Wandler - Das Erwachen - Benedikt Stigger - E-Book

Wandler - Das Erwachen E-Book

Benedikt Stigger

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Beschreibung

"Man kann auch übertreiben, musstest du ein Loch in den Baum brennen?" Als der junge Mann Atros, die verwaiste Elfe Vita und der waghalsige Zwergenprinz Ordhin von einem magischen Blitzschlag getroffen werden, verändert sich alles. Eine alte Prophezeiung, ein längst vergessener Magierorden und die gefährlichen Schattenwesen machen ihnen das Leben schwer. Aber hey, mit Magie kann man eine ganze Menge verrücktes Zeug machen... und sich in Drachen zu verwandeln ist auch nicht so schlecht. Auf die Drei wartet eine große Herausforderung, zumindest kann ihnen ihr neuer (aber uralter) Lehrmeister dabei behilflich sein. Hoffentlich zumindest. Und vielleicht schafft Ordhin es endlich, die Schatten seiner Vergangenheit zu überwinden, Atros sucht eine neue Bestimmung nach dem Tod seines Großvaters und Vita... naja, die kann man mit Büchern über Magie recht einfach zufriedenstellen. Fantasy-Epos, der uns in die mystische Welt von Taleatus, dem Schauplatz der "Wandler"-Reihe, entführt.

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Seitenzahl: 522

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Für Anna

Mein Ein und Alles, im wahrsten Sinne des Wortes: Meine Partnerin, meine bessere Hälfte, meine Lektorin, meine Illustratorin und so viel mehr. Diejenige, die meinen Worten mit ihren Zeichnungen Leben einhaucht und immer für mich da ist. Danke für alles.

<3

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

PROLOG

Dunkelheit.

Einsamkeit.

Ein jahrtausendealter Schmerz quälte ihn in seinem Zustand, der mehr oder minder komatös war. Alles Gute, das er jemals gehabt hatte, war längst verschwunden, es gab keinen Lichtblick am Horizont, der das Leben in seinen momentan noch schuppigen Körper bringen konnte.

Doch plötzlich war dort etwas.

Ein Funke in der Finsternis.

Träge versuchte er, ihn einzufangen, das Licht, den fehlenden Schimmer an Hoffnung.

Hoffnung.

Dieses Wort belebte ihn, wie eine Erfrischung verbreitete es sich in ihm. Von der Schnauze bis zur Schwanzspitze fühlte er die Energie. Der Körper des Alten richtete sich auf und er schüttelte den Staub der letzten Zeit von sich herunter. Als er mit seinen Schwingen ein wenig Wind erzeugte, umgab ihn eine große Staubwolke, die sich langsam zum Boden hinab senkte.

Er hustete.

Die hellblauen Schuppen funkelten jetzt schon wieder fast wie in längst vergangenen Zeiten. Der Drache versuchte, sich darauf zu besinnen, wann das letzte Mal Bewegung in seinen inzwischen trägen Körper gekommen war. Anhand von Staub und Schmerzen tippte er auf mehrere Jahrhunderte, vermutlich zwischen fünf und acht. Schlafend verging die Zeit einfach so schnell.

Nun sah er, was ihn erweckt hatte: es war der Erweckungszauber, wie ironisch. Doch bevor der Alte sich auf jenen konzentrierte, wollte er endlich wieder seine Form wandeln. Voller Erleichterung gab er sich der Magie hin, und da war er wieder. Das Menschsein gefiel ihm schon immer mehr, es war viel natürlicher. Andere hatten den Drachen präferiert, doch er war keine dieser Personen.

Probeweise bewegte er seine Finger und strich dann sein Gewand glatt. Eine Angewohnheit, die er nicht mehr loszubekommen schien. Das Stoffband um seine Hüfte rückte er gerade. Es war silberfarben, durchzogen von schmalen schwarzen Streifen, seinen Rang und Titel anzeigend. Dann ging er vorwärts in Richtung Altar. Auf seinem Weg dorthin sah er sich um.

Der Raum, in dem er so lange Zeit verbracht hatte, war dunkel, nur das pulsierende Licht vor ihm ließ die Finsternis weichen. Die Kratzspuren auf dem Marmorboden zeugten von den Spuren der Seinen und dem Alter dieses Ortes, der tief unter der Erde verborgen lag. Auch das dunkle Holz, aus dem die Stufen vor ihm bestanden, war alt und abgenutzt. Nichtsdestotrotz hatte die Magie diesen Ort gut konserviert, denn sonst wäre er längst zu Staub zerfallen.

Die Lichtkugel, die über dem Altar in der Mitte des Raumes schwebte, strahlte Hoffnung und Erneuerung aus, das Gefühl einer zweiten Chance. Er blieb kurz stehen, atmete tief ein und aus, dann rückte er sein Gewand schon wieder zurecht. Es war wirklich eine schlechte und zeitweise recht nervtötende Angewohnheit, die er sich in den letzten paar tausend Jahren angeeignet hatte.

Nun war er aber endlich bereit.

Zumindest so bereit, wie man angesichts der Lage sein konnte, in der er sich befand. Er trat endlich an das Licht heran und streckte seinen Geist aus. Er konnte es sehen, sogar bis in die Fingerspitzen fühlen und dies stimmte ihn unglaublich glücklich. Das, worauf er so lange gewartet hatte. Eine neue Generation, drei Personen.

Er fokussierte sich wieder auf seine Aufgabe, etwas nervös und doch erleichtert. Zu früheren Zeiten wäre es undenkbar gewesen, dass nur einer dieses Ritual vollzogen hätte, doch es waren besondere Umstände. Es war keiner mehr da, alle waren tot. Die Dunkelheit legte sich kurz wieder über ihn, in der Trauer um all jene, die in der Schlacht gefallen waren.

Schlacht? Wohl eher eine systematische Auslöschung des Ordens.

Doch darüber sollte er nun wohl nicht nachdenken, er wandte sich deshalb wieder seiner Aufgabe zu, wissend, dass der Zauber eigentlich auch ohne sein Mitwirken funktionieren würde. Man hatte es für möglich gehalten, dass niemand überlebt, daher diese Maßnahme.

Er konnte es sehen. Die Macht dieser Magie war jedes Mal aufs Neue beeindruckend. Die drei Ziele vor seinen Augen übernahm er die Kontrolle und lenkte den Zauber nach seinem Willen. Sein Wunsch war es, dass er nun wieder jemanden lehren konnte, der Wunsch, sein Wissen weiterzugeben, trieb ihn an. Der Alte wollte den Grundstein für eine neue Generation legen.

Es wurde dunkel in seinem Blick, doch dieses Mal nicht vor Trauer. Der Zauber tat sein Werk, es wurde immer dunkler und er spürte die Energie. Er zähmte diese unbändige Kraft. Zorn und Trauer lenkten ihn, doch auch der Optimismus, den er verspürte, half ihm zu tun, was getan werden musste.

Die Landschaften breiteten sich wie eine Karte unter ihm aus, er sah die Ebenen, Täler, Berge und Wälder. Er fühlte etwas so vertrautes und doch gehasstes, aber nun anders. Es war gut, durch und durch. Jetzt schuf er sie, umgab sich mit ihr, beherrschte sie.

Dunkelheit.

KAPITEL 1

„Oh verdammt, ein Sturm.“

Atros konnte es nicht glauben, es schien so, als wäre der junge Mann wie vom Pech verfolgt. Er war aufgebrochen, um Heilkräuter zu suchen und dabei zu jagen. Innerhalb der nächsten Wochen sollte es ununterbrochen regnen.

Zumindest war das die Meinung seines Großvaters. Dieser hatte sehr viel Wissen über das Wetter und beobachtete sowohl den Himmel als auch das Verhalten der Tiere seit Jahrzehnten. Außerdem war diese Zeit des Jahres generell eher verregnet. Atros sollte also so viele Kräuter und Pflanzen wie möglich finden und mitbringen, um ihren Vorrat aufzustocken. Niel, sein Großvater, half oft Leuten aus dem Dorf und der näheren Umgebung mit heilenden Mitteln. Er hatte unglaubliches Wissen und viele Jahre an Erfahrung, deshalb vertrauten ihm die Menschen.

Es gab natürlich einen Grund, warum Atros jene Pflanzen ernten sollte. Da der starke Regen hier meist die flach verwurzelten Gewächse wegspülte, musste man ihm zuvorkommen. In den höheren Gebieten der namenlosen Berge wuchsen wichtige Kräuter zur Fiebersenkung und Niel war noch nicht in der Lage, sie selbst zu züchten. Es war dafür vermutlich zu warm bei ihnen unten auf der Ebene.

Aber hier, in den tiefer gelegenen Teilen der Bergkette, ging es ihm eher um das Fleisch. Zwar sammelte er auch dort Pflanzen, doch das Jagen hatte Vorrang. Mit ein wenig Glück könnte er einen Hasen erlegen oder bei gutem Wind einen Vogel schießen, doch am höchsten standen die Chancen für ein Reh. Atros hatte gerade noch mit dem Gedanken gespielt, seinen Aufenthalt in den Bergen zu verlängern, um mit größerer Ausbeute an Fleisch zurückzukehren, als der Himmel begann, sich zu verdunkeln.

Wäre seine Jagd erfolgreich gewesen, hätte er es zerlegt und ausgenommen, die besten und größten Teile behalten, aber den Rest den Wölfen gelassen, die er Tag für Tag um sich herum hören konnte. Das Überlassen jener Stücke, für die es sich seiner Meinung nach nicht lohnte, das zusätzliche Gewicht zu schleppen, war zu einer Art Ritual geworden. Der junge Mann hatte seit einer Weile das Gefühl, dass die wilden Tiere ihn inzwischen erkannten und in Ruhe jagen ließen, vielleicht aber war dies nur bloße Einbildung.

Das Wetter machte ihm jedoch einen Strich durch die Rechnung. Er prüfte abermals, ob seine Tasche ganz geschlossen war, schließlich sollten weder Heilkräuter noch Fleisch nass werden. Der junge Mann, knapp dreiundzwanzig Jahre alt, begann immer schneller zu werden. Ihm war klar, dass er heute nicht mehr ankommen würde, dennoch wollte er so weit wie möglich und selbstverständlich primär aus dem Wald hinaus kommen.

Er lief immer schneller, stolperte plötzlich und rutschte einen kleinen Abhang hinunter.

„Mist!“ Er rappelte sich auf, wischte den Dreck von seiner ledernen Hose und wollte weiter Richtung Waldrand laufen, da hörte er es.

Donner.

Das Gewitter kam immer näher, er musste sich beeilen. Zu seinem Glück war der junge Mann nicht weit in den Bergen, doch eine letzte Anhöhe erhob sich noch vor ihm, bevor er zurück ins Flachland Richtung Othal laufen konnte.

Othal war ein relativ kleiner Ort, mit ungefähr achtzig Menschen, die dort lebten, zudem noch Bauern in alleinstehenden Höfen in der näheren Umgebung. Geografisch gesehen war die ganze bisher bekannte Welt ein Kontinent namens Taleatus, welcher sowohl geografisch als auch politisch nahezu genau gedrittelt war. Ganz westlich lebten die Menschen im Land Humanetum, dessen Hauptstadt die Metropole Regis war. Othal befand sich im Nordwesten, rund eine Tagesreise von der Grenze zum Land der Elfen entfernt. Das Land der Menschen hatte eine Vielzahl verschiedener Gebiete wie Berge und Täler, Wälder, Küsten, Seen und Flüsse. Dies gab seinen Einwohnern eine große Menge an Möglichkeiten, denn die zu erledigenden Arbeiten waren nahezu unbegrenzt. Egal ob Bauern, Bergarbeiter oder Professoren, jeder einzelne von ihnen konnte seiner Leidenschaft nachgehen.

Relativ weit nördlich an der Westküste, wo der nördliche Iedd in den Ozean mündete, waren hoch auf den Klippen über dem Meer die Zwillingsstädte Primpars und Secpars erbaut worden. Der Fluss floss zwischen ihnen tief in einer Schlucht, doch hoch oben standen diese Meisterwerke der Architektur. Sie waren räumlich getrennt, dennoch wirkten sie wie ein Spiegelbild ihres jeweiligen Gegenstücks und beherbergten die besten Universitäten und die mitunter größten Bibliotheken der gesamten Welt.

Die Heimat der Elfen, Silvoarum, hingegen war ein riesiger Wald, der seinen Einwohnern eine Menge natürlicher Ressourcen zur Verfügung stellte. Daher, und dank ihrer zentralen Lage, ergaben sich für sie eine Menge an Handelsbeziehungen mit den benachbarten Völkern. Des Weiteren waren die Elfen hervorragende Jäger und verstanden es, die Tierpopulation genau so stark zu dezimieren, dass immer genug zum Jagen vorhanden war. Doch ungeachtet all seiner Vorteile barg der Wald viele Gefahren, was dazu führte, dass eine Vielzahl der elfischen Städte schwer zugänglich und eher verborgen war, um den bestmöglichen Schutz zu haben. Aus eben jenen Gründen wagte kaum ein Mensch oder Zwerg die Reise zu dem Waldvolk, im Normalfall reisten die Elfen in die sie umgebenden Länder. Am meisten bewährt hatte sich für sie die Reise zu Wasser, zumindest den Iedd abwärts heraus aus Silvoarum.

Der Iedd entsprang in der Mitte von Taleatus, unter dem Mons Magicis, einem eindrucksvollen Berg inmitten von Silvoarum. Von einer bis heute nicht entdeckten unterirdischen Quelle aus, deren Mysterium stets Abenteurer aller Völker anlockte, floss der Fluss nach Ost und West. Der östliche Iedd in Richtung des Zwergenreiches, erst nördlich, dann in einem weiten Bogen nach Süden und endete dann in einer Bucht, wobei einige Nebenflüsse quer durch die beiden Länder flossen.

Der westliche Iedd war verglichen mit dem östlichen relativ kurz, er endete im Iedd-See, der je zur Hälfte in Silvoarum und Humanetum gelegen war. Am Westende des Sees lag Regis als zentraler Knotenpunkt in den Handelsbeziehungen zwischen Elfen und Menschen. Aus diesem Gewässer entsprangen der nördliche und der südliche Iedd, die beide in Schluchten an der Westküste ins Meer flossen, einer nördlich zwischen den Zwillingsstädten, der andere südlich. Im Volksmund wurden all diese Flüsse nur Iedd genannt.

Im Osten lag Dwarium, das Land, das die Zwerge bewohnten und bewirtschafteten. Eine enorme Gebirgskette grenzte es von Silvoarum ab, nur dort, wo der Iedd entlang floss, war das Gebirge durchbrochen. Der Fluss war noch über eine längere Strecke an beiden Ufern von hohen Felsen umgeben. Dort, wo der Iedd dann eine Kurve in Richtung Süden machte, lag Dal, die erste große Stadt der Zwerge. Wenngleich es nicht die Hauptstadt war, so war sie dennoch mächtig und beeindruckend. Ihr Bau dauerte mehrere hundert Jahre. Man hatte ursprünglich begonnen, Häuser in den Krater eines erloschenen Vulkans zu bauen, später wurde der Berg, der als Mauer diente, flächendeckend ausgehöhlt. Dies geschah primär aufgrund der Vielzahl an natürlichen Ressourcen, die man bei der Besiedelung des Kraters entdeckte. Dank der eindrucksvollen natürlichen Mauer und der Bebauung mit Türmen und Wehranlagen galt die gigantische Stadt als uneinnehmbar. Ein einziges großes Tor wurde gebaut, durch welches täglich Unmengen an Menschen, Elfen und Zwergen kamen und gingen, von denen die meisten mit großen Schiffen um den Kontinent herum reisten, da die Gefahr durch Schattenwesen auf dem Landweg vielen Reisenden zu groß war.

Die Hauptstadt der Zwerge, Ordheon, lag zwar noch weiter südlich, war dennoch über eine Tagesreise von der Südküste des Kontinents entfernt. Es war eine wunderschöne und imposante Stadt, sie glich einer riesigen Festung, rundherum mit Mauern und Wehranlagen gesichert. In der Mitte erhob sich ein Palast, in dem die Könige des Zwergenreiches seit der Vereinigung aller Zwergenstaaten residierten und regierten. Wie alle wichtigen Städte war auch Ordheon am Iedd gelegen. Die unmittelbare Nähe zu den unglaublich reichhaltigen Minen der Zwerge machte sie zudem zur Hauptstadt der Schmiedekunst. Die besten Schmiede lernten, lehrten und praktizierten hier.

Seit Urzeiten - zumindest sagten dies die Aufzeichnungen - wurden die Reisen zwischen den Ländern und Städten meist per Schiff um den Kontinent herum bewältigt, die Elfen hingegen nutzten zumindest flussabwärts bevorzugt die Strömung der Iedd-Flüsse. Die Regierungen der drei Länder einigten sich schon vor längerer Zeit, irgendwann innerhalb der letzten hundertfünfzig Jahre, dann auf dem Bau einer großen Straße, die dem Verlauf des Iedds folgen und ausreichend befestigt sowie militärisch gesichert werden sollte, um die meisten Angriffe von wilden Tieren oder Schlimmerem zu verhindern, doch jene war in weiten Teilen noch nicht fertiggestellt.

Auch wenn sie von vielen für einen Mythos gehalten wurde, fürchtete man sich vor Schattenwesen, die heimtückisch die Arglosen attackierten und schier unbezwingbar waren.

Vita sah in den Himmel, als die ersten Regentropfen ihren Handrücken trafen. Die Elfe unterdrückte einen frustrierten Ausruf, um die Tiere nicht zu verschrecken. Wenngleich sie ihren Bogen mit einem Köcher voller Pfeile mit sich trug, wollte Vita nicht jagen. Seit einigen Tagen verbrachte sie mehrere Stunden täglich damit, diese Bären zu beobachten, um ihr Verhalten besser zu verstehen. Die belesene junge Frau führte stets präzise Notizen über ihre Beobachtungen. Doch da der Regen immer stärker wurde, erhob sie sich und bewegte sich leichtfüßig in Richtung ihres Heimatortes. Die Gemeinschaft des Dorfes war ihre Familie, sie hatten sie großgezogen. Vor zwanzig Jahren, kurz nach Vitas Geburt, wurden ihre Eltern bei einem Angriff der Schattenwesen getötet. Von da an kümmerte sich der ganze Ort um sie.

Ein Donnergrollen unterbrach ihre Gedankengänge, sie konzentrierte sich wieder darauf, zurückzukommen. Der Boden vor ihr erhob sich langsam, vorsichtig achtete sie auf jeden ihrer Schritte. Auch bei diesem kleinen, nicht einmal wirklich steilen Hügel konnte der Regen dazu führen, dass sie auf der nassen Erde den Halt verlor und stürzte. Unbewusst fasste Vita sich an den Rücken, der ihr nach dem letzten Sturz wochenlang Probleme bereitet hatte. Sie war damals ziemlich hart gelandet.

Ordhin fluchte. Zwar hatte er es heute geschafft, dem höfischen Alltag zu entfliehen, der ihn sein Leben lang schon begleitete und quälte, doch das Wetter schlug wie aus dem Nichts um. Sein Abstecher in die Berge nahe der zwergischen Hauptstadt waren schon immer befreiend, doch nun musste er, Ordhin der sechsundzwanzigste, Enkel des Königs von Dwarium und Thronfolger, verfrüht zurück. Eigentlich wollte er noch einige Stunden mehr außerhalb der Stadt verbringen, Abenteuer und Geheimnisse finden, wie damals, vor fünfundzwanzig Jahren. Schon der zwölfjährige Ordhin war ein Entdecker gewesen, doch bis heute war er niemals wieder nach dort, an diesen besonderen Ort, zurückgekehrt. Der Zwerg lächelte bei dieser Erinnerung, doch da der Regen mit jeder Minute, die verging, intensiver wurde, beeilte er sich immer mehr. In der Ferne sah er bereits seine Heimatstadt, auf die er zügig zumarschierte. Doch dann ließ ihn ein seltsames Gefühl innehalten, eine Vorahnung, dass gleich irgendwas geschehen würde. Ordhin zögerte. Der Donner klang noch in der Ferne, als plötzlich alles grell wurde. Etwas durchströmte ihn.

Vita schrie auf. Sie sah den Blitz kommen, doch es war zu spät, um darauf zu reagieren. Er traf sie mit voller Wucht und unglaublicher Geschwindigkeit. Wider Erwarten erlitt sie keine Schmerzen, aber die Mengen an Energie, die den Körper der Elfe durchflossen, waren enorm. Sie konnte dem kaum widerstehen. Doch plötzlich war dort etwas anderes, ein Gefühl, als würde sie zerbersten, oder genauer gesagt etwas tief in ihrem Innersten.

Atros fiel auf die Knie, als er in sich etwas zerbrechen fühlte. Das Gefühl der unkontrollierten Energie ebbte ab, doch dann war dort etwas Neues. Ihm war, als wäre ein Schutzwall niedergerissen worden, der schon lange etwas in seinem Innersten zurückhielt. Ein neues Gefühl von Energie und Macht durchfloss ihn, er atmete tief ein, langsam wurde sein Blick wieder klar. Doch wie er feststellen musste, hatte er sich getäuscht, es war noch nicht vorbei. Kaum ließen die Schmerzen nach, wurde er von einer ihm unbekannten, nicht in Worte zu fassenden, Kraft hinweg gerissen.

Alles um ihn herum war weiß, er konnte kaum die Augen öffnen. Es dauerte wenige Augenblicke, doch gerade als sich sein Blick normalisierte, wurde er wieder kreuz und quer geschleudert, bis seine Hände plötzlich kalten, rauen Stein fühlten.

Als Vita den Boden unter ihren Händen ertastete, schlug sie verwundert die Augen auf. Was sie dort erblickte, erschien ihr sonderbar. Sie lag auf dem steinernen Fußboden eines Hauses, aber definitiv nicht dem eines Elfen. Der erste Blick, den sie schweifen ließ, gab ihr etwas mehr Aufschluss. Das Haus war aus Stein, durchzogen von breiten Holzbalken, die der Konstruktion mehr Stabilität gaben. Sie sah zwei Türen, eine davon könnte sie dem Anschein nach ins Freie bringen, die andere in ein weiteres Zimmer. Hinter ihr führte eine Treppe nach oben. In der Mitte des Raumes, an einem Tisch, saß ein älterer Mann, der beinahe genauso erstaunt schaute wie sie selbst. Dann fiel ihr auf, dass sein Blick gar nicht ihr galt, sondern zwei anderen Personen, dem Anschein nach ein Mensch und ein Zwerg, die ebenso wie sie am Boden des Raumes lagen und verwirrt um sich blickten.

Niel erhob sich von seinem Platz, als Ordhin vom Boden aufstand und seine Stimme erhob.

„Wenn das mal kein Abenteuer ist. Ich hoffe, jemand von euch vermag mir zu erklären, was gerade geschehen ist. Aber verzeiht mir, wo habe ich nur meine Manieren gelassen.“

Der Zwerg drückte sich gewählt aus, als Folge seines höfischen Lebens. Da Atros sich bereits erhob, hielt er Vita die Hand hin, um ihr hoch zu helfen, welche sie dankend ergriff und aufstand. Als die Drei nun alle wieder auf den Füßen waren, schwiegen sie sich für einen kurzen Moment an, nicht wissend, was geschah, bis Ordhin erneut das Wort ergriff. Dem Zwerg schien all dies nichts auszumachen, er war sein Leben lang schon auf der Suche nach Abenteuern, und anstatt dass er eines fand, fand es ihn.

„Mein Name ist Ordhin XXVI, Enkel des Königs von Dwarium, Ordhin XXV. Nach allem, was ich gerade sah, geschah euch beiden dasselbe, oder?“

Er richtete dabei seinen Blick auf Atros und Vita, die beide zustimmend nickten. Dann fasste die Elfe den Mut, zu sprechen.

„Mein Name ist Vita, ich stamme aus Silvoarum. Und falls ich nicht dabei bin, den Verstand zu verlieren, wurde ich gerade vom Blitz getroffen und fand mich dann hier wieder.“

Niel erbleichte: „Ich hätte nie gedacht, dass es eines Tages so weit kommen würde.“

Er sank wieder auf seinem Stuhl zusammen, als die Drei ihn erstaunt anschauten: „Großvater? Wovon sprichst du?“

Kaum hatte Atros diese Worte gesagt, sprach Vita erstaunt: „Er ist dein Großvater? Was geschieht hier und wieso bin ich hier bei euch gelandet?“

Der alte Mann begann leise zu sprechen: „Bitte setzt euch, auch du, Atros.“

Alle folgten seinem Wort, denn er schien zumindest eine Idee darüber zu haben, was geschehen war. Kaum saßen sie, begann er, immer noch bleich vor Schreck, zu erzählen:

„Mein Name ist Niel, das ist mein Enkel Atros. Ihr befindet euch momentan im Dorf Othal, im nördlichen Humanetum. Ich denke, dass ich etwas Licht in die Dunkelheit bringen kann, auch wenn ich selbst all dies bis gerade eben noch für einen Mythos gehalten habe. Ich gehe davon aus, dass niemand von euch die Geschichte des Wandlerordens kennt, oder? Es ist eine vergessene und verlorene Sage aus vergangenen Zeiten.“

Da die Verwirrung auf den Gesichtern der Drei nur noch größer wurde, begann er, weiter zu erzählen.

„Viel ist nicht mehr bekannt, man sagt, dass sie Magie beherrschten und alle Bewohner von Taleatus vor den Schattenwesen oder Schlimmerem behüteten. Sie lebten und agierten vom Aroi aus, der sagenumwobenen Festung am Mons Magicis. Doch in einer Schlacht vor knappen eintausend Jahren wurden sie alle vernichtet, seitdem wird die Welt von Schrecken heimgesucht und niemand ist mehr sicher. Unsere Länder haben sich voneinander distanziert und Reisen finden weitaus sporadischer statt. Einst war alles mit großen Handelsstraßen verbunden und…“

Vita unterbrach ihn: „Also von einer Schlacht am Aroi weiß ich, dazu habe ich etwas gelesen. Seit Urzeiten war schon keiner mehr dort oben. Von diesen Wandlern habe ich aber noch nie etwas gehört. Und selbst wenn, was hat das mit all dem zu tun, was passiert ist?“

Ordhin lachte leise: „Ungestüme Elfe. Wie wäre es, wenn du den alten Mann ausreden lässt, es klang nicht so, als wäre das das Ende der Geschichte. Ich kann es fühlen, das ist der Auftakt zu einem grandiosen Abenteuer. Schlachten, Magie und mystische Orden, darauf warte ich mein Leben lang schon.“

Niel war sichtlich amüsiert über seine unfreiwilligen Gäste, aber er würde sich an ihrer Stelle auch damit schwer tun, all das zu glauben, was er nun erzählen würde. Als Ordhin ihn freundlich bat, weiter zu erzählen, folgte er dieser Bitte.

„Nun ja, der Orden war schon alt und weise, er wurde vor rund zehntausend Jahren gegründet. Sie wollten ihr Vermächtnis nicht einfach verschwinden sehen, also trafen sie Vorbereitungen. Damals geschah die Neuaufnahme von Wandlern so: Man wirkte einen Erweckungszauber, der die Person mit der notwendigen Gabe fand und zu ihnen brachte. Man wird mehr oder weniger vom Blitz getroffen, was die verborgene Magie ans Tageslicht brachte, dann wurden sie auf magische Art und Weise in den Aroi teleportiert, wo das Ritual vervollständigt wurde.“

Jetzt unterbrach Atros seinen Großvater: „Das hier ist aber unser Wohnzimmer, nicht eine Festung in Silvoarum. Also, was ist anders?“

Vita antwortete ihm, die Worte des alten Mannes begreifend: „Abgesehen davon, dass der Aroi eine verlassene Ruine ist und keine Wandler mehr leben?“

Niel nickte zustimmend. Er war überrascht, wie schnell die Drei die Geschehnisse zu akzeptieren schienen. Wobei, dem ersten Eindruck nach waren alle drei begabt, wissbegierig und talentiert, also vielleicht sollte ihn die Akzeptanz doch nicht überraschen.

„Damals arbeiteten auch einige Personen ohne magische Fähigkeiten dort, darunter einer unserer Vorfahren. Es wird überliefert, dass er von den Wandlern recht geschätzt wurde und man ihn damals bat, einige Dinge mit sich zu nehmen und sie zu verbergen, als die Schlacht nahte. Seit jenem Tag werden diese Gegenstände hier verwahrt und das Geheimnis geht von Generation zu Generation. In einigen Jahren hätte ich auch dir davon erzählt.“

Den letzten Satz richtete er direkt an seinen Enkel. Die Drei schwiegen, sie mussten all diese Fakten erst einmal verarbeiten. Niel verstand, wie sie sich fühlen mussten, er schlug ihnen vor, dass sie doch zuerst ein wenig nach draußen gehen sollten, um etwas frische Luft zu schnappen.

Vita öffnete die Tür, die nach draußen führte, die Nachmittagssonne schien ihr ins Gesicht. Keine einzelne Wolke war am Himmel zu sehen. Die Drei gingen hinaus, und vor ihnen breitete sich ein Tal aus, besiedelt von Häusern und Höfen. Vereinzelt erstreckten sich kleine Waldstücke in der Ferne, gen Süden erhob sich eine Bergkette. Es war anders als das, was Vita und Ordhin kannten, es war weder eine karge, steinige Berglandschaft noch ein dichter Wald, sondern vielmehr eine bunte Mischung aus allem. Atros führte die Elfe und den Zwerg zu einer Bank, die er mit Niel vor Jahren gebaut hatte. Sie setzten sich alle in den Schatten des großen, alten Baumes, der sich neben ihnen erhob. Die Drei begannen sich zu unterhalten, sich kennenzulernen. Sie sprachen über alles Mögliche, nun, alles außer den Geschehnissen, die sie zusammen brachten. Schnell wusste man einiges über die Anderen: Ordhin war der Enkel des Königs, der Thronfolger, der von all dem höfischen Getue gelangweilt war und stets Abenteuer suchte, auch wenn seine Familie nicht davon begeistert war. Er war ein begnadeter Handwerker und konnte Unglaubliches mit Metallen oder Juwelen herstellen. Vita war die Jüngste der Drei, sie war wissbegierig und las Unmengen, ihre Eltern starben bei einem Angriff kurz nach ihrer Geburt, deshalb wurde sie von der Gemeinschaft ihres Heimatortes großgezogen. Atros war kreativ, gebildet und gerne alleine in den Wäldern und Bergen. Sein Großvater lehrte ihn viel, allen voran in Bezug auf Heilkunst. Seine Eltern starben bei einem Brand, als er ein Jugendlicher war.

Während ihrer Unterhaltung begann die Sonne langsam zu verschwinden, es wurde immer später und später. Als die Dunkelheit fast schon vollständig hereingebrochen war, rief Niel sie hinein. Er hatte begonnen, das Essen herzurichten. Wie sich herausstellen sollte, war er nicht nur gut im Umgang mit Heilkräutern, sondern auch mit Essen. Egal ob sein noch warmes Brot, der eigene Käse, der geräucherte Schinken oder sein eingelegtes Gemüse, alles schmeckte fantastisch. Er erzählte Ordhin und Vita, dass seine Dienste oft mit Milch oder Fleisch vergütet wurden. Im Laufe der letzten Jahrzehnte war er gut darin geworden, all dies haltbar zu machen. Beim Essen unterhielten sie sich primär um Nebensächlichkeiten, doch irgendwann fragte Vita:

„Wie ist es jetzt eigentlich mit all diesen Dingen, die für uns gedacht sind und was sollen wir damit machen?“

Niel hatte schon auf diese Frage gewartet, blickte auf und antwortete ihr: „Ich würde vorschlagen, das Morgen bei Tageslicht zu machen, die Sachen sind alle verborgen. Wenn ich mich recht erinnere, waren auch Hinweise dabei, wie all das mit dem Ritual geht, das die Erweckung vollständig abschließt, aber ich habe mich nie genau damit befasst.“

Atros, Ordhin und Vita waren alle von den Strapazen des Tages vollkommen erschöpft, und nickten zustimmend. Neben den Anstrengungen des Tages war auch die Menge an Informationen zu viel, es fiel ihnen schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Glücklicherweise hatte Niel vorgesorgt und während sie sich draußen unterhielten, hatte er ihnen bereits einen Schlafplatz vorbereitet. Er konnte es immer noch nicht glauben, dass all dies jetzt wirklich geschah und sein Enkel zu einem der neuen Wandler gehören sollte. Der alte Mann erhob sich und bot den beiden Gästen an, ihnen zu zeigen, wo sie schlafen könnten. Auch er begann müde zu werden und ahnte, dass er morgen ausgeschlafen sein sollte, da ein ereignisreicher Tag nahte.

Ein Sonnenstrahl, der durch das Fenster sein Gesicht beschien, weckte Ordhin. Der Zwerg brauchte einen Moment, um zu realisieren, wo er sich befand. Ausgeschlafen und energiegeladen erhob er sich, Tatendrang und Vorfreude erfüllten ihn. In Erinnerung an sein letztes großes Abenteuer griff er unbewusst an das, was er seit jenem schicksalhaften Tag um den Hals trug. Er vernahm Schritte unter sich, was ihn dazu verleitete, sein feines Gewand anzuziehen, das er in seinem Rucksack mit sich führte. Es war nämlich nicht gern gesehen, dass er in seiner schmutzigen, abgenutzten Kleidung, die er in den Bergen trug, wieder in die Stadt und den Palast kam. Das feine, tiefblaue Hemd, mit dem Wappen der Königsfamilie bestickt, die schwarze Hose und der rote Seidenmantel ließen ihn wie eine völlig neue Person erscheinen. Er strich sein rotbraunes Haar glatt, welches dieselbe Farbe hatte wie sein kurzer Bart. Der Zwerg öffnete die Türe und ging einige Schritte, bis er an der Treppe angelangt war, welche ihn ein Stockwerk tiefer führen sollte. Auf halbem Weg nach unten sah er bereits Atros und Vita, die sich am Tisch unterhielten. Als sie ihn kommen sahen, wechselten die beiden erstaunte Blicke. Atros sagte scherzhaft:

„Guten Morgen, Eure Majestät. Gut geschlafen?“

Nach einem kurzen Moment des Schweigens begannen die Drei zu lachen. Als der Zwerg sich zu ihnen gesellte, erklärte er den beiden, die nach der Herkunft der Kleidung fragten, weshalb er sie mit sich führte. Dann bezogen sie ihn in ihrem Gespräch über all die Dinge, die sie gestern erfahren hatten, ein. Aufgrund all der Geschehnisse, die zu ihrem Treffen geführt hatten, fiel es ihnen relativ leicht zu akzeptieren, was gerade geschah. Aber dann kam Vita ein völlig neuer Gedanke, etwas, woran bisher noch keiner gedacht hatte.

„Euch ist schon klar, dass man uns suchen wird, zumindest Ordhin und mich. Wir sind schließlich spurlos verschwunden und viele Tagesreisen entfernt.“

„Wir könnten einen Brief schicken. Es wird aber eine Weile dauern, bis er ankommt, das muss euch klar sein.“

Mit diesen Worten kam Niel aus der Küche zu den Dreien, in seiner Hand eine Kanne Kaffee, den er gekocht hatte. Gemeinsam mit vier Tassen stellte er die Kanne auf den Tisch und begann, ihnen allen etwas einzuschenken. Danach begann er zu erzählen, wie sein Plan aussah:

„Ich habe mich tatsächlich eher wenig mit all diesen Riten und so weiter befasst, doch es gibt ein Buch, das alle wichtigen Informationen enthält. Das ist die Grundlage für alles Weitere. Zudem solltet ihr beiden einen Brief schreiben, um eure Familien oder wen auch immer zumindest etwas zu beruhigen, wenngleich es eine Weile dauern wird, bis er ankommt. Aber als Erstes sollten wir frühstücken, denn ich denke, dass der heutige Tag recht anstrengend und ereignisreich werden könnte.“

Nachdem sie gegessen, und Vita und Ordhin beide einen kurzen Brief geschrieben hatten, verließ Niel sie für eine Weile. Ein befreundeter Händler war für einige Tage im nächsten Gasthof abgestiegen, seine Reiseroute bot ihm die Möglichkeit, die Briefe mitzunehmen. Kaum war er wieder da, wollten sie beginnen. Niel erhob sich von seinem Stuhl und ging in Richtung des Bildes, was an einer der Wände hing. Es zeigte einen mysteriös wirkenden Ort, eine Art steinerne Halle, in deren Mitte ein hölzernes Podest einen Altar beherbergte, über dem eine Kugel aus Licht schimmerte. Er nahm das Bild von der Wand, was einen verborgenen Schalter sichtbar werden ließ. Niel drückte ihn, dann hängte er das Bild wieder auf und richtete seinen Blick gen Bücherregal, welches an der Wand zu seiner Linken stand. Dort drückte er auf eine bestimmte Stelle der Intarsien, was zur Folge hatte, dass ein Teil der Holzvertäfelung direkt neben ihm mit einem Klicken aufsprang. Er öffnete die Tür des Verstecks vollständig, griff hinein und nahm eine Kiste heraus, die dem Staub nach zu urteilen seit einiger Zeit nicht mehr geöffnet, geschweige denn bewegt wurde. Schwungvoll stellte Niel sie auf den Tisch, was den Staub aufwirbelte. Gespannt und neugierig sahen Atros, Ordhin und Vita ihm zu, als er langsam den Deckel der Kiste anhob. Der erste Blick hinein enttäuschte sie. Vita begann als Erste zu sprechen: „Kleidung?“ Sie griff hinein und nahm die Gewänder hinaus, schüttelte sie einzeln und stellte fest, dass es drei identische Sets waren: drei beige Kutten und schwarze Mäntel. Die Elfe gab den anderen beiden je ein Set der knapp knielangen Gewänder mit weiten Ärmeln, doch sie legten es schnell beiseite, gespannt darauf, was noch alles in der Truhe war. Ordhin legte drei hellgrüne Stoffbänder und einen einzelnen Handschuh unachtsam beiseite, dann nahm er einen ledernen Beutel heraus, der allem Anschein nach relativ schwer war. Zeitgleich griff Vita nach dem Buch, das am Boden der Kiste lag. Trotz des Alters war der Einband recht gut erhalten, in großen Buchstaben stand dort geschrieben: Großes Buch der Wandler. Sie wollte es aufschlagen, doch Ordhin hielt sie davon ab. Schwungvoll schüttete er den Beutel aus, den er aus der Kiste genommen hatte. Sie waren verwundert, als drei faustgroße Stücke eines Metalls und drei Steine herausfielen. Letztere wirkten wie Juwelen, doch sie waren seltsam farblos und nahezu durchsichtig. Vorsichtig nahm Atros einen der Steine in die Hand, als er plötzlich zu leuchten begann. Ein reines Weiß erfüllte das Juwel, hier und dort sahen sie goldene Funken aufblitzen.

„War ich das?“

Ordhin antwortete ihm: „Ich gehe stark davon aus. Was passiert wohl, wenn ich einen der anderen...“

Kaum berührte die Hand des Zwerges den Stein, nach dem er griff, erhellte ein sanftes graues Licht den Raum. „Wie Edelsteine im Fels.“ flüsterte er leise und ehrfürchtig, als Funken in allen Farben des Regenbogens hier und dort aufleuchteten. Nun nahm Vita den letzten verbleibenden Stein, dann wurde das Licht der Anderen von einem grünen Leuchten überlagert, mit sich stets wechselnden Nuancen, mal hell, mal dunkel. Es fing alle Aspekte von Grün ein. Gebannt starrten die Drei auf die Lichter, bis Niel sie jäh unterbrach:

„Wollt ihr euch jetzt den ganzen Tag leuchtende Steine anschauen oder befassen wir uns mit den wirklich interessanten Dingen.“

Die Stimme des Alten riss sie aus ihrer Trance, schnell legten sie die Steine wieder weg.

„Das Metall hier, so etwas ist mir noch nie untergekommen. Aber die Stücke sind eher klein, viel lässt sich daraus nicht machen.“

Der Zwerg war ein Meister seines Faches, auf seine Erfahrung und Einschätzung konnte man vertrauen. Er legte das Stück, welches er in der Hand hielt, wieder zurück. Da der Inhalt des Beutels nun erforscht war, richteten sich die Blicke wieder auf das große, alte Buch, das auf dem Tisch lag. Vita, die den größten Teil ihrer Zeit mit Büchern verbrachte, schlug es vorsichtig auf.

„Was ist das? Ein Brief?“

Jemand hatte zwischen den Einband und die erste Seite einen Brief gelegt, den die Elfe behutsam auf faltete.

„Was steht da?“, fragte Atros und Vita begann zu lesen:

Seid gegrüßt, Schüler.

Mein Name ist Dorhan, General der Wandlertruppen und Ratsmitglied. Wenn ihr dies lest, heißt das, dass vermutlich niemand von uns mehr lebt. Ich fasse mich kurz, denn die Zeit drängt. Ihr findet anbei alles, was ihr braucht. Vollzieht das Ritual, um die Erweckung vollständig abzuschließen. Seid im Freien, abseits anderer Menschen, Elfen oder Zwergen. Wenn wir richtig liegen, sollten es drei von euch sein, vielleicht haben Clio und Julianos aber auch einfach den Zauber nicht präzise genug durchgeführt. Kein Wunder, bei der langen Zeitspanne, die sie überbrücken mussten.

Zieht das Gewand an, dann bindet euch das Band um die Hüfte, welches euren Rang als Schüler kennzeichnet, der Rest geschieht von selbst, wir haben alles vorbereitet. Da die Zeiten vermutlich gefährlich sind und wir keine andere Wahl haben, haltet während des Rituals eines der Juwelen und ein Stück des Metalls in euren Händen. Wir können es nicht riskieren, euch unbewaffnet in die Welt hinaus zu lassen.

Kommt zum Aroi, seht nach, ob noch jemand da ist und beginnt, den Orden wieder aufzubauen, zum Schutze aller. Doch bleibt am Boden, verbergt euch. Auf der Karte im Buch ist ein Ort markiert, reist auf eurem Weg hierher nach dort. Das, was ihr vor euch seht, ist nicht alles, was in Sicherheit gebracht wurde. Denkt immer daran: Seid vorsichtig, die Welt braucht euch.

- Dorhan, General der Wandlertruppen

„Reist am Boden? Was soll das denn heißen? Die ganze Sache wird immer seltsamer.“

Ordhin nickte und stimmte Atros zu.

„Ja, aber gerade das macht doch ein Abenteuer aus. Also, wollen wir erst das langweilige alte Buch lesen oder ein uraltes magisches Ritual durchführen?“

Ohne auf eine Antwort zu warten, schnappte er sich ein Set Kleidung, inklusive des Bandes, welches er vorhin vollkommen ignoriert hatte, dann griff er nach einem der drei Stücke des Metalls und einen der Steine, der sofort grau aufleuchtete und ging in Richtung Tür, doch dann drehte er sich um und fragte Niel: „Was ist der beste Ort, um dieses Ritual zu vollziehen?“

Vita war nicht davon begeistert, dass der Zwerg ohne nachzudenken, geschweige denn nachzulesen, dieses Ritual durchführen wollte, doch sie erkannte, dass sein Tatendrang nicht zu stoppen war, nahm sich ebenfalls alles, was sie brauchte und stellte sich an Ordhins Seite. Niel überlegte kurz, dann nickte er, er hatte eine Idee. Er erhob sich, sein Enkel folgte seinem Beispiel, griff sich die restlichen Sachen und bat seinen Großvater voranzugehen.

Es war eine Lichtung in einem kleinen Waldstück, nur einige Minuten Fußmarsch hinter dem Hof, die Niel angesteuert hatte. In ihrer Mitte stand ein Fels, hüfthoch und breiter als die Länge von Atros Armspannweite. Ordhin, der die Anderen sofort drängte, sich bereit zu machen, legte seinen Mantel auf einem kleinen Felsen ab und streifte sich das Gewand über. Es ging ihm gerade noch über seine Knie.

Es kam ihnen so vor, als wäre Magie im Spiel, jedem der Drei passte die Kleidung. Als sie nun bereit waren und nur noch die Bänder fehlten, die die Kleidung des Wandlerordens vervollständigen würden, hielten sie kurz inne. Atros fragte die anderen beiden: „Bereit?“, sie nickten und machten sich fertig. Man folgte Vitas Beispiel, legte das Stück Metall und den Stein vor sich ab, dann legten sie sich gleichzeitig das Band um, was offensichtlich nicht nur ihre Stellung als Schüler zeigen sollte, sondern auch als Gürtel diente. Die Enden verbanden sich nahtlos und bildeten eine Einheit. Mit einer schnellen Bewegung griffen sie nach den Dingen, die vor ihnen lagen. Wie aus dem Nichts begann dann ein Leuchten, in denselben Farben, die die Juwelen bekamen, wenn sie sie in die Hand nahmen. Das Licht wurde immer größer und größer, vertrieb all die Dunkelheit zwischen den Bäumen, welche die Lichtung umschlossen und verschlang die Drei. Niel trat erschrocken zurück, als es immer weiter wuchs, bis dann eine Fläche, mehrere Meter in alle Richtungen groß, davon ausgefüllt war.

Was daraufhin geschah, war schwer zu beschreiben. Es schien so, als würden diese Kugeln aus Licht, die sich ausgebreitet hatten, zerspringen. Niel versuchte, mit seiner Hand die Augen vor dem grellen Leuchten zu schützen, doch es war so hell, dass er seine Augen kurz schließen musste.

Was er dann sah, war unglaublich und ließ ihn an seinem Verstand zweifeln. Atros, Vita und Ordhin waren verschwunden, an ihrer Stelle standen drei mächtige Wesen. Es waren Drachen, wie aus alten Legende und Erzählungen, jeder auf seine eigene Art und Weise beeindruckend und gleichzeitig furchteinflößend. Dort, wo Vita gestanden hatte, war nun ein eleganter, schlanker Drache, die Schuppen schimmerten in allen Nuancen von Grün. Zu ihrer Linken stand ein etwas kräftigerer Drache, auf dessen weißen Schuppen immer wieder goldene Funken aufblitzten. An Ordhins Stelle stand ein noch viel eindrucksvoller und kräftiger Drache, der weniger von Eleganz als reiner Kraft und Masse gekennzeichnet war. Das matte Grau seiner Schuppen ließ ihn wie einen Felsen wirken, Funken in allen Farben des Regenbogens erstreckten sich über ihn und glitzerten im Sonnenlicht, wenn er sich bewegte. Der Zwerg selbst hatte dieses Phänomen ja selbst unlängst wie Edelsteine in einem Felsen beschrieben.

„Drachen? Sind wir ernsthaft zu Drachen geworden? Das ist das Beste, was mir je passiert ist.“

Was noch verwunderlicher war, als die grenzenlose Begeisterung Ordhins, war der Fakt, dass sie sich verstehen konnten.

„Naja, zumindest ist jetzt geklärt, woher der Name Wandler kommt, sie können sich verwandeln. Irgendwie naheliegend, auch in Bezug darauf, dass der Brief sagte, wir sollten am Boden reisen. Darauf hätte man kommen können.“

Die Elfe schaffte es, während dieser Aussage vollkommen ernst zu bleiben, trotz des trockenen Humors, der in ihrer Stimme mitklang. Atros breitete währenddessen vorsichtig die Schwingen aus und bewegte sie etwas auf und ab, was die Erde um sie herum aufwirbelte. Die Drei warfen sich vielsagende Blicke zu, breiteten die Schwingen aus und hoben langsam ab. Mit einigen kräftigen Flügelschlägen stiegen sie in die Höhe, dann versuchten sie ein wenig zu fliegen. Sie waren vorsichtig und stiegen nicht zu hoch, denn sie wollten nicht gesehen werden.

Es war ein unbeschreibliches Gefühl, außerdem hatte keiner von ihnen jemals einen so wunderbaren Ausblick gehabt. Man konnte unglaublich weit blicken, obwohl sie gar nicht so hoch in der Luft waren. Der Wind umspielte ihre Gesichter, die Luft, die sie einatmeten, war eisig kalt, doch ihr Innerstes strahlte eine so wohlige Wärme aus, dass es den Dreien nichts ausmachte. Nachdem sie sich etwas am Fliegen versucht hatten, rief Vita ihnen zu, dass sie vielleicht wieder landen sollten. Atros und Ordhin stimmten ihr zu, dann landeten sie. Das Fliegen lief relativ instinktiv ab, deshalb waren sie recht zuversichtlich, dass sie unbeschadet am Boden wieder ankommen würden. Es schien ihnen so, als wäre die Fähigkeit, fliegen zu können in gewisser Hinsicht eine Art Veranlagung.

Die Landung war zwar weder gut ausgeführt, noch war sie einfach, doch etwas unbeholfen kamen alle Drei wieder am Boden an. Ordhin landete zwar mehr mit seinem Körper als mit seinen Beinen, doch er schüttelte die Erde ab und wand sich an die anderen beiden:

„Und was jetzt? Ich meine, es ist schon toll, ein Drache zu sein, aber so können wir nicht den ganzen Tag herumlaufen.“

„Vielleicht hätten wir doch zuerst das Buch lesen sollen, dann wüssten wir vielleicht, wie wir das wieder rückgängig machen. Aber ich hoffe einfach mal, dass die Rückverwandlung einfach eine reine Kopfsache ist. Wenn wir Glück haben, dann reichen ja unsere Gedanken, um wieder wie vorher zu werden.“

Ordhin und Atros sahen ihr die Anstrengung und Konzentration im Gesicht an, obwohl sie nicht wussten, woher sie die Gesichtsausdrücke eines Drachen deuten konnten. Nach einigen Sekunden leuchtete Vita auf, sie begann innerhalb von Augenblicken kleiner zu werden, Flügel wurden zu Armen und der Drache wurde zur Elfe. Sie rief den beiden anderen Drachen zu, dass es ganz einfach wäre und schließlich, auch wenn es bei den beiden ein klein wenig länger dauerte, standen die Drei nun alle wieder in ihrer normalen Form auf der Lichtung. Niel, der etwas auf Abstand gegangen war, als sie sich zu Drachen verwandelt hatten, kam wieder auf sie zu. Sie alle waren ziemlich sprachlos über das, was geschehen war. Dann begann Niel zu sprechen:

„Drachen! Wie kann so etwas nicht überliefert werden? Und was ist mit den Sachen geschehen, die ihr in den Händen hattet? Ich zweifle, dass es etwas mit der Verwandlung zu tun hatte. Stand in dem Brief nicht irgendetwas mit euch nicht unbewaffnet in die Welt lassen?“

Atros hatte eine Idee, da sie mit Geisteskraft zu Drachen werden konnten, konnte er vielleicht noch mehr. Er konzentrierte sich darauf, was sie vorhin in den Händen hielten und aus dem Nichts formte sich vor seinem inneren Auge ein Schwert, besetzt mit weiß leuchtenden Kristallen am Heft und der Parierstange. Nach einem kurzen Moment hielt er die Klinge in seiner Hand. „Hier, ich hab die Sachen gefunden.“ Die anderen Drei drehten sich zu ihm um, erschrocken über das majestätisch wirkende Schwert. Das Sonnenlicht, das ihn anstrahlte, ließ die Waffe im Licht erleuchten. Probeweise schwang er die Klinge in seiner Hand, er hatte zumindest ein kleines bisschen Übung mit dem Schwert, auch wenn er den Bogen bevorzugt. Die Einhandwaffe war leicht, elegant und scharf. Die anderen beiden Wandler versuchten nachzumachen, was Atros getan hatte. Vita hatte keinerlei Probleme damit und meisterte es binnen Sekunden, und nach einer kurzen Zeit war auch Ordhin in der Lage, sein Schwert heraufzubeschwören. Vitas Klinge war der von Atros sehr ähnlich, doch sie war etwas schmaler und länger, Ordhin hatte ein breites, schweres Zweihandschwert. Die eingesetzten Kristalle fielen bei ihm kaum auf, auch wenn das Grau etwas matter als das der Klinge war. Markant hingegen waren die glitzernden Funken, die bei jeder Bewegung in anderen Farben schimmerten.

„Wie ist das möglich? Es steht überhaupt nicht im Verhältnis zu dem Metall. Die Masse, sie ist mehr geworden. Und nicht nur die Kristalle. Das Metall war nicht im Ansatz genug für diese Waffen.“

Vita nickte, aber meinte dem Zwerg gegenüber: „Ja, aber ich denke, dass wir uns mit dem Ungewöhnlichen und Unmöglichen anfreunden müssen.“

Die Schwerter widersprachen allem, was der Zwerg bei den Handwerkern und Goldschmieden des königlichen Hofes gelernt hatte, es war schlichtweg nicht möglich, dass aus dem, was sie gehabt hatten, diese Waffen entstanden waren. Die Klinge in seiner rechten Hand, begann er, die Schneide mit der linken Hand zu prüfen. Er war positiv überrascht. Die Qualität war unvergleichlich: verhältnismäßig leicht, scharf, robust und makellos verarbeitet. Ihm gefiel die Klinge, genau die Art von Schwert, mit der er gut umgehen konnte.

Niel fand all dies zwar auch faszinierend, doch er konnte es nicht mehr mit ansehen, wie die Drei wie gebannt auf die Waffen starrten: „Wollt ihr den ganzen Tag noch so dastehen? Ich glaube, dass noch mehr Geheimnisse auf uns warten.“ Sie drehten sich zu ihm und senkten die Klingen. Von Vita ging kurz ein Leuchten aus, dann war ihre Waffe verschwunden.

„Gedanken. Einfach nur Gedanken.“

Die Elfe musste gar nichts mehr sagen, damit die anderen beiden sie sofort verstanden. Ihnen war inzwischen klar, wie viel sie mit bloßen Gedanken ausrichten konnten.

„Praktisch, immer ein Schwert dabei und doch nicht dabei. Ich versuche es einfach gar nicht zu verstehen.“

Atros konnte nicht verstehen, wie er mit Hilfe seiner Gedanken in der Lage war, Dinge heraufzubeschwören und verschwinden zu lassen. Wo war denn die Klinge jetzt gerade, wenn er sie nicht bei sich hatte? Wie zu erwarten war er da aber nicht der einzige, dem es so ging. Die Frage war nun jedoch, was sie noch tun konnten.

„Meint ihr, dass ihr noch mehr tun könnt? Nicht, dass die Verwandlung in einen Drachen und die Sache mit dem Schwert nicht schon beeindruckend genug wären, aber je mehr, desto besser, oder?“

Vita hatte sofort eine Antwort für den alten Mann parat:

„Als uns gestern dieser Blitz getroffen hat, zumindest war es bei mir so, fühlte es sich so an, als würde eine innere Mauer niedergerissen werden, die unbändige Mengen an Energie zurückgehalten hatte. Wenn wir wissen würden, wie, dann könnten wir diese Energie bestimmt nutzen. Vielleicht hätten wir doch zuerst das Buch lesen sollen, dann wären wir vorbereitet gewesen.“

Sie sah den Zwerg vorwurfsvoll an, der aber erkannte, dass sie es nicht ernst meinte. Auch Ordhin konnte mit Ironie umgehen und antwortete der Elfe:

„Hätten sich andere Personen mehr durchgesetzt, dann hätten wir das bestimmt auch getan.“

Es fiel den beiden schwer, weiter ernst zu schauen, sie konnten das Lachen nicht mehr unterdrücken. Auch wenn Atros es ebenfalls amüsant fand, wollte er jetzt keine Zeit mehr verschwenden. Sie hatten mit Sicherheit besseres zu tun als zu lachen, schließlich befanden sie sich in keiner alltäglichen Situation.

„Spaß beiseite, wir sollten wirklich schauen, was wir jetzt machen und was wir können. Außerdem sollten wir überlegen, ob und wann wir Richtung dieser Festung reisen.“

Die anderen beiden Wandler nickten, Vita hatte aber noch eine Idee: „Du hast vollkommen recht, aber müsste der Umgang mit der Energie nicht auch schlichtweg mit Gedanken funktionieren? Ich versuche mal etwas.“

Sie schloss die Augen und konzentrierte sich, dann begann plötzlich ihre Hand zu leuchten, jedoch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Sie atmete tief ein und strengte sich noch mehr an, bis dann eine Kugel aus grünem Licht in ihrer Hand erwuchs, die immer größer wurde. Zuerst war sie jedoch nur von der Größe einer Walnuss, dann aber hatte sie schon die Größe eines Kürbisses.

„Bist du dir sicher, dass du das unter Kontrolle hast?“ Die Elfe konnte die Bedenken des Zwerges nicht nachvollziehen.

„ Ja, ich weiß, was ich...“

Wie aus dem Nichts explodierte die Kugel in ihrer Hand und setzte eine Welle an Energie frei, die Ordhin, Niel und Atros zu Boden warf. Vita selbst wurde stärker von der Druckwelle erfasst und flog einige Meter rückwärts, bis sie hart auf dem Boden aufkam.

Ordhin ächzte und begann, sich umzusehen. Der Staub legte sich allmählich wieder, er sah Atros und Niel sich langsam erheben, sie drei waren nicht so stark getroffen worden. Vorsichtig stand er auf, wischte sich den Staub vom Gewand und sah sich um. Da erblickte er sie.

Vita lag mehrere Meter von ihm entfernt und bewegte sich nicht. Er lief so schnell es ging zu ihr und kniete sich neben sie. Die Elfe lag regungslos am Boden und reagierte nicht, als er versuchte, sie anzusprechen. Als er dann gerade die anderen um Hilfe rufen wollte, hörte er sie tief einatmen. Ihre Augen öffneten sich langsam, dann hörte er sie leise sprechen.

„Beim nächsten Mal erst lesen, dann machen, oder?“

Erleichtert setzte sich der Zwerg zu Boden, dann sagte er lachend: „Gute Idee, können wir so machen.“

Vita rappelte sich langsam wieder auf und fragte Ordhin, ob alle in Ordnung wären, was er bejahte, da er Atros und seinen Großvater sah, sie wechselten ein paar Worte, dann kamen sie in ihre Richtung.

„Alles in Ordnung?“

Vita und Ordhin nickten beide, um Niel auf seine Frage zu antworten. „Gut, dann sollten wir vielleicht zurückgehen und uns um das Buch kümmern, anstatt zu experimentieren, ohne zu wissen, was passiert. Außerdem könnten wir langsam etwas essen, es ist schon bald Mittag. Ihr habt bestimmt schon Hunger nach all...“

Er keuchte und beendete seinen Satz abrupt, sah an sich herunter und sank auf die Knie. Da sahen die Drei auch den Pfeil, dessen Spitze aus Niels Brustkorb herausragte. Vita hatte die schnellsten Reflexe und fing ihn auf, bevor er zu Boden fiel. Sie half ihm, sich zu setzten und wollte sich gerade die Wunde anschauen, als dann ein weiterer Pfeil geflogen kam und knapp Ordhins Kopf verfehlte, welcher sofort sein Schwert in seine Hände beschwor, oder es zumindest versuchte, denn es dauerte einige Sekunden, bis er Erfolg hatte. Sie sahen sich vorsichtig um, woher die Pfeile denn kamen, dann keuchte Niel.

„Los, geht schon. Es bringt uns nichts, wenn wir alle hier sterben. Holt ihn euch, wer auch immer das war.“

Atros war unglaublich wütend. Sein Großvater hatte ihm genug über den menschlichen Körper und Medizin gelehrt, um zu wissen, dass dieser jene Verletzung in seinem Alter nicht überleben würde. Er war sich auch darüber im Klaren, dass Niel dies mit Sicherheit wusste. Ohne Rücksicht auf irgendetwas zu nehmen, stürmte er in die Richtung, aus der der Pfeil hergekommen war, er war nahe der Baumgrenze, als Vita ihm nachrief, dass er unbewaffnet war und sich doch helfen lassen sollte. Aus den Augenwinkeln sah er Ordhin, der ihm mit seinem Schwert folgte, jedoch langsamer und achtsamer. Der junge Mann hoffte, dass alles so funktionieren würde, wie er es wollte, und dass Vita recht hatte und schlichtweg Gedanken der Schlüssel zur Magie war. Die Bäume kamen immer näher und er schloss für einen kurzen Moment die Augen. Er fühlte die Energie in seinen Adern pulsieren und dachte an seinen Verlust, daran, dass sein Großvater im Sterben lag.

Als er die Augen wieder öffnete, war sein Blickfeld ein ganz anderes. Er brüllte laut und schlug mit seinen Schwingen. Links von ihm sah er einige Schattenwesen aus den Bäumen laufen, zumindest nahm er an, dass es solche waren. Auch wenn sie annähernd menschliche Züge hatten, waren sie dennoch ganz anders.

Am besten ließen sie sich mit Schatten oder Rauchwolke beschreiben, irgendwie durchscheinend und mit der Umgebung verschmelzend. Ihre Augen leuchteten in den verschiedensten grellen Farben auf, blau, rot oder gelb waren die Schattierungen, die Atros erblicken konnte. Keiner von ihnen trug einen Bogen, doch sie kamen mit Schwertern auf ihn zugestürzt. Von den fünf Kreaturen, die er sah, packte er die erste mit dem Fuß, der ursprünglich mal seine linke Hand gewesen war. Die Klauen bohrten sich tief in den Körper des Wesens, er spürte, wie es sich wand. Als dann das Leben aus der Kreatur entwich, zerplatzte es regelrecht und wurde zu einer Art dunklem Staub, den der Wind davontrug. Ein weiteres Schattenwesen starb, als Ordhin seine Klinge durch seinen Körper stieß. Der Drache nickte dem Zwerg zu, dann griffen sie gemeinsam weiter an. Während Atros mit seinen Klauen zwei der Wesen abwehrte, duellierte Ordhin sich mit dem Dritten. Als der Drache dann gerade einen seiner Gegner greifen wollte, sah er aus dem Augenwinkel ein grünes Licht, das ihm bekannt vorkam. Er war sich sicher, dass Vita wieder eine Energiekugel formte, die höchstwahrscheinlich nur sie selbst außer Gefecht setzen würde. Dann hörte er sie aber rufen.

„Vorsicht!“

Der Drache reagierte schnell und ohne Rücksicht darauf, dass der Zwerg sich in einem Schwertkampf befand, griff er ihn und umhüllte sowohl Ordhin als wie auch seinen eigenen Kopf mit seinen Schwingen, als dann eine Kugel aus Energie angeflogen kam und eine der drei Kreaturen frontal traf. Die Energie, die freigesetzt wurde, als wie auch die daraus resultierende Druckwelle tötete die Schattenwesen. Atros Flügel dämpften den Einschlag der Druckwelle, so dass weder Ordhin noch er verletzt wurden. Er öffnete seine Schwingen, der Zwerg lief nun in die Richtung wo der Pfeil ursprünglich herkam, während der Drache der Elfe dankend zunickte. Seinem Großvater ging es nicht gut, und das erfüllte ihn mit noch mehr Energie und er folgte Ordhin, als ein weiterer Pfeil auf sein Gesicht zuflog. Schützend hielt er seine Schwinge vor sich, wovon der Pfeil abprallte, wenngleich er eine Schramme hinterließ, die der wütende Mensch in Kauf nahm und die ihn nicht zurückweichen ließ. Als er eine Bewegung hinter einem Baum sah, brüllte er und griff sich den Bogenschützen, auch ein Schattenwesen. Langsam und qualvoll bohrten sich die Klauen in den Körper des Wesens, dass allem Anschein nach den baldigen Tod seines Großvaters zu verantworten hatte. Als das Wesen zerstob, fiel Atros ein Stein vom Herzen, es war eine unglaubliche Erleichterung. Ohne Zeit zu verlieren ging er einige große Schritte in Richtung Niel und Vita, bis er sich dann verwandelte und in seiner menschlichen Form zu seinem Großvater lief.

„Gut gemacht Atros, ich bin stolz auf dich. Sei nicht traurig, wir beide wussten von Anfang an, dass ich diesen Pfeil nicht überleben würde. Sei stark, du hast Großes vor dir und bist zu Höherem bestimmt.“

Er verlor immer mehr Blut und die inneren Verletzungen waren allem Anschein nach gravierend. Der Pfeil hatte seine Lunge verletzt und noch weitere massive Schäden verursacht. Deshalb hustete er pausenlos Blut und fiel kraftlos und schwach zurück in die Arme seines Enkels, der mit den Tränen kämpfte.

„Bleib stark und kämpfe immer. Versprich mir das.“

Atros nickte, die Augen schimmerten vor Tränen. „Immer, das verspreche ich dir.“

Erleichtert sank er zurück und Atros spürte das Leben aus seinem Großvater entweichen. Als er aufgehört hatte zu Atmen, schloss sein Enkel ihm die Augen. Ordhin und Vita standen betroffen neben ihm und kämpften ebenfalls mit den Tränen. Der alte Mann war herzlich und freundlich gewesen, zudem war er weise und besonnen. Vita legte Atros sanft die Hand auf die Schulter, welcher dann tief durchatmete. Er brach die Spitze des Pfeil ab, um ihn aus dem Rücken von Niels Körper zu ziehen, damit er ihn flach auf den Boden legen konnte. Er erhob sich und in seinen Augen konnte man sehen, dass ihn etwas Neues erfüllte, es war weder Trauer noch Wut, sondern eine unbändige Motivation, die ihn stärkte. Er hatte die letzte Bindung zu seinem alten Leben verloren, nun war er bereit, ein neues Leben zu beginnen. Nichts hielt ihn mehr hier, die Reise konnte beginnen. Er bat seine neuen Freunde darum, ihm mit dem Körper zu helfen, er wollte ihn zurück zum Hof bringen und dort verbrennen, wie es bei all seinen Vorfahren schon getan wurde. Dann teilte er ihnen mit, was er zu tun plante. Er wollte den Scheiterhaufen errichten, alles für die Reise herrichten und in den Abendstunden den Leichnam seines Großvaters verbrennen, damit sie am nächsten Morgen aufbrechen konnten. Die beiden waren erstaunt von seiner Stärke und wie er mit dem Verlust umging, doch sie verstanden auch, dass Atros so schnell wie möglich weg von hier wollte.

Nachdem sie am Hof angekommen waren und einen Scheiterhaufen gebaut hatten, was schnell ging, da sie genug Holz gelagert hatten, widmeten sie sich der Frage, warum sie angegriffen wurden.

„So viele Möglichkeiten gibt es nicht. Ich zweifle daran, dass es Zufall war, also wurden wir entweder fliegend gesehen und sie waren in der Nähe oder sie haben von dem Erweckungszauber mitbekommen. Letzteres wäre nicht gut, da das heißt, dass noch mehr von uns wissen und der Angriff geplant und nicht spontan war.“

Ordhin stimmte Vita zwar zu, aber er gab auch noch etwas zu bedenken: „Da stellt sich die Frage ob die Schattenwesen gemeinsam handeln und einen Anführer haben oder einzelne Gruppen sind.“

Sie traten durch die Tür ins Haus ein und Vita schlug nun vor, endlich das Buch zu lesen, wenn auch nicht unbedingt vollständig, dann zumindest die wichtigsten Teile. Dieses Mal hatte niemand, nicht einmal Ordhin etwas dagegen. Atros bat sie nur, zumindest so lange zu warten, bis er Kaffee für sie gekocht hatte, wogegen niemand etwas einzuwenden hatte. Er brauchte jetzt einige Minuten für sich, bevor er sich von seinem Verlust ablenken wollte.

Als Atros wiederkam, hatte Vita sich schon einen kurzen Überblick über das Buch verschafft.

„Das Buch ist sehr detailliert, jedoch gibt es am Anfang eine kurze Zusammenfassung, die einen allgemeinen Überblick über den Orden gibt, für alle, die nicht die Zeit oder Lust haben, es ganz zu lesen.“

Der Blick des Zwerges gab ihr die Meinung, sich rechtfertigen zu müssen: „Nicht meine Worte, das steht so im Buch. Du musst nicht so vorwurfsvoll schauen.“

Atros schüttelte den Kopf. Dass diese beiden sich jetzt schon angewöhnt hatten, sich gegenseitig zu ärgern, wenn auch nur auf der Basis von Ironie. Zumindest lenkte es ihn ziemlich erfolgreich ab. Als er sich dann zu den beiden setzte und ihnen Kaffee einschenkte, blätterte Vita wieder zurück in dem Buch, bis zu jener Seite, wo die kurze Zusammenfassung begann. Der Geruch des kräftigen Kaffees, in diesem Fall ein Import aus dem südlichen Silvoarum, erfüllte die Luft.

Vita schaute die beiden an, ihr Blick war klar als ein “Können wir loslegen?” zu deuten. Als Ordhin und Atros nickten, nahm sie einen ersten Schluck aus ihrer Tasse und begann zu lesen.

KAPITEL 2

Der Wandlerorden:

Die Ursprünge des Wandlerordens liegen weit in der Vergangenheit, als die Geheimnisse der Magie noch völlig unbekannt für die Bewohner dieser Welt waren. Obwohl unsere Kenntnisse über ihre Ursprünge selbst jetzt noch gering sind, so beherrschen wir doch die Anwendung ebenjener Kunst. Der Orden wurde geschaffen, um Wesen wie uns Zuflucht zu gewähren, um uns vor denen zu schützen, die die Magie und ihre Anwender fürchten. Uns alle, Menschen, Elfen und Zwerge verbindet eine ganze Menge, denn wir sind in der Lage, unsere Form zu wandeln, wir werden zu eindrucksvollen Drachen. Aber dies ist nicht alles, was wir beherrschen, wir sind in der Lage, Dinge zu kontrollieren, Gegenstände magisch zu verzaubern und herzustellen oder komplexe Zauber und Banne zu wirken.

Die Herstellung der magischen Waffen, welche die ausgebildeten Wandler erhalten, beruht auf alten Ritualen, die die Rohmaterialien in eine Klinge verwandeln, die unzertrennlich mit dem Geist des Wandlers verbunden ist. Mithilfe reiner Geistesstärke ist es uns möglich, die Waffen, aber auch magische Kleidungsstücke, zu materialisieren und zu dematerialisieren. Wenngleich in den folgenden Kapiteln genauer auf all diese Objekte und Rituale eingegangen wird, so möchte ich doch einen kurzen Überblick über die gängigsten und nützlichsten Objekte geben, um denen, die keine Geduld haben, alles zu lesen, einen Gefallen zu tun.

Ordenskleidung:

Um Einheit und Gleichheit, unabhängig von Rasse, Herkunft oder Geschlecht zu zeigen, tragen alle Wandler das gleiche Gewand, gefertigt und verstärkt von unseren besten Schneidern. Es besteht aus einer schlichten Kutte, grau-beige, die äußerst widerstandsfähig gegenüber Waffen, Zaubern und den Elementen ist, sowie sehr reinlich bleibt und selbst die stärksten Verschmutzungen magisch entfernt. Bei Beschädigungen wird sich nach einer Weile auch die Reparatur einsetzen, die durch einen Bann gewährleistet wird.

Zusammengehalten wird das Gewand von einem Band, etwa so breit wie eine Hand, das sich um den Körper legt und nahtlos die Enden miteinander verschmelzen lässt. Die Farbe dieses Bandes zeigt den Rang innerhalb der Ordensstruktur an. Einige Beispiele dafür sind:

- Grün (Drei Abstufungen von Hell zu Dunkel): Schüler in den Ausbildungsstufen 1-3

- Weiß: Sämtliche Wandler, welche die Grundstufen der Ausbildung abgeschlossen haben, keinen Rang innehaben oder außerhalb des Aroi leben

- Orange: Lehrkräfte und Ausbilder

- Grau-Schwarz (Fünf Abstufungen): Krieger, je nach Ranghöhe

- Blau: Mitglieder des Zirkels

- Silber: Mitglieder des Rates

- Violett: Sämtliche anderen Würdenträger

- Purpurrot: Oberste des Ordens

Zuletzt trägt jedes Mitglied des Ordens noch einen schwarzen Ledermantel mit einer weiten Kapuze, auch dieses Kleidungsstück ist verstärkt und robust.

Schwerter: