Warum in die Ferne schweifen? Geschichten und Gedichte von Heimat und Fremde -  - E-Book

Warum in die Ferne schweifen? Geschichten und Gedichte von Heimat und Fremde E-Book

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Beschreibung

Schön ist die Heimat und für die in ihr verwurzelten Menschen ein vertrautes Fleckchen Erde. Heimat ist Herkunft, ein Landstrich oder ein Erinnerungsort. Doch seine Heimat kann man auch verlieren, oder sie verändert ihr Gesicht und wird fremd. Diese Anthologie versammelt Prosastücke und Gedichte rund um das Thema Heimat. Facettenreich und ohne Tümelei erkunden sie in vielfältiger Weise das scheinbar Urvertraute. Mit Texten von Goethe und Heine, Annette von Droste-Hülshoff und Gertrud Kolmar, Stefan Zweig, Kurt Tucholsky, Else Lasker-Schüler, Wolfgang Borchert und vielen anderen.

  • »Denn meine Heimat ist mein Herz.« Hoffmann von Fallersleben
  • Vielfältig & berührend: literarische Spaziergänge entlang von Herkunft, Heimat und Erinnerung
  • Was ist Heimat? Einfache Frage, die keinen kalt lässt. Dieses Geschenkbuch lädt ein, Antworten zu finden
  • »Die Heimat ist ja nie schöner, als wenn man in der Fremde von ihr spricht.« Horst Wolfram Geißler

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Seitenzahl: 201

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Warum in die Ferne schweifen?

Warum in die Ferne schweifen?

Geschichten und Gedichte von Heimat und Fremde

Ausgewählt von Jan Strümpel

Anaconda

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Penguin Random House Verlagsgruppe FSC® N001967

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 by Anaconda Verlag, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagmotiv: shutterstock.com / Vector Tradition

Umschlaggestaltung: www.katjaholst.de

Satz und Layout: Achim Münster, Overath

ISBN 978-3-641-31144-5V001

www.anacondaverlag.de

Vorwort

Auf die Frage nach ihrer Heimat antworten viele Menschen vermutlich erst einmal: mein Dorf, meine Stadt, die Landschaft, aus der ich stamme. Also das ganz bestimmte Fleckchen Erde, in dem man verwurzelt ist oder es einmal war. Die Anschlussfrage könnte lauten, ob man sich diesem Ort denn in besonderer Weise verbunden fühlt, »Heimatgefühle« für ihn hegt, und wenn ja, warum. Wenn Sie dieses Buch in die Hand genommen haben, werden Sie vermutlich neugierig sein, was kluge Leute dazu geschrieben haben, und tatsächlich erhalten Sie hier jede Menge Antworten.

Wobei viele etwas zu einem Fleckchen Erde sagen, aber längst nicht alle. Heimat als Ort der Verwurzelung kann nämlich viel mehr sein als ein geografisches Stück Land: die Familie, die Herkunft, der Beruf, der Glaube, der Verein. Manche fühlen sich in der Welt zu Hause oder haben eine geistige Heimat. Während einer angenehmen Tischgesellschaft in seinem Haus sagte Goethe zu seinem Sekretär Eckermann: »Alle diese vortrefflichen Menschen, das ist es, was ich eine Heimat nenne, zu der man immer gerne wieder zurückkehrt.«

Dann gibt es Menschen, die auswandern, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden, aus ihr flüchten mussten oder in den Krieg eingezogen wurden. Heimweh verbindet sich mit dem Ort, an den man gern zurück möchte oder der unerreichbar geworden ist. Und schließlich fühlen sich gar nicht alle da wohl, wo sie herkommen, die Heimat ist ihnen fremd geworden oder stellt sich gegen sie. Es gibt viele Gründe, daheim unbehaust zu sein.

Dieses Buch versammelt literarische Texte früherer Zeiten, die in vielgestaltiger Weise Heimat zum Thema haben. Die Schriftstellerinnen und Schriftsteller umkreisen die Frage, was Heimat ist oder war oder sein kann oder ihnen bedeutet, auch in ihrer verschwisterten Form, der Fremde. Und sie ­treten raus vor die eigene Haustür, versuchen einen Landstrich in seinem Charakter zu erfassen oder fahren in die nähere Umgebung mit dem berechtigten Gefühl, dass es auch abseits klassischer Touristenziele bestimmt viel zu entdecken gibt.

Heimatlieder enthält dieser Band nur wenige, Heimat­roman-Literatur gar nicht. Lieder, die einen Ort, eine Region, ein Gewässer besingen, stammen oft eher von Verseschmieden als von guten Dichtern, hier genügen einige Paradebeispiele. Und was sogenannte Heimatdichter geschrieben haben, trägt für uns Heutige oft eher weniger zur Erkundung dieses flirrenden und so schwierigen Begriffs Heimat bei. ­Übrigens kann man seine eigene Heimat gern toll und ganz besonders schön finden, aber wer zu ihrem Lob die Heimaten anderer Menschen, Völker, Kulturen oder Nationen herabsetzen zu können meint, ist in dieser Anthologie nicht willkommen.

Lassen Sie sich mitnehmen zu den verschiedenen, ganz individuellen, ernsten und fröhlichen Formen der Beschreibung dessen, was Heimat sein kann und wie vielfältig sie sich dem Auge der Betrachter darbietet. Dem einen ist es ein Kindheitsort, dem anderen ein Kartoffelfeld. Und der dritte braucht keine Fernreise, sondern nur seine Füße und offene Augen, um das Gute ganz in der Nähe zu finden und mit ihm das Glück.

Johann Wolfgang von Goethe

Erinnerung

Willst du immer weiter schweifen?

Sieh, das Gute liegt so nah.

Lerne nur das Glück ergreifen,

Denn das Glück ist immer da.

Heinrich Seidel

Die Geschichte eines Tales

Seit vielen Tausenden von Jahren floss der Bach schon durch das Tal. Sein Rauschen und Rieseln war ohne Ende, ob er nun im Frühling, wenn der Schnee in den Bergen schmolz, mit trüber Flut und mit stärkerem Brausen einhertobte, ob er im Sommer grünlich und glasklar zwischen bemoosten Felsblöcken plätscherte, ob er im Herbste die Fülle der gelben Blätter mit sich führte und in seinen stillen Buchten anhäufte, oder ob er im Winter fast schwärzlich und dampfend durch Eis und Schnee dahinging. So war es einst, so ist es heute und so wird es sein, solange über ihn hinweg die Wolken ziehen und die Gipfel in Dunst hüllen, solange der Tau fällt und in den feuchten Wiesen die Nebel brauen.

Es war vor langer Zeit, da hatte diesen Bach noch keines Menschen Auge erblickt, dieweil es keine gab im weiten Umkreis, und das Tal war erfüllt mit einem mächtigen Urwalde, der, aus sich selbst hervorgewachsen, in sich selbst wieder verging. Keine anderen Töne kannte es als den Donner des Himmels, das Sausen des Windes in den Wipfeln, das Rauschen der Gewässer, das Brüllen und den Schrei der wilden Tiere, den Gesang der Vögel und das Summen der wilden Bienen. In den Höhlen der Felsen und der uralten Eichbäume wohnten der Bär, der Luchs und die wilde Katze und an den Bach kamen zur Tränke stolze Hirsche und zierliche Rehe. Der Dachs hatte einen ausgetretenen Steig von seiner Höhle bis ans Wasser und der listige Fuchs schnürte dort gerne entlang, um bei der Tränke ein leckeres Vögelchen zu erhaschen oder eine jener rot getüpfelten Forellen, die den klaren Bach in Menge erfüllten.

Die Bäume in diesem Tale wuchsen, wie sie wollten, und wurden uralt, bis sie endlich von den Larven der Käfer und anderer Insekten vielfach durchbohrt und überall angehämmert von fleißigen Spechten abstarben und mit weißgebleichten Ästen dastanden. Dann kam ein Sturmwind, der sie unter gewaltigem Krachen zu Boden schmetterte, und alsbald wuchs üppig aus den vermodernden Trümmern neues Leben hervor. Zuweilen stürzte ein solcher Riese in das Bachbett, sodass sich die Gewässer schäumend Bahn brechen mussten durch verworrenes Geäste. Es kam dann wieder ein mächtiger Wolkenbruch, der den Bach hoch anschwellen ließ, sodass er die Hindernisse beiseite warf und die Trümmer bergabwärts führte.

Nun geschah es einst an einem stillen Sommerabend, da weiter nichts vernehmlich war als das endlose Rieseln der Gewässer und der Gesang der Rotkehlchen und Amseln, welche der letzte rote Abendschein noch wach hielt, dass ein stattlicher Rehbock aus dem Walde vorsichtig auf eine begraste Waldblöße trat und dann, nachdem er nach allen Seiten gesichert hatte, an den Bach zur Tränke ging. Als er dort zum Wasser sich niederbeugte, ertönte plötzlich ein durchdringender Warnruf einer aufmerksamen Amsel, wodurch sie ein Raubtier oder sonst etwas, das ihr gefährlich scheint, ankündigt. Auf diese wohlbekannten Töne hin richtete der Rehbock sich hoch empor und wollte sich eben zur Flucht wenden, als ein seltsames Schwirren durch die Luft ging, worauf das Tier einen plötzlichen Satz machte, dann unter mehrfachem Schrecken in die Knie brach und nach einigen vergeblichen Versuchen, wieder hochzukommen, vornüber sank und mit dem Kopf im fließenden Wasser regungslos liegen blieb. Da ertönte hinter dem bergenden Buschwerk ein jauchzender Schrei und hervor trat der erste Mensch, der je in diese Gegend gedrungen, eine neue Art von Raubtier, welche gefährlicher war als alle anderen zusammengenommen. Er war notdürftig in Felle gekleidet, rotgebrannt von Luft und Sonne und trug als Waffen Bogen und Pfeile, einen Speer und ein Steinbeil. Zunächst betrachtete er wohlgefällig seinen Pfeil, der dem Rehbocke gerade auf dem Blatt saß und tief eingedrungen war, dann zog er aus einer Tasche von Biberfell ein Feuersteinmesser hervor, brach seine Beute auf, streifte ihr zum Teil das Fell ab und löste eine der stattlichen Keulen heraus. Nun trug er von dem reichlich überall verstreuten dürren Holz zusammen, davon er drei passliche Stücke sorgsam aussuchte. Zwei davon stieß er tief in den Boden und machte dann mit seinem Messer zwei sich gegenüberliegende Vertiefungen in die hervorstehenden Enden. Dann schlang er die Sehne seines Bogens um das dritte beiderseitig zugespitzte Holz und klemmte es mit den Enden in die Vertiefungen der aufrechten Äste, also dass die Figur eines Reckes entstand, dessen Seitenteile mit starker Federkraft auf den waagrechten Stab drückten. Diesen nun versetzte er vermittels der umgeschlungenen Bogensehne, indem er mit dem Bogen selbst heftig hin und her fiedelte, in eine schnelle, wechselnde Drehung, wodurch wegen der starken Reibung an den Auflagepunkten alsbald eine solche Hitze erzeugt wurde, dass ein leichter Rauch aufstieg und nach einer Weile einzelne Funken hervorsprühten. Solche fing er mit einem bereitgehaltenen Stücke verwitterten Weidenholzes auf, welches alsbald sich entzündete und anfing zu glimmen. Dann hüllte er es in feines, trockenes Gras, das er bald durch eifriges Blasen in den schwelenden Zunder hell aufflammen machte, und nun häufte er neues Gras darauf, dann feine, dürre Zweiglein, dann gröbere Äste und endlich flammte in der schweigenden Wildnis das erste Feuer empor und sandte eine schnurgerade Rauchsäule in die stille Abendluft. Der Mann hieb sodann mit seinem Steinbeil von einem benachbarten Haselbusch zwei gabelige Äste zu und einen glatten Schössling, der ihm zum Bratspieß dienen sollte. Daran steckte er seine Rehkeule, legte ihn über die Gabeln der in die Erde gebohrten Stangen und briet nun sein Abendessen, indem er mit sichtlicher Gier auf das Ende wartete. Als er mit dem Hunger eines Raubtieres den größten Teil des noch halbrohen Fleisches verzehrt und seinen Durst aus dem nahen Bache gelöscht hatte, schleppte er noch mehr Holz zusammen, wälzte auch einen mächtigen Block zum Feuer, der voraussichtlich die ganze Nacht ausdauerte, und streckte sich dann zwischen der Glut und einem benachbarten Felsblock zum Schlafe nieder, unbekümmert um das Gebrüll der wilden Tiere, denn er wusste wohl, dass sie das Feuer scheuten. So hielt der erste Mensch, welcher diese einsame Wildnis betrat, seine Nachtruhe, indes die Gewässer des Baches lauter durch die Stille rauschten, das Feuer knisternd weiter brannte, die funkelnden Sterne schweigend am Himmel dahinwandelten und die Eulen mit schaurigem Schrei über ihn hinwegflogen. Zuweilen waren im Walde leise schleichende Schritte vernehmlich und zwei glimmende Augensterne, in welchen der Widerschein des Feuers lag, stierten aus der schwarzen Finsternis eine Weile auf das unbekannte Neue und tauchten dann wieder in das geheimnisvolle Dunkel zurück.

Von dieser Zeit an kamen häufig derlei Gesellen in das Tal, um dort zu jagen, und dann hallten die Berge wider vom Geschrei der Jäger, dem Bellen ihrer Hunde und dem dumpfen Blasen der Stierhörner. Es war ein starkes, wildes Geschlecht, das den Bären in seiner Höhle aufsuchte, den gereizten wilden Eber auf vorgehaltene Spieße aufrennen ließ, eine blutgierige Art, nur trachtend nach Fleisch und dem süßen, fetten Mark der Knochen. Als nun des Mordens genug und das Wild selten geworden war in der Gegend, verschwanden sie wieder, um bessere Jagdgründe aufzusuchen, und für lange Zeit kehrte die alte Einsamkeit in das Tal zurück.

Dann kam es wieder, dass eines Morgens ein stattlicher Zweiunddreißigender, der auf einer saftigen Waldwiese behaglich äste, plötzlich den Kopf mit dem mächtigen Geweih hoch emporhob und lauschend in die Ferne horchte. Das war nicht das Pochen des Schwarzspechtes, das dort so taktmäßig klopfte, solche Töne hatte sein aufmerksames Ohr noch niemals vernommen. So stand er eine Weile, doch als das neue Geräusch sich immer gleich blieb und in der gleichen Ferne, senkte er gleichmütig den Kopf zu dem fetten Grase wieder hinab. Es war aber das Pochen stählerner Äxte, welches das Tier vernommen hatte, und diese Töne verschwanden nun nicht mehr aus der Gegend, sondern rückten von Jahr zu Jahr näher und an stillen Abenden konnte man an jenen Orten eine Reihe von Rauchsäulen zählen, welche in die unbewegte Luft emporstiegen. Dann kam eines Tages ein kräftiger Mann das Tal hinaufgewandert, der war in gewebte Gewänder gekleidet und stützte sich auf einen Spieß mit blanker stählerner Spitze. Dieser Mann durchstreifte die Gegend um den Bach herum nach allen Richtungen, betrachtete sich die Wiesen und die Waldung, grub mit seinem Spieß von der Erde aus und prüfte diese, indem er wohlgefällig dazu nickte, und verschwand dann wieder talabwärts.

Nach einiger Zeit vernahm die Wildnis wieder neue Töne, das Schnaufen von Pferden, das Kreischen mangelhaft geschmierter Wagenräder und das Gebrüll von Kühen, denn das Tal herauf zog eine kleine Karawane, geleitet von jenem Manne, der gefolgt war von einer stattlichen Frau und sechs Kindern, von welchen zwei Söhne und eine Tochter bereits erwachsen waren. Auf einer anmutigen Grasblöße an dem Ufer des Baches machte die Gesellschaft Halt, es ward mit Stahl und Stein und Zunder ein Feuer angemacht und eine Mahlzeit bereitet. Zur Nacht schliefen sie in den mit Leinwandplanen überspannten Wagen.

Am anderen Tage begann nun auch hier das unablässige Pochen der Äxte, der Boden bedeckte sich mit gelblichen Holzsplittern und die Luft war erfüllt mit dem frischen Harzgeruch gefällter Edeltannen. In geschützter Lage entstand ein Blockhaus, dessen Fugen mit Moos und Lehm gedichtet und dessen Dach mit frisch gespaltenen Schindeln eingedeckt wurde, während zur Seite mächtige Stapel von Brennholz für den Winter sich auftürmten. Als nun durch die unablässige Arbeit schwieliger Hände eine genügende Strecke Landes geklärt worden war und die vom Sommersonnenschein gedörrten Abfälle der Zweige und Äste einen schweren balsamischen Duft verbreiteten, da kam ein hoher Festtag für die Kinder, denn eines Tages, da gerade der Wind eine günstige Richtung hatte, wurde dieser ganz ungeheure Scheiterhaufen von trockenem Reisig angezündet, um sich so auf eine bequeme Art dieser hinderlichen Gegenstände zu entledigen. Zwischen den schwarzgebrannten Stümpfen der gefällten Bäume, von denen man nur die kleineren auch ausgerodet hatte, ward dann mit Pflug und Spaten so gut es ging die Erde gelockert und die erste Wintersaat in den jungfräulichen Boden eingebracht. So kam allmählich der Herbst heran. Die Spitzen des jungen Kornes sahen bereits aus der schwarzen Erde hervor, auf den Waldwiesen standen mächtige Schober köstlichen Gebirgsheues zum Wintervorrat für das Vieh, im Rauchfange hingen die Keulen und Rücken von wilden Schweinen, Bären und feisten Hirschen und im Eichwald schwelgten die wenigen mitgebrachten Schweine in unermesslichen Eicheln, um Kraft und Stärke zu gewinnen für eine gedeihliche Nachzucht im nächsten Jahre. So sahen die ersten Ansiedler dieses gesegneten Tales mit Zuversicht dem nahenden Winter und mit gutem Vertrauen der Zukunft entgegen.

Das nächste Jahr brachte die erste Ernte, neue Ansiedler und der entstehenden Ortschaft einen Namen, denn da der erste Bebauer den Namen Walter führte, so nannte man nach ihm den Platz Walterode und also heißt das Dorf noch bis auf den heutigen Tag. Im Laufe der Zeit verschwand nun der Urwald bis auf einige wenige alte Riesenbäume, welche man zum Wahrzeichen stehen ließ, ganz aus der Ebene des Tales und nur von den Bergen und steilen Hängen schaute er noch finster hin auf den einstigen Schauplatz seiner Größe und alleinigen Herrschaft. Anstatt seiner breitete sich dort ein bunter Teppich verschiedenfarbiger Felder und saftig grüner Wiesen aus, an dem Bache entlang zog sich die Dorfstraße und an dieser lagen saubere Häuser mit hübschem Schnitzwerk verziert, umgeben von Gärten, in welchen Basilikum, Raute, Lavendel, Salbei und andere Würzpflanzen dufteten, in welchen Mohn und Lilien, brennende Liebe und Gelbveigelein blühten und strotzende Küchengewächse üppig sich ausbreiteten. Hinter den Häusern aber im Grasgarten schimmerten im Frühling silbern und rosig die Obstbäume und standen im Herbste gebeugt von goldenen und blauen Früchten. Am höchsten Punkte des Dorfes streckte nun aus dem Schatten uralter Eichen eine Kirche ihr spitzes Türmlein hervor und an den stillen Sommerabenden hörte man statt des rauen Gebrülles der wilden Tiere ein friedliches Läuten, das Dengeln von Sensen und das fröhliche Geschrei spielender Kinder.

Nur der Bach blieb bei diesem Wechsel der Dinge immer derselbe und rauschte durch Dorf und Wiesen mit demselben Geplätscher dahin wie einst durch den unberührten Urwald; er sah die endlose Kette menschlichen Daseins an sich vorübergleiten und dahinfließen wie seine eigenen Wellen, die ewig neu und ewig dieselben waren. Er sah die Kinder an seinen Ufern spielen, wie sie Kanäle und Mühlen bauten und Krebse und Forellen griffen. Er sah sie heranwachsen und pärchenweise im Mondschein an seinen Ufern wandeln, indem sie sich umschlungen hielten und Küsse miteinander tauschten. Er sah gebräunte Männer auf die Arbeit ziehen, indes die Frauen in Haus und Garten sich fleißig regten. Er sah an seinem Rande gebrechliche Greise träumend in der Sonne sitzen, zu deren Füßen neue Kinder die alten Spiele übten, und so flossen die Wellen und die Jahre unablässig dahin. Dieses friedliche Leben ward nur unterbrochen durch solche Ereignisse, für deren Fernbleiben allsonntäglich auf der Kanzel gebetet wird und denen das Menschengeschlecht doch nie und nimmer entrinnen kann. Es kamen Kriegsläufte, in welchen sich die kristallklaren Wellen des Baches mit Blut färbten, es kam eine Feuersbrunst und verzehrte die Häuser des halben Dorfes, eine Pestilenz, ausgebrütet in den Sümpfen der Länder gegen Sonnenaufgang, wanderte herbei, leerte die Häuser und füllte den Kirchhof, Misswuchs und sein scheußliches Kind Hungersnot zehrten an den Gebeinen der Dorfbewohner, doch alles überwand die unverwüstliche Kraft des Lebens, und so blüht und gedeiht der freundliche Ort Walterode bis auf den heutigen Tag.

Und wie sieht es denn jetzt dort aus? Schon wieder ein wenig anders, und wieder sind neue unerhörte Töne bis in die entlegene Einsamkeit dieses Tales gedrungen, denn von dem Haupttale aus, in welches es mündet, wie sein Bach einläuft in das Flüsschen, das sich dort glänzend durch den Grund windet, schrillt zuweilen herüber, wie der Todesschrei eines furchtbaren Riesentieres aus dem Geschlechte der Schweine, der gellende Pfiff der Lokomotive. Den Bach hat man eingefangen und seine Kraft vor allerlei Mühlen und Fabriken gespannt, wo er mit unwilligem Brausen über die Wehre stürmt, um wimmelnde Räder und Riemen und knirschende Sägen zu treiben. Aus einem schmalen Seitentale ragt sogar der mächtige Schornstein einer Papierfabrik hervor, welche eifrig bestrebt ist, ganze Wälder zu fressen und sie in ungemein schlechtes Papier zu verwandeln.

Um die Sommerszeit aber kommen aus Berlin und Leipzig und anderen großen Städten Geheimräte und Kommerzienräte mit gebildeten Gattinnen, ästhetischen Töchtern und klugen Söhnen, um die köstliche Gebirgsluft zu genießen. Und die Väter wandeln würdevoll in der nächsten Umgegend spazieren und führen weise Gespräche über den Stand der orientalischen Frage oder die neueste Anleihe, während die Mütter, auf den Bänken sitzend und in der schönen Aussicht schwelgend, die große Dienstbotenfrage erwägen und wo man den besten und billigsten Kaffee kauft. Die Töchter aber sind meist mit Skizzenbüchern behaftet, mit welchen sie überall in der Gegend he­rumsitzen, und es gibt in dem ganzen Dorfe und seiner Umgebung keinen bemoosten Felsblock, keine alte Kropfweide, keine Kuh und keinen Schweinestall, der nicht schon in solchem Skizzenbuche stände. Die klugen Söhne aber hocken beim Biere, rauchen ein Zigarettlein nach dem anderen und genießen die balsamische Gebirgsluft auf diese Art.

So ist es jetzt, wie es aber in Zukunft sein wird, das weiß niemand. Es gab ja Städte, welche einst glänzend dastanden in der Pracht ihrer Paläste und weit hinaus ihre mächtige Herrschaft ausübten, doch heute kennt man kaum den Ort in der Wüste, wo sie lagen. Sie sind vergessen und fast ohne Spur verloren. So kann es auch sein, dass die Menschen einmal wieder verschwinden aus diesem Tale und das Dorf in Trümmer sinkt. Dann wird langsam der Wald herabsteigen aus dem Gebirge in seine alten Standplätze und nach Hunderten von Jahren ein neuer Urwald dort seine Wipfel wiegen, und das Andenken der Menschen, welche dort wohnten, wird hinabgeflossen sein in das große Meer der Vergessenheit. Doch mit demselben Rauschen und Rieseln wie einst und jetzt wird auch dann der Bach zu Tale wandern mit seinen klaren Gewässern, die ewig kommen und ewig gehen und ewig bleiben.

Marie von Ebner-Eschenbach

Ein Traum im Traume

Mir träumte, ich hätte das vollkommene Luftschiff erfunden und sei mit ihm an eine so ferne Stelle im Weltenraum gelangt, dass erst jetzt Bilder von Ereignissen zu ihr drangen, die sich vor tausend und aber tausend Jahren auf unsrer Erde abgespielt hatten.

Ein überraschender Anblick stellte sich im Äther mir dar. Ich sah eine große Menge brauner schlanker Menschen mit der Ausführung eines riesigen Bauwerks beschäftigt. Sie pro­jizierten, visierten, gruben, hämmerten und sägten an ungeheuren Blöcken, hieben gewaltige Stufen zu. In der Höhe über ihnen schwärmten Flieger, die ich anfangs für vielgestaltige Vögel hielt. Es waren aber keine Vögel, es waren Luftfahrzeuge der verschiedensten Art, nach allen Systemen, die wir kennen, erbaut, aber jedes zur höchsten Vollkommenheit ausgebildet. Sie kamen von überall daher, mit dem Winde, gegen den Wind, mit rasender Eile herabgewirbelt, nahe dem Boden sachte hingleitend. Sie kamen schwer beladen mit Wüstensand, mit Ziegeln und Nilschlamm, mit Quadern und auch mit Melonen, Datteln, Bananen, Granatäpfeln, köstlichen Früchten der sonnengeliebten, sonnengeküssten Tropen. Ein Ewigkeits-, ein Pyramidenbau war’s, der sich mir darstellte, und die beschwingten Helfer nahmen den armen Fronern die schwerste Arbeit ab und brachten ihnen Nahrung und Erquickung. O die herrlichen Wohl­täter, edle Erzeugnisse des schaffenden Menschengeistes; damals schon standen sie in Übung und Gebrauch und waren mit einer uralten Kultur vom Erdboden verschwunden.

Mir aber, mir war es gegeben worden, sie zu neuem, unermesslich erhöhtem Leben zu erwecken. Mit jubelvoller Dankbarkeit pries ich mein Geschick und hatte im Traume den wonnigen Traum von einer in heller Blüte der Wohlfahrt stehenden Welt. Durch meine Flieger – sie wurden Legion – stieg der Verkehr zu fabelhafter Höhe, dem Handel und Wandel die Pfade bereitend. Hungersnot kannte man nur noch dem Namen nach; trat Misswachs in einem Lande ein, stellte ein andres, wenn auch auf der jenseitigen Hemisphäre gelegen, unverweilt Lebensmittel in Fülle zur Verfügung, sehr froh, Absatz für seine reiche Ernte zu finden. Der Wohlstand wuchs und mit ihm die Gesittung. Die wilde Habgier erlosch; leicht wird ein guter Gönner, wer nicht selbst allzu bitter entbehrt. Verleumdung, tendenziöse Lobpreisungen beeinflussten das Urteil eines Volkes über das andre nicht mehr; dieses Urteil bildete sich aus eigener Anschauung, eigener Erfahrung. Aus dem Verständnis erwuchs die Gerechtigkeit, die, was gilt, auch gelten lässt; ein Band von Geist zu Geist bildete sich, die Kunst der einen erweckte die Bewunderung der andern, und ihre Wissenschaft wurde ihnen nutzbringend und ehrwürdig. Trennende Grenzen fielen, es gab keine Fremde mehr, alle Menschen hatten nur eine mit gleich heißer Liebe gehegte Heimat – die Erde.

Wohltäter, Erlöser aus materieller Not waren die Flieger einem alten Volke gewesen – was sie einem fortgeschrittenen Zeitalter werden konnten, ermisst die Phantasie eines Sterblichen nicht.

Von einem Wonnerausch erfasst, ein glückseliger Glückbringer, flog ich pfeilgerade dem Erdball zu und nahm die Richtung nach einer Werkstätte, in der emsige Erfinder mit der Herstellung von Flugmaschinen beschäftigt waren. Eine Weile beobachtete ich ihr Treiben, und ein großes Mitleid erfasste mich. Ich sah ihr rastloses Mühen und seine Erfolglosigkeit, die Gefahren, denen sie sich tollkühn aussetzten, die Enttäuschungen, die ihnen bevorstanden …

Kinder! Kinder! Ihr tappt im Finstern, wollte ich ihnen zurufen und ihnen die Lösung des großen Rätsels darlegen. Da begannen sie zu sprechen, sich zu beraten, und ich erschrak, ich zögerte – und schwieg.

Worauf sannen diese Erfinder? Was war das Ziel ihrer Bestrebungen? … Kriegszwecken sollten ihre Flieger dienen, Mordwerkzeuge gedachten sie herzustellen. Sie hatten nicht genug an ihren weittragenden Geschützen, die, meisterlich gehandhabt, die Reihen der Gegner niedermähen wie Gras, wie reifes Korn – aus den Wolken wollten sie kommen, als Feuerhagel herunterprasseln auf Menschenbrüder, auf unsre geliebte Heimat: Erde.

»Lebendiger Gott, lass diese die Lösung nicht finden, diese nicht!«, schrie ich auf und erwachte. 

Kurt Tucholsky

Heimat

Nun haben wir auf vielen Seiten Nein gesagt, Nein aus Mitleid und Nein aus Liebe, Nein aus Hass und Nein aus Leidenschaft – und nun wollen wir auch einmal Ja sagen. Ja –: zu der Landschaft und zu dem Land Deutschland.

Dem Land, in dem wir geboren sind und dessen Sprache wir sprechen.

Der Staat schere sich fort, wenn wir unsere Heimat lieben. Warum grade sie – warum nicht eins von den andern Ländern –? Es gibt so schöne.

Ja, aber unser Herz spricht dort nicht. Und wenn es spricht, dann in einer andern Sprache – wir sagen »Sie« zum Boden; wir bewundern ihn, wir schätzen ihn – aber es ist nicht das.