Waldkind - Natalie Speer - E-Book
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Waldkind E-Book

Natalie Speer

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Beschreibung

Nehmt euch in Acht vor dem Deamhain.
Der verwunschene Wald lebt. Er begehrt. Er verführt.
Doch seine verschlungenen Pfade führen nicht in die Freiheit, sondern in den Tod ...


Eva und Cianna könnten unterschiedlicher nicht sein - die erste rebellisch und unerschrocken, die zweite eine Träumerin. Während Eva als Regierungsagentin Jagd auf gefährliche Fabelwesen im verwunschenen Wald Deamhain macht, führt Cianna das behütete Leben einer Bürgerstochter.
Doch dann findet Cianna am Rand des Deamhain ein verlorenes Kind, das eine besondere Verbindung zum Wald zu haben scheint. Sie ahnt nicht, dass der Deamhain das Kind nicht so einfach ziehen lassen wird. Und dass der Wald Eva und Cianna zu tödlichen Feindinnen macht.

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EPUB

Seitenzahl: 852

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Karte

Figuren- und Namensübersicht

Prolog

Cianna

Eva

Cianna

Eva

Cianna

Eva

Cianna

Eva

Cianna

Eva

Cianna

Eva

Cianna

Eva

Cianna

Eva

Cianna

Eva

Cianna

Eva

Cianna

Eva

Cianna

Eva

Cianna

Eva

Cianna

Eva

Cianna

Eva

Cianna

Eva

Cianna

Eva

Cianna

Eva

Cianna

Eva

Cianna

Eva

Cianna

Eva

Cianna

Eva

Cianna

Eva

Cianna

Eva

Cianna

Eva

Cianna

Eva

Cianna

Eva

Cianna

Eva

Cianna

Eva

Cianna

Eva

Cianna

Über das Buch

Eva und Cianna könnten unterschiedlicher nicht sein – die erste rebellisch und unerschrocken, die zweite eine Träumerin. Während Eva als Regierungsagentin Jagd auf gefährliche Fabelwesen im verwunschenen Wald Deamhain macht, führt Cianna das behütete Leben einer Bürgerstochter.

Doch dann findet Cianna am Rand des Deamhain ein verlorenes Kind, das eine besondere Verbindung zum Wald zu haben scheint. Sie ahnt nicht, dass der Deamhain das Kind nicht so einfach ziehen lassen wird. Und dass der Wald Eva und Cianna zu tödlichen Feindinnen macht.

Über die Autorin

Natalie Speer wurde 1981 im Alpenvorland geboren und lebt und arbeitet heute in Nürnberg. Ihre Liebe zur Phantastik spiegelt sich in allen ihren Büchern wieder, aber auf ganz unterschiedliche Art. Unter dem Namen Christiane Spies schreibt sie Historische Romane mit Werwölfen, als Natalie Speer entwirft sie ganz eigene phantastische Welten. Sie ist verheiratet und hat eine Tochter.

Mehr über die Autorin unter: www.nataliespeer.de

NATALIE SPEER

WALDKIND

ROMAN

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Kerstin Ostendorf, BonnTitelillustration: © Quick Shot/shutterstock; Quick Shot/shutterstock; Tithi Luadthong/shutterstockUmschlaggestaltung: Guter Punkt, München – Anke Koopmann | www.guter-punkt.deE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-6124-7

www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de

Figuren- und Namensübersicht

BÜRGER

Cianna Agadei, Tochter der Ipallin des achten Bezirks von Irelin

Maeve Agadei, Ciannas Schwester (vor vier Jahren verstorben)

Rhona Agadei, Ipallin des achten Bezirks von Irelin, Mutter von Cianna und Maeve

Finnegus Sullivan, Brennermeister im Auftrag des Agrarministeriums

Jannis, Händler

Christoph, Händler, Jannis’ Neffe und Erbe

Tarasios Orestis, Drucker in Athos

AGENTEN UND KONTAKTLEUTE DER CATHEDRA GÉNEA (CG)

Eva, Jägerin in der dritten Abteilung

Der Altmeister, Leiter der dritten Abteilung

Krateos, Sekretär der dritten Abteilung

Oran, genannt der Koch, Evas Kontaktmann in Clifdon

Die Archivarin, Leiterin der ersten Abteilung

Der Politiker, Leiter der zweiten Abteilung

BESATZUNG DER WALDBASTION

Quinn, Soldatin der Gefangenenwache

Leontes, Kommandant der Waldbastion

Rik, Hauptmann der Gefangenenwache

Luka, Hauptmann der Jäger

Horan, Heilermeister und Leiter der Sammler

Wylie, Jäger

Rois, Jäger

Alek, Hauptmann der Expeditionstruppen

REBELLEN

Brom, gewählter Anführer

Lydia, Broms Tochter

Ruan, Heiler

Barnabas, Barde

Magda, Pflanzenkundige

Sami, Magdas Sohn

Colin

Aylin

Jefan

WEITERE FIGUREN

Raghi, Ciannas Sklavin

Das Waldkind

ABTEILUNGEN DER CG

Erste Abteilung: Verwahrung der Vergangenheit

Zweite Abteilung: Vernichtung der Religion

Dritte Abteilung: Ausrottung der Albenrasse

Vierte Abteilung: Erforschung der Triebe

Wer entscheidet, wie viel unser Leben wert ist?

Die Republik, die jedem von uns mit seiner Geburt einen festen Platz zuweist? Oder wir selbst, mit unseren Taten und unserem Scheitern?

So viele habe ich sterben sehen, und ihr Leben war nicht weniger wert als meines.

Sanft streicht ihr Messer über meine Kehle. Ich habe keinen Zweifel, wie ihr Urteil lauten wird. Sie wird mich töten, so wie sie einst meine Schwester tötete.

Doch ich bereue nichts. Kommt, rufe ich in den Wald hinein, rufe die Katzen, die Schlangen, die dunklen Wesen des Deamhains. Schon meine ich, es im Unterholz rascheln zu hören, Schatten gleiten an Baumstämmen vorbei, Wurzeln regen sich im Erdreich unter den Pflastersteinen.

Mein Leben war niemals mehr wert als in diesem Augenblick, in dem ich es verliere.

Cianna

Mutter hat einen passenden Tag für die Hinrichtung ausgesucht. Der Himmel hängt fahlweiß wie ein Leichentuch über uns. Es riecht nach Regen, nach Moos und verrottendem Laub. Heute ist Frühlingsanfang, der Festtag der Gabe – doch die Welt riecht nach Tod.

Ich sitze am vorderen Rand der Bürgertribüne, die den Platz von zwei Seiten begrenzt. Mutter und der Scharfrichter harren vorne auf dem Galgenpodest aus, und auf dem schlammigen Platz in der Mitte wartet eng gedrängt die schweigende Menge der Gemeinen. Das einfache Volk muss stets zu uns aufblicken, so will es Mutter, und so will es die Ordnung unserer Republik.

Ich wünschte, es wären nicht so viele. Es müssen Hunderte sein, viel mehr als wir. Männer und Frauen, Alte und Kinder, die dunklen Haare und Filzumhänge durchtränkt vom Regen. Ihre Blicke sind wie Wespenstiche, ihre fremden, abgezehrten Gesichter machen mir Angst. Sie müssen seit dem Morgengrauen marschiert sein, um rechtzeitig hier anzukommen, auf dem Galgenplatz am Rande des Deamhains. Wie es Gesetz ist, muss das ganze Heimatdorf der Übeltäter ihrer Hinrichtung beiwohnen.

Ein Raunen geht durch die Menge.

»Da kommen sie.« Der greise Gelehrte Zenon, der neben mir sitzt, streckt seinen faltigen Hals.

Die Reihe der Ordnungswächter, die vor uns den ganzen Platz umgibt wie ein eiserner Ring, öffnet sich, um den Gefangenentransport durchzulassen. Vier Ordner schieben die Menge mit Stöcken beiseite, zwei Ochsen ziehen mühsam den großrädrigen Karren durch den Schlamm.

Ich erhasche einen ersten Blick auf die beiden Gefangenen, und mein Atem stockt. Das muss ein Irrtum sein. Das sind doch noch Kinder. Mein Blick eilt zu Mutter, doch sie steht aufrecht, die Hände gefaltet. Ihr Gesicht lässt keinerlei Regung erkennen, nur der Saum ihrer rubinroten Toga flattert im Wind.

Gefühle sind Schwäche. Ihre Worte. Meine Finger umklammern das Geländer der Tribüne.

»Sie haben einen Ordnungswächter erschlagen«, teilt mir Zenon ungefragt mit, und in seiner Stimme schwingt Entrüstung. »Lass dich von ihren unschuldigen Gesichtern nicht täuschen.«

Der Händler Jannis auf seiner anderen Seite nickt.

»Es sind harte Zeiten«, sagt er ernst. »Die Missernten, der Krieg im Norden gegen die Barbaren, für den ein Drittel der erwachsenen Männer eingezogen worden ist. Deshalb rekrutieren die Rebellen inzwischen schon Kinder.«

Rebellen? Ich schaudere. Mutter und ich reden nie über sie. Nicht seit Maeve. Und auch die anderen Bürger erwähnen sie nur mit vorgehaltener Hand, wie eine ansteckende Krankheit oder einen fauligen Geschmack im Mund.

Ich kenne die meisten der Bürger, die mit mir auf der Tribüne sitzen. Während der Karren durch die wogende Menge vor uns poltert, mustere ich ihre Reihen. Es sind etwa dreißig blonde Männer und Frauen, die zum Festtag erschienen sind. Hochgeborene Händler, Gelehrte, Beamte, Gutsherren der nahen Landgüter. Ihre Gewänder sind stilvoll, ihre Sessel mit Schaffell gepolstert, und Sklaven reichen ihnen heißen Assain-Tee, um die Glieder zu wärmen. Nur bei den Händlern gibt es ein paar Männer, die ich nicht kenne. Einer von ihnen hat für einen Bürger ungewöhnlich dunkelblonde, wild abstehende Locken. Sein Blick ist finster, als hätte er eine persönliche Rechnung mit den Gefangenen zu begleichen.

Die Haltungen der Bürger zeugen von Stolz und feierlichem Ernst. Sie alle präsentieren sich selbstsicher den Blicken der Menge – viel selbstsicherer als ich. Auch der greise Gelehrte Zenon neben mir hält sich aufrecht und hat würdevoll seine Hände im Schoß gefaltet.

Spürt er nicht das Entsetzen der wogenden Volksmenge, die drückende Nähe des Waldes?

Ein scharfer Ruf ertönt, die Ochsen stoßen ein dunkles Brüllen aus. Gegen meinen Willen muss ich wieder hinschauen. Der Karren mit den Gefangenen hat vor dem Galgenpodest angehalten. Lass dich von ihren unschuldigen Gesichtern nicht täuschen. Sie sind etwa zwölf Jahre alt, ein Junge und ein Mädchen. Zwei magere Körper, die gleichen struppigen Haare und angstvoll aufgerissenen Augen. Geschwister.

Einer der Ordner stößt sie grob vom Karren hinab. Der Junge fällt kopfüber in den Schlamm. Die Menschenmenge stöhnt auf, Hände strecken sich nach ihm aus. Doch schon reißt ihn ein anderer Ordner in die Höhe und schubst ihn weiter. Mit dreckverschmiertem Gesicht taumelt er neben seiner Schwester die Treppe hinauf auf die Galgen zu.

Alles in mir wünscht sich fort von hier. Fort in meinen Garten oder unter mein Bettlager, wo Maeve und ich uns früher vor unseren Lehrern versteckten. Fort an einen sicheren Ort, in eine andere Zeit.

Träumerin. Fast meine ich, Maeves Stimme zu hören, ihr tiefes Lachen. Du kannst dich nicht mehr verstecken, Schwester. Sie hat recht. Von ihr ist nur noch tote Asche übrig, und an den Orten unserer Kindheit liegt knöchelhoch Staub.

»Versammelte hochwerte Bürger, Volk der Republik.« Der Scharfrichter erhebt das Wort. Schmal und aufrecht wie eine Lanze verharrt Mutter neben ihm, ihr Gesicht hat fast dieselbe Farbe wie ihr weißblondes Haar. Sie ist die Ipallin unseres achten Bezirks, unsere oberste Beamtin, die Befehlshaberin der Ordnungswacht und Richterin über tausende Gemeine. Immer noch ist ihr keine Gefühlsregung anzumerken, während die von ihr Verurteilten wankend ihren Platz an den Henkersstricken einnehmen.

Unwillkürlich senke ich den Kopf. Selbst wenn sie nicht zu mir blickt, ich weiß, sie sieht mich. Und später wird sie mich tadeln und mir wie so oft vorwerfen, dass meine Gefühle in meinem Gesicht geschrieben stehen wie in einem offenen Buch.

»Eon und Nata Amhla aus der Siedlung Gnair, achter Bezirk der athosianischen Provinz Irelin«, trägt der Scharfrichter aus einer Akte vor. »Ihr seid angeklagt der Wilderei und des Totschlags an einem Ordnungswächter der Republik. Inhaftiert und verhört wurdet ihr im Kastell Cullahill am fünfzehnten Tag des Ianoros. Die Ipallin hat euch für schuldig befunden. Der Tod durch den Strang wird heute vollstreckt, am ersten Tag des Martios.«

Das Mädchen stößt einen Schrei aus. Ein Stöhnen geht durch die Menge, das sich wie ein Schluchzen anhört. Doch der graue Ring der Ordner mit ihren Schwertern und Armbrüsten hält die Menschen in seiner Mitte fest.

Krampfhaft schlucke ich gegen meine Übelkeit an. Immer noch halte ich den Kopf gesenkt. Ich kann sie nicht anblicken, die kleinen Gestalten unter den Galgen. Die grauen Waldwipfel, die sich drohend über sie beugen. Mutters dunkelrotes Gewand, das wirkt wie in Blut getaucht. Dazu die Worte des Scharfrichters, monoton und unentrinnbar. Ich will mir Augen und Ohren zuhalten, doch ich darf nicht. Mutter beobachtet mich. Alle beobachten mich, selbst der Wald. Das Gefühl verdichtet sich zu einem Flattern auf meiner Haut, wie eine kalte Berührung.

Dann entdecke ich es. Ein kleines, bleiches Gesicht, halb verborgen unter einer Kapuze. Ein Kind. Kaum wahrnehmbar kauert es dort in den Schatten des Baumdickichts, hinter dem Rand des Galgenpodests. Es starrt mich an.

Ich halte den Atem an. Ist es wirklich da? Manchmal fällt es mir schwer, Gedanken und Wirklichkeit zu unterscheiden. Kleine Schwärmerin, sagte Maeve stets.

In der Ferne predigt Mutter vor den Gemeinen. Ich könnte ihre Rede mitsprechen, erst eine Rezitation der Gesetze unserer Republik, dann strenge Worte über Frieden und Ordnung und Disziplin. Als ich blinzle, ist das Kind immer noch da. Es hebt seine Hand. Will es, dass ich zu ihm komme?

Hinter mir höre ich ein stoßartiges Ausatmen, flüchtig berührt mich eine Hand an der Schulter. Raghi. Meine Sklavin wacht hinter mir, stumm und reglos wie ein Schatten. Mutter hat sie mir nach Maeves Tod als Leibwächterin gekauft. Offenbar sieht sie das Kind auch.

Für einen Moment erleichtert es mich, dass mir nicht meine Fantasie einen Streich spielt. Doch das Kind blickt mich immer noch an, unverwandt und so intensiv, als könnte es direkt in mein Innerstes hineinsehen.

Wer bist du?, frage ich mich stumm.

Ich bin … Die Worte dringen durch die Luft wie das Wirbeln der Blätter, die ein Windstoß von den Wipfeln herabfegt. Seine Lippen bewegen sich nicht, doch ich kann seine feine, klare Stimme hören, als spreche sie direkt zu meinen Gedanken. Ungläubig schnappe ich nach Luft. Doch dann wirft das Kind einen Blick über seine Schulter, und ich meine, Furcht in seinem Gesicht zu lesen. Nicht jetzt. Seine kleinen Hände sausen abwehrend. Weg.

Der Wind wirbelt stärker, Äste knacken, jemand kreischt auf. Ein Mensch? Ein Tier?

In diesem Augenblick zersplittert alles um mich.

Mit einem heiseren Schrei springen zwei Bestien auf das Podest. Dunkelgrüne Umhänge, schwarze Augen. Dreieckige Schädel, die mit gebleckten spitzen Zähnen grinsen. Auf ihren Stirnen biegen sich Widderhörner. Sie sind ein Albtraum, viel schlimmer und realer als die in meinen Nächten. Die Menge schreit auf, und ich mit ihnen.

Die Bestien schubsen den Scharfrichter beiseite und packen meine Mutter.

»Nein!«, schreie ich, noch während Raghi mich von meinem Stuhl reißt. Die Sklavin springt vor mich, mein lebender Schutzschild. Auch die anderen Bürger werfen sich auf den Boden. Ihr feierlicher Ernst ist weggewischt. Jene, die wie ich Sklaven als Leibwächter dabei haben, ducken sich schutzsuchend hinter ihren bronzefarbenen Körpern. Zwei Beamtinnen kreischen, ihre Münder so weit aufgerissen, dass ihre Gesichter grotesk verzerrt sind. Der alte Zenon sackt mit rudernden Armen neben mir auf die Holzbohlen.

»Wer ist das?«, ruft er.

»Ich weiß nicht«, stammele ich. Grauen hält meine Kehle mit eisigen Klauen umfangen. Ordner brüllen Befehle, vor der Tribüne blitzen Schwerter.

»Bleibt zurück!«, brüllen die Bestien mit ihrem höhnischen Grinsen. Ich richte mich hinter Raghi auf die Knie auf, um sie zu sehen. »Bleibt zurück, oder die Ipallin ist tot!«

Eine der Bestien presst einen Dolch an die Kehle meiner Mutter. Das Rot ihres Gewands verschwindet fast hinter dem Grün der Umhänge der beiden Bestien. Ihr Gesicht ist bleicher als der Tod.

»Mutter!«, krächze ich, aber sie sieht nicht zu mir. Sie blickt zu den Ordnern, die ihre Schwerter ziehen und ihre Armbrüste heben, doch sich nicht zu nähern wagen. Die Kindgefangenen kauern zwischen ihren Wachen und dem Scharfrichter auf dem Boden.

Hinter ihnen ist der Wald leer. Das Kind, das ich dort gesehen habe, ist verschwunden.

Die Schreie werden lauter. Auf dem Platz der Gemeinen herrscht Tumult. Frauen umklammern ihre Kinder, andere weichen zurück oder versuchen, auszubrechen. Immer noch sind sie innerhalb der Mauer der Ordner eingesperrt.

Doch das ist nicht alles. Ich stoße ein Keuchen aus. Neue Farbe mischt sich unter das Braun der Gemeinen. Drei Mannslängen vor der Tribüne dreht eine Frau ihren erdfarbenen Umhang um, der plötzlich in hellem Grün erstrahlt. Dann zieht sie etwas unter ihrem Gewand hervor. Hörner. Einen zähnebleckenden Schädel, den sie sich übers Haar stülpt. Eine Maske. Die Widderfratzen sind Masken.

»Rebellen«, stößt Zenon aus. Einer der anderen Bürger greift das Wort auf, dann gellt es über die Tribüne und hämmert wie eine Keule gegen meine Stirn. Ich kann mich nicht bewegen, kann nicht atmen, während sich immer mehr Gemeine in Schlimmeres als Ungeheuer verwandeln. Rebellen. Feinde und Mörder, die mir schon einmal das Liebste nahmen.

»Werte Republikaner!«, ruft der Anführer der Bestien. Er meint uns Bürger. Unter der Maske klingt er dumpf, doch ich höre den Spott in seiner Stimme. So fest presst er seinen Dolch an den Hals meiner Mutter, dass dort ein Faden Blut hinabrinnt.

»Macht ihr euch Sorgen um eure vollen Wänste?« Er lacht. »Ihr, die gar nicht wisst, was Hunger heißt? Ihr, die Kinder vor den Augen ihrer Eltern umbringt und dabei noch Tee trinkt?«

Hinter ihm erklimmen drei weitere Maskenmänner das Podest und nähern sich mit erhobenen Keulen den Wachen und den Gefangenen. »Fürchtet euch zu Recht, denn bald schon wird euer Leben ein anderes sein!«

Zustimmende Rufe aus der Menge antworten ihm. Unter die Dorfbewohner mischen sich inzwischen mehr als zwanzig Maskierte. Sie recken Keulen und Messer in die Luft.

Und einige von ihnen bahnen sich einen Weg zur Tribüne. Wir ducken uns hinter unseren Sklaven. Die Ordner, die vor uns am Rand der Tribüne Stellung halten, heben ihre Waffen.

»Legt eure Schwerter nieder, Graumäntel, und weder ihr noch die reichen Wänste werdet angerührt«, brüllt der Anführer. »Wir holen uns nur zurück, was uns zusteht – die Steuer, die ihr uns abgepresst habt.« Er drückt Mutter noch fester an sich, hebt sie mit dem freien Arm in die Luft, sodass ihre Füße über dem Boden baumeln.

»Sie wollen uns ausrauben«, keucht Zenon neben mir. »Sie wollen den Obulus.«

Natürlich. Die Bürger flüstern es, das Wispern geht wie eine Welle über die geduckten Köpfe. Heute ist Frühlingsanfang, das bedeutet Tag der Gabe. Einer der fünf großen Festtage der Republik. Manche Bürger haben Boten geschickt, um ihren Obulus zu entrichten, doch viele sind selbst gekommen, um Mutter nach der Hinrichtung die Gabe persönlich zu überreichen – und anschließend am Dinner in Cullahill teilzunehmen, unserem Kastell. Nicht nur mein Blick gleitet zu den prall gefüllten Beuteln, die hinter uns an der Tribünenwand lehnen. Sie sind gefüllt mit Münzen und Regierungswechseln. Für die meisten Bürger ist es eine symbolische Summe. Für die Gemeinen mag es allerdings viel sein.

»C’raad ol rùda de ruith saorsa!«, ruft der Rebellenführer. Er stimmt einen brüllenden Gesang an. Es sind fremdartige, hellklingende Worte. Die anderen Rebellen fallen mit ein. Sie reißen ihre Waffen in die Luft, stoßen sie klirrend und scheppernd aneinander. Die meisten von ihnen stehen nun dicht an dicht vor den Ordnern.

»C’raad ol rùda de ruith saorsa!«

Ihre Widderfratzen brüllen mit gebleckten Zähnen zu uns hinauf. Werden sie uns am Leben lassen, wenn wir ihnen das Geld geben? Ich recke den Kopf, um Mutter anzusehen.

Im gleichen Moment erhebt sie ihre Stimme. Durchdringend bahnt sie sich einen Weg durch den Gesang.

»Erschießt sie!« Ihre blauen Augen blitzen vor Zorn. Der Dolch ist immer noch an ihrem Hals. Sie wird sterben, doch das scheint ihr egal zu sein. »Im Namen der Republik«, ruft sie. »Tötet sie alle!«

Und jeder Ordner im Bezirk gehorcht ihr aufs Wort. Schon sausen Schwerter durch die Luft. Armbrustbolzen fliegen in die wogende Menge. Der Gesang endet in misstönendem Geschrei. Ich sehe einen Mann, dem sich ein Bolzen in die blutsprühende Kehle bohrt. Eine Frau, die über ihren Kindern zu Boden geht.

Ich springe auf und höre mich plötzlich selbst schreien, hoch und keuchend. »Nein! Nein!«

Wie als Antwort sirrt ein verirrter Bolzen heran und bleibt neben mir zitternd im Holz stecken.

Raghi packt mich und zieht mich erneut zu Boden. Ihre breiten Schultern bewahren mich vor weiteren Anblicken. Doch sie kann meine Ohren nicht abschirmen. Schrille, panische Todesschreie gellen von überallher.

Außerdem kann ich immer noch zum Podest sehen. Mutter. Ungeachtet allem steht sie frei, ungebrochen, flammend vor Hass. Der Anführer hat sie losgelassen. Er weicht zurück, reißt seine Maske herunter und wirft sie dem ersten Ordner entgegen, der mit gezogenem Schwert auf ihn zu schnellt. Schon springen andere Maskenmänner heran, schirmen ihren Anführer ab. Doch kurz sehe ich sein Gesicht. Es ist grob, verbeult wie das eines Raufbolds und von der Sonne verbrannt. Wut und Entsetzen zeichnen seine Miene. Er ruft etwas und macht mit der Hand befehlende Gesten. Dann springt er vom Podest in den Wald. Sofort ist er im Schatten der Bäume verschwunden. Die anderen Maskenmänner folgen ihm.

»Sie fliehen!«, rufe ich. »Hört auf zu schießen!« Doch keiner hört mich. Immer noch gellen die Schreie, treffen Bolzen und Schwerthiebe die Menschen auf dem Platz. Die Ordner metzeln sie nieder, und sie machen keinen Unterschied zwischen Rebellen und Kindern, Frauen, Alten.

»Hört auf«, schluchze ich. Da rempelt Zenon gegen meine Schulter. Er sieht mich nicht an. Die anderen Bürger drängen bereits zu den Treppen, die hinter dem Podest nach unten führen. Raghi reißt mich hoch, zieht mich hinter Zenon her.

Plötzlich knallt es. Der Donnerhall schlägt wie eine Faust an mein Ohr, ein heißer Windstoß reißt mich nach hinten. Winzige, spitze Geschosse prasseln wie Sandkörner auf mich ein. Noch ein Knall, eine Kaskade von Donnern, gefolgt von weiteren Windstößen, die mich zu Boden pressen. Raghi ist weg. Stattdessen ist überall Rauch. In meinen Ohren dröhnt es, Sterne tanzen vor meinen Augen. Was war das? Und wo ist Raghi? Ich taste mich über den schwankenden Boden.

Meine Finger erwischen Stoff, dann Haut. Da ist jemand. Ein aufgerissener, faltiger Mund, verdrehte Augen. Zenon. Sein graues Haar leuchtet rot. Ich zucke zurück vor Schreck. Dann will ich erneut nach ihm greifen, doch ich erreiche ihn nicht mehr. Der Boden schwankt stärker. Jemand zerrt mich nach hinten, weg von ihm, meine Arme schaben über Holzbohlen. Es sind Raghis kräftige Hände, die mich halten. Ein Balken wird aus der Verankerung gerissen, und plötzlich falle ich nach unten, lande auf matschigem Gras.

Wir sind hinter der Tribüne. Raghi zerrt mich über den Boden. Es ist still bis auf das tonlose Dröhnen in meinem Kopf, um mich nichts als aufblitzende Sterne im Rauch. Mein Kopf tut so weh. Als die Sklavin mich loslässt, will ich mich auf dem Boden zusammenrollen, doch irgendein Instinkt zwingt mich, aufzublicken.

Zwei grüne Schemen springen auf uns herab. Widdermasken. Ein stachelbewehrter Prügel rast aus dem Dunst auf meinen Kopf zu. Ich kann nicht mehr ausweichen. Ich bin verloren.

Ein brauner Schatten, flink und klein, wirft sich gegen das Grün. Er bringt den Angreifer ins Taumeln. Der Prügel streift mich an der Schulter, und der Schmerz lässt mich aufschreien. Gedämpft höre ich plötzlich meine Stimme wieder, zusammen mit hundert anderen Geräuschen, die durch den Nebel dringen, Schreien, Stöhnen, Fußgetrappel, Knistern und Krachen. Schemen rennen und stolpern durch den Nebel.

Mein Angreifer liegt vor mir auf dem Boden, die Widdermaske gen Himmel gerichtet. Wer hat ihn zu Fall gebracht? Raghi weicht mühelos dem anderen Rebellen aus, schirmt mich dabei von ihm ab. Er fährt herum, schwingt die Keule auf ihren Kopf zu. Sie duckt sich, gleitet an ihm vorbei. Während er noch versucht, ihrer Bewegung zu folgen, rammt sie ihm die Schulter unter die Achsel und hebelt ihn von den Füßen. Dann wirbelt sie zu mir herum. Ihre Finger zischen in einer harten Geste durch die Luft, ihre Augen blitzen einen stillen Befehl. Renn weg!

Doch wohin? Meine Gedanken sind wirr. Schmerz und Angst färben den Dunst um mich rötlich, machen meinen Kopf leicht und schwer zugleich.

Und dann nimmt jemand meine Hand. Leicht und kühl ist die Berührung, und ich blicke in dunkle Augen, so tief und fremd wie ein Abgrund. Das Kind aus dem Wald. Es zieht an mir, und obwohl es so klein und zart ist, ist sein Griff fest. Komm.

Wie eine Schlafwandlerin folge ich ihm tiefer in den Dunst hinein. Waldkind. Hat es den Rebellen zu Fall gebracht und mich gerettet? Ich kann nicht denken. Vor uns schälen sich Holzbalken aus dem Nebel. Ich lasse das Kind los und greife danach. Die Tribüne, ein halb zusammengebrochenes Ungetüm. Wir sind zurück am Anfangspunkt. Oder gänzlich woanders. Nichts mehr ist wirklich. Und dann sehe ich sie. Ein menschlicher Körper verkeilt zwischen den Balken. Goldblonde Locken, ein in rosa Samt gehüllter Arm. Maeve.

Ich schluchze. Ein dunkler Strudel erfasst mich, reißt mich in die Tiefen eines Albtraums, den ich jede Nacht träume.

Ich falle auf die Knie, schluchzend krieche ich unter Balken hindurch und greife nach der Hand, die reglos im Matsch liegt. Das Kind folgt mir, doch ich merke es kaum.

Maeve. Ihre Finger in meinen, reglos, kalt.

Das Kind zieht an meiner Schulter. Sein kühler Atem streift meine Wange. Die Luft um mich dagegen ist heiß. Es knistert. Rauch lässt mich husten. Ich will nicht gehen. Ich will mich neben Maeve legen, mein Gesicht in ihre Arme betten. Flammen schlagen aus den Holzbohlen über uns, erhellen ihr Gesicht.

Jäh komme ich zu mir. Das ist nicht Maeve. Es ist eine der Beamtinnen. Ihre Finger entgleiten mir. Das Kind zerrt an mir. Ängstlich blickt es zu den Flammen. Wir müssen hier weg! Doch ich habe keine Kraft mehr.

»He!« Fremde Hände packen mich, reißen mich fort von den Funken. Feuer wogt um ein entschlossenes Gesicht, Locken lodern im Flammenwind, ohne zu brennen. Der Mann bewegt sich rückwärts durch die Flammen und schleppt mich mit sich. Gebälk kracht und knurrt über meinem Kopf wie eine Bestie. Ich halte die Hand des Kindes und ziehe es mit mir, während die Welt über uns zusammenbricht.

Eva

Postkutschen machen mich wahnsinnig. Sie holpern und rattern, dass einem die Ohren klingeln, und sie sind eng und stickig. Man sitzt in ihnen herum wie Vieh, ausgeliefert an einen unfähigen Kutscher. Ich hasse es. Ich bin eine Jägerin. Ich will nicht wie Beute transportiert werden.

Auch wenn ich wie leichte Beute aussehe. Meine Haare stecken in einem Beamtenkäppchen und meine Füße in Holzpantoffeln, mit denen ich weder rennen noch kämpfen kann. Den Kopf halte ich gesenkt, und meine Hände liegen gefaltet in meinem Schoß, ein Muster der sauber geschrubbten Sittsamkeit. Ein scheues, müdes Mäuschen in einer grauen Wolltunika, ein braves Rädchen im Getriebe der Republik.

Noch vierzig Stunden. Dann werde ich diesen Eindruck abstreifen, genauso wie die Pantoffeln und die anderen Fahrgäste.

Nach vier Tagen gemeinsamer Reise ertrage ich sie kaum noch. Ich kenne nicht nur ihren Geruch, sondern auch ihre Gewohnheiten so gut, dass ich jedes Geräusch zuordnen kann.

Schnaufen, Schnarchen, Furzen – das ist der fettleibige Landwirt, der einen Stapel Besitzurkunden und sein halbes Vermögen auf dem Amt in Athos abgeliefert hat, um die Genehmigung für drei Sklaven zu kaufen.

Räuspern, Knarzen und Gehstockgeklapper – die zwei Beamten, die ständig flüstern und alle anderen misstrauisch beäugen. Dabei reden sie über nichts anderes als über dröge Verwaltungsfälle.

Scharren, Seufzen und Getrippel – die nicht mehr ganz frische Witwe, die sich mit einer grellorangenen Toga den Schick einer Bürgerin gibt, ohne eine zu sein. Sie reist nach Clifdon, um Verwandtschaft zu besuchen, doch seit Fahrtbeginn macht sie dem Landwirt schöne Augen. Wenn er nicht aufpasst, wird er in seinen Bezirk nicht nur als künftiger Sklavenbesitzer, sondern auch als frischgebackener Ehemann zurückkehren.

Und dann ist da noch das Knacken der Fingerknöchel rechts von mir, das Knarren der Holzbank unter dem knochigen Hintern eines Kerls, der nie still sitzen kann. Das ist der Händlergeselle Nikolaios, genannt Niko. Er hält mit keiner seiner Ansichten hinter dem Berg, und seit wir losgefahren sind, hat er kein anderes Ziel, als mir das Leben schwer zu machen.

Nur ich bin still.

Je leiser du wirst, desto mehr kannst du hören. Die erste Lektion des Altmeisters. Gerade weil es mir so schwerfiel, sie zu lernen, habe ich sie perfektioniert. Mein Auftrag hat nichts mit den Personen in dieser Kutsche zu tun, doch meine Umgebung im Auge zu behalten, hat bei der Jagd noch nie geschadet.

Finger krabbeln über meinen Arm. »Athina? Athina, schläfst du noch?«

Einatmen, ausatmen. Ich bin ein Kiesel im plätschernden Wasser, ein reglos schwebender Adler in der Luft.

Niko schafft es, dass ich ihm Nadeln unter die Fingernägel treiben will. Ich würde ihm die Wunden danach wieder heilen – ich bin kein Unmensch. Doch dummerweise darf keiner hier erfahren, dass ich über den Heiltrieb verfüge. Sonst wird eine farblose Verwaltungsbeamtin ganz schnell zur Hauptattraktion dieser Fahrt – und eiternde Zehen, faule Zähne und sonstige Widerlichkeiten werden schneller ausgepackt, als ich aus dem Fenster springen kann.

Ich atme noch einmal tief durch und öffne die Augen.

»Sind wir schon da?«

»Aber nein!« Niko strahlt mich an. »In einer halben Stunde erreichen wir die Provinzgrenze von Irelin.«

Warum bei allen Barbaren hast du mich dann geweckt? Ich werfe einen Blick an ihm vorbei aus dem Fenster. Grüne Hügel bis zum Horizont, Tupfer von Heidekraut und dazwischen verwitterte Felsnasen. Sofort will ich die Vorhänge vor die Fenster ziehen und die Augen wieder schließen.

»Warst du schon einmal in Irelin?«, fragt Niko.

»Nein«, lüge ich. »Doch ich freue mich schon sehr darauf.«

»Mir geht es ebenso«, zwitschert die Witwe von gegenüber. »Die Menschen in diesem Landstrich sollen etwas ganz Besonderes an sich haben.« Sie wirft dem Landwirt einen schmachtenden Blick zu, der allerdings nur mit den Schultern zuckt. Vielleicht ist er doch nicht so leicht zu betören.

»Mich hat meine Arbeit schon öfter in diese Gegend geführt«, erklärt Niko. »Meistens mit größeren Handelsdelegationen. Doch etwas delikatere Aufträge verlangen es, dass ich den Weg manchmal allein auf mich nehme.« Er schafft es, gleichzeitig blasiert und beklommen dreinzublicken. Wahrscheinlich ist es seine erste Reise im Alleingang, und um sein Selbstbewusstsein in den Griff zu bekommen, umsorgt er die einzige vorgeblich noch schwächere Reisende – mich.

Ich tue ihm den Gefallen, nachzufragen: »Wie findest du Irelin?«

Er seufzt. »Diese Provinz ist ein einsamer Landstrich. Mehr Schafe als Menschen, so sagt man.«

»Die kleinen Dörfer sollen sehr pittoresk sein«, wirft die Witwe ein. »Ebenso die alten Festungen und Kastelle, die noch aus vorrepublikanischen Zeiten stammen.«

»Ach, das sind bloß Ruinen, die dem Gesindel Unterschlupf bieten«, brummt der Landwirt.

»Du meinst … Rebellen?« Die Witwe reißt die Augen auf. »Stimmen die schlimmen Gerüchte, die man über diese Unmenschen hört?«

»Ach was. Das sind nur Gesetzlose und Streuner. Wenn die meinen Grund betreten, hetze ich meine Hunde auf sie.«

Auch die beiden Beamten werden nun auf das Gespräch aufmerksam. »Ich hörte, die Rebellen seien mehr als nur Streuner«, gibt der eine zu bedenken. »Es heißt, sie seien durchaus organisiert. Sie verteilen hetzerische Flugschriften in den Dörfern, und ihre Überfälle und Anschläge haben wohl in den letzten Monaten zugenommen.«

»Aber warum tun sie das?«, ruft die Witwe. »Warum stürzen sie so viele Menschen ins Unglück?«

»Weil sie Barbaren sind.« Der Beamte rümpft die Nase. »Statt zu begreifen, wie gewinnbringend es ist, Teil der Republik Athosia und Mitglied der zivilisierten Welt zu sein, wollen sie archaische Zustände und Chaos verbreiten.«

»Sie wollen zurück in die Dunkle Zeit.« Niko schaudert. Die anderen blicken ebenfalls unwohl drein.

Dabei haben sie keine Ahnung. Ich schaue aus dem Fenster, auf mein bleiches Spiegelbild und die ärgerlich lebendig wirkende Landschaft dahinter, das frische, vom Morgentau reingewaschene Grün. Das, was diese Leute für die Wahrheit halten, ist schon vor langer Zeit ebenfalls reingewaschen worden, und das ist auch besser so.

Die wahre Geschichte ist nichts für schwache Nerven. Denn unter der streng geordneten Realität unserer Republik versteckt sich ein grinsendes Raubtier, eine zweite, finstere und vor allem magische Wirklichkeit. Es dauerte eine Weile, bis ich das kapierte. Obwohl mich der Altmeister umfangreich aufklärte, als ich das Aufnahmeritual der Cathedra Génea hinter mich brachte, verstand ich die Tragweite erst, als ich unter seiner Aufsicht mein erstes Ungeheuer tötete.

Die Dunkle Zeit, die vor fünfhundert Jahren mit Gründung der Republik endete, barg nicht nur Chaos, Hunger und Krieg, sondern einen noch dunkleren Feind. Die Menschen waren einst nicht allein. Sie waren Sklaven einer nichtmenschlichen, ungleich stärkeren Rasse. Die nannte sich Alfr, was wir mit Alben übersetzten, und ihre Heimat war das Albental, eine zauberische, fremdartige Welt. Mithilfe von Magie drangsalierten sie unsere Vorfahren und besaßen auch noch die Frechheit, sich jahrhundertelang als Götter anbeten zu lassen. Aber sie begingen auch Fehler.

Geh nie mit dem Feind ins Bett, denn er könnte dein Kind bekommen. Es gab unzählige sogenannter Halbblüter. Sie erbten nicht nur das glänzende Aussehen der Alben, sondern oft auch eines ihrer magischen Talente – meist die Beherrschung des Feuers oder die Heilkraft. Trotzdem waren sie Menschen und wurden von ihren artfremden Vätern und Müttern als solche verachtet. Wahrscheinlich fanden sie deshalb als Erste den Zorn und den Mut, gegen die Sklaverei zu kämpfen. Sie schlossen sich zu einem Bund zusammen und warfen nach einer blutigen Rebellion die Alben aus unserer Welt. Außerdem schlossen sie die Portale zum Albental, sodass die Alben nie wieder zu uns gelangen können.

Statt sich zu freuen, versank die Welt allerdings erst mal im Chaos. Da sie keine Götter mehr hatten, verfielen die Menschen den seltsamsten Sekten, beteten verrückte Halbblüter an und bekriegten sich.

Endlich nahmen ein paar der siegreichen Halbblutfamilien in der Stadt Athos die Sache in die Hand: Sie gründeten aus dem Bund, den sie zur Vernichtung der Alben geschlossen hatten, die Republik Athosia und erstellten eine neue Ordnung. Die Halbblüter und ihre Nachkommen wurden zu Bürgern, die gemeinsam die Regierung wählten und die Verantwortung über die Gesetze trugen. Die restlichen Menschen nannten sie ab sofort Gemeine, und die Kriminellen und Ausländer machten sie zu Sklaven. Außerdem schufen sie das Grundübel – die Religionen – ab und verbrannten und verboten in den nächsten Jahrzehnten alles, was noch an die Alben erinnerte. Heilmagie und Feuermagie, das Erbe der Alben im Blut vieler Bürger, benannten sie um in Heiltrieb und Feuertrieb, und komplexe wissenschaftliche Theorien wurden entwickelt, um sie erklärbar zu machen. Die Bürger mit magischen Fähigkeiten wurden an eigens gegründeten Akademien zu Heilern und Brennern ausgebildet und in den Dienst der Republik gestellt. Nach und nach eroberten die Regierenden die vier Provinzen und befriedeten sie, bis die Republik vor zweihundert Jahren mit der Einnahme von Irelin ihre jetzige Größe erreichte.

Und nicht zu vergessen: Sie gründeten in den ersten Jahren der Republik einen Geheimdienst. Den nannten sie Cathedra Génea, was so viel bedeutet wie Sitz der Erben, kurz CG.

Die Agenten der CG arbeiten so im Verborgenen, dass nicht einmal alle im Regierungsrat von ihnen wissen. Und ich gehöre zu ihnen. Wir schützen die schöne neue Welt der Republik vor dem alten Wissen. Wir sorgen dafür, dass die Ordnung erhalten wird und Religionen und andere archaische Übel im Keim erstickt bleiben – und die Alben verschwunden. Letzteres ist mein Job. Ich jage die letzten der langlebigen Biester, denen es nach der Vertreibung irgendwie doch noch gelungen ist, sich in unserer Welt zu verstecken.

Ich liebe die Jagd. Den Nervenkitzel. Das klar definierte Ziel. Mein aktueller Auftrag ist leider etwas komplizierter. Hab ich aufgestöhnt? Die anderen Reisenden starren mich an.

»Keine Angst, Athina.« Niko tätschelt meinen Arm. »Du wirst in Clifdon sicherlich keine Rebellen zu Gesicht bekommen.« Als ob das meine größte Sorge wäre.

»Die Hauptstadt von Irelin wird dir gefallen«, fügt er hinzu. »Die Häuser haben dort spitze Ziegeldächer.«

»Das klingt drollig, nicht wahr?« Die Witwe lächelt mir aufmunternd zu. »Wenn du magst, Kindchen, gebe ich dir die Adresse meiner Schwester. Du bist jederzeit willkommen, falls du dich einsam fühlst.«

»Das ist zu gütig.« Vermutlich will sie mit ihrer Mütterlichkeit vor allem dem Landwirt imponieren. Doch ihre Worte rühren etwas Tiefes, fast Vergessenes in mir an. Verfluchte Erinnerungen. Sie machen mich angreifbar.

Denn ich kenne die Dächer von Clifdon nur zu gut – und eigentlich dachte ich, alles unternommen zu haben, um sie nie wieder zu sehen. Der Altmeister hat das allerdings anders entschieden.

Ich weiß, dass dort ein paar unerfreuliche Erinnerungen auf dich warten. Vielleicht ist es Zeit, dich ihnen zu stellen. Recht viel Anteilnahme für seine Verhältnisse. In Athos hat er mir den Auftrag erteilt, und sein zerfurchtes Gesicht wirkte besorgter, als ich es von ihm gewohnt bin.

Genug. Ich sollte nicht grübeln, sondern versuchen, noch ein wenig zu schlafen.

Erst als die Kutsche so abrupt zum Stillstand kommt, dass mir der Hut des Landwirts in den Schoß fällt, öffne ich die Augen wieder.

Stimmen tönen dumpf und unverständlich durch die Holzwand der Kutsche. Der befehlsgewohnte Tonfall klingt nach Soldaten.

»Die Grenzstation«, ruft Niko aufgeregt. Ich gähne hinter vorgehaltener Hand. Wenn alles seinen geregelten Gang geht, werden wir nach einer Ausweiskontrolle rasch weiterfahren.

Schon wird die Kutschtür aufgerissen. Ein Soldat steckt den Kopf herein, das Abzeichen auf seiner braunen Uniformjacke weist ihn als Soldat der fünften Division aus – der Landeinheit von Irelin. Sein Blick ist wachsam und alles andere als freundlich.

»Aussteigen und Ausweispapiere bereithalten!«, ruft er barsch. »Einer nach dem anderen!«

Jäh bin ich hellwach. Dies ist keine Routinekontrolle. Während die anderen durcheinanderreden und in ihren Taschen kramen, schiebe ich meine Halskette mit dem Medaillon tiefer in den Kragen. Meine andere Hand wandert mein Bein hinunter, unter die Tunika und den knöchellangen Rock zu meinen Socken über den Holzpantoffeln. Ich ziehe das Messer mit der Silberschneide heraus und lasse es unter der Sitzbank verschwinden.

Mein Instinkt hat mich nicht getrogen: Als wir hintereinander aus der Kutsche steigen, empfangen uns mehr als ein Dutzend Soldaten. Ich lasse die Schultern hängen und gehe unter dem Wollrock etwas in die Knie, damit sie nicht merken, dass ich für ein graues Mäuschen recht großgewachsen und muskulös bin. Mit gesenktem Blick verharre ich.

Für Bürger ist das Reisen kein Problem. Doch alle Fahrgäste sind Gemeine. Wenn sie ihren Bezirk verlassen wollen, müssen sie sich erst einmal teure Ausweispapiere beschaffen – und brauchen außerdem für jede Reise eine Genehmigung ihrer Bezirksregierung. Die meisten Gemeinen bewegen sich deshalb kaum aus ihren Dörfern fort, was die Welt erfreulich geordnet und überschaubar macht.

Nur für ein paar Berufsgruppen gibt es Ausnahmen. Dazu zählen Beamte, Soldaten und Händler wie Niko. Solange ich nicht aus der Rolle der grauen Beamtenmaus falle, habe ich nichts zu befürchten. Mehr noch, der Staatsapparat ist auf meiner Seite: Meine Papiere sind Originale, ausgestellt im Meldeamt von Athos – auch wenn die Person, die sie beschreiben, nur für die Dauer dieses Auftrags existiert.

Während ein Soldat mir das Dokument abnimmt, tastet mich ein anderer nach Waffen ab. Die Halskette interessiert ihn zum Glück nicht.

Unauffällig lasse ich den Blick über die Grenzstation schweifen. Eine Brücke spannt sich über den gemächlichen Fluss Sair, der hier seit jeher die Grenze zwischen der Zentralregion und der Provinz Irelin bildet. Auf beiden Ufern säumen verwitterte Türme die Brückenpfeiler. Dahinter ducken sich Nebengebäude, in einem Pferch warten zwei Dutzend Pferde. Die Grenzübergänge sind zurzeit mannstark besetzt – in unruhigen Zeiten ist es wichtig, dass die Soldaten Präsenz zeigen. Das ist jedoch kein Grund für diese strenge Kontrolle. Dafür gibt es nur zwei mögliche Ursachen: Rebellen – oder mich.

Paranoia hat noch nie geschadet. Und beim Anblick der beiden Männer, die sich soeben aus dem Schatten des rechten Turms auf unserer Uferseite lösen, kribbelt die Haut auf meinen Armen.

Sie könnten harmlose Beamte sein, denn sie tragen die üblichen Beamtenkappen und unauffällige Reisekleidung, und hinter ihnen warten zwei alte Gäule, die vor einen Karren gespannt sind. Doch etwas anderes verrät sie: ihre konzentrierten Blicke, die suchend über unsere Gesichter wandern. Ihre kalkulierten und sparsamen Bewegungen, wie ein Mühlwerk aufeinander abgestimmt. Ihre Umhänge sind außerdem weit genug, um Waffen zu verstecken.

CG-Agenten. Nicht der gleiche Stall wie ich, doch die gleiche Zucht. Abschaum. Ich knirsche mit den Zähnen. Verräter.

Der Altmeister hat mich gewarnt, dass das passieren könnte. Ich möchte einmal erleben, dass er nicht recht behält.

Wie viel können sie wissen? Stochern sie im Nebel, warten an jeder Grenzstation zwei von ihnen? So einen Aufwand würden sie kaum treiben. Oder doch?

Die Soldaten beenden ihre Leibesvisitationen ergebnislos, als die beiden Agenten zu uns treten. Sie mustern jeden von uns, und das beruhigt mich. Sie wissen noch nicht, wer ich bin.

»Was ist hier los?«, poltert der Landwirt. »Was soll die grobe Behandlung?«

Dienstbeflissen wenden sie sich ihm zu. Ihre Blicke mögen freundlich wirken, doch dahinter lauert höchste Konzentration. Ihre Prüfung hat begonnen.

»Wir bitten um dein Verständnis«, sagt einer. »Das Landesamt für Gesetztum und Inneres hat uns beauftragt, die Armee bei den Grenzkontrollen zu unterstützen. Es gibt eine Meldung, dass Rebellen heute illegal diese Grenze überqueren wollen. Sie führen Sprengstoffe bei sich, um Anschläge in der Landeshauptstadt durchzuführen.«

Während die Reisenden keuchen, faltet er die Hände zu einer Geste der Demut. »Wir müssen deshalb das Gepäck durchsuchen und jeden von euch fragen, ob er etwas Verdächtiges beobachtet hat. Eure Weiterreise wird sich um einige Stunden verzögern.«

Das Gepäck. Mist. Ich hasse es, von den Umständen gejagt zu werden, statt selber darüber zu bestimmen. Meine Gedanken rasen. Ein paar Fäden habe ich noch in der Hand – und sie hängen einzig vom Verhalten meiner Mitreisenden ab. Ich schiebe mich unauffällig tiefer in ihre Mitte hinein. Meine Bewegung bewirkt, dass sie unwillkürlich alle zusammenrücken, als würden sie beieinander Schutz suchen.

»Wie unangenehm«, flüstert mir Niko zu, allerdings sieht er eher bestürzt als verärgert aus. »Ich werde mit meinen Terminen in Verzug kommen.«

»Die Rebellen machen mir Angst!« Schluchzend trete ich noch einen Schritt näher an ihn und die anderen heran. »Und ich fürchte meinen Vorgesetzten. Er wird mich bestrafen, wenn er erfährt, dass die vertraulichen Dienstunterlagen in meiner Tasche von Fremden durchwühlt wurden.«

Die beiden Beamten unserer Reisegruppe starren mich an. »Mein Gepäck muss von den Untersuchungen ausgenommen werden«, ruft der eine wichtigtuerisch. »Darin befinden sich streng geheime Dokumente.«

Die Agenten wechseln einen Blick, dann kommen sie auf ihn zu. »Es gibt leider keine Ausnahmen.«

Einer hebt entschuldigend die Arme und fasst den Beamten dabei wie beiläufig an der Schulter. »Doch du kannst auf unsere Diskretion zählen. Zeig uns dein Gepäckstück, und wir werden sorgsam damit umgehen.«

Sie führen ihn zur Kutsche, und während alle anderen ihnen hinterherstarren, schiebe ich mich neben die Witwe. Ärger malt rote Flecken in ihr Gesicht. Ich lege ihr die Hand auf den Arm.

»Werte Frau, du siehst blass aus«, flüstere ich. »Geht es dir nicht gut?«

Sie runzelt irritiert die Stirn.

»Steht ihr nicht der Schreck ins Gesicht geschrieben?«, sage ich zum Landwirt und dirigiere sie einen Schritt auf ihn zu. »Magst du dich setzen?«

Auch die anderen mustern sie nun besorgt.

»Mir geht es tatsächlich nicht gut«, flüstert sie. Sie seufzt und legt sich eine Hand auf die Stirn. »Die lange Reise im stickigen Wagen und nun diese Unannehmlichkeiten.« Sie wirft dem Landwirt einen schmachtenden Blick zu. »Ein Schluck Wasser vielleicht …«

Ich stütze sie mit der rechten Hand, während meine linke zu ihrem Nacken wandert. »Vielleicht mag einer der Herren seinen Mantel ausbreiten, damit sie sich setzen kann?«

Niko streift sofort seinen Umhang von den Schultern und breitet ihn vor uns auf dem Boden aus. Weil ich der Witwe in diesem Augenblick mit Daumen und Zeigefinger unauffällig die Halsschlagader abdrücke, sackt sie bewusstlos darauf nieder. Mein Kreischen weckt die Aufmerksamkeit der Soldaten. Zwei von ihnen schieben Niko und den Landwirt beiseite und beäugen stirnrunzelnd die Witwe, die ohnmächtig im Gras liegt.

»Wir brauchen einen Heiler!«, ruft Niko. »Vielleicht hat sie einen Herzanfall!«

»Das sieht mir nur nach einer Ohnmacht aus«, wirft der Landwirt eher gleichgültig ein. »Ein Eimer Wasser, und sie ist wieder wach.«

»Ein Eimer Wasser? Oh nein!« Mit entsetzter Miene richte ich mich auf. »Ich habe eine Dose mit Riechsalz in meinem Gepäck. Manchmal leide ich selbst unter kleinen Schwächeanfällen.« Ich lege ein aufgeregtes Flehen in meine Stimme. »Darf ich es holen?«

Die Soldaten zögern.

»Nun lasst das Mädchen!«, ruft der Landwirt ungeduldig. »Was soll sie schon anstellen?«

»So ein Theater«, brummt einer der Soldaten, doch er nickt. Er führt mich zur Kutsche, wo die Agenten immer noch mit einem inzwischen ziemlich kleinlauten Beamten beschäftigt sind.

Ich deute auf meine Tasche, ein schweres, abgewetztes Monstrum aus braunem Tuch, das inmitten der anderen Gepäckstücke auf dem Gras liegt. Mit gesenkten Lidern warte ich, während der Soldat mit den Agenten redet.

Nach einem abschätzigen Blick auf meine Erscheinung lassen sie mich gewähren. Dumme Kerle. Unter der Aufsicht des Soldaten öffne ich meine Tasche, krame darin herum, bis aufgrund meiner nervösen Tollpatschigkeit mehrere Tuben und Dosen ins Gras purzeln. Mit schamhaft glühenden Wangen sammle ich sie wieder ein.

Zu meiner Ausbildung gehörten genug Taschenspielertricks, um nebenbei zwei kleine, in Wachstuch gewickelte Päckchen an mich zu bringen. Ich verstecke sie unter den Falten meines Rocks und händige das angebliche Riechsalz an die Soldaten aus – ein Döschen mit kleinen weißen Kristallen, die einen penetrant scharfen Geruch haben. Sie sind ein starkes Schlafmittel, ohne das ich während eines Auftrags selten Ruhe finde. Doch das braucht der Soldat nicht zu wissen. Während er daran schnuppert und angewidert das Gesicht verzieht, lasse ich die Päckchen in der Tasche eines anderen Reisenden verschwinden.

Danach geht alles seinen Gang. Die Witwe erwacht mit einem Stöhnen, was aber eher an dem feuchten Tuch in ihrem Nacken denn am Geruch meines Schlafmittels liegt. Nachdem der Beamte mit bleichem Gesicht zu uns zurückgekehrt ist, werden wir anderen nacheinander aufgefordert, unser Gepäck herzuzeigen, und dabei befragt – bis sie bei Niko angelangen. Ich beiße die Zähne zusammen, als sie ihn mit einem gezielten Schlag niederknüppeln und dann auf ihren Wagen schaffen. Es tut mir leid, dass es ihn erwischt hat.

Während die anderen entsetzt lamentieren, lehne ich mich auf der Bank der anfahrenden Postkutsche zurück und vergrabe mein Gesicht in den Händen. Meine Bestürzung ist nur teilweise gespielt.

Ich glaube nicht, dass sie Niko töten werden. Wenn sie nicht gänzlich unfähig sind, werden sie vorher merken, dass er harmlos ist. Das hoffe ich zumindest.

Mich verstört etwas anderes. Die Agenten waren keineswegs überrascht über den Inhalt der Päckchen – weder über die drei Blanko-Identitäten mit den Stempeln noch über die Handschellen. Sie sind wie mein Messer mit Silber bezogen. Das ist ein unglaublich kostbares, weiß glänzendes Metall, das den meisten heutzutage unbekannt ist – und nur einen Zweck erfüllt: einen Alben zu bändigen.

Wenn diese Männer bereits wussten, dass ich darüber verfüge, wissen sie von meinem Auftrag. Vielleicht erwartet die Bestie mich bereits.

Ich bin von der Jägerin zur Gejagten geworden.

Cianna

Kleine Traumtänzerin, neckte mich Maeve, wenn ich ihr von meinen Nächten erzählte. Früher waren meine Träume wunderbare Abenteuer, in denen ich sein konnte, wer ich wollte. Doch seit Maeve fort ist, sind meine Nächte voller Schreckgespenster. Ich träume von Krieg, von Ungeheuern und Tod – nur vom Wald träume ich nicht mehr.

Dabei ist der Deamhain wie geschaffen für Albträume. Seine Baumwipfel neigen sich bedrohlich über unsere Hügel. Sie sind so hoch, dass einem bei ihrem Anblick schwindlig wird, und ihre Äste greifen wie knorrige Knochenfinger nach dem Wind. Nachts schreien Eulen und andere Tiere in den Tiefen des Waldes wie kleine Kinder. Schafe, die ihre Herde verlassen, verlieren sich auf Nimmerwiedersehen in seinem Inneren – und manchmal auch Menschen, die sich unerlaubterweise auf die Suche nach ihnen machen. Falls einmal Bäume gefällt werden, wächst innerhalb eines Sommers an ihrer statt ein undurchdringliches Dickicht nach, das sich den Dörfern und Weidegründen immer mehr zu nähern scheint. Der Wald ist unbezähmbar, unbezwingbar. Nur Soldaten der Waldbastion und den Jägern ist es gestattet, ihn zu betreten.

Maeve schlich sich manchmal hinein, nur ein paar Steinwürfe weit, bei Mutproben mit den Dorfkindern. Ich verweigerte mich stets. Wenn sie mich deshalb verspotteten, blieb ich still. Sie glaubten, ich hätte Angst, doch sie irrten sich.

Als Kind fürchtete ich den Wald nicht, ich träumte von ihm. Jede Nacht rannte ich hinein und erlebte die fabelhaftesten Geschichten.

Komm, lockte er mich mit dunkler Stimme. Dann roch ich den Duft von Geißblatt und Farn, von Blütenkränzen und erdigem Wasser. Als Kind glaubte ich, wenn ich ihn nur einmal in Wirklichkeit beträte, würde ich wie im Traum auf Pfade stoßen, die er allein für mich öffnete. Sie würden mich in seine Tiefen locken, in die Schatten unter den Gehölzen, die so dicht wachsen, dass nicht einmal Tiere hindurchfinden. Lichtungen würden auf mich warten, die der Wald seit Menschengedenken vor allen anderen verschloss, doch mir würde er sich offenbaren. Und ich würde nie mehr zurückwollen zu den Menschen, die mir seit jeher eher Angst einjagten. Nur wegen Maeve widerstand ich, ihretwegen betrat ich den Deamhain niemals.

Und dann starb sie, und mit ihrem Tod endete meine Kindheit – und zeitgleich blieben abrupt meine Träume vom Wald aus. Gemeinsam mit Maeves Verlust rissen sie eine tiefe Leere in mir auf, die ich bis heute nicht zu füllen vermag.

Manchmal sehne ich mich nach seinen Tiefen, in denen ich mich und den Schmerz verlieren könnte. Denn irgendetwas wartet dort noch immer auf mich. Zwar ist die Stimme des Waldes mit Maeves Tod verstummt. Doch wenn er ebenfalls träumen sollte, dann träumt er bisweilen von mir.

*

Auch an diesem Mittag träume ich nichts. Der Beruhigungstrank des Heilers stürzt mich in das dumpfe Schwarz einer tiefen Bewusstlosigkeit, aus der ich nur mühsam wieder erwache. Meine Kehle ist rau, meine Brust tut weh, als hätte jemand einen Dolch hineingerammt. Langsam richte ich mich auf und blicke mich um. Ich liege in meinem Bett in Cullahill, um mich die vertrauten Ebenholzmöbel und die samtenen Vorhänge, dort meine Tuschezeichnungen, die ich an die Holzwand gepinnt habe, daneben der Blick aus dem Fenster auf die Wipfel des Deamhains.

Zwei Sklavinnen springen auf. Die Brandzeichen, mit denen manche Sklaven ihre dunklen Gesichter schmücken, glänzen.

Die eine eilt hinaus, doch Raghi kommt zu mir. Ihr Blick ist aufgewühlt, und sie stößt tiefe, kehlige Laute aus. Wie geht es dir?, gestikuliert sie in Haraan, den Gesten der stummen Sklaven, die sie mir beigebracht hat.

Verwirrt starre ich sie an. Woher hat sie die tiefe Schürfwunde auf ihrer Wange?

Dann stürzen die Ereignisse wieder auf mich ein. Blut auf Widderfratzen. Die Schreie der Gemeinen. Die verdrehten Augen des alten Zenon. Die Tote unter dem brennenden Gebälk, ihre leblose Hand in meiner. Ich keuche auf. Raghi stützt mich, bis ich wieder zu Atem komme.

»Wo ist … was ist …«, stammle ich.

Bevor ich einen klaren Gedanken fassen kann, öffnet sich die Tür, und Mutter stürmt herein. Nie war ich glücklicher, sie zu sehen.

»Du bist wach.« Mit einer Handbewegung scheucht sie Raghi zur Seite und setzt sich auf die Bettkante. Sie umfasst mein Gesicht und mustert mich prüfend. »Schmerzt deine Schulter noch?«

Mechanisch bewege ich den Arm auf und ab. »Nein.«

Sie nickt. »Der Heiler hat ordentliche Arbeit geleistet. Die Verbrennungen auf deiner Stirn sind ebenfalls nicht mehr zu sehen.«

Ich kann nicht anders, als sie anzustarren. Statt des roten Kleids von heute Morgen trägt sie die übliche schwere hellgraue Robe, und ihre weißblonden Haare sind in einem strengen Dutt zusammengefasst. Wie kann es sein, dass sie unverändert ist, nach allem, was geschehen ist?

»Mutter«, flüstere ich. »Was ist passiert?«

Sie lässt mich los und lehnt sich zurück.

»Sprengsätze«, sagt sie. »Als die Rebellen merkten, dass ihr Überfall gescheitert ist, zündeten sie drei davon.« Ihre Stimme ist monoton, doch ich höre die Anspannung darin. Ihre Finger flattern haltlos durch die Luft, verschränken sich dann fest in ihrem Schoß. »Einen beim Waffenlager der Ordnungswächter, zwei unter der Tribüne. Vier Bürger sind gestorben.«

»Zenon«, flüstere ich.

Sie nickt. Trauer umschattet für einen Augenblick ihre sonst so kühle Miene. Er war einer ihrer engsten Berater, vielleicht sogar ein Freund für sie. Ich wünschte, ich könnte sie trösten, doch als ich die Hand nach ihr ausstrecke, wendet sie sich ab.

»Melania Castor«, fährt sie fort. Ich schlucke. Die Beamtin, die ich für Maeve hielt. »Das Ehepaar Arvina und Manos Hintar. Außerdem gibt es zwei Dutzend Verletzte. Sie sind vorerst bei uns untergebracht. Der Heiler kümmert sich um sie.«

Ich zögere, doch ich muss sie fragen. »Und die Gemeinen? Wie viele von ihnen sind gestorben?«

Mutter hebt die Schultern. »Von den Rebellen? Viel zu wenige.«

Sie muss wissen, dass ich die Dorfbewohner meinte, die Frauen und Kinder. Doch ehe ich erneut fragen kann, spricht sie weiter.

»Die meisten Verbrecher sind im Chaos der Explosionen geflüchtet. Die beiden Gefangenen haben sie mitgenommen. Sie werden nicht weit kommen. Meine Ordner verfolgen ihre Spur, bis die Armee übernimmt. Ich habe Verstärkung von der fünften Division angefordert. Kommandant Leontes von der Waldbastion wird nicht zögern, seine Jäger den Deamhain durchkämmen zu lassen.«

Sie nimmt meine Hand, drückt sie so fest, dass es schmerzt. »Eine entsetzliche Tat«, murmelt sie. »Und mein entsetzliches Versäumnis. Ich habe uns alle zu sehr in Sicherheit gewiegt. Cianna, es tut mir leid, dass ich dich in Gefahr gebracht habe. Fast hätte ich auch meine zweite Tochter an die Rebellen verloren.«

Ich zucke zusammen. Mutter erwähnt Maeve niemals. Der Tag muss sie doch aus der Fassung gebracht haben. Sie schaut mich nicht an. Ihr Gesicht wirkt seltsam schutzlos, ihre Wangen eingefallen, die Augen müde.

»Du kannst nichts dafür«, flüstere ich. Mein Blick bleibt an der kleinen Wunde unter ihrem Kinn hängen, dort, wo der Dolch des Rebellen sie geschnitten hat. »Das Wichtigste ist, dass wir beide überlebt haben.«

»Dass wir überlebt haben«, wiederholt sie. Jäh richtet sie sich auf, und alles Verletzliche verschwindet aus ihrem Gesicht. »Du hast recht. Und unser Überleben verpflichtet uns, die Hände nicht ruhen zu lassen.«

Sie erhebt sich, streicht ihre Robe glatt und kontrolliert den Sitz ihres Dutts. Aufrecht stehend nimmt sie das ganze Zimmer ein. Sie ist nicht nur die mächtigste Frau im achten Bezirk, sondern auch eine der größten. Und sie ist schön mit ihrem weißblond glänzenden Haar, den blauen Augen, der hohen Stirn.

Manche Leute sagen, ich ähnelte ihr, doch sie schauen nicht richtig hin. Wenn ich Mutters alte Kleider auftrage, muss der Bund stets geweitet und der Saum um eine Handbreit gekürzt werden. Ich habe ähnlich helles Haar, doch es ist wellig und widerspenstig wie Stroh, und meine Augen sind eher grau als blau. Außerdem werde ich niemals ihre Weltgewandtheit haben, und auch nicht ihren scharfen Verstand. Mutter und ich sind wie ein Fasan und ein Rebhuhn. Sie sehen sich ähnlich, doch der eine ist zum Fliegen geboren und der andere nicht.

Ihr Blick gleitet mit einem abschätzigen Seufzen über mich, die ich immer noch kraftlos im Bett liege. Ich weiß, ich bin ein schwieriger Fall für sie, und deshalb geht sie mir meistens aus dem Weg. Als ihre Nachfolgerin bin ich nicht geeignet. Die Universität oder eine andere Ausbildungsstelle hält sie für mich nicht für sicher genug. So bleibt ihr nur, einen geeigneten Ehemann für mich zu finden. Bisher ist dieser jedoch nicht in Sicht.

»Erhol dich ein paar Stunden, dann mach dich frisch«, sagt sie. »Nimm das dunkelblaue Kleid mit den Perlen. Ich erwarte, dass du am Dinner heute Abend teilnimmst.«

»Das Dinner?« Ich reiße die Augen auf. »Du sagst es nicht ab?«

»Natürlich nicht.« Sie seufzt erneut, dieses Mal ungeduldig über meine Begriffsstutzigkeit. »Heute ist der Tag der Gabe. Wir müssen Stärke zeigen, nach innen und nach außen. Gerade nach einem solchen Desaster. Das erwarten die Leute von uns, Cianna. Außerdem wirst du dich bei deinem Retter bedanken wollen.«

»Meinem Retter?«, echoe ich, doch schon ist sie fort. Während die Tür hinter ihr ins Schloss fällt, höre ich sie bereits Befehle an eine Schar wartender Sklaven verteilen.

Raghi löst sich von ihrem Beobachtungsposten an der Wand. Sie reicht mir einen Becher Wasser, und dankbar stürze ich es meine ausgedörrte Kehle hinunter.

»Was weißt du über meinen Retter?«, frage ich.

Sie zuckt mit den Schultern. Nichts, gestikuliert sie. Du warst bewusstlos, er reichte dich mir und eilte davon.

Ich runzle die Stirn. Doch eigentlich interessiert es mich kaum.

Vor meinen Augen blitzen weiterhin schreckliche Bildfetzen auf, und in meinen Ohren dröhnt es dumpf wie in der Stille nach den Explosionen. All die Toten. Zitternd umschlinge ich meinen Oberkörper. Was war Wirklichkeit, was war Traum?

»Das Kind aus dem Wald«, flüstere ich. Halb erwarte ich, dass Raghi mich verständnislos anschaut, doch sie nickt, als hätte sie die Frage bereits erwartet. Ihre muskulösen bronzefarbenen Finger fliegen so schnell, dass ich Mühe habe, mitzukommen.

Das Kind ist hier. Es wollte nicht von deiner Seite weichen, auch nicht, als ich dich zum Kastell trug. Es war sehr schwierig, es unbemerkt von dir zu trennen. Ich dachte mir, dass du mit ihm reden willst. Ich habe es versteckt. Im Garten.

»Ich muss dorthin.«

Von einem plötzlichen Impuls getrieben, werfe ich die Decke von den Beinen und stehe auf.

Raghis Augen weiten sich. So viel Tatendrang kennt sie sonst nicht von mir. Ich weiß selbst nicht, was in mich gefahren ist. Meine Glieder fühlen sich immer noch kraftlos an, und in meinem Kopf summt ein Bienenschwarm. Doch wenn ich mich erneut aufs Bett setze, werden die Bilder wieder auf mich einstürzen, die in meiner Erinnerung lauern. Ich kann alles besser ertragen als sie.

Ich bin so zittrig, dass Raghi mir helfen muss, in ein einfaches Gewand und meine Lederstiefel zu schlüpfen. Ohne dass wir uns absprechen müssen, gehen wir über die stillen Nebentreppen der Sklaven nach unten. Immer wieder greift Raghi stützend nach meinem Arm. Der Blick aus den Fensterluken zeigt mir das aufgeregte Kommen und Gehen auf dem Haupthof. Sklaven und Angestellte eilen hin und her. Karren transportieren Kisten zum Haupttrakt, und auf den Wehrgängen oben patrouillieren mehr Männer als üblich.

Wir verlassen das Gebäude über eine Seitenpforte und folgen einem der schlammigen Pfade, der zwischen den Gartenmauern entlangführt. Der Wind hat die Regenwolken des Vormittags fortgewischt, und über den Gärten leuchtet der Nachmittag in Fliedertönen, taucht die knorrigen Obstbäume und Gewächshäuser hinter den Mauern in ein sanftes Licht.

Ich muss mich nicht umblicken, um zu wissen, dass mein Zuhause in jedem Licht dunkelgrau und stumpf bleibt. Das Kastell ist ein verwitterter Greis, der seinen Zenit längst überschritten hat. Efeu wuchert die zwei Türme hinauf, die mit mürrisch zusammengekniffenen Fensterschlitzen vor sich hindösen. Der wuchtige Mittelbau wirkt halb im grünen Hügel versunken. In den Steinritzen wächst Moos, und in den hohen Korridoren ist es so klamm und zugig, dass die zahlreichen Kamine erfolglos dagegen ankämpfen.

Es ist ungemütlich und unpraktisch, doch ich liebe mein Zuhause. Selbst wenn Mutter vor zwei Jahren meinen Wunsch erfüllt hätte und mich nach Abschluss meines Hausunterrichts auf die Universität nach Clifdon zum Botanikstudium hätte gehen lassen, wäre mir der Abschied schwergefallen. Doch aufgrund der Umstände von Maeves Tod kam das für sie nicht in Frage.

Keiner weiß, wie alt Cullahill wirklich ist – deutlich älter jedenfalls als die Republik, die sich in diesem Jahr zum fünfhundertsten Mal jährt. Manchmal finde ich in verstohlenen Winkeln Schriftzeichen in die Wände geritzt, geschwungene, fremde Ornamente, die niemand mehr lesen kann. Als Maeve und ich jünger waren, malten wir einige von ihnen ab und überlegten uns eigene Bedeutungen für sie – eine geheime Schrift, in der wir uns kindliche Botschaften schrieben.

Maeve. Die Toten. Ich schluchze erstickt. Raghi nimmt erneut meinen Arm, doch ich bleibe nicht stehen. Meine Beine sind ruhelos, als könnten sie mich von all dem Schrecklichen davontragen, wenn ich nur schnell genug ginge.

Endlich erreichen wir die Tür in der mannshohen Gartenmauer, die meinen Garten von den anderen trennt. Es gibt nur zwei Schlüssel, die diese Tür öffnen. Raghi zückt ihren aus der Tasche ihres Kittels und öffnet uns.

Ich trete hindurch, und zum ersten Mal, seit ich aufgewacht bin, habe ich das Gefühl, genug Luft zu bekommen.

Mit einem Seufzen bleibe ich stehen. Da ist der leicht modrige Geruch nasser Erde, doch darunter mischt sich etwas Frisches: der Duft nach Knospen und ersten hellgrünen Blättern, der erste Hauch von Frühling.

Auf einer Terrasse plätschert ein Springbrunnen, die kleine Fontäne wirft glitzernde Funken in der Nachmittagssonne. Halb zerfallene Säulen formen einen Gang, dazwischen ruhen steinerne Bänke und uralte, verträumt blickende Statuen. Es sind seltsame Wesen, aus der Zeit noch vor der Republik – mit Bocksbeinen und Flöten, halb Mensch und halb Tier, halb überwuchert von Büschen und Bäumchen, als würden sie Verstecken spielen. Doch ich kenne alle verborgenen Winkel hier. Der Garten ist mehr als mein Refugium, er ist ein Teil von mir.

Vor zwei Jahren noch war hier alles zugewachsen, doch seit Mutter mir die Schlüssel zum Geschenk machte, habe ich die Blumenrabatte freigelegt, die Statuen und Bänke von Moos befreit und die Rosenbüsche von Efeu. Mit Raghi habe ich den großen Oleander beschnitten, dessen weiße Blüten letzten Sommer einen süßen Duft verströmten. Raghi hat außerdem die alten Obstbäume gestutzt, deren Früchte sie jeden Herbst körbeweise in die Sklavenunterkünfte bringt. Ohne Mutters Wissen habe ich ihr den hinteren Teil des Gartens zur Verfügung gestellt, in dem sie fremdartige Kräuter und eine mannshohe Pflanze namens Manok anbaut, deren süßliche Wurzeln den Küchensklaven regelmäßig tonlose Entzückungsrufe entlocken.

Eine Bewegung weckt meine Aufmerksamkeit. Ein kleiner Schatten druckt sich tiefer zwischen die immergrünen Zweige der Lorbeerhecken.

»Hab keine Angst«, rufe ich und gehe auf die Knie.

Im nächsten Augenblick schnellt der Schatten aus dem Blattwerk heraus und auf mich zu. Ärmchen umfassen meinen Hals, eine Wange presst sich an die meine.

Ich bin so überrascht, dass ich einfach stillhalte. Schon lange habe ich niemanden mehr so nah gespürt. Die Kinderarme sind unter dem klammen Wollfilz zerbrechlich wie Vogelknöchelchen.

»Schscht«, flüstere ich. Tränen rinnen über meine Wangen. Wer von uns beiden sucht hier Trost beim anderen? Der Gedanke schnürt mir erneut den Atem ab, doch mein Herz wird plötzlich ganz weit. »Ist gut.«

Ich weiß nicht, wie lange wir so verharren. Irgendwann verschwindet die Sonne hinter einer Wolke. Ich pflücke vorsichtig die Ärmchen von meinen Schultern, schiebe das Kind ein Stück von mir weg und mustere es. Ihn. Seine Gesichtszüge sind ebenmäßig, die Haut zart wie Schmetterlingsflügel. Trotzdem weiß ich instinktiv, dass er ein Junge ist. Er blinzelt nach oben, als sei er den Aufenthalt unter freiem Himmel nicht gewöhnt. Seine Kapuze ist verrutscht, und ich bemerke überrascht, dass sein Haar ebenso weißblond ist wie meines.

»Ich bin Cianna«, sage ich. Ich deute auf die Sklavin. »Das ist Raghi. Und wie heißt du?«

Ich erhalte keine Antwort.

»Woher kommst du?«, versuche ich es weiter. »Wo sind deine Eltern?«