Walkürenritt - Heiger Ostertag - E-Book

Walkürenritt E-Book

Heiger Ostertag

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Beschreibung

20. Juli 1944, die Operation Walküre ist gelungen, Hitler ist tot, Stauffenberg erschoss ihn und kam dabei selbst ums Leben. Die Generäle verhandeln nun mit den Alliierten über einen Waffenstillstand, vergeblich. Erst der Einsatz der neuen Atomwaffe beendet den Krieg. Berlin, Juni 2015. Europa ist in die großdeutsche Union und die Westeuropäische Union geteilt. Die neue Bedrohung ist die Türkei, die islamische Supermacht. Daher ist in Berlin ist Treffen der Staatsführer der Blöcke angesetzt. Im Hintergrund tobt ein Kampf der Geheimdienste der USA, Japans und der Türkei; der Reichsschutz rechnet mit einem Anschlag. Der junge Oberst Harald Reithagen erhält den Auftrag, mit seinem Team der Bedrohung auf die Spur zu kommen. Bald muss er erkennen, dass der braune Sumpf nicht völlig trocken gelegt wurde und dem Kongress nicht nur von islamischen Fundamentalisten Gefahren drohen.

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Zum Roman

Am 8. Mai 1945 schwiegen die Waffen, und das Tausendjährige Reich löste sich in Nichts auf. Was blieb, waren die Taten, die im Namen des III. Reiches von und an Deutschen und Menschen anderer Nationen begangen wurden.

Die deutsche Nachkriegsgeschichte der 50er und 60er Jahre verdeutlicht, wie mühsam es war, diese ungeheuren Lasten der Vergangenheit aufzuarbeiten, ja, teilweise überhaupt zu erkennen. Mit der mehr oder minder konsequent durchgeführten Entnazifizierung der Alliierten war für den Großteil des deutschen Volkes das Thema III. Reich zunächst abgetan. Viele sahen sich, zum Teil verständlich, mitunter berechtigt, ebenfalls als Opfer. Als Opfer von Bombenkrieg, Vertreibung und erlebter Siegergewalt. Was die Deutschen jetzt wollten, war Konsum und ein Leben in bürgerlicher Idylle. In der konservativen, vielfach spießigen Atmosphäre der Adenauerzeit wurde diese Haltung höchstoffiziell gefördert. Für viele der Täter bot sich so ein ideales Milieu, abzutauchen und, von Justiz und Umfeld unbehelligt, ein braves Bürgerleben zu führen. Nicht wenige machten weiter Karriere, sei es in der Wirtschaft, in der Forschung, in der Justiz und besonders in der Politik. Nicht allein der Kommentator der Nürnberger Rassengesetze Hans Globke stieß als Chef des Bundeskanzleramts bis ganz oben durch. Auch an den Kabinettstischen der Länder und des Bundes saßen eine Vielzahl von ehemaligen Parteigenossen. Einen Höhepunkt bildete wohl 1966 die Wahl Kurt Georg Kiesingers – Mitglied der NSDAP ab 1933 und Karrierist im Staatsapparat des NS-Regimes – zum Bundeskanzler. Kein Wunder, dass parallel eine neonazistische, bis heute nicht verbotene Partei wie die NPD in mehrere Landtage einzog, und ehemalige SS-Generäle bis an ihr unseliges Ende weitgehend unbehelligt bleiben durften. Erst Ende der 60er Jahre setzte mit der neuen Generation ein Wandel ein, womit eine Aufarbeitung begann, die bis heute anhält. Die Folgen des Krieges reichen und reichten bis in die Gegenwart. Zwar wurde 1990 die 45-jährige Teilung beendet, und Deutschland ist heute in der Europäischen Union faktisch Hegemonialmacht, aber es gibt nach wie vor Einschränkungen der Souveränität, wie die jüngsten Abhöraffären und das Verhalten der Amerikaner immer wieder verdeutlichen. Dazu traten – glücklicherweise – einige weise Selbstbeschränkungen (etwa im Atombereich).

Doch wie sähe die Welt heute aus, wenn die »Operation Walküre« gelungen und der II. Weltkrieg früher oder anders geendet hätte? Hätte es Deutschland geschafft, sich mit eigener Kraft von der braunen Pest zu befreien und zu reinigen? Wie wäre es, wenn gleichzeitig der Kampf der Vereinigten Staaten mit Japan unentschieden ausgegangen wäre? In welcher Welt würden wir heute leben und mit welchen Problemen wären wir dann konfrontiert?

Es ist immer wieder spannend, sich mit historisch-fiktionalen Varianten auseinanderzusetzen, und genau dies passiert im vorliegenden Roman. Das Geschehen selbst ist bunt und abenteuerlich, gleichsam werden einige der obigen Fragen aufgegriffen und in eigener Weise beantwortet. Der Autor erlaubt sich dabei, auch außerhalb des »Mainstream« zu argumentieren. Die Frage zum Beispiel, warum das Militär erst so spät eingriff und einen Widerstand versuchte, ist historisch nur ungenügend beantwortet. 1934 sah die Reichswehrführung seelenruhig zu, wie der frühere Reichskanzler und General Schleicher im Rahmen des sogenannten Röhmputsches mitsamt seiner Frau liquidiert wurde. Auf dem Höhepunkt der Macht Hitlers 1940/41 gab es im Oberkommando und unter den höchsten Generälen der Wehrmacht nur bedingungslose Zustimmung.

Und die Ziele der Widerstandsgruppe vom 20. Juli 1944? Ihr Programm war und ist schwerlich demokratisch zu nennen, die Mehrheit der Verschwörer wollte den autoritären Staat. Kaum bekannt ist, dass dem Kabinett, das nach dem geglückten Attentat gebildet werden sollte, Albert Speer angehörte! Doch mehr soll nicht verraten werden.

»Walkürenritt« ist kein Geschichtswerk, aber wer den Roman historisch liest, wird sicher den einen oder anderen neuen geschichtlichen Aspekt entdecken. Ansonsten gibt es genügend Spannung und »thrillernde Action«.

Allen Lesern sei gute Unterhaltung und Lesefreude gewünscht.

Heiger Ostertag

Prolog

20. Juli 1944, Ostpreußen

Oberst Graf Schenk von Stauffenberg flog am 20. Juli um 7:00 Uhr mit seinem Adjutanten Oberleutnant von Haeften von Rangsdorf nahe Berlin mit dem Flugzeug zur »Wolfsschanze« bei Rastenburg in Ostpreußen. Das Hauptquartier war am 14. Juli vom »Berghof« bei Berchtesgaden zurück zur »Wolfsschanze« verlegt worden, denn die Lage im Zentrum der Ostfront gestaltete sich derart bedrohlich, dass Hitler durch persönliche Nähe und Einflussnahme die instabile Lage wiederherstellen wollte. Das Führerhauptquartier lag im Rastenburger Stadtwald, dem sogenannten »Forst Görlitz«, etwa 8 km östlich der Stadt Rastenburg. Der Forst war so dicht bewachsen, dass alle Gebäude wenigstens teilweise von Bäumen umstanden und somit dem Blick entzogen waren. Zusätzliche Tarnbäume verbargen die Bauwerke vor einer möglichen Sicht aus der Luft.

Stauffenbergs Flugzeug landete. Ein Fahrer holte ihn ab und brachte ihn im Wehrmachtswagen zum Quartier. Südlich der Straße, einige hundert Meter vom »Bahnhof Görlitz« von der Linie entfernt, die Rastenburg mit Angerburg und dem Oberkommando des Heeres verband, lag der Sperrkreis II, der die Dienst- und Wohnräume des Wehrmachtführungsstabes und der Lagerkommandantur sowie das Kasino und die Küchen enthielt. Nördlich der Straße, einen Kilometer nach Osten, befand sich der Sperrkreis I mit den Gebäuden für die oberste Führung. Dort hielten sich heute Hitler, Keitel, Jodl, Göring, Himmler und Bormann sowie diverse Adjutanten, Leibärzte und zusätzliche Hilfskräfte auf. Einige Fahrstraßen und Wege verbanden die Baulichkeiten, die in der dichten Bewaldung verstreut lagen. Die Gebäude der Sperrkreise waren teils Holzbaracken, teils unterstandartige, halb in den Erdboden eingelassene Betonkonstruktionen oder oberirdische Betonbunker. Dazu hatte man, unabhängig von dem Sperrkreis, noch einen Sondersperrkreis im südwestlichen Teil des Gebietes errichtet, »Führersperrkreis« genannt. In diesem, mit hohem Maschendraht abgeteilten Bereich, lagen der Gästebunker und die sogenannte Speer-Baracke.

Während der Fahrt fühlte sich Stauffenberg seltsam ruhig, obwohl er wusste, dass der heutige Tag alles entscheiden würde. Alles – denn er war mit dem Ziel angereist, Adolf Hitler zu töten! Schon am 11. Juli hatte er auf dem Berghof und vor ein paar Tagen auch hier im Führerhauptquartier versucht, das Attentat auf den »Führer« und sein engstes Gefolge auszuführen. Doch beide Versuche musste er abbrechen, da die NS-Spitze nicht vollständig vor Ort gewesen war. Einmal hatte Heinrich Himmler und das andere Mal Hermann Göring gefehlt, beide neben Hitler zentrale Träger der Macht, die nicht überleben durften. Jetzt konnte der Anschlag nicht mehr verschoben werden, da die Zeit drängte. In der Normandie stießen Amerikaner und Engländer in Eiltempo vorwärts, und hier im Osten näherte sich die Rote Armee unaufhaltsam dem Reichsgebiet. Wenn für Deutschland noch irgendetwas zu retten sein sollte, dann musste er heute erfolgreich sein. Sie hatten alle denkbaren Attentatsvarianten durchgespielt. Generalmajor von Tresckow schlug zunächst vor, das Führerhauptquartier von außen mithilfe zuverlässiger Truppen direkt einzunehmen. Doch das Risiko, dass eine solche Aktion misslingen würde, ließ sich nicht abschätzen. Denn die »Wolfsschanze« war durch das »Führer-Begleit-Bataillon«, welches mittlerweile Regimentsstärke besaß, umfassend gesichert. Der motorisierten Formation standen Panzer, Flugzeugabwehrkanonen und eingebaute schwere Waffen zur Verfügung. Ein rascher Handstreich war daher undenkbar. Voraussetzung wäre auch eine absolute Nachrichtensperre zwischen dem Führerhauptquartier und der Außenwelt gewesen. Diese konnte aber nicht gewährleistet werden. Ein Kampf zwischen den eigenen Truppen und den Sicherungskräften und anderen, Hitler treuen Wehrmachtseinheiten war in seinem Verlauf und seinem Ausgang einfach nicht kalkulierbar. Auch schien es kaum möglich, die zu einer Inbesitznahme erforderlichen Einheiten an das Führerhauptquartier nahe genug heran zu transportieren, ohne dass die dortigen Kräfte im Vorfeld bereits davon erfahren hätten. Nein, nur durch ein Attentat war das »Problem« zu lösen. Ein Attentat, das die gesamte verbrecherische Führungsclique auslöschen sollte. Und das konnte nur jemand ausführen, der direkten Zugang zu Hitler hatte. Alles war akribisch vorbereitet. Georg und Philipp Freiherr von Boeselager standen bereit, um mit ihren Regimentern auf das bald »führerlose« Berlin zu marschieren. Generalfeldmarschall von Witzleben wartete bereits im Rundfunkstudio, um direkt nach dem erfolgten Attentat das Volk zu informieren. Stauffenberg selbst hatte die Sprengsätze mit den zwei britischen chemisch-mechanischen Zündern scharfgemacht. Mit einer speziell für ihn angepassten Flachzange drückte er die Zünder der Bomben ein, worauf eine innerhalb einer Metallhülse in einer Glasampulle befindliche Säure einen dünnen Draht zu zerfressen begann, welcher nach einer gewissen Zeit abreißen und eine gespannte Feder mit dem Schlagbolzen auf das Zündhütchen der Initialsprengkapsel sausen lassen würde. Anschließend setzte er alles vorsichtig in seine Aktentasche. Jetzt hielt sein Wagen vor der Baracke.

Stauffenberg stieg aus und ging mit dem Koffer in der Hand auf die Wache zu. Er betrat die Baracke. Die Besprechung hatte bereits mit dem Vortrag der »Ostlage« durch Generalleutnant Heusinger begonnen. Stauffenberg wurde Hitler von Keitel gemeldet und von diesem persönlich begrüßt. Danach trat der Oberst wieder zur Seite, um seine Aktentasche günstig zu platzieren, die er unter die rechte Hälfte des großen Lagetisches an die Innenseite stellte. Schon beim Betreten der Lagebaracke hatte er dem Telefonisten gesagt, er erwarte ein dringendes Gespräch aus Berlin. Mit dem Hinweis, er müsse schnell nach seinem Gespräch fragen, verließ Stauffenberg, ohne weiter aufzufallen, nach einigen Minuten das Lagezimmer. Er begab sich eilig zurück zum Wagen und fuhr los. Es war 12:41 Uhr. Die Sprengladung detonierte exakt um 12:42 Uhr in der mit 24 Personen gefüllten Lagebaracke. Es herrschte ein entsetzliches Inferno, gelblicher Qualm stieg auf und dunkler Rauch. Ein Mensch flog durch die zerborstenen Scheiben auf die glühenden Scherben. Im gleichen Augenblick fuhr der Wagen, den Stauffenbergs Adjutant Haeften organisiert hatte, vorüber. Eine dicke Qualmwolke stand über der Baracke. Karten- und Papierfetzen wirbelten in der Luft herum. Menschen in zerfetzten Kleidern, mit schwarzen Gesichtern taumelten aus der Baracke. Mitten unter ihnen befand sich Hitler. Er blutete im Gesicht und an den Händen, seine Kleidung war zerfetzt, aber der Mann lebte. Stauffenberg brüllte. »Halt!« Er sprang aus dem Wagen und rannte das kurze Stück von der Straße auf den »Führer« zu. Noch im Laufen zog er seine Pistole, knappe fünf Meter vor Hitler blieb er stehen. Dreimal schoss er. Hitler starrte ihn verwundert an und blickte auf seinen Oberkörper, auf dem sich ein blutiger Fleck ausbreitete. Er griff mit den Händen nach der Brust, wandte sich halb ab – und brach tot zusammen. Von allen Seiten liefen Wachsoldaten auf den Ort des Geschehens zu. Oberst Graf Schenk von Stauffenberg fühlte, wie ein Hochgefühl in ihm aufstieg: Es war vollbracht! Dann warf ihn eine Maschinenpistolengarbe zur Seite.

Berlin, 21. Juli 1944

Generalfeldmarschall von Witzleben saß im Studio des Rundfunkhauses in Charlottenburg-Wilmersdorf in der Masurenallee. Der Aufnahmeleiter gab ihm ein Zeichen, die Fanfarenmelodie der Sondermeldung verklang und der Generalfeldmarschall begann seine Ansprache an die Wehrmacht: »Kameraden! Der Führer Adolf Hitler ist tot! Eine gewissenlose Clique frontfremder Parteiführer hat es unter Ausnutzung dieser Lage versucht, der schwer ringenden Front in den Rücken zu fallen und die Macht zu eigennützigen Zwecken an sich zu reißen. In dieser Stunde höchster Gefahr hat die Reichsregierung zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung den militärischen Ausnahmezustand verhängt und mir zugleich mit dem Oberbefehl über die Wehrmacht die vollziehende Gewalt übertragen. Hierzu befehle ich:

1. Ich übertrage die vollziehende Gewalt – mit dem Recht der Delegation auf die territorialen Befehlshaber – im Heimatkriegsgebiet auf den Befehlshaber des Ersatzheeres unter gleichzeitiger Ernennung zum Oberbefehlshaber im Heimatkriegsgebiet – in den besetzten Westgebieten auf den Oberbefehlshaber West – in Italien auf den Oberbefehlshaber Südwest – in den besetzten Ostgebieten auf die Oberbefehlshaber der Heeresgruppen und den Wehrmachtbefehlshaber Ostland für ihren jeweiligen Befehlsbereich – in Dänemark und Norwegen auf die Wehrmachtbefehlshaber.

2. Den Inhabern der vollziehenden Gewalt sind unterstellt: sämtliche in ihrem Befehlsbereich befindlichen Dienststellen und Einheiten der Wehrmacht einschließlich der Waffen-SS, des Reichsarbeitsdienstes und der Organisation Todt und alle öffentlichen Behörden des Reiches, der Länder und der Gemeinde, insbesondere die gesamte Ordnungs-, Sicherheits- und Verwaltungspolizei; alle Amtsträger und Gliederungen der NSDAP und der ihr angeschlossenen Verbände; die Verkehrs- und Versorgungsbetriebe.

3. Die gesamte Waffen-SS ist mit sofortiger Wirkung ins Heer eingegliedert.

4. Die Inhaber der vollziehenden Gewalt sind für die Aufrechterhaltung der Ordnung und öffentlichen Sicherheit verantwortlich. Jeder Widerstand gegen die militärische Vollzugsgewalt ist rücksichtslos zu brechen. In dieser Stunde höchster Gefahr für das Vaterland ist Geschlossenheit der Wehrmacht und Aufrechterhaltung voller Disziplin oberstes Gebot. Ich mache es daher allen Befehlshabern des Heeres, der Kriegsmarine und der Luftwaffe zur Pflicht, die Inhaber der vollziehenden Gewalt bei Durchführung ihrer schwierigen Aufgabe mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu unterstützen und die Befolgung ihrer Weisungen durch die untergeordneten Dienststellen sicherzustellen. Der deutsche Soldat und mit ihm das ganze deutsche Volk stehen vor einer Aufgabe von historischer Tragweite. Von unser aller Tatkraft und Haltung wird es abhängen, ob Deutschland gerettet wird.«

Der Offizier endete und der Aufnahmeleiter sprach den Abspann: »Sie hörten den Oberbefehlshaber der Wehrmacht, Generalfeldmarschall von Witzleben.« Wieder ertönte Musik, die Sendung war zu Ende.

1. Neue Zeiten

Berlin, Karlshorst, 25. Juli 1944

Die Generalität, soweit von der Front abkömmlich, hatte sich im neuen Hauptquartier der Wehrmacht in Berlin Karlshorst zur Lagebesprechung versammelt. Neben Generalfeldmarschall Erwin von Witzleben saßen dort die Generale Erich Fellgiebel, Friedrich Olbricht, von Stülpnagel, Generaloberst Beck und Generaloberst Erich Hoepner, Generalmajor Henning von Tresckow, der General der Artillerie Eduard Wagner, Generalfeldmarschall Günther von Kluge, Admiral Canaris, General der Infanterie Alexander Freiherr von Falkenhausen, die Generalleutnante Gustav Heisterman von Ziehlberg und Fritz Thiele, Generalmajor Kunze, Generalmajor von Lahousen-Edler von Vivremont, Generalmajor Stieff und der aus Paris herbeigeeilte Generalfeldmarschall Rommel.

»Meine Herren«, nahm von Witzleben das Wort, »Kamerad von Stauffenberg hat in stolzer Pflichterfüllung sein Leben für das Vaterland geopfert. Das Attentat war erfolgreich. Adolf Hitler und seine Paladine sind ums Leben gekommen. Die Verhaftung der Gauleiter, SS-Führer und anderer NS-Bonzen konnte planungsgemäß abgeschlossen werden. Dennoch ist die Lage nach wie vor ernst. Die Westalliierten verweigern jegliche Verhandlung und bestehen auf einer bedingungslosen Kapitulation des Reiches, die sie auf der Konferenz von Casablanca festgelegt haben. Premierminister Churchill erklärt, es handle sich um interne Ausrottungskämpfe, wer siege, interessiere ihn nicht, die Tage des Deutschen Reiches seien ohnehin gezählt. Verhandlungen mit dem Ostfeind sind gänzlich unmöglich. Stalin glaubt, seine Armeen würden dem Krieg schnell ein Ende bereiten, Gespräche über einen Waffenstillstand kommen für ihn nicht infrage. Meine Herren, es bleibt nur noch eine Option, eine schreckliche Option. Der Einsatz einer Waffe von derartiger Vernichtungskraft, dass sich der Gegner aufgrund ihrer Wirkung zu Verhandlungen bereit erklärt. Oberstleutnant Graf zu Lynar, führen Sie unseren Gast herein.«

Der Adjutant erhob sich, verließ den Raum und kehrte mit einem Herrn Anfang, Mitte vierzig zurück.

»Meine Herren, ich darf Ihnen Professor Heisenberg vorstellen, Nobelpreisträger des Jahres 1932 und Leiter des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik«, sagte der Generalfeldmarschall. »Was der Professor uns mitzuteilen hat, ist für unsere Situation von höchster Bedeutung. Herr Professor, wenn Sie uns bitte den aktuellen Forschungsstand Ihres Uranprojekts am Heereswaffenamt darstellen würden.«

»Herr Generalfeldmarschall, meine Herren. Uns ist es gelungen, nach dem Prinzip der Kernspaltung eine Waffe herzustellen, die in ihrer Vernichtungskraft alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt. Die Wirkung diese Kernwaffe, oder auch Atomwaffe, beruht auf Kernspaltung oder Kernfusion. Bei der Explosion findet eine Kettenreaktion statt, die ein Maximum an Energie in Form von Hitze, Druckwelle und Strahlung erzeugt. Die bei der Explosion freigesetzte Energie unserer Bombe entspricht derzeit 21 Kilotonnen TNT, also 21-mal der Energie, die bei der Detonation von 1000 Tonnen TNT freigesetzt wird. Dadurch können mit dieser Waffe innerhalb kürzester Zeit ganze Städte zerstört werden. Hunderttausende würden dabei umkommen. Aktuell sind drei Sprengköpfe zum Einsatz bereit, die mit Raketen verschossen werden können.«

Heisenberg endete. Eine unbehagliche Stille legte sich über den Raum. Endlich ergriff Generalfeldmarschall Rommel das Wort.

»Kamerad von Witzleben. Nach all dem Grauenhaften, das im deutschen Namen angerichtet worden ist, können wir nicht auch noch diesen Schrecken geschehen lassen. Mit einem Schlag dieser Waffen würden, wie wir alle gehört haben, Hunderttausende von Menschen sterben. Nein, ich stimme dagegen! Es muss andere Lösungen geben.« Gemurmel erhob sich, das verdeutlichte, dass sich die Mehrheit im Saal der Meinung Rommels anschloss.

»Ich teile selbstverständlich Ihre Ansicht, Rommel«, entgegnete von Witzleben ruhig. »Opfer in dieser Größenordnung sind vor der Welt nicht zu verantworten. Daher werden wir zum einen unsere Atomschläge auf relativ unbewohnte Gebiete niedergehen lassen und zum anderen den Gegner vorab auf die Folgen hinweisen und ihm eine Dreitagesfrist zur Evakuierung der ansässigen Bevölkerung einräumen. Das dürfte genügen, unseren Verhandlungswillen zu zeigen, um dann unsere Stärke mit aller Macht zu demonstrieren.«

»An welche Inseln ist gedacht?«, fragte Generalfeldmarschall von Kluge.

»Die erste Rakete zielt auf die Kanalinsel Jersey, St. Mary. Im Osten ist ein Einsatz der zweiten V2 auf die Solowezki-Inseln, einer Inselgruppe im Weißen Meer, geplant. Ich darf Sie bitten, meine Herren, sich dazu zu äußern.«

Nach kurzer Diskussion zeigte sich die Mehrheit der Anwesenden mit der Lösung einverstanden und stimmte dem Einsatz zu. Nur Admiral Canaris äußerte Bedenken.

»Was ist, wenn die Gegner trotz unserer Demonstration nicht einlenken? Werden dann größere Objekte als Ziele anvisiert?«

»Wir haben nach dem Abschuss der ersten Raketen nur noch einen einsetzbaren atomaren Gefechtskopf«, entgegnete von Witzleben. »Mit dem letzten Schlag müssten wir wohl oder übel ein Fanal setzen. Zur Debatte stehen Liverpool, Birmingham, Minsk, Kiew oder Leningrad.«

»Walte Gott, dass wir nicht zur dritten Waffe greifen müssen«, sagte Generalmajor Henning von Tresckow, und es gab keinen im Raum, der nicht seiner Ansicht war.

Berlin, Montag, 1. Juni 2015

Oberst Harald Reithagen schreckte aus dem Schlaf hoch. Irgendein Geräusch hatte ihn wach werden lassen, und es war nicht das pene­trante Klingeln seines Weckers gewesen. Er richtete sich auf und horchte konzentriert in die Stille. Da, wieder hörte er das Geräusch. Es war ein dumpfer Laut, als ob etwas im Zimmer nebenan zu Boden gestürzt wäre. Er warf einen Blick auf das Ziffernblatt des Weckers, der 4:45 Uhr anzeigte. Erneut waren Laute zu hören. Diesmal hatte er den Eindruck von Schritten – eindeutig, jemand war im Nebenraum, war in seinem Arbeitszimmer. Genauso hörte es sich an. Reithagen öffnete leise die Nachttischschublade und holte die Walther PPK hervor, die immer dort geladen lag. Er glitt aus dem Bett, entsicherte die Waffe und schlich behutsam zur Tür. Dort hielt er inne und lauschte. Alles schien ruhig. Schon wollte er zurückgehen, da hörte er den hellen, klirrenden Ton, der anzeigte, dass sein Rechner hochgefahren wurde. Der Oberst riss die Tür auf und stürmte, die PPK im Anschlag, in den Raum. Im Zwielicht des Morgens, das durch das Fenster fiel, sah er einen dunkel gekleideten, bärtigen Mann, der sich gerade über seinen Schreibtisch beugte und die Tastatur seines Computers bediente. Ein zweiter Mann durchsuchte das an der Wand befindliche Bücherregal. Die Männer fuhren herum.

»Die Arme hoch und hinter den Kopf«, befahl Reithagen. Der Kerl am Regal hob langsam die Arme, griff dann plötzlich in seine Jacke und zog eine Waffe, die er sofort auf den Oberst richtete und abdrückte. Der Schuss krachte, instinktiv warf sich Reithagen zur Seite und schoss fast gleichzeitig zurück. Der Knall mischte sich mit dem pfeifenden Sirren des ersten Schusses, der direkt neben ihm in die Tapete einschlug. Er hat besser gezielt. Der Mann am Regal schrie auf, ließ die Waffe fallen und griff sich mit der Linken an das getroffene Bein. Der erste Eindringling nutzte den kurzen Augenblick, sprang durch die zweite Tür auf den Gang und eilte aus der Wohnung. Reithagen verzichtete auf die Verfolgung. Einen der Einbrecher hatte er, der Bursche würde sicher auspacken. Er griff zum Telefon und verständigte die Militärpolizei und den Sanitätsdienst, wobei er den Verwundeten im Auge behielt. Dann schleppte er ihn ins Bad, wo er zwei Verbandspäckchen aus einem Schrank holte, sie aufriss und ihm zuwarf.

»Verbinde deine Wunde, die Sanitäter kommen jeden Moment und die Polizei gleich mit!«

Während der Kerl sich mühevoll einen Notverband anlegte, betrachtete ihn der Hausherr genauer. Das Gesicht wirkte jung, der Einbrecher konnte höchstens zwanzig sein. Er hatte dunkle Haare, starke Augenbrauen und trug einen schütteren Vollbart. Von der Nasenform und der bronzierten Hautfarbe wirkte er orientalisch.

»Was habt Ihr bei mir gesucht? Geld und Gold gibt es hier nicht und auch nichts, was Einbrecher sonst interessieren könnte.«

Der Mann antwortete nicht. Er funkelte mit seinen dunklen Augen Reithagen hasserfüllt an und schwieg.

»Du wirst schon noch sprechen, mein Freund. Die Militärpolizei ist in ihren Befragungsmethoden nicht gerade zimperlich.«

Eine Viertelstunde später trafen Sanitäter und die Feldjäger ein. Der Oberst wies sich aus, ließ die Wunde des Gefangenen versorgen und ihn dann nach Spandau ins Militärgefängnis abtransportieren. Anschließend untersuchte er kurz die Tür, die die Einbrecher offenbar mithilfe von Spezialwerkzeugen geöffnet hatten. Am besten würde er das Schloss austauschen und einen Riegel anbringen lassen. Dann beseitigte er die Kampfspuren. An Schlaf war nicht mehr zu denken, mittlerweile war es auch halb sechs geworden. Reithagen duschte und rasierte sich sorgfältig. Der Spiegel zeigte ein hartes, scharf konturiertes Gesicht mit graugrünen Augen und einem schmalen Schnurrbart. Er fuhr sich über das volle, dunkelblonde Haar und beendete die morgendliche Betrachtung. Danach frühstückte er in Ruhe und warf dabei einen Blick in die Tageszeitung, die bereits unten im Briefkasten gewesen war. Der Leitartikel beschäftigte sich mit der am Sonntag begonnenen Tagung in Potsdam:

In Potsdam, Schloss Cecilienhof, tagen seit gestern die Delegationen der Westeuropäischen Union und der Deutsch-Europäischen Föderation. In den multilateralen Gesprächen sollen in der nächsten Woche zentrale Fragen der angestrebten Fusionierung der beiden europäischen Großblöcke geklärt werden. Eine erste Gesprächsrunde, die im April in Reims stattfand, hat etliche Grundsatzfragen strukturell klären können, aber auch eine Vielzahl von Problemfeldern offen gelegt. Nach den vorbereitenden Gesprächen der Delegationen werden ab kommenden Sonntag die Regierungschefs der beteiligten Länder erwartet. Auf der neuen Konferenz ruhen große Hoffnungen. Neben der Festigung der wirtschaftlichen Stabilität ist das zentrale Ziel eine Stärkung der geostrategischen Position Europas. Dies insbesondere angesichts der Lage im Mittelmeerraum, die sich in den letzten Monaten durch das Vordringen radikaler Atatürkisten und dem Fall Zyperns verschärft hat. Vor allem die Regierungen der Südachse Italien, Spanien, Bulgarien und Griechenland setzen angesichts der wachsenden Bedrohung auf eine Unterstützung durch die beiden großen europäischen Blöcke. Der Versicherung des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Güldoğan, die er vor dem letzten Freitagsgebet in der Sultan-Hasan-Moschee in Kairo, der Hauptstadt der türkischen Provinz Ägypten, abgegeben hat, das türkische Reich sei mit dem Anschluss Libyens und Tunesiens saturiert und strebe derzeit keine Gebietserweiterungen an, wird in diplomatischen Kreisen nur bedingt Glauben geschenkt.

Die orientalische Frage war in der Tat ein Problem, dachte Reithagen. In den letzten Jahren hatte sich die Türkei innerlich wie äußerlich verändert. Aus dem ehemaligen, nicht immer einfachen Bündnispartner, ohne dessen Hilfe aber die entscheidenden Siege in der Endphase des seit siebzig Jahren beendeten Weltkrieges nicht hätten errungen werden können, war ein wirtschaftlicher und militärischer Konkurrent geworden. 1945 waren ein Großteil des Kaukasus sowie die Krim, der Libanon, Syrien und der Irak der sogenannten Türkischen Föderation angegliedert worden. Nach dem Sinai-Krieg von 1956 wurde Ägypten zum Protektorat und von der Türkei besetzt. In zwei weiteren Kriegen, 1967 und 1973, besiegte die türkische Armee die Arabische Liga und dehnte das eigene Einflussgebiet auf die gesamte arabische Halbinsel bis zum Golf von Aden aus. Das eroberte Jordanland verkaufte die Türkei den aus Europa geflüchteten Juden, die 1948 in einem schmalen Küstenstreifen einen autonomen Staat Israel errichtet hatten. Der neue Staat schloss sich als gleichberechtigter Partner der Türkischen Föderation an. Mithilfe des technischen Wissens der Israelis war in den Folgejahren gemeinsam eine schlagkräftige Hightech-Armee entwickelt worden, die erste Erfolge im Sinai-Krieg erzielte und mittlerweile der Wehrmacht durchaus Paroli bieten konnte. Zudem hatten Jerusalem und Ankara in den 80er Jahren eine eigene Nuklearstreitmacht aufgebaut. Die enge Zusammenarbeit mit Israel, das aufgrund des Holocausts dem Reich trotz aller Aufarbeitung sehr distanziert gegenüber stand, führte schon früh zur Abkühlung des deutsch-türkischen Verhältnisses. Mit der islamischen Wende der 2000er Jahre kam es zum endgültigen Bruch der Achse Berlin – Ankara. Neben der israelischen Frage waren die Ursachen primär wirtschaftlicher, machtpolitischer und ideologischer Art. Im Innern der Türkei setzte eine starke Islamisierungspolitik ein, die die Rechte anderer Religionen, bis auf das Judentum, mehr und mehr einschränkte. Nach außen hin wurde die Wirtschaft durch Zollschranken abgeschottet und parallel eine eigene vorderasiatische Freihandelszone eingerichtet. Dazu betrieb die Türkei seit zwölf Jahren eine extrem expansive Außenpolitik. Zuerst waren, trotz Einspruch Deutschlands, Ostmakedonien, Thrakien und die rumänische Dobrudscha am Schwarzen Meer besetzt und annektiert worden sowie 2013 das nach der Invasion von 1974 griechisch gebliebene Nordzypern. Parallel dazu wurde ein neues Bündnissystem aufgebaut, welches auf Wirtschaftshilfen und militärische Unterstützung basierte. Im Laufe der letzten zwanzig Jahre konnte so die nach dem Zerfall der Sowjetunion zu Beginn der 50er Jahre entstandenen Länder Kasachstan, Kirgisistan, Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenistan offiziell als Bündnispartner gewonnen werden. Vor zwei Jahren schließlich stieß die türkische Armee im Rahmen des sogenannten Arabischen Frühlings unter dem Vorwand der Unterstützung der revolutionären Volksbewegungen nach Libyen und Tunis vor. Frankreich und mit ihm die Westeuropäische Union sahen den Besitz in Algerien und Marokko gefährdet, England fürchtete um seine Mittelmeerflotte, und die von Italien geführte Südachse begann, aufzurüsten. Jedoch hatten diese Staaten gegen die durch das arabische Öl reich gewordene militärische Supermacht der Türkischen Föderation kaum eine Chance. Die aktuelle Konferenz sollte versuchen, das gestörte Gleichgewicht wieder neu herzustellen beziehungsweise ein Gegengewicht zu installieren.

Nach dem Frühstück zog Reithagen eine frische Uniform an. Um acht Uhr war ein Besprechungstermin im Neubau des Reichskriegsministeriums geplant. Brigadegeneral Fleißner hatte diesen am Freitag kurzfristig angesetzt, und der Oberst war gespannt, worum es gehen würde. Der Brigadegeneral war der aktuelle Kommandeur des Kommandos Spezialkräfte, dem Reithagens Abteilung zugeordnet war, obwohl er im eigentlichen Sinne nicht zu der KSK gehörte. Auch wenn Fleißner im Dienstgrad höher stand, war er kein Vorgesetzter. Reithagen handelte gewissermaßen autark, und sein Aufgabenbereich unterlag absoluter Geheimhaltung, aber verwaltungstechnisch musste die Kommandogruppe »Stauffenberg«, benannt nach dem Helden des 20. Juli, irgendwo angesiedelt werden.

Gegen 7:00 Uhr verließ Reithagen seine Wohnung in der Knaackstraße schräg gegenüber dem Wasserturm. Er fuhr mit der M 2 zum Bahnhof Alexanderplatz und von dort mit dem 200er Bus zur Tiergartenstraße. Im Sonnenschein lief er das letzte Stück zu Fuß zum mächtigen Bendlerbau. Kurz nach halb acht betrat er sein Büro im dritten Stock auf der linken Seite mit Blick auf den Landwehrkanal. Er fuhr den Rechner hoch und klinkte sich in das hauseigene Netz ein. Dort überflog Reithagen kurz die Meldungen zur aktuellen Sicherheitslage. In Peru hatte die von den US-Amerikanern finanzierte Terrorbewegung Sendero Luminoso, Leuchtender Pfad, eine neue Offensive gegen die japanische Besatzungsregierung der Präsidentin Keiko Sofía Fujimori Higuchi gestartet. In Mexiko hingegen war es der Ejército Zapatista de Liberación Nacional, der nationalen Befeiungsarmee, gelungen, die Truppen der Marionettenregierung Enrique Peña Nietos und der verbündeten US-Streitkräfte aus den Südprovinzen Chiapas, Campeche, Quintana Roo, Yucatán und Tabasco zu vertreiben. Aus Äthiopien wurde berichtet, dass die Israelis dort mithilfe der türkischen Marine über den Hafen Tadjoura im ehemals französische Dschibuti weitere Truppen angelandet hätten, um ihren Anspruch auf die Regionen Begemder und Semien nördlich und nordöstlich des Tanasees zu unterstreichen, die angeblich seit den Zeiten Salomons zu Israel gehörten. Auch der indisch-pakistanische Konflikt um die Kaschmir-Region Karakorum spitzte sich weiter zu. Neu Delhi brauchte das Gebiet, um den Nachschub für den Krieg in Afghanistan zu sichern und war bereit, dies mit allen Mitteln zu halten. Xiangyang-China und Chongqing-China führten weiter ihre endlosen Kämpfe in der Tibetregion.

Reithagen schloss die Nachrichtenleiste. Die Weltlage war wie immer prekär, die Spannungen zwischen den großen Wirtschafts- und Militärblöcken hatten in den letzten siebzig Jahren nie abgenommen. Hoffentlich führte die aktuelle Potsdamer Konferenz wenigstens in Europa zu einer Beruhigung.

Es war zehn vor acht, der Oberst begab sich in den Besprechungsraum des Kriegsministeriums, der heute für das Kommando Spezialkräfte reserviert worden war. Er trat hinaus in den Gang und stieg durch das imposante Treppenhaus hinunter zum Erdgeschoss. Reithagen verließ das Gebäude, durchquerte den Innenhof und erreichte im nächsten Trakt den Konferenzraum. Im Saal stand die von Franz Leschinger vor dreizehn Jahren gefertigte Stauffenbergbüste. Oben an der Wand hing das Schmetterlingsmotiv genannte »Rote Ordensband«, ein Fries aus acht Einzelbildern. Der ansonsten karge Raum war heute Morgen gut gefüllt. An dem Tischviereck in der Mitte saßen ein Dutzend Personen, verschiedene Offiziere, einige Anzugträger und zwei Damen im Kostüm. Der Oberst nahm an der Wandseite neben einem Marinekapitän Platz, den er mehrfach auf Konferenzen getroffen und mit dem er sich angefreundet hatte. Der semmelblonde Klaus Erhard stammte aus Kiel und war Angehöriger der Spezialisierten Einsatzkräfte Marine, kurz SEK M genannt.

»Weißt du, warum wir hier sind?«, fragte ihn der Kapitän nach der Begrüßung. Reithagen schüttelte den Kopf. Das Gleiche hatte auch er fragen wollen. Er musterte neugierig die übrigen Anwesenden. Neben einem Luftwaffenoffizier eines Strahlenfliegergeschwaders, einem breitschultrigen Panzerjägermajor, einem Oberst der Abwehr und einem Feldjägeroberstleutnant sowie einem jungen, nervösen Leutnant der Fallschirmtruppe und den drei grau gekleideten Zivilisten fielen ihm besonders die zwei Frauen auf. Sie mochten Mitte dreißig sein. Die eine hatte dunkles Haar und einen etwas dunkleren Teint. Die andere Frau war rotblond, und beide wirkten, soweit er es aus der Entfernung beurteilen konnte, durchaus attraktiv. Die Damen kannten sich offenbar, denn sie waren in einen intensiven Gesprächsaustausch eingetreten und schienen die anderen der Runde nicht wahrzunehmen. Dann ging die Tür des Saales auf und zusammen mit Brigadegeneral Fleißner trat ein braun gebrannter, drahtiger, mittelgroßer Mann in der Uniform der deutschen Osttruppe herein, den Rangabzeichen nach ein Generalfeldmarschall! Die höhere Führung stattete ihnen also einen Besuch ab, ein Hinweis, dass die Angelegenheit, um die es ging, von größter Bedeutung war. Der Offizier selbst war Reithagen allerdings nicht bekannt, was ihn verwunderte. Im Laufe des letzten Weltkrieges waren fünfzehn Heeresgruppen gebildet worden, die jeweils von Generalfeldmarschällen geführt wurden. Ein weitläufiger Verwandter des Obersts, Wolfram Freiherr von Richthofen, war selbst als Luftflottenführer 1943 zum Generalfeldmarschall ernannt worden. Aktuell besaß die Wehrmacht, inklusive der 150.000 Angehörigen der Luftwaffe und der 200.000 der Marine, eine Friedensstärke von 1.350.000 Mann. Die Verbände der Marine führte Großadmiral Heinz Lang, die deutsche Luftflotte Feldmarschall Carl Müller. Die fünf Armeekorps des Feld- und Ostheeres wurden von je einem Generalfeldmarschall kommandiert, die dem Oberst alle bekannt waren. Das Amt des Reichsmarschalls war in Friedenszeiten nicht besetzt.

Der »neue« Generalfeldmarschall setzte sich auf einen freien Platz schräg gegenüber von ihm, sodass der Oberst ihn unauffällig mustern konnte. Jetzt sah er es, der Offizier trug die stilisierte Wolfsangel mit Querstrebe, das Abzeichen der 1944 gegründeten Truppe der Partisanenkämpfer, der Werwölfe. Offenbar war er der Kommandeur aller verdeckten Kampf- und Einsatzverbände. Reithagen hatte zwar schon von der Existenz einer solchen Instanz gerüchteweise gehört. Seine eigene Einheit hatte aber mit den Werwölfen nichts zu tun. Er rümpfte die Nase. Sowohl die Verstrickungen derartiger Verbände als auch der mit den Werwölfen verbundenen Waffen-SS in die Verbrechen der Nazis war ein sehr mühsam aufgearbeitetes Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte. Während der anhaltenden Kämpfe an der Ostfront, die sich auch nach dem Waffenstillstand mit den Westalliierten von Ende August bis tief in den Winter 1944/45 hinzogen, hatte die neue militärische Führung unter Generalfeldmarschall von Witzleben geglaubt, auf keinen Soldaten, auch nicht der SS, verzichten zu können. Diese Entscheidung hatte Folgen. Mehrmals war es zu konterrevolutionären Aktionen der SS gekommen. Nach dem Krieg begannen das große Aufräumen und der Wiederaufbau im Land. Für viele war dies eine Art Persilschein für das eigene Tun in den Jahren von 1933 bis 1945. Selbst die NSDAP konnte weiter an Wahlen teilnehmen, wenn auch mit sinkendem Erfolg. Die rechtliche Ahndung des Holocausts erfolgte erst in den 50er Jahren, nachdem das Reichgericht 1953 die NSDAP als verfassungsfeindliche Partei verboten hatte. In einem groß angelegten Prozess vor der internationalen Presse hatte der Präsident des Reichsgerichtes Max Güde in Leipzig im Sommer 1954 die führenden Köpfe der NSDAP und der SS wegen der Massenvernichtung angeklagt und zur Verantwortung gezogen. Die SS als Ganzes wurde als »verbrecherische Organisation« eingestuft. Diese Bewertung betraf die gesamte SS mitsamt der SS-Totenkopfverbände und des SD, nicht jedoch die Waffen-SS, deren Handeln, soweit gegen das Kriegsvölkerrecht verstoßend, in Einzelverfahren geprüft wurde. Eine Prozesslawine rollte an. Im Jahre 1955 mussten sich die noch im Reich lebenden SS-Funktionäre des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes wegen des Massenmords in den Konzentrationslagern verantworten. Im Prozess gegen Angehörige des Rasse- und Siedlungshauptamtes vom November 1956 bis März 1958 stand die »Rassenpolitik« der SS und der NSDAP im Vordergrund. Im Einsatzgruppenprozess 1959 wurden die SS-Einsatzgruppenleiter wegen ihrer Beteiligung an Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen angeklagt. Weitere Prozesse liefen bis Mitte der 60er Jahre. Etliche der Beteiligten, unter anderem Hitlers Architekt Albert Speer, der sogenannte Vater des Wiederaufbaus, und die große Masse der Mitläufer wurden jedoch durch die Amnestiegesetze der Großen Koalition der Christlich Demokratischen Zentrumspartei mit der SPD und der Freie Demokratischen Volkspartei FDVP unter Reichskanzler Kurt Georg Kistinger 1967 aus ihrer Verantwortung entlassen. Die Gesetze wie auch der gnadenlose Partisanenkrieg in der Ukraine lösten die bekannte 67er Studentenrevolte aus. In deren Folge kam es in den 80er Jahren zu einem erneuten Umdenken, und alle nationalsozialistischen und rechten Nachfolgeparteien der NSDAP wie die NPD, SRP, die Republikaner und die DVU sowie ihre Jugendorganisationen wurden verboten. Dennoch gab es in den Großstädten eine rechte Szene, die seit den zunehmenden Spannungen mit der Türkischen Föderation und dem Anwachsen der türkischstämmigen Bevölkerung mehr oder minder geduldet wurde.

»Meine Herren, meine Damen! Ich begrüße Sie zur aktuellen Lage.« Die Worte des Generalfeldmarschalls unterbrachen die Gedanken Harald Reithagens. »Vorab, alles, was heute hier gesagt und vorgetragen wird, unterliegt der strengsten Geheimhaltung – der Stufe ›Geheime Reichssache‹.«

Ein Raunen ging durch die Reihen. Ungerührt fuhr der Redner fort.

»Die wenigsten von Ihnen werden mich und den Großteil der heutigen Teilnehmer kennen. Mein Name ist Schindler und mir unterstehen sämtliche Sonderverbände der Wehrmacht, die Kommandos Spezialkräfte Heer wie Marine, die Abteilung Nachrichten, die Abwehr, die Abteilung Sonderdienst, die Kommandogruppe ›Stauffenberg‹, dazu alle Fernspähereinheiten und die Fallschirmjägereinsatzgruppe Odin und natürlich auch die Organisation Werwolf, in der ich meine militärische Ausbildung und Prägung erlebte. Bevor ich jetzt zur Lage komme, stellen Sie sich bitte ebenfalls vor! Herr General, beginnen Sie!«, wandte er sich an Fleißner. Dieser kam der Aufforderung nach. Ihm folgten die drei Zivilisten. Es handelte sich um Gregor Nansen, dem zivilen Leiter der Abteilung Abwehr I: Nachrichtenbeschaffung, sowie um den Freiherrn von Loringhoven, der der Abteilung Abwehr II: Sonderdienst vorstand und um Franz von Eccard, der die Abteilung Abwehr III: Abwehr führte. Bei der auf Druck des Reichstags beschlossenen Heeresreform der 80er Jahre waren diese Abteilungen aus dem militärischen Komplex herausgelöst und in die zivile Verantwortung überführt worden. Die drei blass wirkenden Anzugträger schienen primäre Verwaltungsfachleute zu sein, die eigentlichen Aufgaben wurden nach wie vor durch Militärs geplant und ausgeführt. Der Luftwaffenoffizier, ein Hauptmann namens Bradel, war Staffelchef des 3. Strahlenfliegergeschwaders Riga. Rolf Schlier, der Panzerjägermajor lag mit seinem Bataillon in Minsk und befand sich auf Heimaturlaub. Beide waren etwas über dreißig und offenbar auf der Karriereleiter schnell aufgestiegen. Der Oberst der Abwehr stellte sich knapp mit »Bredow« vor und schwieg. Der groß gewachsene, schlanke Offizier schien Reithagen zu den Männern zu gehören, deren Einsatzgebiet das Feindesland selbst war und die in den geheimen Dschungel der Nachrichtendienste operierten. Der Feldjägeroberstleutnant Konradin vertrat die Militärpolizei und der athletische Fallschirmleutnant Robert Krawczyk war offenbar wegen seiner sportlichen Qualitäten hinzugezogen worden, denn er gab an, amtierender Deutscher Meister im militärischen Fünfkampf zu sein. Sollte etwa ein neues Spezialkommando gebildet werden? Jetzt waren die Damen mit der Vorstellung an der Reihe. Die Dunkelhaarige hatte sowohl in Chemie als auch in Physik promoviert. Frau Dr. Ateş, eine Deutschtürkin, wirkte sehr selbstbewusst, gelassen und sagte, sie hoffe, die Besprechung sei wirklich wichtig, denn ihre Zeit sei kostbar. Die rotblonde Dame war ebenfalls promoviert und als Psychoanalytikerin tätig. Frau Dr. Adler stand als einzige zur Vorstellung auf. In ihrem modisch geschnittenen Kostüm machte sie eine gute Figur und sie wusste das. Im Stehen musterte sie aufmerksam die Anwesenden und schien ihre Reaktionen genau zu studieren. Kapitän Erhards abschätzende Betrachtung entging ihr genauso wenig wie das Erröten des jungen Leutnants, und die grauen Anzugträger rückten unter ihrem prüfenden Blick nervös hin und her. Reithagen musste über die »Testsituation« lachen, was ihm ein anerkennendes Lächeln von Frau Dr. Ateş einbrachte. Der Kapitän und er stellten sich ebenfalls vor und die Lageeinweisung durch Generalfeldmarschall Schindler begann.

»Nachdem Sie einen ersten Eindruck gewonnen haben«, sagte Schindler, »komme ich gleich zum Grund Ihrer Anwesenheit. Sie wissen, dass aktuell in Potsdam eine Konferenz stattfindet, die das Ziel hat, eine Kooperation der Westeuropäischen Union und der Deutsch-Europäischen Föderation, unter Einbezug der Konföderation der Länder der Südachse Italien, Spanien, Bulgarien und Griechenland in der Militär- und Außenpolitik zu erreichen. Den Hintergrund, die sogenannte ›Türkische Gefahr‹ brauche ich Ihnen nicht zu erläutern. An der Konferenz nehmen neben der Reichskanzlerin Frau Dr. Kraft als Präsidentin der Föderation, ab Sonntag die Doppelspitze der Union, der englische Premier Alexander Boris de Pfeffel Johnson und der französische Staatspräsident François Hollande sowie die italienische Ministerpräsidentin Alessandra Mussolini und der griechische Staatspräsident Giannos Papantoniou teil. Dazu kommen verschiedene Beobachter der übrigen europäischen Staaten und diverse Arbeitsgruppen – ein immenser logistischer und sicherheitstechnischer Aufwand. Damit haben wir nichts zu tun. Unsere Aufgabe ist die Abwehr feindlicher Agententätigkeit. Wir wissen, dass die US-Amerikaner und die Japaner ihre Leute in Berlin aktiviert haben, das ist nichts Neues und die weltweiten Abhörversuche des CIA und des NSA sowie die Spezialmethoden der Yakuza sind uns allen geläufig. Sorgen macht etwas anderes. Vor zwei Wochen gelang es der Abwehr, einen Teil einer kodierten Nachricht zu entschlüsseln, die an die türkische Botschaft gesendet wurde. Demnach plant die Spezialeinheit des türkischen Geheimdienstes, die ›Grauen Wölfe‹, die Bozkurtçular, wie sie sich nennen, die Potsdamer Konferenz durch Störmaßnahmen massiv zu beinträchtigen und zum Abbruch zu zwingen. Genauere Angaben wurden nicht gemacht. Wir müssen daher mit allem rechnen: Spionage, Sabotage, Attentate, Terroranschläge und Entführungen. Der abgefangenen Botschaft war auch zu entnehmen, dass die ›Grauen Wölfe‹ auf deutsche Unterstützer zugreifen können. Unser Auftrag lautet, die Mitglieder der Agentengruppe aufzuspüren und bevor sie aktiv werden können zu eliminieren. Dazu bilden wir die Sondereinheit ›Walküre‹. Haben Sie zum bisher Gesagten Fragen?«

Als Erstes meldete sich zu Reithagens Überraschung einer der Anzugträger, Herr von Eccard, verwaltender Leiter der Abteilung Abwehr III.

»Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, Herr Generalfeldmarschall, dass meine Abteilung nur einen Bruchteil der Nachricht zu dekodieren vermochte. Wir wissen nicht, was die Türken wirklich vorhaben.«

»Korrekt!«, bestätigte Schindler knapp.

»Sind Namen bekannt?«, fragte der Feldjägeroberstleutnant Konradin, »und arbeiten wir mit dem Reichskriminalamt zusammen?«

»Zur letzten Frage: Es gibt natürlich Kontakte und wir erhalten jede notwendige Unterstützung und Information. Doch ich betrachte das Ganze als primär militärische Angelegenheit. Wir werden eigenständig handeln. Zu den Namen: Nach den Informationen der Abwehr wird die Operation durch Devlet Bahçeli geleitet. Der zweite Mann ist Muhsin Yazıcıoğlu. Möglicherweise sind auch einige Deutschtürken involviert.«

In den 60er und 7oer Jahren war es zu einem großen Zustrom türkischstämmiger Gastarbeiter gekommen, deren Familien zum Teil nachzogen. In einigen deutschen Großstädten gab es mittlerweile rein türkische Stadtviertel, so auch in der Reichshauptstadt, von deren zwölf Millionen Einwohner gute zwei Millionen türkischer Herkunft waren. Die meisten lebten in Kreuzberg und Neuköln, hatten neue Schattierungen in die kulturellen Landschaft gebracht und waren in der deutschen Gesellschaft gut integriert – so wie Frau Dr. Ateş. Doch es gab auch einen gewissen nationalistischen Teil unter ihnen, der bewusst auf Abstand zur Mehrheit ging und der zudem radikalislamische Ansichten vertrat, wie Reithagen wusste. In diesem deutschtürkischen Minderheitsmilieu war es für die »Grauen Wölfe« leicht, Unterstützer zu finden.

Der Oberst schreckte aus seinen Gedanken auf, als sein Nebenmann, Kapitän Erhard, eine Frage stellte. »Herr Generalfeldmarschall, wenn ich sehe, aus welch differenten Bereichen die hiesigen Lageteilnehmer kommen, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass mit allem gerechnet wird und daher jede nur denkbare Variante eingeplant wird.«

»Das sagte ich bereits, Herr Kapitän«, unterbrach ihn Schindler.

»Das habe ich verstanden, Herr Generalfeldmarschall. Ich frage mich nur, warum eine in Chemie und in Physik promovierte Wissenschaftlerin mit hinzugezogen wird. Rechnen Sie mit einem Einsatz von ABC-Waffen?«

Wieder ging ein Raunen durch die Gruppe. Alles blickte auf Schindler und wartete auf seine Antwort. Der Generalfeldmarschall schwieg einen Augenblick, dann nickte er.

»Ja, meine Damen und Herren, Kapitän Erhard liegt mit seine Vermutung richtig. Wir haben aus einer speziellen Quelle einen Hinweis erhalten, dass der Einsatz biologischer, chemischer oder auch nuklearer Waffen nicht auszuschließen ist. Deswegen wurde auch Frau Dr. Seyran Ateş hinzugezogen.«

»Mit Verlaub, Herr Generalfeldmarschall, halten Sie es für angebracht, ausgerechnet eine Türkin mit der Abwehr einer türkischen Verschwörung zu beauftragen?«, polterte der Panzerjägermajor los.

»Frau Dr. Ateş besitzt die reichsdeutsche Staatsbürgerschaft, Herr Major«, erwiderte Schindler ruhig. »Im Übrigen hat sich der Auftrag für Sie erledigt. Natürlich stehen Sie weiterhin unter Schweigepflicht. Sie können gehen!«

Der Major erhob sich, warf der Physikerin einen bösen Blick zu, strich sich die schwarze Uniform glatt, grüßte militärisch und verließ den Raum.

»Noch Fragen?«, wandte sich Schindler an die Runde. Niemand meldete sich.

»Gut, dann möchte ich die Herrn Abteilungsleiter und Herrn Oberstleutnant Konradin nicht weiter aufhalten. Sie sind informiert, worum es geht und werden im Rahmen Ihrer Funktionen der Sondereinheit ›Walküre‹ Ihre Ressourcen zur Verfügung stellen.«

Die drei Anzugträger und der Feldjäger erhoben sich ebenfalls. Die Zivilisten nahmen ihre schwarzen Aktenmappen, der Oberstleutnant setzte sein rotes Barett auf, und dann gingen sie. Schindler betrachtete mit einem Lächeln die verbliebenen Teilnehmer. Der Kreis bestand nunmehr aus den beiden Wissenschaftlerinnen, dem Brigadegeneral, Kapitän Erhard, dem Piloten Bradel, dem Fallschirmleutnant Krawczyk und Harald Reithagen sowie Oberst Bredow. Er blickte den Oberst an, und Bredow stand auf und trat an einen Rechner mit einem Lichtwerfer.

»Nachdem die Runde sich gelichtet hat, darf ich Ihnen eine detailliertere Einweisung geben. Allgemeine Lage: Bestimmte Fakten deuten darauf hin, dass die Außenpolitik der türkischen Regierung aus dem Ruder gelaufen ist. Der türkische Ministerpräsident Güldoğan, der, bei aller Expansion, bislang darum bemüht war, eine direkte Konfrontation mit Deutschland zu vermeiden, ist offenbar schon länger nicht mehr in der Lage, sich gegen die ultranationalen und radikal-islamischen Flügel seiner AKP durchzusetzen. Die Inbesitznahme von Libyen und Tunis wurden von den Militärs entgegen seiner ausdrücklichen Anweisung vollzogen. Das gleiche gilt für die Übernahme Zyperns und für den offenbar kurz bevorstehenden Handstreich auf Malta. »Die ›grauen Wölfe‹, die jahrelang ein verborgenes Untergrunddasein geführt haben, haben in den letzten fünf Jahren nahezu alle wichtigen Positionen in Armee, Polizei und Teilen der Verwaltung in Besitz genommen. Mehmet Ali Çatlı, der Sohn des vor knapp zehn Jahren verstorbenen Führers der paramilitärischen Organisation der ›Grauen Wölfe‹ hat zusammen mit einer Gruppe jüngerer Offiziere eine interne Revolte durchgeführt, den Generalstabschef Necdet Özel verhaftet und die Macht im Stab übernommen. Mehmet Ali Çatli sucht den Konflikt und will mit allen Mitteln einen Erfolg der aktuellen Konferenz verhindern. Was er genau plant, wissen wir nicht. Wir müssen mit allem rechnen. Das Einzige, was wir haben, ist der Hinweis, dass am 7. Juni, anlässlich des Treffens von zwanzig europäischen Staatsoberhäuptern und Regierungschefs mit einer Aktion gerechnet werden muss. Die Kräfte der Reichspolizei sind bereits im Einsatz, alle Sicherheitsmaßnahmen wurden überprüft und verstärkt. Dennoch gelang es Devlet Bahçeli und Muhsin Yazıcıoğlu letzte Woche, mit falschen Pässen ins Reichsgebiet einzureisen. Anhand einer Kameraaufzeichnung vom Frankfurter Flughafen wurden sie identifiziert. Leider zu spät, die Männer konnten sich einer Festnahme entziehen und sind seitdem untergetaucht. Die Aufgabe unserer Sondergruppe lautet daher, Devlet Bahçeli und Muhsin Yazıcıoğlu aufzuspüren, unschädlich zu machen und alle nur denkbaren Aktionen zu verhindern.«

Oberst Bredow endete.

Harald Reithagen meldete sich zu Wort, Schindler nickte ihm zu.

»Das sind bestürzende Nachrichten, und ich verstehe die Wichtigkeit unseres Auftrages. Nur, Berlin hat zwölf Millionen Einwohner. Wo setzen wir mit unseren Recherchen an? Könnte dies nicht besser die Polizei tun?«

Überraschenderweise antwortete Frau Dr. Adler.

»Frau Dr. Ateş und ich haben anhand der bekannten Fakten zu Devlet Bahçeli und Muhsin Yazıcıoğlu bereits eine Art Täterprofil erstellt. Auch wenn das der vorhin gegangene Panzerjägermajor nicht verstanden hat, ist es ein großes Plus, wenn zu unserer Gruppe jemand gehört, der sich mit dem türkischen Kulturkreis auskennt. Bahçeli und Yazıcıoğlu werden hundertprozentig Kontakt zu ihren in Berlin lebenden ideologischen Unterstützern aufnehmen. Wir haben es wahrscheinlich mit einem harten Kern von etwa zwei bis drei Dutzend Unterstützern zu tun. Zu denen müssen wir Zugang finden.«

»An dieser Stelle kommen Ihre Leute ins Spiel, Herr Fleißner«, wandte sich Schindler an den Brigadegeneral.

»Sie wissen, meine Damen und Herren, dass die KSK vielfach in Auslandseinsätzen tätig war. Die ›Operation Feuerzauber‹ in Mogadischu ist legendär, andere Einsätze wie der in Stockholm, in der Schlacht um Tora Bora, die ›Operation Anaconda‹ und der New-York-Einsatz, um nur die der letzten zehn Jahre zu nennen, sind der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Und das ist auch gut so, da die Effektivität der Truppe bei entsprechender Geheimhaltung am größten ist. Was niemand weiß, dass die KSK – und die Abwehr auch, wie ich vermute«, der General nickte Oberst Bredow zu, der keine Miene verzog, »dass wir sowohl mit dem Nationalen Nachrichtendienst der Türkei, dem Millî İstihbarat Teşkilâtı, als auch mit dem Mossad mehrfach eng zusammengearbeitet haben.«

»Mit dem Mossad und den Türken?«, fragte der Kapitän. »Ich dachte, zwischen dem Reich und Israel und den Osmanen herrscht seit fast zwanzig Jahren Eiszeit!«

»Das trifft auf der offiziellen Ebene sicher zu«, sagte der General, »aber auch nur bedingt. Der amtierende Ministerpräsident Güldoğan hat angesichts der zehn Millionen türkischstämmigen Deutschen hinter den Kulissen immer versucht, den Kontakt zum Reich nicht völlig abreißen zu lassen und die Regierung in Berlin hat es ebenso gehalten. Zudem bemüht sich der MIT seit gut fünf Jahren um unsere Unterstützung in ihrem Kampf gegen die Rechtsnationalisten und den radikalen Islam.«

»Offenbar vergeblich«, meinte Hauptmann Bradel.

»Ich weiß nicht, ob Sie die Lage richtig einschätzen«, erwiderte Fleißner. »Ich stimme zwar Oberst Bredow zu, dass die Gefahr durch rechtsnationale und islamistische Kräfte in der Türkei nicht unterschätzt werden darf. Doch ich glaube auch, dass sich in Ankara in den nächsten Monaten einiges verändern wird, wenn der Liberaldemokratischen Partei Ercan Çalıs bei den kommenden Parlamentswahlen ein Durchbruch gelingt. Die ungezügelte Expansion der letzten Jahre, der hohe Militärhaushalt und die Besatzungskosten haben zu massiven Steuererhöhungen geführt und die Wirtschaft geschwächt. Der durchschnittliche türkische Bürger ist mit der aktuellen Regierung unzufrieden und sehnt sich nach Normalität. Ercan Çalı wirbt offen mit dem Rückzug aus Tunesien, Libyen und Ägypten, um durch die dadurch erzielten Einsparungen die wirtschaftliche Lage zu stabilisieren. Vor allem in Ägypten geht es mittlerweile drunter und drüber, und auch in Syrien kommt es immer häufiger zu Anschlägen.«

»Das klingt nach unserer Situation im Jahre 1973, als der damalige Kanzler Barzel beschloss, die Wehrmacht aus der Ukraine abzuziehen«, sagte Reithagen. »Nur stand uns aufgrund des dortigen Partisanenkrieges militärisch das Wasser bis zum Hals, auch wegen der innerdeutschen Antikriegs-Protestbewegung.«

»Von offizieller Seite wird in der Türkei jeglicher Protest geleugnet«, erwiderte der General. »Oberst Bredow wird mir aber bestätigen, dass sich im Kurdengebiet, im Irak und in Syrien Autonomiebewegungen gebildet haben, die mit Anschlägen und Überfällen auf öffentliche Einrichtungen zu einer zunehmenden Gefahr für die staatliche Ordnung werden. Das ist auch ein Grund für die Nationalisten, durch spektakuläre Aktionen wie die geplante Annexion von Malta von inneren Problemen abzulenken.«

»Und was ist mit dem Mossad?«, hakte der Kapitän nach.