgespräch zu fahren. Nachdem er weg gewesen war, hatte ihr ihr Sarkasmus leidgetan, denn sie wusste, dass ihn der erlittene Burn-out an den Rand einer Depression getrieben hatte und ihn die Vorstellung, mitsamt Familie in die ferne Großstadt überzusiedeln, momentan überforderte.

Die Straße stieg leicht an, und sie gab Gas. Straßenschilder warnten vor der kurvigen Strecke und forderten dazu auf, die Geschwindigkeit zu drosseln, aber Anna fuhr diese Strecke nicht zum ersten Mal. Das Lied im Radio wurde vom Verkehrsfunk unterbrochen. Eine monotone Männerstimme berichtete von Unfällen in der gesamten Gebirgsregion aufgrund von gefrierender Nässe. Auf dem Brocken hatte es innerhalb weniger Stunden zehn Zentimeter geschneit. Anna stellte das Radio wieder lauter, der Motor dröhnte, und es ging noch ein Stück bergauf.

Als sie die Bergkuppe erreichte, schloss der Mann mit der Bitte an alle Autofahrer, vorsichtig zu fahren. Der Tunnel aus Ästen brach auf, die Bäume wichen zurück. Die Straße durchschnitt eine breite Lichtung. Über Anna tat sich der Sternenhimmel auf, so plötzlich und zauberhaft, dass es unwirklich schien. Wie eine funkelnde Kuppel überspannte er den Wald. Sie ging vom Gas und ließ das Fenster herunter. Ihr war warm geworden, und dankbar atmete sie die klirrende Kälte ein, die ihr wie tausend kleine Nadeln in der Lunge stach. Ob Leon an diesem Abend im Norden dieselben Sterne sah? Sie wünschte ihm so sehr, dass es mit dem neuen Job klappte. Sie wünschte es ihm auch für sich und für Thea.

Per Knopfdruck schloss sie das Fenster. Vorne, am Ende der Lichtung, ging es wieder bergab. Bis nach Hause war es nicht mehr weit. Sie beschleunigte den Wagen und fuhr auf die Silhouette des Waldes zu, der sich wie ein schwarzer Schlund vor ihr auftat.

Die Straße beschrieb eine Rechtskurve, und Anna trat auf die Bremse. Der Wagen reagierte nicht. Er schlitterte weiter geradeaus, sodass sie versuchte gegenzusteuern. Das Auto machte eine halbe Drehung, bevor es mit dem Heck die Leitplanke auf der Gegenfahrbahn durchschlug. Die Hinterräder sackten in den Graben dahinter. Das Fahrzeug bäumte sich auf, und Anna blickte durch die Windschutzscheibe steil hinauf zum letzten Mal in den Sternenhimmel.

 

Leon riss die Augen auf. Er schnappte nach Luft wie ein Schiffbrüchiger, der sich an ein viel zu kleines Stück Holz klammerte. Das Gefühl zu ertrinken ließ ihn hochschießen. Er saß in seinem Bett und starrte in die Schwärze des Schlafzimmers.