Die Akte Lenin - Heiger Ostertag - E-Book

Die Akte Lenin E-Book

Heiger Ostertag

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Beschreibung

1.Weltkrieg 1917. Der Heereslieferant und Großkaufmann Samuel Levin, von Freunden „Lenin“ genannt, wird ermordet. Es sieht so aus, als ob der Fall mit dem Schleichhandel (Schwarzmarkt) in Verbindung stehe. Wedigo von Wedel soll aufklären und recherchiert in Berlin, Wien und auch im revolutionären Russland. Nebenbei unterstützt er im Auftrag des deutschen Geheimdienstes die Machtübernahme des echten Lenins. Doch die Revolution erreicht schließlich auch Deutschland.

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swb media publishing®

Heiger Ostertag

Die Akte Lenin

Roman

swb media publishing®

Die Handlung und die handelnden Personen sind, soweit nicht historisch, frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder bereits verstorbenen nichthistorischen Personen ist zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage 2018

ISBN 978-3-946686-44-6

Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzungen, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen.

© 2018 SWB Media Publishing

SWB Media Publishing, Gewerbestr. 2, 71332 Waiblingen

Printed in Germany

Umschlag: Dieter Borrmann, Kleve

Lektorat: Johanna Ziwich

Satz: Julia Karl /www.juka-satzschmie.de

Druck und Bindung: Rosch-Buch Druckerei GmbH, 96110 Scheßlitz

Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt.

www.suedwestbuch.de

Meinen Großvätern und meinem Vater:

Heinrich Ostertag (24.4.1893 – 1.9.1983)

Hans Marggraf (14.2.1898 – 13.5.1964)

Heinz Ostertag (12.8.1923 – 13.9.2007)

INHALT

Prolog

Petrograd, April 1917

1. Kapitel

Salomes Fest

2. Kapitel

Das Bal-Tabarin

3. Kapitel

Wiener Blut

4. Kapitel

Nächtlich im Prater

5. Kapitel

Sturm überm Baltikum

6. Kapitel

Tod den Spionen

7. Kapitel

Roter Oktober

8. Kapitel

Streik!

9. Kapitel

Schwarzer August

10. Kapitel

Totennovember

Epilog

Frühjahr 1919

Dokumentation

Nachwort

Literaturverzeichnis

Danksagung

PROLOG

Petrograd, April 1917

»Einem revolutionären Kriege, der die revolutionäre Vaterlandsverteidigung wirklich rechtfertigen würde, kann das klassenbewusste Proletariat zustimmen nur unter der Bedingung: des Überganges der Macht in die Hände des Proletariats und der sich ihm anschließenden ärmsten Teile der Bauernschaft …«

Hauptmann Wedigo von Wedel stand seitlich vom Redner am Rande einer vielköpfigen, sicher mehrere tausend Arbeiter und Soldaten umfassenden Menge. Dicht neben ihm, die blonden Haare unter einer Ballonmütze verborgen und wie Wedigo in einen einfachen, grauen Anzug gekleidet, spürte er Melissa, offiziell Gräfin Walewska, die sich schutzsuchend an ihn drängte. Kalter Wind wehte und er fühlte ihr Frösteln. Sie befanden sich auf dem Finnländischen Bahnhof von Petrograd, dem früheren Sankt Petersburg, mitten im offiziellen Empfang für den russischen Revolutionär und Führer der Bolschewiki Wladimir Iljitsch Uljanow, bekannt auch als Lenin. Verschiedene Menschen hatten bereits Reden gehalten, von denen er nur einen dem Namen nach kannte, Nikolos Tschcheidse, ein Mitglied des zentralen Räteexekutivkomitees. Jetzt sprach Uljanow selbst, der Spitzbart, wie ihn Wedigo gegenüber Melissa nannte. Laut hallte die Stimme über den Platz.

»… keinerlei Unterstützung der Provisorischen Regierung, Aufdeckung der ganzen Verlogenheit aller ihrer Versprechungen …Aufklärung der Massen darüber, dass die Arbeiterdeputiertenräte die einzig mögliche Form der Revolutionsregierung sind …«, flogen weitere Wortfetzen an ihm vorbei, die ihm Melissa flüsternd übersetzte, sein eigenes, an sich gutes Russisch reichte für dieses politische Vokabular nicht völlig aus. Wedigo sah sich unauffällig um. Vierschrötige Gestalten mit grimmigen Mienen und kräftigen Fäusten. Dazwischen Menschen, deren ausgemergelte Gesichter von Hunger und Leiden zeugten. Und Melissa und er befanden sich mitten im Geschehen …

Im März war die Abteilung III b im preußischen Generalstab, und damit Major Nicolai, mit der Durchführung des Transportes Wladimir Iljitsch Uljanows zurück nach Russland betraut worden, ein Coup, den sie schon seit einem Dreivierteljahr vorbereitet hatten. Es ging um nichts anderes, als nach dem Sturz des Zaren den russischen Gegner weiter zu destabilisieren, um das Land endlich zum Ausscheiden aus der alliierten Kriegskoalition zu bewegen.

Offizieller Mittelsmann bei den Vorbereitungen war der Schweizer Sozialist Fritz Platten gewesen, doch Wedigo und Melissa hatten im Auftrag Nicolais hinter den Kulissen die eigentliche Arbeit geleistet und alles für die Reise Notwendige akribisch vorbereitet. Platten sollte auch bei der Bahnfahrt durch das Territorium des Reiches als Transportführer fungieren. Weitere Begleiter des Transports waren deutsche Arbeitervertreter wie der Gewerkschafter Jansson mit seinem polnischen »Kollegen« Walewska, Melissas Tarnung. Wedigo reiste unter dem Pseudonym eines Rittmeisters von der Planitz. Es herrschte absolute Geheimhaltung, damit die Presse ja nichts über das Ereignis berichten sollte.

Die Reise startete am Ostermontag, dem 9. April 1917. Im Zug befanden sich unter anderem Uljanows Ehefrau Nadja Krupskaja sowie Inessa Armand, die Geliebte. Dazu Karl Radek, Grigori Sinowjew und Grigori Sokolnikow sowie weitere Sozialisten. Der Eisenbahnwagen, in dem die Revolutionäre reisten, galt offiziell als exterritorial. Das heißt, die Reisenden wurden im Zug und durch die Zollbeamten nicht kontrolliert, niemand durfte unterwegs den Personenwagen betreten oder verlassen. Die Grenze zwischen dem exterritorialen Wagenteil und dem deutschen hatte man offiziell mit gelber Kreide markiert.

Von Zürich aus ging es quer durch Deutschland mit einem Zwischenhalt in Berlin, wo Melissa zustieg, weiter nach Sassnitz. Von hier brachte sie der Dampfer Drottning Victoria nach Trelleborg. Über Stockholm fuhr die Gruppe nach Tornio im Norden Finnlands und weiter nach Petrograd, das man am 16. April erreichte. Unterwegs hatte es, wie »Gewerkschaftler« Walewska »Herrn von Planitz« berichtete, immer wieder Diskussionen und Streit unter den Reisenden über das weitere Vorgehen gegeben. Vor allem der Deutsche Karl Radek plädierte für radikale Aktionen. Schon vor dem Krieg gehörte er zusammen mit Rosa Luxemburg dem extrem linken Flügel der Sozialdemokraten an. Vor zwei Jahren hatten er und Uljanow an der Zimmerwalder Konferenz in Warschau teilgenommen und gemeinsam den radikalen Block gebildet, der sich den permanenten Kampf gegen den Kapitalismus bis zu dessen Untergang auf die Fahnen schrieb. All dieses Wissen hatte Wedigo von Wedel den Akten Major Nicolais entnommen, und ihm war ziemlich unwohl bei dem Gedanken, was passieren würde, wenn sich Uljanows und Radeks radikale Ideen in Russland wirklich durchsetzten. Konnte womöglich die Revolution auf Deutschland zurückschlagen? Auch im Reich herrschten große Nahrungsknappheit und überall Hunger; die Siegesgewissheit hatte längst einer mürrischen Kriegsmüdigkeit weichen müssen. Da konnte viel geschehen, das nicht zu kalkulieren war.

Der Redner kam zum Ende, seine Stimme überschlug sich dabei fast.

»Alle Macht den Sowjets! Beendigung des Krieges! Alles Land den Bauern!«, fasste er seine Forderungen zusammen: »Friede, Freiheit, Land und Brot!«

Kurz herrschte Schweigen, dann ertönte der vielstimmige Schrei der Menge: »Land und Brot! Freiheit und Friede!«

1. KAPITEL

Salomes Fest

»Die kleine Sahlberg macht sich gar nicht übel«, sagte Oberrechnungsrat Knopp und deutete mit dem Kopf auf ein Mädchen in Rosa, das mit einem Herrn mit kurzgeschorenem Haar und von doppelt so großer Gestalt wie sie selbst einen entzückenden Boston tanzte.

Der Welt-Spiegel, Illustrierte Halbwochenschrift des Berliner Tageblatt.

Ausgabe vom 20. Mai 1917

Die Silhouette des neugotischen Gebäudes mit seinen zahlreichen Türmen und Erkern zeichnete sich scharf gegen den dunklen Nachthimmel ab. Der kleine Palast lag mitten in einem riesigen Park unweit des Herthasees. Das Gelände strahlte in dieser lauen Mainacht im Licht von Hunderten von Fackeln, die den Eingang, die Wege und vor allem die breite Freitreppe, welche zur Empfangshalle des Hauses führte, in flackerndes Licht tauchten. Auch die Fenster der großen Villa leuchteten festlich und hell. Trat man ins Innere, so gelangte der Gast in den weitläufigen, mit hellem Marmor getäfelten Eingangsbereich, wo ihn Lakaien begrüßten und Champagner reichten. Von hier führte ein dorischer Säulengang in den Ballsaal. Auf seinem Weg passierte der Besucher einen plätschernden Springbrunnen, auf dessen Wasserstrahl eine kleine Kugel auf- und absprang. Seitlich schlossen sich weitere Räume an. Rechts ein quadratischer Esssaal, dessen Wände in raffinierter Einfachheit aus hellem Stuck mit eingelegten Reliefs bestanden. In ihm, wie auch im mittleren Herrenzimmer, das zwischen dem Ballsaal und dem Speisezimmer lag, war heute eine Vielzahl von Gästen versammelt, die der Gastgeber Großkaufmann Samuel Levin anlässlich des achtzehnten Geburtstages seiner Tochter Salome geladen hatte. Unter ihnen vor allem Herren aus der Wirtschaft und der Bankenwelt mit ihren Gemahlinnen, dazu das Militär und der Adel. Es dominierten Frack und Abendkleider, aber auch zahlreiche Uniformen höherer Offiziersränge waren zu sehen. Die farbenprächtigen Garderoben der Damen setzten in diesem Gewoge von Schwarz und Blau kräftige, bunte Tupfer. All die von Belows, Zastrows, von Schencks und von Mansteins und die übrigen illustren Herrschaften aßen und tranken, flanierten und tanzten. Man genoss den Abend und lobte das Gebotene. Nicht ohne Grund, denn die Tische im Speisezimmer bogen sich gleichsam unter der Last der Hummer, Muscheln und Goldbarsche, der Schinken und Pasteten und der erlesenen Weine und Liköre. Von den Sorgen und Nöten des Krieges und dem Hunger der Heimatfront war in diesen Kreisen wenig zu spüren.

Samuel Levin nickte zufrieden. Das war Salomes Fest, und es war, wie er sich ohne falsche Bescheidenheit eingestehen konnte, gelungen. Er hatte eine Rede gehalten, hatte Kaiser, Vaterland und seine Tochter hochleben lassen. Man unterhielt und amüsierte sich, besprach das eine oder andere – und jetzt walzte alles zum Klang des Orchesters. Drüben tanzte Salome mit dem jungen Grafen von Dönow. Ein stattlicher Herr, groß und elegant und aus ostpreußischem Uraltadel – und sein zartes, schlankes Kind. Ein schönes Paar. Vielleicht gab es bald eine Verlobung, an der Mitgift sollte es nicht liegen, Levin war bereit, Salome mit 150.000 Goldmark auszustatten. Eben glitt die Gräfin Walewska am Arm des Generals von Hofmann vorüber; ganz in Spitze und das blonde Haar eine einzige Lockenpracht. Wahrhaftig, eine herrliche Frau und ein herrliches Fest. Alles lief bestens; für einen Augenblick konnte er sich zurückziehen, um ein Gespräch zu führen, das er schon lange vor sich herschob, welches aber dringend notwendig war. Ach ja, die Geschäfte. Aber erst einmal würde er sich oben etwas frisch machen, der Tag war lang gewesen und er war keine vierzig mehr. Levin seufzte, verließ den Saal und durchquerte die Eingangshalle. Der Wasserstrahl des Brunnens spielte sein endloses Spiel, die Kerzen erstrahlten und die Lakaien strafften sich bei seinem Vorübergehen. An den Riesenvasen mit Flieder und Goldregen vorbei wandte sich der Gastgeber der Treppe zu, die nach oben in die privaten Gemächer des Hauses und zur Bibliothek führte. Gerade erreichte er die erste Etage, da schlug die große Standuhr elfmal. Vor ihm zeigte sich eine dunkle Gestalt. Levin stutzte, dann erkannte er die Person.

»Was machen Sie denn hi…?«, ein harter Schlag beendete abrupt seine Frage. Samuel Levin fühlte einen fürchterlichen Schmerz. Er taumelte, erneut schlug sein Gegenüber zu, die Kerzen schienen zu erlöschen, und alles um Levin herum wurde finster.

Hauptmann Wedigo von Wedel blickte missmutig auf seine Taschenuhr. Elf Uhr und er saß immer noch über den Akten, die ihm Major Nicolai zur Durchsicht gegeben hatte. Morgen früh Punkt acht Uhr fand die Sitzung statt, die vom Generalquartiermeister General Ludendorff kurzfristig anberaumt worden war. Und bis dahin musste er sich kundig gemacht haben. Es ging um Nachschubfragen, die Versorgung der kämpfenden Truppe und der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln aus den besetzten Gebieten in Russisch-Polen und in der Ukraine sowie aus den neutralen skandinavischen Ländern. Irgendetwas lief zurzeit schief, ganze Eisenbahnwaggons kamen sozusagen unter die Räder und waren nicht mehr auffindbar. Der General, der sich für eine Koryphäe in Sachen Logistik hielt, tobte. Morgen früh wollte er wissen, wo sich die Schwachstellen befanden und wie diese zu beheben seien. Sie befanden sich bald im vierten Kriegsjahr, mehr und mehr zeigte sich, die Frage des Siegens war eng mit der Fähigkeit der eigenen Volkswirtschaft verbunden, entsprechende Mengen an Waffen und Munition zu produzieren und eine ausreichende Ernährung zu gewährleisten. Nur, der Ausfall von nahezu dreizehn Millionen Männern in der Produktion und die Handelsblockade der Engländer hatten Folgen gehabt. Die Menschen litten bittere Not und hungerten, im letzten Winter hatte die Durchschnittsmahlzeit primär aus Steckrübenkompositionen bestanden. Mit dem Hilfsdienstgesetz vom November 16 hatte die Oberste Heeresleitung versucht, den Mangel zu beheben, bislang vergeblich. Da war es schon verständlich, dass der Verlust von mehreren Dutzend Eisenbahngüterwaggons mit Getreide und anderen Agrarprodukten die obere Führung in Rage brachte. Daher saß er hier und prüfte die Frachtunterlagen und andere Papiere, statt Melissa auf den Ball im Hause Levin zu begleiten. Ein Fest, auf das er sich schon länger gefreut hatte. In diesen harten Zeiten gab es selten Gelegenheit, den Kriegsalltag zu vergessen und in einem solchen Rahmen zu tanzen und sich zu amüsieren. Wie anders war es doch gewesen, als er noch als junger Leutnant im Potsdamer Garderegiment gedient hatte. Lange war das her, fast fünf Jahre. Dann hatte man ihn nach Berlin in die Abteilung III b des Generalstabs zu Major Nicolai kommandiert und seitdem waren die Abenteuer nicht mehr abgerissen. Vor allem war er der Gräfin Maria Walewska begegnet, und sein Leben hatte sich von Grund auf verändert. Nach vielem Hin und Her waren sie ein Paar geworden, das heißt, nicht im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern so, wie es Melissa verstand. Keine Frage, sie fühlte sich ihm verbunden, sie bewohnten sogar gemeinsam eine Wohnung. Aber eine feste Bindung wie eine Ehe lehnte sie ab, denn persönliche Freiheit war Melissa das Wichtigste. Wedigo seufzte. Natürlich hatte die Gräfin auch kein Problem darin gesehen, allein zu Levins Fest zu gehen.

»Du weißt doch, Wedigo, wie gern ich tanze«, sagte sie nur, als er ihr mitteilte, dass er heute Abend nicht könne. »Da gönnst du mir sicher, wenn ich allein zu Salomes Feier fahre. Auch da ich sie, im Gegensatz zu dir, vom Tennis gut kenne.«

Wenn er nur daran dachte, wer ihr wieder alles den Hof machen würde. Die ganzen älteren Herren, die ihr nicht widerstehen konnten, zumal Melissa es liebte, ab und zu ein wenig zu flirten. Wedigo konnte sie direkt vor sich sehen. In ihrem auf Figur geschnittenen Spitzenkleid, das sie auf Gott weiß welchen Wegen direkt aus Paris von ihrer Lieblingsschneiderin Coco bezogen hatte. Groß, schlank, lächelnd, blond, ein wunderbar geschwungener Mund und der Blick ihrer grünblauen Augen … Verdammt, und er saß hier in diesem kargen Büro im Kriegsministerium und kämpfte sich durch trockene Verwaltungsunterlagen.

Kommissar Ernst Gennat seufzte. Das war ein Fall, wie er ihn wenig schätzte. Ein Mord im Milieu der oberen Zehntausend während eines Festes. Der jüdische Kaufmann Levin hatte geladen, und zum Dank war er von einem seiner Gäste getötet worden. »Kriminalistik ist zu einem großen Teil Kunst der Menschenbehandlung«, das war Gennats Maxime. Nur wusste er im Augenblick wirklich nicht, wie er zur Behandlung schreiten sollte, denn der Großteil der Geladenen hatte die Villa vor seinem Eintreffen verlassen. Wie er darauf kam, dass der Täter sich unter den Gästen befinden musste, hätte Gennat auf Anhieb nicht sagen können. Natürlich konnte der Mörder auch aus den Reihen des Personals stammen oder von außen in das Gebäude eingedrungen sein. Für letztere Variante gab es allerdings keinerlei Anhaltspunkte. Er hatte die Möglichkeit sofort prüfen lassen. Und das Personal diente Levin seit Jahren beziehungsweise waren Lohndiener mit Empfehlung und gutem Leumund. Aber so ganz sicher konnte man nie sein. Bei dieser Anzahl von Gästen jedoch, an die Hundert Menschen hatte Levin eingeladen, wäre es für den Täter ein Leichtes gewesen, so er die Kleiderfrage gelöst hätte, sich unter die Feiernden zu schmuggeln.

Nun ja, erst einmal würde er diejenigen befragen, die sich noch im Hause befanden, dann, ja, dann sah er weiter. Die Untersuchung des Tatorts war nicht sehr ergiebig gewesen. Der Schlag, der Levin getötet hatte, war von vorne links mit einem stumpfen Gegenstand geführt worden. Im Fallen war das Opfer einige Stufen hinabgestürzt, wie die Blutspuren auf der Marmortreppe verrieten. Todeszeit und Auffindzeit trennte maximal eine halbe Stunde. Der Diener, der den Toten entdeckt hatte, war bereits ausgiebig vernommen worden. Er sagte aus, dass der Körper sich noch warm angefühlt habe, als er seinem Herrn erste Hilfe hatte leisten wollen. Das Fest selbst hatte der Bruder Herrn Levins, Aron Levin, kurz danach beendet und die Gäste vor Eintreffen der Polizei verabschiedet und heimkehren lassen. Diese Aktion verärgerte den Kommissar, jetzt würde er jeden einzelnen Gast separat aufsuchen müssen. Auch die Tochter des Hauses, Salome, war derzeit nicht vernehmungsfähig. Der Tod ihres Vaters setzte ihr sehr zu. Doktor Wendelstein, der alte Familienarzt, hatte ihr ein Beruhigungsmittel verabreicht, und sie war anschließend, von ihrer Gouvernante und einem Mädchen begleitet, zu Bett gebracht worden. Den Bruder des Toten vernahm Gennat direkt nach dem Diener, er konnte allerdings aus dem sichtlich vom Tode Samuel Levins Betroffenen kaum etwas Vernünftiges herausbringen.

Aron Levin lebte in Hamburg, wo er als stiller Teilhaber einer größeren Reederei seine Geschäfte betrieb. Er war extra zur Geburtstagsfeier angereist, wusste allerdings über die Verhältnisse seines Bruders wenig zu berichten. Interessanter erschien dem Kommissar dagegen der Mann, der gerade vor ihm saß. Es handelte sich um den Privatsekretär des Ermordeten. Gustav Schmoll gehörte der Firma Samuel Levin In- und Export seit zehn Jahren an und war mit den geschäftlichen Aktivitäten und den persönlichen Gepflogenheiten des Firmeneigners gut bekannt. Der schmale Mittvierziger wirkte in seiner gewandten, beflissenen Art auf Gennat unangenehm. Im bleichen Gesicht unter dem rabenschwarzen Haar zeigte sich ein Paar ebenso dunkler Augen, deren Blick unstet flackerte. Schmoll sprach zudem sehr leise, war aber wegen der prononcierten Aussprache trotzdem gut verständlich. Er legte unaufgefordert die Gästeliste vor, seine gepflegten, zartgliedrigen Hände erschienen dem Kommissar unangemessen weiblich. Die Liste umfasste insgesamt 97 Namen, darunter ranghohe Militärs, Damen und Herren des Adels und etliche bekannte Finanziers. Mit all den Leuten würde er sich beschäftigen müssen. Zwei Namen sprangen ihm beim Lesen direkt ins Auge: Gräfin Maria Walewska und Hauptmann Wedigo von Wedel! Teufel auch, wenn in Berlin etwas passierte, waren beide Persönlichkeiten nicht weit entfernt.

»Herr von Wedel und die Gräfin«, wiederholte der Kommissar halblaut. Der Sekretär, dem Gennats Überraschung und die Namen nicht entgangen waren, hüstelte.

»Herr Hauptmann von Wedel konnte leider nicht kommen, die Gräfin ist allein erschienen«, erklärte er.

»Ist die Gräfin noch im Hause?«

»So viel ich weiß, hat sich die gnädige Frau Gräfin in den gelben Salon begeben. Sie sagte, Sie würden gewiss mit ihr sprechen wollen …«

»Dann lassen Sie die Dame gefälligst nicht warten und bitten Sie sie zu mir. Sie selbst halten sich bis auf Weiteres zu meiner Verfügung«, erklärte der Kommissar barsch. Schmoll verneigte sich wortlos und eilte hinaus, um der Anordnung Folge zu leisten.

Maria Walewska betrat den Rauchsalon, der dem Kriminalbeamten für die Dauer seiner Vernehmungen zur Verfügung gestellt worden war. Ein leichter Duft nach Flieder und Jasmin füllte den Raum. Gennat erhob sich und eilte auf sie zu.

»Gnädigste Frau Gräfin«, begrüßte er sie mit einer tiefen Verbeugung, »ich freue mich, Sie zu sehen und bedauere gleichzeitig, dass ein solch trauriger Anlass der Grund unseres Zusammentreffens ist. Bitte nehmen Sie Platz!«

Sein »Gast« setzte sich in einen der dunklen Ledersessel, die nebst einem Rauchertisch mit Messingplatte und einem breiten Ledersofa normalerweise die einzigen Einrichtungsgegenstände bildeten. Jetzt hatte Schmoll allerdings noch einen schmalen Schreibtisch sowie einen Stuhl für den Kommissar ins Zimmer bringen lassen.

»Ich danke Ihnen für Ihre freundliche Begrüßung, lieber Kommissar «, erwiderte die Gräfin, »es ist schon spät, also lassen Sie uns gleich zur Sache kommen. Sie werden Fragen haben und ich die eine oder andere Antwort.«

Gennat nickte, er kannte die Gräfin seit Jahren und schätzte ihre zupackende, geradlinige Art und ihr waches Wesen sehr. Dies um so mehr, da er wusste, dass sie aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten und dem weitgespannten Netz ihrer Beziehungen schon mehrfach in politisch brisanten Situationen der Polizei entscheidende Hilfe geleistet hatte.

Die Gräfin betrachtete amüsiert den dicklichen, streng blickenden Mann mit dem überdimensionierten Riesenschädel. »Der ruhende Buddha« war aufgrund seiner kriminalistischen Erfolge in Berlin mittlerweile eine Berühmtheit geworden. Dank seines Riesenappetits auf den von seiner Sekretärin besorgten Stachelbeerkuchen hatte sein Leibesumfang, trotz des Krieges, beharrlich zugenommen. Man munkelte, dass Gennat daher Tatortbesuche, besonders in oberen Stockwerken, mehr und mehr meide. In seiner Kleidung zeigte der Kriminalist die Nachlässigkeit eines eingefleischten Hagestolzes. Sein Lebensmittelpunkt war sein von Zigarren verqualmtes Büro am Alexanderplatz. Dieses war mit einer verschlissenen, grünen Polstergarnitur eingerichtet und mit einer aus einem blutigen Mordfall stammenden Axt dekoriert. Angeblich bewahrte der Kommissar im Aktenschrank mitten unter den Papieren auch einen aus der Spree gefischten, konservierten Frauenkopf auf. Aber das war wohl ein Gerücht. Maria Walewska rechnete es ihm aktuell hoch an, dass er in ihrer Gegenwart darauf verzichtete, eine seiner übel riechenden Zigarren anzustecken.

»Sie waren den ganzen Abend anwesend?«, begann der Kriminalist. »Erzählen Sie einfach, was Sie gesehen beziehungsweise beobachtet haben, denn ich gehe davon aus, dass Sie nicht ohne Grund hiergeblieben sind und mit mir sprechen wollten.«

»Herr von Wedel und ich waren zur Geburtstagsfeier Salome Levins eingeladen«, begann die Gräfin. »Ich habe Salome beim Tennisspielen kennengelernt. Sie ist mit Rahel Koppel, der Tochter des Bankiers Leopold Koppel befreundet, und wir spielten mehrfach im Doppel. Ich kam gegen neun, allein, Wedigo hat leider im Ministerium zu tun. Wer alles anwesend war, sagt Ihnen die Gästeliste. Es war ein besonderes Fest. Herr Levin muss die besten Beziehungen gehabt haben, denn das, was er auftischte, erschien mir in Anbetracht der schweren Zeiten überaus luxuriös. Ich will Sie nicht mit Details langweilen, sondern auf das kommen, was Sie vielleicht interessieren könnte. Streit oder Ähnliches habe ich nicht beobachtet. Der Gastgeber nutzte die Feier Salomes jedoch auch dazu, geschäftlich zu agieren. Ein paar diesbezügliche Gespräche habe ich ganz nebenbei mitbekommen. Es ging offenbar um Getreidelieferungen, mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen. Aber etwas anderes dürfte Sie mehr interessieren. Ich bemerkte im Laufe des Abends zwei Personen, deren Äußeres zu dem der übrigen Gesellschaft stark kontrastierte. Zwar traten diese nur am Rande auf, doch ihr Erscheinen überraschte mich ziemlich.«

»Aus welchen Gründen?«

»Beiden trugen lange, orientalisch wirkende Gewänder und ausladende Bärte, ähnlich der Barttracht von Admiral Tirpitz.«

»Das ist in der Tat eine aufschlussreiche Beobachtung. Sprachen die Männer mit Herrn Levin?«

»Ganz kurz, jedoch außerhalb der eigentlichen Feiergesellschaft. Sie standen, wie gesagt, im Schatten einer der Säulen im hinteren Bereich. Und zwar dort, wo, so viel ich weiß, die Wirtschaftsräume liegen. Ich dachte zuerst, sie gehörten zum Personal, dann sah ich, dass Herr Levin auf einen von ihnen zutrat und ihn sehr freundschaftlich begrüßte. Ich glaube, Herr Schmoll, der Privatsekretär, kam ebenfalls hinzu. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen, ich habe die Szene nur aus den Augenwinkeln wahrgenommen und maß ihr keine große Bedeutung zu.«

»Wir werden sehen, ob mehr dahinter steckt«, meinte Gennat nachdenklich. »Wann war die Begegnung?«

»Halb zehn oder zehn, Levin kehrte jedenfalls anschließend in den Ballsaal zurück.«

»Ah, das ist wichtig. Und da haben Sie Herrn Levin zuletzt gesehen?«

»Nein, das war später, es muss gegen elf gewesen sein. Er stand an der Tanzfläche und betrachtete sichtlich zufrieden das Treiben. Darauf drehte er sich um und verließ den Saal.«

»Und die ›Orientalen‹ sahen Sie nicht mehr?«

Die Gräfin nickte bestätigend und erhob sich.

»Ich darf mich verabschieden und hoffe, Ihnen etwas geholfen zu haben.«

»Selbstverständlich, Frau Gräfin, und vielen Dank für Ihre Informationen.«

Der Kommissar stand ebenfalls vom Stuhl auf und begleitete seine Zeugin bis an die Tür, die er mit einer höflichen Verbeugung für sie öffnete. Er blickte ihr sinnend nach, wie sie, ein Traum von Seide und weißer Spitze, davonschwebte. Dann winkte er dem Wachtmeister, der auf dem Flur stand.

»Ich muss nochmals mit dem Privatsekretär reden. Bitten Sie umgehend Herrn Schmoll zu mir!«

»Jawohl, Herr Kommissar!«

Der Polizist salutierte und eilte davon. Wenige Minuten später kehrte er mit Schmoll im Morgenmantel zurück. Der Privatsekretär war sichtlich verärgert.

»Was wollen Sie denn zu dieser späten Stunde von mir? Ich habe Ihnen schon alles berichtet, was ich weiß.«

»In einem Mordfall gibt es immer noch Fragen«, entgegnete Gennat gelassen. »Außerdem sollten Sie sich zur Verfügung halten.«

»Hat Ihre Befragung nicht Zeit bis morgen?«

»Nein, das hat sie nicht. Jetzt setzen Sie sich, je eher Sie antworten, desto schneller sind wir fertig. Für heute jedenfalls.«

Gustav Schmoll nahm gegenüber Platz. Der Beamte beugte sich vor.

»Nun erzählen Sie mal, was wissen Sie über die orientalischen Geschäfte Ihres Herrn?«

Schmolls Gesicht erblasste, soweit dies ihm möglich war.

»Ich verstehe nicht …«

»Oh doch, Schmoll, Sie verstehen genau, was ich meine!« Gennat packte plötzlich den Kragen des Morgenmantels und zog den Sekretär mit einem Ruck quer über den Tisch zu sich.

»Lassen Sie los, ich bekomme keine Luft.«

Der Kommissar nahm die Hände zurück, und Schmoll sank wieder schwer atmend auf seinen Stuhl.

»Ich werde mich über Sie beschweren, Sie …«

Gennat sprang mit einer Behändigkeit auf, die man dem korpulenten Mann nicht zugetraut hätte, umrundete den Tisch und neigte sich drohend über den Sekretär.

»Mensch, Sie verkennen offenbar die Lage. Ihr Arbeitgeber, Herr Levin, ist in seinem eigenen Haus ermordet worden. Davor wird er im Gespräch mit Personen gesehen, die schon rein äußerlich nichts mit der Festgesellschaft zu tun hatten. Und Sie, Herr Schmoll, waren bei diesem Treffen ebenfalls anwesend. Dafür gibt es Zeugen. Also, wer waren die Männer und worum ging es in der Unterhaltung?«

»Darüber darf ich nicht sprechen, das ist geheim. Wir haben diesbezüglich seitens der Militärbehörde klare Befehle erhalten. Schon der Hinweis auf das Militär ist eigentlich zu viel. Ich darf Ihnen dazu nichts sagen. Verstehen Sie doch!«

Der Kommissar betrachtete den Mann aufmerksam. Auf dessen Stirn hatten sich Schweißtropfen gebildet, der Blick irrte durch den Raum und die linke Hand zitterte unkontrolliert. Der Kerl war hochgradig nervös und hatte eindeutig Angst – doch vor wem oder was? Jedenfalls war im Augenblick kaum mehr aus ihm herauszubekommen.

»Sie können gehen«, entschied er, »aber halten Sie sich, wie gesagt, für weitere polizeiliche Ermittlungen zur Verfügung! Sonst muss ich Sie in Haft nehmen!«, fügte Gennat drohend hinzu.

Hastig verließ Gustav Schmoll den Raum und zog sich in seine kleine Wohnung im Nebentrakt der Villa zurück.

Eine militärische Angelegenheit? Falls der Sekretär die Wahrheit gesagt hatte, konnte der Fall höchste Brisanz haben. Der Kerl hatte nicht gewirkt, als ob er löge. Vielleicht sollte er mit Major Nicolai Kontakt aufnehmen? Wenn einer in militärischen Dingen und vor allem über Verschlusssachen Bescheid wusste, dann der Chef der Abteilung III b im Generalstab. Der Kommissar warf einen Blick auf die Uhr. Fast eins, eine unchristliche Zeit, um über Mord zu reden. Gleich morgen früh um sieben wollte er Nicolai aufsuchen, das würde reichen. Gennat beendete die Untersuchungen, schickte seine Leute heim und kehrte selbst in sein Büro am Alex zurück, wo er sich in seiner Kleidung aufs Sofa warf und umgehend einschlief.

»Aufgewacht, Herr Hauptmann! Sie sind hier nicht in einem Hotel.«

Wedigo von Wedel schreckte von seinem harten Schreibtischlager hoch. Vor ihm stand sein Vorgesetzter Major Nicolai. Trotz der feldgrauen Uniform wirkte dieser wie immer akkurat gekleidet. Kein Stäubchen bedeckte die gebügelte Hose und den Waffenrock; auch ohne die blaue Friedensmontur erschien der Major in jeder Hinsicht salonfähig. Nicolai besaß klare, strenge Gesichtszüge und eine hohe Stirn; der obligatorische dunkle Schnurrbart war kurz geschnitten genau wie das an den Schläfen lichter werdende Haar. Kurz, er war der Prototyp eines preußischen Offiziers.

Wedigo salutierte: »Guten Morgen, Herr Major. Ich muss wohl eingeschlafen sein …«

»Kann passieren, Akten zu studieren, und dies noch spätabends, hat oft eine einlullende Wirkung. Damit ist jetzt Schluss, auf uns wartet eine neue, überaus brisante Aufgabe. Kommen Sie, aber zuvor richten Sie sich etwas, uns erwartet eine Ihnen nicht unbekannte Dame!«

Mit dieser Andeutung verließ der Major das Büro und schloss die Tür. Wedigo trat vor den kleinen Spiegel, der etwas versteckt in der Ecke hing und betrachtete sich kurz. Das matte Glas zeigte ihm einen hochgewachsenen Mann von bald 27 Jahren, dessen dunkelblondes Haar militärisch kurz und in der Mitte gescheitelt war. Aus dem scharfgeschnittenen Gesicht blickten ihm zwei graublaue, heute leicht müde wirkende Augen entgegen. Der Schnurrbart war sauber gestutzt, sonst … Er fuhr sich prüfend über das Kinn, sonst allerdings hatte er eine Rasur dringend nötig, und auch die Frisur wie die Uniform wirkten leicht derangiert. Wedigo wandte sich ab und dem Schreibtisch zu. Dort holte er aus einem Schubfach eine Kleider- und als zweites eine Haarbürste hervor. Er strich sich die Haare glatt, richtete die Montur und entfernte mit der Bürste einige Fusel. Das Ganze hatte kaum zwei Minuten in Anspruch genommen; schon verließ der Hauptmann sein Zimmer und begab sich zu den Büroräumen des Majors.

Er klopfte kurz, öffnete die Tür und trat ein. Es handelte sich um zwei größere Zimmer. Beide rochen nach Zigarren, Waffenöl, alten Akten und Fotochemikalien. In der Mitte des größeren Zimmers stand ein breiter Schreibtisch, auf dem sich jetzt mehrere schwarze Fernsprechapparate befanden, über die eine direkte Verbindung zu anderen militärischen Dienststellen ohne zivile Vermittlung möglich war. Vorn lag als Unterlage eine grüne Lederplatte, auf ihr waren ein Dutzend gespitzter, akkurat in einer Reihe angeordneter Bleistifte sowie ein Füllfederhalter zu sehen. Daneben standen ein Tintenfass, ein Löschpapierhalter aus dunklem Marmor und eine Zigarrenkiste mit der Aufschrift »Havanna«, die persönliche Ablage des Majors. Die Wände bedeckten Karten: Ein Stadtplan des Großraums Berlin aus der Beilage zum Adressbuch von 1917, eine militärische Karte des Reichs mit allen Garnisonen. Dazu Karten der verschiedenen Kriegsschauplätze. Vor allem von der Westfront, aber auch der Osten, die Balkanfront und die Südfront gegen Italien wurden gezeigt. Die aktuellen Frontlinien waren durch rote und blaue Markierungen dargestellt. Die riesige Afrikakarte mit den deutschen Kolonien war nach dem militärischen Verlust der Gebiete vor kurzem entfernt und durch eine Ostafrikakarte ersetzt worden. Dort leistete Nicolais alter Kamerad Paul von Lettow-Vorbeck mit seinen eingeborenen Askaris einer englischen Übermacht noch immer heldenhaft Widerstand. Auf den an der Seite stehenden, halbhohen Schränken lagerten vielfältige technische Geräte und Werkzeuge, vor allem optische Instrumente und diverse Filmkameras.

Auf den Besuchersesseln saßen zwei Personen, die Wedigo hier und zu dieser frühen Stunde, die Taschenuhr zeigte gerade halb acht, nicht erwartet hätte. Die Gräfin Walewska, frisch und strahlend im adretten dunkelblauen Kostüm, lächelte ihn an. Was machte Melissa hier? Nach einem Ball pflegte sie sich sonst nicht vor dem Mittag aus den Federn zu erheben. Die zweite Person irritierte ihn noch mehr. Der Sessel barg die fast überquellende Gestalt Kommissar Ernst Gennats. Der Kriminalist wirkte müde und zerknittert, besonders im Kontrast zu Melissa.

»Guten Morgen, Wedigo«, begrüßte ihn Melissa. »Ich habe mir beinahe Sorgen gemacht, als ich von Paulsen hörte, du seist heute Nacht nicht nach Hause gekommen.«

Paulsen war seit einem Jahr sein Diener, ein pfiffiger Bursche, auf den er sich verlassen konnte. Zu dumm, dass er vergessen hatte, den Mann zu informieren.

»Aber ich dachte mir schon, dass du nicht den Reizen einer Schönen, sondern den Akten erlegen bist«, stichelte Melissa.

»Kommen wir zur Sache«, unterbrach der Major das Geplänkel. »Wir haben einen neuen Fall. Es handelt sich, genauer gesagt, um Mord. Der Großkaufmann Samuel Levin ist gestern Abend gewaltsam zu Tode gebracht worden. Kommissar Gennat hat den Fall übernommen und Gräfin Walewska war sozusagen Augenzeugin des Geschehens.«

»Ich verstehe nicht, Herr Major. Seit wann kümmern wir uns um Kriminalfälle?«, fragte Wedigo überrascht. Primär beschäftigte sich die im Kriegsministerium befindliche Abteilung III b mit geheimdienstlichen Angelegenheiten und vor allem mit der Abwehr feindlicher Spionage. »Und ist nicht gleich um acht eine Besprechung bei General Ludendorff angesetzt?«

»Warten Sie gefälligst ab, bis Sie alle Informationen gehört haben, Herr Hauptmann«, wies ihn Nicolai zurecht, der es nicht schätzte, unterbrochen zu werden. »Die Besprechung wurde seitens des Generals aufgrund der militärischen Lage in der Champagne kurzfristig verschoben. Aber kommen wir wieder zur Sache. Wir alle wissen, welchen Stellenwert in diesem Krieg die Logistik einnimmt. Ohne die permanente Versorgung der kämpfenden Truppen mit Nachschubgütern wie vor allem Munition und Waffen, aber eben auch Nahrungsmittel, Kleidung und Ausrüstungsgegenstände ist dem Drängen der Feinde nicht standzuhalten. Dies insbesondere, da die Briten seit Kriegsbeginn unsere Küsten blockieren und jede Zufuhr von Gütern unterbunden haben. Auch der heldenmütige Kampf unserer ruhmreichen Flotte letztes Jahr bei Skagerrak hat dies nicht ändern können. Sie selbst, Kamerad von Wedel, haben das Geschehen aus unmittelbarer Nähe miterlebt. Unsere Konter, der Kampf unserer U-Boote gegen die Lieferungen nach England, sind zwar überaus erfolgreich, haben die Blockade jedoch nicht brechen können und uns zudem die Amerikaner auf den Hals gehetzt. Nun, Seine Majestät sagten zwar: ›viel Feind, viel Ehr‹, doch ich fürchte allmählich, es wird zu viel der Ehre. Wie dem auch sei«, der Major schien kurz nach dem Faden zu suchen und stockte. Er fand ihn offenbar und sprach weiter. »Wir müssen unseren Nachschub vor feindlicher Sabotage schützen und bewahren. Damit sind wir wieder bei unserem Fall. Dem toten Levin ist es gelungen, außerhalb unserer militärischen Logistik und Verwaltung eigene Nachschublinien aufzubauen. Vor allem stellte er die reibungslose Zufuhr von Getreide und Erzen aus Skandinavien, dem Balkan und der Ukraine sicher. Über seine Methoden und Kontakte wahrte Levin striktes Stillschweigen; er sprach von Geschäftsgeheimnissen, die nicht weitergegeben werden dürften. Seine Ermordung ist somit ein Angriff auf unsere interne und bis dahin nicht bekannte zweite Nachschublinie. Dies besonders auch angesichts der aktuellen Probleme. Wir sollten daher den Mörder möglichst rasch dingfest machen und zudem Levins Kontakte aufspüren, damit es nicht zum Zusammenbruch von Teilen unserer Versorgung, vor allem im Nahrungsmittelsektor, kommt.«

»Schon seltsam, welch zentrale Rolle für die Geschicke eines Landes eine einzelne Person zu spielen vermag«, meinte die Gräfin. »Wenn ich an unseren letzten Auftrag denke und inwieweit die Zukunft Russlands möglicherweise von Wladimir Iljitsch Uljanow abhängt, dem Mann, dessen Auftritt Herr von Wedel und ich vor kurzem in Petrograd erlebt haben. Jetzt kommt das eigentlich Verrückte. Unser Ermordeter besitzt große Ähnlichkeit mit dem Revolutionär, und ich habe gehört, wie einer der Kaftanträger ihn mit ›Herr Lenin‹ ansprach.«

»Das ist das Pseudonym Uljanows«, rief der Major. »Teufel auch, Sie entschuldigen, Gräfin, das nenne ich in der Tat einen außergewöhnlichen Zufall.«

»Sie hatten gestern Abend nichts von dem Namen erzählt«, schaltete sich Gennat ein.

»Mir ist der Sachverhalt erst heute früh wieder eingefallen«, erwiderte Melissa leichthin.

»Es stimmt«, meinte Wedigo, »Samuel Levin sieht beziehungsweise sah unserem Russen überaus ähnlich.«

»Könnte eine Verwechslung mit diesem Herrn Uljanow vorliegen?«, fragte Gennat interessiert.

»Der betreffende Herr befindet sich derzeit in Petrograd oder Moskau«, erklärte Nicolai. »Er dürfte als eigentliches Opfer ausfallen. Wobei ich mögliche Zusammenhänge nicht ausschließen will. Und ich denke, es ist eine gute Idee, die Untersuchung unter dem Decknamen ›Lenin‹ zu führen. Aufgrund der Brisanz der Angelegenheit wird die Abteilung III b den Fall übernehmen. Natürlich unterliegt alles einer strikten Geheimhaltung. Am besten, Herr Kommissar, wäre es, wenn Sie irgendjemanden verhaften, um die Öffentlichkeit zu beruhigen und die Aufmerksamkeit abzulenken. Im Berliner Tageblatt findet sich zum Glück noch nichts über den Mord, und wenn es nach mir ginge, könnte dies auch so bleiben.«

Der Major zog aus seiner Aktentasche die aktuelle Ausgabe vom 21. Mai hervor und warf sie auf den Tisch. »Englische Angriffe an der Scharpe abgeschlagen« lautete die Überschrift. Neben den Berichten von den Kriegsschauplätzen fand sich ein Artikel zum Todesurteil im Prozess Friedrich Adlers, des Mörders des österreichischen Ministerpräsidenten Graf Stürgk, aber keine Zeile über Samuel Levin.

»Der Sekretär kommt mir ziemlich verdächtig vor«, sagte Gennat grinsend. »Wenn ich ihm auch keinen Mord zutraue, ein Gauner ist der Mann allemal.«

»Gut, dann hätten wir das geklärt. Ich danke Ihnen, Herr Kommissar, für Ihre Unterstützung, wir sollten uns täglich austauschen. Bis bald.«

Der Kriminalpolizist sah sich entlassen und erhob sich. Er verabschiedete sich von Melissa galant mit einem Handkuss und verließ das Büro. Nicolai wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte, dann sprach er weiter.

»Wir sollten uns darüber klarwerden, warum Levin getötet worden ist. Da es sich dabei durchaus um militärische Geheimnisse handelt, habe ich Gennat nicht miteinbezogen.«

»Das hat der gute Mann gemerkt«, warf die Gräfin ein, »und sich bestimmt seinen Teil gedacht.«

»Ich kann nicht die halbe Welt in die Besonderheiten unserer Arbeit einweihen«, erwiderte Nicolai unwirsch. »Wir sind Militärs und keine gottverdammten Zivilisten. Entschuldigen Sie, Gräfin, meine Ausdrucksweise, aber so ist das.«

»Da habe ich richtig Glück, als Zivilperson, die zudem weiblich ist, an Ihrem Männerrat teilnehmen zu dürfen«, spöttelte Melissa.

»Bei Ihnen ist es etwas völlig anderes, Gnädigste«, beeilte sich Nicolai zu sagen. Er wusste, was er an der Gräfin hatte. Ihre Art der Nachrichtenbeschaffung war stets effektiv gewesen und hatte hervorragende Ergebnisse gebracht. Ganz anders als bei seiner Agentin H 21, Mata Hari, die viel Glanz verbreitet und Geld verbraucht, aber kaum Brauchbares zu liefern vermocht hatte. Zudem war die schöne Tänzerin im Februar von der französischen Polizei verhaftet worden und saß aktuell, wie er wusste, im Frauengefängnis Saint-Lazare, wo sie auf ihren Prozess wartete. Nein, Gräfin Maria Walewska war eine ganz andere Klasse, und vor allem ihre letztjährigen Aktivitäten in der Schweiz im Umfeld von Lenins Frau Nadeschda Krupskaja hatten sich für das Reich mehr als ausgezahlt.

»Also, es geht um die Motivlage unseres Täters beziehungsweise unserer Täter«, sprach der Major weiter. »Dass der Mord als Sabotage unserer inneren Logistik zu sehen ist, haben wir bereits festgestellt. Was gäbe es noch, außer privaten Motiven, die wir aber vorerst vernachlässigen können?«

»Im Hause Levin wurde und wird sehr gut gelebt«, sagte die Gräfin langsam. »Auf den Tischen standen Speisen und Weine, die in Friedenszeiten auch in den besten Häusern nur selten zu finden sind. Das Geschäft des Herrn Großkaufmann muss sehr einträglich gewesen sein.«

»Du denkst an einen neidischen Konkurrenten?«, fragte Wedigo.

»Auch, aber nicht unbedingt. Möglicherweise war Samuel Levins Handel nicht ganz koscher, um ein wenig in der Sprache seiner Glaubensbrüder zu bleiben.«

»Kaufmännische Fähigkeiten haben trotz der Rothschilds und anderen Finanziers nichts mit der mosaischen Religion zu tun«, erwiderte Nicolai, der in diesen Dingen sehr tolerant war und Vorurteile wenig schätzte.

»Das meinte ich nicht«, verteidigte sich die Gräfin. »Ich dachte eher daran, dass ab und zu etwas von dem großen Warenstrom abgezweigt wurde, und dies nicht nur zum privaten Konsum.«

»Sie denken an den Schleichhandel, eine interessante Idee«, überlegte der Major. »Gab es da nicht einen Fall in den Unterlagen, die Sie gestern Abend durchgearbeitet haben, Herr Hauptmann?«

»Mir ist ein Vermerk über mangelnde Zufuhr von Kartoffeln aufgefallen und etwas über die Brotausgabe, die als unzureichend bezeichnet wurde. Ferner gab es ein Dokument über die schlechte Schlachtqualität von Schweinen. Und einen Bericht über den organisierten Brotkartenklau.« Wedigo überlegte einen Augenblick, bis er weitersprach. »Ach ja, aus Rumänien sollten 30.000 Zentner Getreide herbeigebracht werden, es sind per Schiff aber lediglich 9.000 Zentner in Westfalen eingetroffen. Offenbar gab es schon mehrfach Probleme mit den Lieferungen aus dem Balkan. Da beinhalten die Akten einen Bericht von Oberstleutnant von Schwartzkoppen über einige Zehntausend Tonnen von Leicht- und Schwerbenzin aus Contantza. Auch da scheint beim Versand über Cernavoda eine größere Menge nicht im Reichsgebiet angekommen zu sein.«

»Genau diese Informationen meine ich«, bestätigte Nicolai. »Gehen Sie der Sache mit dem Getreide und dem Benzin nach, vielleicht gibt es Verbindungen zu Levins Unternehmen, vielleicht ist das Ganze auch harmlos. Am besten, Sie suchen die Geschäftsräume Levins in der Köpenicker Straße auf. Ich selbst werde mich mit dem Staatssekretär im Reichsschatzamt in Verbindung setzen, Graf von Roedern. Möglicherweise erfahre ich etwas über finanzielle Transferleistungen, also die Geldströme, die in Levins Gesellschaft geflossen sind.«

»Harmlos?«, griff Maria Walewska die Aussage von Nicolai auf. »Wenn die Ungleichheit bei der Versorgung nicht umgehend endet, wird die Stimmung der Bevölkerung bald vollständig kippen. Immer öfter höre ich, alles werde für die Reichen, für die Besitzenden reserviert. Die schönen Reden vom Durchhalten gelten nur für die arbeitende Klasse, die herrschende Klasse hat sich mit ihrem Geldsack schon genügend versorgt. In Russland ist die Revolution aus eben diesen Gründen ausgebrochen. Vor allem das offenkundige Versagen der Polizei- und Aufsichtsbehörden bei der Bekämpfung des ›Schleichhandels‹ empfinden viele als Verstoß gegen das Gebot sozialer Gerechtigkeit.«

»Sie haben gewiss recht, Gräfin«, lenkte der Major ein. »Die Achtung für Recht und Gesetz lässt seit Kriegsbeginn in einem beängstigenden Maße nach. Diebstähle oder Fälschungen von Lebensmittelkarten sind an der Tagesordnung. Die Strafen schrecken kaum noch ab, Hunger schafft seine eigenen Gesetze, gegen die alle Vorschriften und Sanktionen nichts ausrichten. Gerade deswegen müssen wir dem Fall mit allen uns zur Verfügung stehenden Mittel nachgehen und ihn aufklären. Nach dem, was Sie von dem gestrigen Fest berichtet haben, liegt die Annahme nahe, dass hier einiges nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. Sie hören sich am besten im Hause Levin um, immerhin sind Sie mit der Tochter bekannt. Also, legen wir los!«

Wedigos Bursche Paulsen wurde kurzerhand ins Ministerium beordert, um ihn zu rasieren und frische Wäsche zu bringen. Im Dienstwagen, einem älteren Horchmodell von 1910, brach der Hauptmann in die Köpenicker Straße auf, wo die Firma Samuel Levin und Kompagnon ihren Sitz hatte. Die Lage war für ein Unternehmen günstig, weiter unten hatten sich mehrere Fabriken angesiedelt, untere anderem die Norddeutschen Eiswerke. Die Spree und der Viktoriaspeicher befanden sich in der Nähe, eine ideale Situation für eine Gesellschaft, die ihr Geld mit In- und Exporten verdiente. Begleitet wurde der Offizier von Nicolais unermüdlichem Mitarbeiter Schneidmann, der Anfang des Monats überraschenderweise vom Feldwebelleutnant zum Leutnant befördert worden war – für einen ehemaligen Unteroffizier ein riesiger Karrieresprung, wie er nur in Kriegszeiten denkbar war. Schneidmann hatte das Offizierspatent in jeder Hinsicht verdient, doch Wedigo war sicher, dass die Beförderung ohne Nicolais mehrfaches Intervenieren bei der Personalstelle kaum zustande gekommen wäre. Der frisch gebackene Leutnant hatte sich von seiner im letzten Jahr vor Verdun erhaltenen Verwundung gut erholt. Das Markanteste an ihm war noch immer der gewichste Bart, den er wie der Kaiser mit hochgezwirbelten Spitzen trug. Der Hauptmann kannte ihn seit Jahren, beide hatten diverse Abenteuer miteinander erlebt und bestanden. Wedigo schätzte den ruhigen und zuverlässigen Mann und seine Qualitäten sehr und vertraute ihm in jeder Hinsicht.

Der Fahrer, ein Gefreiter, hielt vor der Nr. 16, einem breiten Backsteingebäude im Stile einer Burg mit einem Rundturm und ausladendem Entree. Auf dem Hof vor dem Tor sah man einige Frachtwagen stehen, deren Ladung aus Fässern, Kisten und Ballen bestand. Rechts waren mehrere Karren aufgereiht, an einem Schuppen lehnte ein Fahrrad. Ein Trupp von Kriegsgefangenen, bewacht von einigen Soldaten, die ihre Gewehre lässig mit der Mündung nach unten umgehängt hatten, entlud die Wagen. Die arbeitenden Männer hatten schmale, eingefallene Gesichter und wirkten ausgehungert und erschöpft. Mitten unter ihnen befand sich ein riesengroßer, breitschultriger Kerl mit Lederschürze und einem Haken im Gürtel. Er war kein Gefangener, sondern eine Art Vorarbeiter und trug die schwersten Lasten ohne Anstrengung. Die Szene hatte bei aller Betriebsamkeit etwas Nachlässiges. Die Soldaten rauchten, die Mützen saßen schief, die Uniformen hingen an ihnen wie nasse Säcke oder Lumpen, und sie machten keine Anstalten, die beiden Offiziere zu grüßen. Wedigo warf Schneidmann einen kurzen Blick zu, aber dieser brauchte die Aufforderung nicht, sondern trat bereits auf den Obergefreiten zu, der offenbar den Wachtrupp befehligte.

»Herr Obergefreiter, grüßen Sie gefälligst und machen Sie Meldung, wenn Sie Offiziere sehen!«

Der Mann antwortete nicht, grinste nur und rauchte weiter. Ein zweiter Soldat nahm wie zufällig sein Gewehr von der Schulter und hielt es so, dass die Waffe in Richtung des Leutnants wies. Zwei andere traten auf Wedigo zu. Schneidmann, der die Aktion des ersten aus den Augenwinkeln wahrgenommen hatte, wandte sich zur Seite, als ob er sich zurückziehen wollte. Mit einer schnellen Drehung sprang er plötzlich nach vorne, packte den ungehorsamen Soldaten am Kragen und versetzte ihm zwei kräftige Ohrfeigen, ehe dieser fassen konnte, was mit ihm passierte. Dann riss er ihm die Waffe von der Schulter und schwenkte zur anderen Seite, um den Soldaten mit dem gesenkten Gewehr ins Visier zu nehmen. Während dies geschah, hatte der Hauptmann seine Dienstwaffe gezogen und auf die sich ihm nähernden Männer gerichtet.

»Stillgestanden!«, kommandierte er mit scharfer Stimme. »Gewehr über!« Der in Fleisch und Blut übergegangene Drill ließ die Soldaten sofort gehorchen.

»Gut«, sagte Wedigo. »Warum nicht gleich so? Obergefreiter, Sie sind festgenommen. Sie da«, er deutete auf einen Soldaten, der sich im Hintergrund gehalten und die Ereignisse mit weit aufgerissenen Augen verfolgt hatte, »wie heißen Sie?«

»Landsturmmann Herrmann, 2. Landsturm-Kompanie, Herr Hauptmann!«, kam es wie aus der Pistole geschossen.

Ein Landsturmmann, erst jetzt fiel Wedigo auf, dass die Soldaten deutlich älter waren. »Sie übernehmen ab sofort das Kommando!«

»Jawohl, Herr Hauptmann!«

»Den Obergefreiten sperren Sie in einen sicheren Raum ein!«, befahl Schneidmann.

»Jawohl, Herr Leutnant! Achtung!«

Die Männer standen stramm und salutierten, während die Offiziere die Szene verließen und in das Backsteingebäude traten. Alles eine Frage der Disziplin, dachte Wedigo, derartige Situationen hätte es vor dem Krieg nicht gegeben.

Es öffnete sich ein riesiger Raum, in dem große Betriebsamkeit herrschte. Leiterbäume wurden geschwenkt und klirrten mit Ketten. Es roch stark nach Leder, Schmierfetten und Essig. Ältere Arbeiter rollten Fässer und schnürten Ballen mit dicken Stricken zusammen. Dazwischen eilte der Commis des Kontoristen, einen Stift hinter dem linken Ohr und Papiere in der Hand, geschäftig hin und her. Etliche Frauen in blauen Blusen nahmen die Papiere, die Waren, Ballen und die Fässer in Empfang, um sie dann eigenhändig in Karren zu verladen. Im bald vierten Jahr des Krieges mangelte es überall an Arbeitskräften und immer mehr Frauen kamen zum Einsatz, so in den Munitionsfabriken, in der Landwirtschaft oder als Straßenbahnschaffnerinnen und bei der Post.

Im Zentrum des Geschehens stand ein älterer Herr mit entschlossener Miene und kurzen Worten, der als Symbol seiner Herrschaft einen schwarzen Pinsel in der Hand hielt, mit dem er Zahlen und Buchstaben auf Ballen und Fässer malte. Schneidmann wandte sich an ihn und fragte nach dem Kontoristen. Der Alte antwortete nicht, sondern deutete bloß auf eine Tür im Hintergrund. Wedigo ging, gefolgt vom Leutnant, auf diese zu, klopfte kurz und öffnete, ohne auf ein Herein zu warten. Ein großer Mann mit faltigem Gesicht, stehendem Hemdkragen und englischem Aussehen blickte unwillig über die Störung von seinem Schreibtisch auf. Als er die Uniformen erkannte, erhob er sich rasch und trat auf die Offiziere zu.

»Schröter mein Name, Leutnant der Reserve. Gehörte zum 1. Aufgebot der Infanterie im Landwehrbezirk III Berlin. Bin seit Baranowitschi nicht mehr kriegstauglich.«

Jetzt erst sah Wedigo, dass der linke Ärmel des Mannes leer herabfiel. Schröter bemerkte den Blick und nickte.

»Schlachten fordern Opfer«, sagte er, »und mancher hat mehr als einen Arm an der Ostfront gelassen. Aber zur Sache, was kann ich für Sie tun, meine Herren?«

»Hauptmann von Wedel vom Kriegsministerium und Leutnant Schneidmann«, stellte Wedigo vor. »Sie wissen vielleicht schon, Herr Schröter, dass Samuel Levin, der Firmeneigner, gestern Abend ums Leben gekommen ist. Da Herr Levin einen wichtigen Beitrag zur Versorgung von Armee und Bevölkerung leistete, hätten wir einige Fragen und würden gern auch die Bücher sehen.«

»Verstehe«, erwiderte Schröter. »Natürlich weiß ich von Herrn Levins Tod und auch, dass er ermordet worden ist. Deswegen sind Sie wohl hier. Sie vermuten Sabotage und wollen die Angelegenheit direkt vor Ort prüfen. Ich verstehe«, wiederholte er. »Kommen Sie mit, ich werde Ihnen alles zeigen.«

Mit diesen Worten wandte Schröter sich ab und öffnete eine seitliche Tür, die nach einem zweiten, größeren Kontor führte. Dort waren mehrere Damen unter der Aufsicht eines graubärtigen Kanzlisten in grünem Rock mit Schreibarbeiten beschäftigt. Ihre Stifte und Tintenfederhalter eilten geradezu über das blaue Büropapier. Auch durch den Eintritt Schröters und seiner Begleiter ließen sie sich nicht stören und schrieben in ihrem Tempo weiter. Der Kontorist winkte dem Alten zu.

»Müßfeld, kommen Sie mal, ich brauche Ihr profundes Wissen. Führen Sie die Herren Offiziere zu den Büchern und legen Sie alles vor, was den Warenverkehr mit den Militärbehörden betrifft. Sie können das System am besten erklären. Ich, meine Herren, erlaube mir, Sie in meinem Büro zu erwarten, um Ihnen etwaige weitere Fragen zu beantworten.«

Schröter verneigte sich und kehrte in sein Zimmer zurück. Der Graubärtige streifte die braunen Ärmel ab, die er als Schutz vor Tinte und Schmutz trug, strich sie sorgfältig glatt und schloss beide mit einem Haufen Papiere in sein Pult ein.

»Wenn die Herren mir bitte folgen!«

Er schritt durch eine weitere Tür des Kontors, die in einen halbdunklen, staubigen Raum mit den Maßen 10 auf 12 Meter führte, der vom Boden bis zur Decke mit Regalen angefüllt war. In ihnen lagen die Kontobücher, »seit 1855«, wie Müßfeld voller Stolz verkündete.

»Ich werde Ihnen alles genau erklären. Kommen Sie bitte!«

Doch gerade, als er Wedigo und den Leutnant zum Platz der Jahrgänge 1914 bis 1917 führen wollte, krachte es laut. Das direkt vor ihnen befindliche Regal wankte und neigte sich nach vorn auf sie zu. Hauptmann von Wedel reagierte augenblicklich. Er wandte sich in einer schnellen Bewegung zur Seite, riss Schneidmann dabei mit, und beide Männer warfen sich nach unten in den Schutz eines Tisches. Schon stürzten die Buchmassen, alles zerschmetternd, zu Boden, und der Raum versank in einer grauen Staubwolke. Wie im Nebel sah Wedigo eine Gestalt von hinten aus der Tiefe des Lagers kommen und sich an ihnen vorbei zum Ausgang drängen. Der Hauptmann sprang auf und eilte dem Schemen hinterher.

»Kümmern Sie sich um den Alten, ich nehme die Verfolgung auf«, rief er Schneidmann zu und spurtete los.

Der Flüchtende rannte, Stühle umwerfend, quer durch den Schreibsaal und bog dann durch eine seitliche Tür in einen sich anschließenden Hofraum. Der Offizier blieb ihm hart auf den Fersen. Im Hof wandte sich der Flüchtende zu einem Hintergebäude, eilte ins Innere und hastete dort über eine ausgetretene Treppe nach oben in den zweiten Stock. Schon riss der Mann eine weitere Tür auf, die einzige auf dieser Etage. Wedigo, der auf der Treppe gestolpert war, sonst hätte er ihn schon gepackt, grinste. Jetzt hatte er den Kerl! Er eilte ins Zimmer – und hielt verblüfft inne. Im Raum befand sich niemand, und die Fenster, die er sofort überprüfte, waren von innen geschlossen. Es war ein kleines Zimmer, seine Einrichtung einfach und gebraucht. Vor den Fenstern hingen, jetzt zurückgezogen, saubere weiße Gardinen und weiße Rouleaus. In der Ecke befanden sich zwei Stühle und ein Schreibtisch, darauf eine Venusfigur aus Gips, der jemand roten Lippen angemalt hatte. In der anderen standen hinter einem Vorhang zwei Betten und ein Schrank. Der Offizier zog die Schranktür auf, leer; er bückte sich und schaute unter die Betten: nichts! Nirgends zeigte sich ein Versteck, die Wände, die er abklopfte, waren massiv. Wedigo stand vor einem Rätsel. Noch einmal schaute er sich gründlich um und überprüfte alles, vergeblich. Schließlich verließ er verärgert das Zimmer und kehrte zum Kontor zurück.

Schneidmann hatte währenddessen Hilfe geholt, und gerade wurde der verletzte Kanzlist Müßfeld hereingetragen. Die Stirn des Mannes blutete, und er atmete schwer.

»Ich habe ihn unter einem Regal hervorgezogen«, berichtete Schneidmann. »Der Brustkorb war eingeklemmt.«

»Er muss sofort in die Charité«, wandte sich Wedigo an den Kontoristen.

»Unser Horch steht draußen. Lassen Sie Herrn Müßfeld zum Wagen bringen, einer Ihrer Leute mag ihn begleiten, Herr Schröter! Wir haben hier noch zu tun.«

Schröter veranlasste alles Notwendige, und die beiden Offiziere kehrten in den Ablageraum zurück, um sich dort, wie ursprünglich geplant, die Bücher anzusehen. Zu ihrer Unterstützung ließ der Hauptmann einen der Landsturmmänner mitgehen.

»Der Kerl ist mir entkommen«, informierte Wedigo den Leutnant, »der Himmel weiß wie, plötzlich war der Mann verschwunden.«

»Den werden wir schon noch fassen«, meinte Schneidmann, »uns ist selten einer durch die Lappen gegangen.«

Im Aktenzimmer herrschte das reine Chaos. Mehrere Regale waren umgestürzt worden, die Kontobücher lagen kreuz und quer zerstreut und alles bedeckte eine gräuliche Staubschicht.

»Was immer unser geheimnisvoller Fremder gesucht hat, er ist, ohne es gefunden zu haben, geflohen. In der Hand hatte er nichts. Es sei denn …«