Warum die Schlange den Apfel stahl - Melissa H. Panther - E-Book

Warum die Schlange den Apfel stahl E-Book

Melissa H. Panther

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Beschreibung

Zehn Kurzgeschichten erzählen vom Menschsein im Angesicht von Technik und Fortschritt. Es geht um den ersten Elefanten in Brüssel 1563, um simulierte Kinder und um Roboter-Liebe. Sind wir Menschen fähig, uns mit Wissenschaft und Erfindergeist das Paradies zu erschaffen, oder stehen wir uns selbst im Weg?

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Seitenzahl: 226

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhaltsverzeichnis

Die magische Flöte

Der blaue Mann

Der Schattenwanderer

Das perfekte Modell

Der Bärenwald

Yenara

Das Mausoleum des Zeitreisenden

Unsterbliche Liebe

Ein Elefant in Brüssel

Die Schlange und der Apfel

Die magische Flöte

Die selbstfahrende elektrische Straßenbahn in Berlin – wie keine andere Errungenschaft der Industrialisierung versprach sie für die Leute den lang ersehnten Übergang in ein neues Jahrhundert voller Fortschritt und Wunder. Seit die neue Technik 1881 die Pferdeeisenbahnen abgelöst hatte, transportierte die Bahn zuverlässig – und mit bis zu 20 km/h nun doppelt so schnell – ihre Passagiere von Lichterfelde über Lankwitz, Stieglitz und die Zehlendorfer Straße bis hin zur Kadettenanstalt. Unbeirrt folgte sie dem Drahtwirrwarr der Oberleitung und den glänzenden Schienen. Sie glich einer übergroßen, lang gezogenen Kutsche mit kleinen und unscheinbaren Rädern. Der hölzerne Kasten war mit Metall verkleidet, damit das Gefährt den elektrischen Mächten standhalten konnte. Großzügige Fenster gaben ihm eine elegante Erscheinung, die von den beiden Plattformen vorn und hinten abgerundet wurde, über die sich das Dach der Kabine erstreckte. Wie ein Kutscher ohne Pferde stand der Fahrzeugführer auf der vorderen und bediente die Kurbel, während nach hinten die Tür zur Kabine ging, durch die die Passagiere ein- und aussteigen konnten. Bis zu zehn Leute konnte sie fassen, und wurden die Stehplätze genutzt, dann gingen auch mal zwölf oder dreizehn. Wer mit der Straßenbahn reiste, der konnte das Stampfen und Ruckeln des Gefährts unter der hölzernen Bank spüren. Auch das leichte Kribbeln der Elektrizität könne man genießen, so hieß es. Es war ein Anblick, der mehr kurios als eindrucksvoll wirkte, der dem Berliner Stadtbild aber dennoch einen Hauch von internationalem Pioniergeist schenkte. Welche andere Weltmetropole konnte schon von sich behaupten, als erste eine Elektrische zu besitzen?

Wie sehr sich Amalia stets gewünscht hatte, auch einmal in die Straßenbahn zu steigen! Seit ihr zum ersten Mal die Gerüchte um die Kutsche ohne Pferde erzählt worden waren, hatte sie die Faszination nicht mehr losgelassen. Und wie groß war die Begeisterung gewesen, als ihre Eltern sie dann tatsächlich mit auf eine Fahrt genommen hatten! Das Summen der Schienen und das dumpfe Singen der Maschinen hatten die empfindlichen Ohren des Mädchens erfüllt und ihm einen Schauer über den Rücken laufen lassen, noch bevor die Straßenbahn in Sichtweite war, und mit großen Augen hatte es auf das Ungetüm gestarrt, als es wuchtig und fremdartig auf sie zugekrochen kam. Mutter hatte Amalia am Arm gepackt und von den Schienen gerissen, damit sie sich nicht in Gefahr bringen konnte. Ihr hatten die Straßen der Großstadt von Anfang an große Sorgen bereitet: Ein fünfjähriges Mädchen in einem Chaos, das selbst Erwachsene wie sie überfordern könne? Wie solle das nur gut gehen? Wenigstens wisse man anhand der Schienen, wo die Straßenbahn entlangfuhr! Schlimmer seien diese Automobile, die zwar wesentlich kleiner waren, dafür aber umso unberechenbarer. Vater dagegen hatte die Bedenken stets mit einem Lachen abgewunken. „Mach den Mund zu“, hatte er schmunzelnd zu Amalia gesagt, als die Bahn vor der Familie zu stehen kam. Das Mädchen hatte dieser Aufforderung nicht nachkommen können, sondern stattdessen angefangen, das Geländer ehrfürchtig zu streicheln. Er hatte sie daraufhin aufgehoben, unter den Arm geklemmt und in die Kabine getragen. Mutter war ihnen vorsichtig gefolgt. Amalia konnte sich erinnern, auf Vaters Schoß gesessen zu haben und von dort die Straßen Berlins an den Fenstern vorbeiziehen zu sehen. Wie viele Menschen es in dieser Stadt gab! Feine Herren in Anzügen und Damen in aufwändigen Kostümen, geschäftige Arbeiter und schlitzohrige Bettler, faule Halbstarke und spielende Kinder. Merkwürdige Hunderassen führten die Leute mit sich, andere scheuchten Taubenschwärme von ihrem Essen. Hier winkten ihr orientalisch aussehende Gestalten zu, und dort drüben lief ein waschechter Afrikaner. Man unterhielt sich, lachte, schrie sich an. Es gab kaum eine Ecke, wo kein Gewusel, kein Spektakel war. Amalia, die bisher nur die Ruhe des Landlebens gekannt hatte, war von dieser Geräuschkulisse geradezu erschlagen. Es gab Wäschereien, Kolonialwarenläden, Zeitungsstände und Hutläden. Nichts, was es nicht zu kaufen gab. Und die Gebäude! Grau und aus Stein waren sie und ragten so hoch hinauf, dass sie fast den Blick in den Himmel versperrten. Und auch der war grau. Selbst nachts, so sollte Amalia später feststellen, waren weder die Schwärze des Himmels noch die Sterne zu sehen. Schuld daran war der Rauch der Fabriken, der über der ganzen Stadt hing. Dort, in diesen hämmernden und mahlenden Bauwerken ereignete sich die Zukunft. Mann und Maschine, so behauptete Vater, arbeiteten gemeinsam an der sogenannten Industrialisierung, einem magischen Zeitalter voller Reichtum und Glück. Nicht lange, und auch er würde in einer Fabrik unterkommen. Elektrisches Licht und fließendes Wasser in einer schönen Wohnung, von deren Fenster man die Straßen überblicken könne – sei das nicht ein Traum? Theater und Museen besuchen, wichtige Leute kennen lernen, und in Amalias Fall auf eine gute Schule gehen zu können – sei das nicht viel besser als ein langweiliges Leben irgendwo im Nirgendwo auf einem armseligen Hof?

„Ich verspreche dir, Amalia, du wirst noch ganz oft mit der Straßenbahn fahren“, hatte Vater ihr zugeraunt und in ihre vor Begeisterung glühenden Wangen gezwickt.

Das war vor drei Jahren gewesen.

Und heute stand sie wieder da und wartete. Wenn sie doch wenigstens dieses Mal das Glück hätte, mitfahren zu können, und sei es auch nur für ein paar Minuten!

Quietschend kam die Straßenbahn vor ihr zu stehen und riss sie aus den Gedanken. Ein Herr mit Gehstock stieg schwerfällig die Metallstufe hinab, übersah jedoch sein etwas beleibteres Ebenbild mit Zylinder vor ihm, das in diesem Moment das Geländer ergriff.

„Verdammt, passen Sie doch auf!“, schnaubte der erste Gehstockträger.

Der Zweite hub zu lautstarkem Protest an.

Wenn sie jetzt schnell genug an den beiden dort rechts vorbeischlüpfte …

„Halt!“

Amalia zuckte zusammen. Der Fahrzeugführer!

„Dreckiges Gör! Glaub‘ bloß nicht, dass du mitfahren darfst! Schon gar nicht, ohne zu zahlen! Was hast du vor? Scher dich ganz schnell davon, sonst setzt’s was!“

Unsanft wurde sie von dem zweiten Gehstockherrn zur Seite geschoben. „Hast du nicht gehört? Hau ab, du Kanalratte!“

Die Leute ringsum stierten sie an.

„Na wird’s bald?“ Der Bahnführer betrachtete sie verächtlich.

Amalia wurde rot und stammelte etwas Unverständliches, doch der Mann winkte ungeduldig ab und wandte sich wieder der Steuerung zu. Ratternd setzte sich die Straßenbahn in Bewegung und fuhr davon.

Amalia seufzte. Einen Versuch war es ja wert gewesen. Elendes Pack! Widerlich orange leuchteten die Schienen in der Abendsonne. Wenn sie sich beeilte, dann war sie im Unterschlupf, bevor es dunkel wurde. Sie drehte sich um und wollte los, wurde jedoch unerwartet von einer älteren Dame in einer tiefvioletten Tornüre festgehalten. Der Stoff, die Ohrringe, die Kette – alles sah verdächtig nach Reichtum aus. „Aber Kindchen! Ich habe alles gesehen. Unmöglich, wie man dich behandelt! Wo sind denn deine Eltern?“

„Tot“, antwortete das Mädchen trocken, und als es den entsetzten Gesichtsausdruck der Dame sah, setzte es eine mitleiderregende Miene auf.

„Oh nein! Das tut mir aber leid! Wer sorgt denn für dich?“

„Niemand.“

„Niemand? Nicht einmal das Waisenhaus?“

„Nein. Dort wird man nur geschlagen und zur Fabrikarbeit gezwungen.“ Das war vermutlich noch nicht einmal gelogen, zumindest wenn man Rassel-Peter und anderen Straßenkindern glaubte.

„Ach du meine Güte! Und ich spende regelmäßig dort hin“, krähte die Violette und schaute mitleidvoll.

Amalia blickte unglücklich drein.

„Warte mal …“ Die violette Dame kramte ein wenig in ihrer Handtasche herum. Ein bronzener Handspiegel, ein Fächer aus Seide, eine billige Metallbüchse. Aus einem gut gearbeiteten Wildledergeldbeutel holte sie schließlich ein paar Pfennige hervor. „Hier! Kauf dir etwas zu Essen damit.“

Tränen kullerten Amalias Augen hinab, und mit einem lauten Schniefen nahm sie das Geld der Violetten aus der Hand.

„D…danke …“

„Nichts für ungut, meine Kleine!“, antwortete diese zärtlich.

„Pass auf dich auf!“ Sie lächelte noch einmal freundlich und rauschte dann selbstzufrieden davon.

Das Mädchen wischte sich die Tränen ab und steckte die Münzen und das goldene Armband der violetten Dame in ihre Rocktasche. Wie leicht sich manche nur von einem traurigen Gesicht ablenken ließen!

Nein. Berlin hatte sich ganz und gar nicht als die Erfüllung aller Träume von Amalias Familie herausgestellt. Berlin war grau, dreckig und brutal.

Das Zimmer, in das die Familie gezogen war, war viel zu klein und stickig. Die Vermieter hausten in der Wohnung, und so war es immer laut. Ständig hörte man es im Nachbarzimmer reden oder streiten. Vater meinte, sie hätten Glück gehabt. So schnell und günstig ein Zimmer in dieser Großstadt zu finden, sei keine Selbstverständlichkeit. Natürlich, es war nicht groß, und dass sie die Räumlichkeiten mit anderen teilen mussten, dazu nicht in der besten Gegend, war auch nicht geplant gewesen. Aber all das sei ja nur vorübergehend. Bald, bald, wenn das mit der Fabrik klappte, sei alles ganz anders. Mutter betrauerte derweil die Wäsche, die von all der unreinen Luft wieder dunkel wurde, sobald man sie frisch gewaschen zum Trocknen aufhängte.

Nicht lange, und Vater erzählte von einem netten Mann, den er an irgendeiner Straßenecke kennen gelernt habe. Er sei Bankier und wisse genauestens über Geldangelegenheiten Bescheid. Sei es nicht eine glückliche Fügung, jemanden zu kennen, der helfen könne, das Geld, das sie für den Verkauf ihres Bauernhofs bekommen hatten, sinnvoll anzulegen? Mutter hegte Zweifel, ließ sich aber von der schicken Visitenkarte des Unbekannten beeindrucken und dann ihren Ehemann walten.

Kurz darauf war Vater verschwunden. Und all das Geld mit ihm. Drei sorgenvolle Nächte vergingen, dann kam die Nachricht von der Polizei, seine Leiche sei in einem Straßengraben gefunden worden. Es sei offenbar ein Raubüberfall gewesen. Von dem ominösen Mann und seiner Bank, zu dem der Ermordete unterwegs gewesen sei, fehle jede Spur.

Mutter wurde gebeten, die Leiche zu identifizieren. Mit vor Weinen aufgequollenem Gesicht kam sie zurück, kaum fähig zu sagen, was sie denn gesehen hatte. Sie sperrte Amalia daraufhin in dem gemeinsamen Zimmer ein und ließ sie nicht wieder hinaus. Tagelang saß das Mädchen verzweifelt und allein herum, ohne eine Beschäftigung zu haben. Mutter musste sich währenddessen um die Aufbewahrung und Herrichtung der Leiche kümmern und alle nötigen Vorbereitungen für die Bestattung treffen. Amalia wurde gesagt, sie solle in Sicherheit bleiben. Böse Menschen seien schließlich überall. Eine nagende Angst befiel das Mädchen und machte die lähmenden Tage und Nächte noch tränenreicher, noch unerträglicher.

An den Tag der Beerdigung erinnerte sich Amalia später dunkel. Alles war düster und trostlos gewesen. Die kleine Kapelle mit den roten Backsteinwänden, der endlose Friedhof, der bewölkte Himmel und der schwarze Sarg mit den Messinggriffen. Eintönige traurige Lieder, die gesungen wurden. Das Grab war schwindelerregend tief gewesen, und ein langer, rosa Regenwurm hatte an der Graskante schwarzbraune Erde herabbröseln lassen. Bis auf den Pfarrer, den Küster, zwei Messdiener und vier fremde Sargträger war niemand gekommen, um Vater die letzte Ehre zu erweisen. Keine Nachbarn, keine Freunde. Hier in Berlin kannte niemand die Familie.

Die Verwandten hatten alle geschrieben, dass Berlin leider zu weit weg sei, um rechtzeitig zur Beerdigung zu kommen. Herzliches Beileid aus der Heimat. Mutter hatte viel geweint, ein Anblick, der bis dahin selten gewesen und zutiefst verstörend war. Das Mädchen hatte sich die meiste Zeit in Mutters schwarzen Rock gekrallt. Irgendwann war es, vom vielen Weinen erschöpft, in ihren Armen eingeschlafen und war nach Hause getragen worden.

Mutter hatte versichert, dass sie schon irgendwie durchkommen würden, schließlich könne sie nach Arbeit in einer Fabrik fragen. Das Geld werde schon reichen. Und tatsächlich bekam sie kurze Zeit später eine Stelle.

Sie zogen in eine noch kleinere, heruntergekommenere Wohnung. Hatten sie vorher noch ein wenig Platz für sich gehabt, musste sich die angeschlagene Familie nun ihr Zimmer mit zwei anderen Frauen teilen, Arbeitskolleginnen aus der Fabrik, in der auch Mutter untergekommen war. Die ehemals weißen Wände waren grau, die obere Angel der Tür war herausgebrochen, und die Fenster waren undicht. Auch der Rest der Wohnung war in keinem besseren Zustand, so wie im Grunde das ganze Mietshaus. Die Bewohner, viel zu viele, waren allesamt Fabrikarbeiter, finstere Gestalten, die stets zornig und müde dreinschauten. Tagsüber war alles ausgestorben, doch nachts lärmte es in allen Stockwerken. Türen schlugen zu, Stühle wurden herumgerückt, Schritte polterten und Stimmen tönten in allen Ton- und Gefühlslagen. Die wenigen arbeitsfreien Stunden mussten für alles genutzt werden, was Körper und Seele tagsüber verwehrt blieb. Es mutete beinahe absurd an: Stets konnte Amalia hören, wie sich die Leute über die harte Arbeit beschwerten, doch kaum jemand schien sich bis tief in die Nacht hinein ausruhen zu wollen. Wenn Amalia selbst schlafen wollte, zog sie Kissen und Decke über den Kopf, doch der Lärm ließ sich nicht vertreiben und machte sie beinahe wahnsinnig. Nur tagsüber fand sie einige unruhige Stunden Schlaf. Aber auch die Straße vor dem Haus ließ ihr dann zusammen mit dem Sonnenlicht keine richtige Auszeit. Nicht selten wünschte sich Amalia alle Menschen der Stadt auf den Mond oder sonst wohin, damit sie ein für alle Mal ihre Ruhe hätte. Sollten sie doch den Teufel mit ihrem Höllenspektakel ärgern!

Mutter stand jeden Morgen vor Sonnenaufgang auf, um in die Fabrik zu gehen. Bevor sie die Wohnung verließ, kam sie für einige Momente zu ihrer Tochter und strich ihr kurz über den Kopf, um ihr noch einen schönen Tag zu wünschen, was diese dann mit einem schläfrigen Grunzen erwiderte. Spätabends kam sie dann mit einem mageren Abendbrot nachhause, um keine halbe Stunde später erschöpft ins Bett zu fallen.

Amalia dagegen schlief meistens bis in die Mittagsstunden. Den Tag verbrachte sie größtenteils allein. Die Erwachsenen gingen alle zur Arbeit und nahmen ihre Kinder mit, etwas, das Mutter nach einem Tag in der Fabrik geschworen hatte, Amalia zu ersparen. Abgesehen von ein paar Bauklötzen und einer Puppe hatte sie kein Spielzeug, und diese wurden nach einigen Stunden stets langweilig. Aus der Wohnung traute sie sich nicht. Mutter hatte sie vor diesem unheimlichen Mann in der Erdgeschosswohnung gleich neben dem Eingang gewarnt. Er trinke und habe es auf alle Frauen und Mädchen abgesehen. Manchmal verliere er die Beherrschung und stürze sich auf seine Opfer und versuche sie zu umarmen oder zu küssen. Nicht selten sei das Gezeter im Treppenhaus ihm zu verdanken.

Das Mädchen war der Wohnung schnell überdrüssig. Die Gemeinschaftsküche hatte bis auf etwas Geschirr und einen Holzofen nicht viel zu bieten und in den Zimmern waren zwar die Habseligkeiten der Arbeiter verstaut, doch war es ihr streng verboten, diese anzufassen. So strich sie stundenlang in der einen Hand die Puppe, die andere über die raue Tapete führend, durch die Zimmer. Mal spielte sie einen Waldspaziergang aus ihren Erinnerungen nach, mal tauchte sie in ihren Gedanken ein in ferne Welten und Städte, durch die ihr Weg in ehemals weiß getünchten, fleckigen Spiralen verlief. Manchmal setzte sie sich auch an ein Fenster und schaute auf den Hinterhof oder was spannender war: auf die Straße vor dem Wohnhaus. Viel war jedoch auch dort tagsüber nicht los. Die meisten Gebäude in der Umgebung waren Mietbaracken für Arbeiter der Fabrik. Erst abends kamen die Leute zurück und bevölkerten für kurze Zeit das Viertel. Sie zogen in Strömen durch die Straße, bis sie an ihren Haustüren angelangt waren, um dann im Inneren der Gebäude zu verschwinden. Gegenüber ihres Wohnhauses lag eine kleine Wäscherei und links daneben eine Backstube. Ab und zu kam ein einzelner Kunde vorbei, erbarmte sich der Ladenbesitzer und nahm ihre Dienste in Anspruch. Sie alle fand Amalia langweilig. Bis auf zwei Kinder. Alle paar Tage kamen sie vorbei und besuchten die Bäckerei. Das Mädchen hatte blonde Zöpfe, der Junge braune Locken und stets eine graue Schiebermütze auf. Beide trugen sie verwaschene Hemden und dreckige Hosen, selbst das Mädchen. Älter als Amalia selbst konnten sie nicht sein. Händchenhaltend traten sie in den Laden, um dann kichernd wieder herauszustürzen und schnell hinter der nächsten Biegung zu verschwinden.

Sophie und Julius hießen die beiden. Sie hatten in einem müßigen Moment ihre Beobachterin hinter dem Fenster bemerkt und gewunken. Als Amalia schüchtern zurück gewunken hatte, waren sie einfach an der gefährlichen Tür im Erdgeschoss vorbeispaziert und zu ihr hochgekommen. Das vernachlässigte Mädchen konnte nicht anders als sich zu freuen. Fast einen Monat war sie nun in diesem Loch gefangen gewesen. Endlich wieder andere Kinder! Endlich wieder Freunde! Sie spielten zusammen und teilten sich die gestohlenen Brötchen. Und als Amalias Gesicht endlich wieder vor Freude glühte, redeten die beiden Geschwister ihr gut zu und nahmen sie mit auf die Straße. Sie rannten herum, versteckten sich, rauften miteinander und tollten umher. Sophie und Julius erklärten ihrer neuen Freundin, wie man den Bäckershund geschickt reizte, um sein Herrchen hinter der Theke hervorzulocken, damit man unbemerkt etwas Gebäck stibitzen konnte. Sie zeigten ihr, wie man wohlhabende Bürger anrempelte, um an ihre Jackentaschen zu kommen. Und sie erzählten ihr von Rassel-Peter und seiner Bande. Zu elft waren sie seit kurzem. Peter war ihr mutiger Anführer, ein großer Bruder, der für alle sorgte. Er war zwar erst fünfzehn, hatte aber alle wichtigen Verbindungen, die man brauchte, um auf der Straße leben zu können. So hatte er ihnen allen ein baufälliges Haus besorgen können. Dazu kannte er den ominösen Herrn Ritschke mit der geheimen Goldschmiede unter seinem Gebrauchtwarenladen. Er hatte auch arrangieren können, dass dieser ihnen für ihre Beute Essen und Geld bezahlte. Und er war es auch, der alle Diebeskniffe gemeistert hatte. Noch durften sie ihr nicht sagen, wo das Versteck der Bande war, aber bestimmt dürfe Amalia alle einmal kennen lernen.

Und dies sollte schneller geschehen, als ihr lieb war. Es war ein zugiger Herbstabend. Sophie und Julius waren längst gegangen und Amalia saß wieder einmal am klappernden Fenster und wartete. Es war bereits dunkel, doch Mutter ließ sich Zeit. Wo war sie nur? Die Straße hatte sich bereits wieder geleert. Ob es wieder nur Brot und eine Ecke Käse geben würde? Jäh wurde sie aus ihrer Tagträumerei gerissen, als der plötzliche Lärm zweier Leute aus dem Treppenflur zu ihr drang. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Eine Frau kreischte. Schritte polterten die Stufen hinauf. Wieder schrie die Frau, dann das Grölen eines Mannes.

„Lass mich los!“

Das war Mutter! Erschrocken sprang das Mädchen auf.

„Komm her, du Hure“, schallte es aus dem Flur.

„Nein! Hilfe!“

Amalia stürzte zur Wohnungstür, ihr Herz raste vor Sorge.

Dumpfe Schläge – das klang nach einem Handgemenge!

„Fass mich nicht an, du Schwein!“

Sie griff nach der Klinke und drückte sie hinunter.

Ein markerschütternder Schrei.Rums.

Sie riss die Wohnungstür auf und fiel fast über das Geländer gegenüber, so schnell war sie. Panisch folgte sie mit ihrem Blick dem Lauf der Treppe, der sich in einer viereckigen Spirale an den Wänden des Treppenhauses mit zahlreichen Wohnungstüren vorbei entlangwand und in den braungescheckten Fliesen des Gebäudeeingangs mündete. Dreieinhalb Stockwerke tiefer zu ihrer Rechten konnte sie einen Mann mit freiem Oberkörper und zerzausten grauen Haaren an der Wand lehnen sehen. Es war ohne Zweifel der Ewigbetrunkene aus dem Erdgeschoss. Wo war Mutter? Dann blickte sie in die Richtung, in die auch der Unhold starrte. Dort, auf dem Plateau zwischen Erd- und Erstem Geschoss lag eine Gestalt! Amalia schrie auf und rannte die Treppen hinunter. Türen flogen auf. Bis hoch in den obersten siebten Stock war der Lärm gedrungen. Wie in einer Arena drängten sich die Leute ans Geländer, um besser sehen zu können, was unten geschah.

„Mutter!“ Amalia preschte die letzten paar Stufen an dem Betrunkenen vorbei und stürzte vor der zusammengekrümmten Frau zu Boden. Mutter hatte die Knie angewinkelt und die Arme an ihre Brust gezogen, so als hätte sie noch versucht, sich während des Falls zu schützen. Der Kopf war unnatürlich nach hinten gedreht. In ihren Augen stand noch immer die Überraschung.

Entsetzt fing das Mädchen an, den Körper zu schütteln. „Mutter, Mutter! Geht es dir gut? Mutter!“

Es bemerkte nicht die schlurfenden Schritte, die von oben auf sie zukamen. Mit einem wüsten Ruck wurde es an den Schultern gepackt und hochgezogen.

„Aus…m W…weg da, Göre! Die Sch…schl…lampe g…hört mir!“ Fast wäre Amalia über das Geländer gefallen, als sie beiseite geworfen wurde, doch glücklicherweise bekam sie es gerade noch rechtzeitig zu fassen. Das Gleichgewicht verlor sie dennoch, und so rutschte sie ein paar Stufen tiefer. Die Bestie von Mann bemaß durch sein fettiges, ungeschnittenes Haar sein Opfer mit trüben Augen. Unendlich groß war er, ein dreckiges, stinkendes Ungeheuer. Er zog an Mutters rechtem Arm, sodass sich ihr Oberkörper aufrichtete. Der Kopf kippte zur Seite und begann, hin und herzupendeln, ein Anblick, der Amalia vor Grauen aufschreien ließ.

„Die …die da will ir…ir‘n…wie nich!“ Der Mann versuchte, das zitternde Kind vor ihm zu fixieren. „D…dann halt du!“

Noch einmal schrie Amalia auf, als das Scheusal Mutters Körper fallen ließ und auf sie zuwankte. Sie fiel rücklings die Treppe hinunter, doch den Schmerz spürte sie nicht einmal. Mit Tränen in den Augen und einem Herz, das fast zerspringen drohte, schaffte sie es irgendwie hinunter zur Eingangstür hinaus in die kalte Herbstnacht.

Ziellos und von Angst überwältigt irrte Amalia durch die Straßen. Sie wusste weder, wo sie war, noch, wohin sie gehen sollte. Die Sonne stand bereits wieder am Himmel, als sie zurück in der Straße vor ihrem Zuhause zu stehen kam. Leute drängten sich vor der Tür, schwatzten und schauten neugierig. Ein Polizist drängte sich durch die Menge und blaffte wahllos die Umstehenden an. Dann wurde die Tür aufgestoßen, und vier Männer in schwarzen Anzügen trugen einen dunkelbraunen Sarg heraus. Die Masse öffnete sich zu einem Gang, der an eine Kutsche reichte, die sie vorher verdeckt hatte. Zwei schwarze Pferde waren vor sie gespannt. Der Kutschkasten war aus schwarzem Holz, und großzügige Fenster gaben den Blick auf die Fläche frei, auf die der Sarg gestellt werden sollte. Langsam gingen die Sargträger auf das Gefährt zu und schoben ihre Last hinein. Da drin war Mutter! Wo brachten sie sie hin? Sollte sie auf die Kutsche springen? Sollte sie den Sarg öffnen und sie wieder herausholen? Vielleicht lebte sie ja noch? Warum taten die vielen Menschen denn nichts?

Zwei Gestalten traten von hinten an sie heran. Es waren Julius und Sophie. „Amalia. Gut, dich zu sehen! Wir haben gehört, was passiert ist.“ Sanft legte ihr Sophie eine Hand auf die Schulter.

Amalia stiegen wieder die Tränen in die Augen. „Wie …?“

„Peter war unterwegs. Aber wir sollten besser gehen, bevor sie dich sehen.“ Die beiden nahmen sie bei den Händen. „Na los, du willst doch nicht im Waisenhaus landen!“

Die Schatten begannen, länger zu werden, und das Grau der Häuser wurde dunkler. Amalia schob die düsteren Erinnerungen beiseite und versuchte angestrengt auf den länglichen Pflastersteinen an der Bordsteinkante zu balancieren. Es war wichtig, dass sie nicht das Gleichgewicht verlor. Die Arme ausgebreitet setzte sie vorsichtig Schritt vor Schritt. Die Vergangenheit störte nur das Hier und Jetzt. Ändern ließ sie sich nicht, und das Zurückblicken verursachte nur unsägliche Schmerzen. Schmerzen, die ihre Sinne vernebelten. Und hier in Berlin konnte man sich dies auf keinen Fall leisten. Sie schaute entschlossen, um der Straße zu zeigen, dass sie stark war und nicht umfallen würde. Ihr Magen knurrte. Bloß schnell zu den anderen! Amalia beschleunigte ihre Schritte, rutschte jedoch von der Kante ab und wechselte wieder in eine weniger schwierige Gangart. Sie kam an Läden vorbei, die nach und nach schlossen, ließ da noch ein Paar Strümpfe, dort einen Apfel mitgehen. Kauend bog sie in die kleine Gasse, die zu dem leerstehenden Haus führte, in das sie sich mit Rassel-Peter und den anderen Kindern eingenistet hatte. Was es wohl heute zu Essen gab? Sie warf den Apfelbutzen gegen eine Metalltonne. Zufrieden nahm sie das Scheppern wahr – als auf einmal ein ganz anderer, ungewohnter Klang an ihre Ohren drang: ein Vogelzwitschern. War das etwa ein Rotkehlchen? Eine Amsel? Eine Nachtigall? Verwirrt blieb sie stehen. Nein, das waren alle auf einmal! Schon lange hatte sie keine Vögel gehört, sah man von den Tauben auf den Straßen ab. Da, schon wieder! Das unverwechselbare Zirpen einer Grille mischte sich unter den Vogelgesang, fein und irgendwie lockend. Es kam von dem Eingang der Gasse gegenüber. Amalia vergaß ihre Vorfreude auf das Abendessen und machte mit einem erstaunten Lächeln kehrt. Neugierig und langsam, damit sie auch ja keinen Ton durch eine schnelle Bewegung verpasste, folgte sie den Klängen. Ein sanftes Rauschen eines Bächleins, ein Rascheln von Blättern, ein Kinderlachen und der klare Gesang einer Sopranistin wechselten sich nacheinander ab, vermischten sich und formten sich zu einer wundersamen Melodie. Bezaubert kam Amalia vor der Gasse zu stehen. Sie war genauso schäbig und vom gleichen Grundriss wie die, in der sie nun selbst hauste; kaum breit genug für eine Kutsche, mehrere Mülltonnen und heruntergekommene Häuser, die einige Meter weiter in den abendlichen Schatten eines kleinen Hinterhofs mündeten. Den dunkelgrauen Himmel schirmten breite Dächer ab. Die Fenster einer Kneipe erleuchteten schwach gelblich einen Halbkreis vor ihrem Eingang zur großen Straße, die Amalia gerade überquert hatte. Wie ein Künstler auf einer Bühne stand dort ein Junge, nicht älter als zehn, in schlichten Klamotten und mit einem prachtvollen goldblonden Haarschopf und blies selbstversunken in eine glänzende Flöte. Er hatte einen kleinen Zylinder zum Geldsammeln vor sich aufgestellt, der sich beständig füllte. Amalia drängte sich durch das Grüppchen an Zuhörern, um besser sehen zu können. Tatsächlich, die Geräusche kamen von hier! Das Instrument, auf dem der kleine Musikant spielte, war kaum größer als die Spanne seiner beiden Hände und schien aus purem Gold zu sein und hatte die Form eines zarten Zweiges, aus dem lauter winzige Blüten heraussprossen. So zierlich war es gearbeitet und so fein verziert, dass es geradezu überirdisch wirkte. Bestimmt an die zwanzig kleine Löcher musste die Flöte haben, und mit jedem Griff wurden ihr neue schöne Geräusche entlockt, obwohl die Finger des Jungen viel zu groß wirkten. Er beherrschte sie ausgezeichnet. Seine Melodie erzählte Amalia vom Wind auf den weiten Roggenfeldern, durch die sie so gerne gestreift war, von dem angrenzenden Wäldchen, von den Wolken und dem Regen, der auf die Dächer ihres Hofes geprasselt hatte. Er erzählte von den muhenden Kühen, dem Klirren des Sonntagsgeschirrs und dem Wehen des Vorhangs, an dem Mutter so gerne mit ihrem Strickzeug gesessen hatte. Das Mädchen hörte das Knistern des Feuers im Ofen, in dem ständig Brot gebacken wurde, das ruhige Schnaufen des Wachhundes und das Schwappen in den Melkeimern, wenn Vater vom Milchholen zurückkam. Amalia trat zurück und versteckte sich im Schatten einiger Kisten. Dort lauschte sie der Flöte, nicht mehr fähig, ihre Tränen zurückzuhalten. Lange hatte sie sie unterdrückt, und lange, lange flossen sie nun alle aus ihr heraus.

Am nächsten Tag stand der Junge wieder an der gleichen Stelle und spielte auf seinem Instrument. Diesmal war Amalia gefasster. Die Flöte entführte sie in eine vergangene Welt voller Frieden und Anmut, und das Mädchen stand unter der Menge und blieb, bis der letzte Ton verklungen war. So gedankenversunken war sie, dass sie gar nicht merkte, wie sich die Menge zerstreute und der Junge mit dem Instrument verschwand.

Die Tage vergingen, doch der kleine Flötenspieler war jeden Abend zugegen und gab seine Weisen zum Besten. Es sprach sich herum: Ein Kind, das es verstehe, die wundersamsten Töne auf einer himmlischen Flöte hervorzubringen, die selbst die Hartgesottensten berühren konnten. Mit jedem Tag wuchs die Anzahl der Zuhörer. Und der Kneipenbesitzer begrüßte das tägliche Konzert vor seinem Laden, denn es brachte ihm den einen oder anderen neuen Kunden.