Warum Kinder nicht richtig essen - Julia Steppat - E-Book

Warum Kinder nicht richtig essen E-Book

Julia Steppat

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Beschreibung

Isst mein Kind noch normal? Oder ist das bereits eine Essstörung? Viele Eltern sind verunsichert, wenn ihre Kinder auffällig viel oder wenig essen, sich zurückziehen oder Mahlzeiten ausfallen lassen. Julia Steppat litt selbst sieben Jahre an Magersucht, das Thema Essstörungen wurde ihre Lebensaufgabe - zunächst, um selbst gesund zu werden, seither bei der Beratung und Unterstützung Betroffener und deren Angehöriger. Die Psychologin, Ernährungsberaterin und ehrenamtliche Beraterin bei ANAD e. V. weiß: Essstörungen, ob Binge-Eating, Magersucht oder Bulimie, resultieren immer aus dem Familiären System. Feinfühlig und mit viel Wissen erläutert die Expertin die Ursachen und zeigt Betroffenen und Angehörigen Wege aus der Krankheit auf. 

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Seitenzahl: 227

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Impressum

© eBook: 2024 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

© Printausgabe: 2024 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

GU ist eine eingetragene Marke der GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, www.gu.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Bild, Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Projektleitung: Petra Bradatsch

Lektorat: Petra Müller

Covergestaltung: ki36 Editorial Design München, Petra Schmidt

eBook-Herstellung: Evelynn Ruckdäschel

ISBN 9783833891342

1. Auflage 2024

Bildnachweis

Illustrationen: Adobe Stock

Fotos: Gregor Tremmel

Syndication: Bildagentur Image Professionals GmbH, Tumblingerstr. 32, 80337 München, www.imageprofessionals.com

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Triggerwarnung:

Auf den folgenden Seiten werden Sie mit Themen wie Mobbing, Essstörung, Gewalt und Emotionen konfrontiert. Es ist wichtig für Angehörige, aber vor allem für Betroffene, gut für sich zu sorgen oder das Kapitel mit jemandem gemeinsam zu lesen. Schützen Sie sich!

Vorwort Ein Stück Sicherheit

Das Essen ist weder die Ursache noch die Lösung des Problems. Es ist vielmehr die Spitze eines Eisbergs, die aus dem Wasser ragt, während sich unter der Wasseroberfläche ein gewaltiger Koloss an unsichtbaren Themen befindet. Die eigentliche Frage ist: Worauf macht eine Essstörung aufmerksam?

Vorurteile und Klischees

»Essstörungen sind doch so ein Lifestyle-Ding von Leuten, die mit ihrem Körper unzufrieden sind.«

Vorurteile über Essstörungen sind allgegenwärtig. Jeder hat schon einmal irgendetwas von Magersucht oder Bulimie gehört und kennt vermeintlich typische Beispiele. Zudem kommen nahezu jährlich neue Diäten, Ernährungsformen und Trends auf den Markt, mit denen das Thema vermischt wird.

Das immer noch weitverbreitete Klischee, die Betroffenen wollten abnehmen, weil sie den Models bei »Germany’s Next Top Model« nacheifern, zeigt besonders drastisch, wie sehr diese Krankheit missverstanden wird. Natürlich tragen das in den sozialen Medien propagierte Körperbild und der übersteigerte Selbstoptimierungskult auch zum Krankheitsbild bei. Aber es geht dabei vordergründig nicht (nur) um Äußerlichkeiten, um Schönheitsideale oder das richtige Gewicht. Das ist ein ebenso fataler Irrtum wie die Annahme, es ginge um »richtiges« versus »falsches« Essen und durch das »richtige« Körpergewicht ließe sich das Problem aus der Welt schaffen.

Das Essen ist weder die Ursache noch die Lösung des Problems. Es ist vielmehr die Spitze eines Eisbergs, die aus dem Wasser ragt, während sich unter der Wasseroberfläche ein Koloss an unsichtbaren Themen befindet. Die eigentliche Frage ist: Worauf macht eine Essstörung aufmerksam?

Keine/r der Betroffenen hat sich bewusst dafür entschieden, magersüchtig oder bulimisch zu werden, so wie man sich für einen Lifestyle oder eine Ernährungsform entscheidet. Ebenso wenig sind Essstörungen eine »Frauenkrankheit« oder ein Phänomen von schwierigen Charakteren, bestimmten sozialen Schichten oder problematischen Familien. Oft trifft die Krankheit gerade sehr begabte, intelligente und feinfühlige Menschen. Und zwar nicht, weil sie mit ihrem Aussehen hadern, sondern weil sie sich selbst ablehnen und versuchen, über das Essen ein Stück Kontrolle zu erlangen und dem quälenden Gefühl der Hilf- und Machtlosigkeit etwas entgegenzusetzen. Sie kämpfen mit einem verloren gegangenen Selbstwert und der Suche nach der eigenen Identität. Besonders in Phasen des Umbruchs und der Veränderung, wie in der Pubertät, fällt die Antwort auf die Frage »Wer bin ich eigentlich?« ohnehin schwer. Und wenn wir als Gesellschaft durch Krieg, Inflation und Pandemie so krisengebeutelt sind wie im Moment, dann schafft das eine nie da gewesene Unsicherheit. Das kann sich anfühlen, als hätten wir überhaupt keine Kontrolle mehr.

Ursachen und Hintergründe

Die Suche nach Antworten führt oft weit zurück in die Vergangenheit der Betroffenen, oft bis in die Kindheit.

Essstörungen passieren nicht einfach so, sie kommen nicht über Nacht herbeigeflogen. Wenn sich die ersten Symptome zeigen, hat sich meist schon längere Zeit etwas angestaut, das gehört werden will. Die Betroffenen haben vielleicht schon sehr viel früher eine Veränderung in ihrem Erleben gespürt, konnten das im Außen aber noch gut kompensieren. Dass der Eisberg irgendwann zusammenbricht und die bis dahin verdeckten Themen aus der grauen Tiefe nach oben treiben, kann durch banale Dinge ausgelöst werden wie eine spitze Bemerkung über den Körper oder durch ein traumatisches Erlebnis wie den Verlust eines geliebten Menschen. Auch das individuelle Stresserleben hat Einfluss auf die Entwicklung einer Essstörung: der Leistungsdruck in Schule oder Beruf, ein Anpassungsdruck in Sachen Körperbild, gesellschaftliche Rahmenbedingungen oder Beziehungskonflikte.

Familienmitglieder fragen sich oft, warum diese schreckliche Krankheit gerade eine/n ihrer Liebsten trifft, was sie falsch gemacht haben und ob sie Schuld daran tragen. Und diese Frage stellt sich umso mehr, wenn ich meinen therapeutischen Ansatz in den Raum stelle, dass Essstörungen aus dem System Familie kommen und ihre Wurzeln oft schon in der Kindheit haben. Womit es mir um Ursachenforschung geht und nicht um eine Schuldzuweisung! Eltern haben keine Schuld, wenn ihr Kind magersüchtig oder bulimisch wird, und ebenso wenig hätte sich die Krankheit verhindern lassen, wenn sie nur das »Richtige« getan hätten. Für die Entstehung einer Essstörung lässt sich selten eine einzelne Ursache ausmachen oder ein genauer Zeitpunkt definieren, an dem die Krankheit begonnen hat. Sie entsteht aus dem Zusammenspiel vieler Faktoren, wobei auch genetische und familiäre Übertragungen eine Rolle spielen.

Trauma und Familie

Im System Familie lassen sich oft die Ursachen einer Erkrankung finden, gleichzeitig steckt darin eine große Kraft der Erneuerung und Heilung.

So vielfältig wie die Ursachen und Auslöser sind, so verschieden und individuell gestalten sich die Heilungsprozesse und verlangen immer wieder andere Therapieelemente und Schwerpunkte. Für die Therapie von Essstörungen gibt es deshalb kein Patentrezept und keinen Goldstandard und ich kann Ihnen in diesem Buch auch nicht auf alle Fragen eine befriedigende Antwort geben.

Mit meiner zentralen These, dass jede Essstörung aus dem familiären System resultiert, verfolge ich jedoch einen anderen therapeutischen Ansatz als viele meiner Kolleginnen und Kollegen. In den klassischen Therapien steht noch immer das Essen im Fokus, als würde der Schlüssel eben doch darin liegen, dass die Betroffenen wieder lernen, »normal« zu essen. Ich konzentriere mich in meiner Arbeit hingegen auf die Frage, wo die Wurzeln der Erkrankung liegen. Da es dabei oft um Trauma und Traumafolgen und deren Auswirkungen auf unser Nervensystem geht, arbeite ich nicht nur gesprächstherapeutisch, sondern auch körperorientiert beziehungsweise traumasensibel. Es ist erstaunlich, was sich durch Körperwahrnehmung, Körperhaltung und -spannung äußert und umgekehrt auch beeinflussen lässt. In meiner täglichen Praxis bin ich immer wieder überrascht zu erleben, woran sich der Körper erinnert, wenn über Emotionen wie Angst, Wut oder Traurigkeit gesprochen wird. Durch die Körperarbeit sind vollkommen andere Zugänge möglich als nur über die kognitive Ebene und gerade dieser Zugang zum eigenen Körper ist im Heilungsprozess und für die Aufarbeitung belastender Erfahrungen enorm wichtig.

Heilung und Hoffnung

Ich möchte mit meiner Arbeit dazu beitragen, die Denkweise in der Therapie von Essstörungen zu verändern.

Eine Essstörung ist kein Ernährungsproblem, sondern eine ernsthafte Erkrankung, bei der der Umgang mit dem Essen und dem eigenen Körper gestört ist. Sie ist ein Schutz vor einer gerade nicht aushaltbaren Realität und gleichzeitig ein Signal mit der Bitte um Hilfe.

Mit diesem Buch möchte ich Ihnen als Eltern und gleichzeitig Ihrem Kind eine solche Hilfe und ein Stück Sicherheit geben. Dabei verbinde ich die Perspektive einer klinischen Psychologin mit eigenen Erfahrungen. Denn ich weiß nicht nur aus dem Lehrbuch, was es heißt, unter einer Essstörung zu leiden, ich habe es am eigenen Leib erfahren. Ich habe selbst sieben Jahre lang mit einer Magersucht gekämpft, den Prozess der therapeutischen Auseinandersetzung durchgemacht und oft nicht an eine Heilung geglaubt. Ich bin durch die Tiefen meiner Schattenwelt zum Licht gegangen. Und wenn ich heute zurückblicke, bereue ich keinen der harten Tage, die ich durchlebt habe, und würde mich immer wieder für diesen Weg entscheiden. Ich sehe es als Teil meines Seelenplans, all diese Erfahrungen gemacht zu haben und so heute meinen Klienten und Klientinnen mit Verständnis und Herz zur Seite stehen zu können. Dadurch kann ich oft nachempfinden, was Betroffene fühlen und brauchen, und ich kann ihnen zeigen, dass es einen Ausweg gibt. Ich sehe es als meine Mission, andere auf dem Weg aus der Krankheit heraus zu begleiten und eine wichtige Botschaft in die Welt zu tragen: Ein Leben ohne Essstörung ist möglich!

Über dieses Buch

Eine Essstörung ist ein Signal mit der Bitte um Hilfe.

Mit diesem Sachbuch und Praxisratgeber möchte ich die Zusammenhänge und Hintergründe von Essstörungen wertfrei und ohne Schuldzuweisungen beleuchten. Ich möchte Angehörigen und Eltern von vornherein die Last der Schuld von den Schultern nehmen. Denn eine Essstörung bedeutet viel Leid: für die Betroffenen und für alle in ihrem Umfeld, die den schweren Kampf mittragen müssen, ganz besonders für Eltern.

Die Erklärungen in diesem Buch richten sich in erster Linie an Sie als Eltern, sie eröffnen aber an vielen Stellen die Möglichkeit, Ihr Kind einzubinden, Fakten und Tipps miteinander zu besprechen oder sogar eine der Übungen in diesem Buch gemeinsam auszuprobieren. Denn wenn Sie Ihr Kind auf dem Weg der Heilung begleiten und ihm Halt und Beistand bieten wollen, müssen Sie auch gut für sich selbst sorgen.

Sie können dabei nichts erzwingen, aber Sie können Verständnis zeigen, Zuneigung, Aufmerksamkeit und Respekt. Sehen Sie die Essstörung als das, was sie im Wesentlichen ist: eine nach außen gerichtete Botschaft und ein Hilferuf. Ein Schrei danach, gesehen, anerkannt und geliebt zu werden. Liebe ist trotzdem kein Allheilmittel, aber ein starker Schutzengel.

In diesem Sinne sage ich Ihnen von Herzen Danke, dass Sie sich dem Thema stellen und nach einer Lösung suchen. Ich hoffe, Sie finden auf den nächsten Seiten das, was Sie als Erkenntnis, an Mut und Kraft dafür brauchen.

Hinweise zur Nutzung dieses Buches
Symbole:

Fakten und Wissenswertes im Überblick

Praxistipps für Eltern und Angehörige

Übungen und Tipps für Angehörige und Betroffene

Bei den Übungen, die sich auch an Betroffene richten, wechseln wir in der Anrede vom Sie zum Du, damit sie auch für Ihr Kind gut zugänglich sind.

Geschlechterspezifisches:

Der besseren Lesbarkeit wegen haben wir auf Gendersternchen verzichtet. Es sind immer alle Geschlechter mitgemeint.

Richtig oder falsch:

Lesen Sie bitte bei allen Attributen wie »richtiges Essen«, »falsch«, »normal« oder »gut genug« in Gedanken ein Anführungszeichen mit. Denn natürlich gibt es kein Richtig oder Falsch, sondern es geht in der Auseinandersetzung mit Bewertungen und Glaubenssätzen gerade darum, sich von solchen verunsichernden und stigmatisierenden Kategorien frei zu machen.

Hochgewicht:

Angesichts der vielen Stigmatisierungen, denen sich Menschen mit einer Essstörung ausgesetzt sehen, spreche ich nicht von Über-, sondern von Hochgewicht.

Recovery:

Ein anderer Begriff für den körperlichen und emotionalen Heilungsprozess einer Essstörung, der sich besonders in den sozialen Medien etabliert hat.

Triggerwarnung:

Wie eingangs schon gesagt: In diesem Buch werden Sie mit schwierigen und sensiblen Themen konfrontiert. Achten Sie beim Lesen gut auf sich selbst, auf Ihr Kind und andere Familienangehörige.

Ärztlicher Beistand:

Holen Sie besonders bei auffälligen körperlichen Symptomen schnellstmöglich ärztlichen Rat ein. Das Buch ist kein Ersatz für einen Arztbesuch oder eine Therapie.

Notfalladressen:

Notfalladressen finden Sie neben hilfreichen Links und Quellen im Anhang des Buches auf >.

Weiterführende Informationen …

… zum Thema und zur Autorin finden Sie auf Julia Steppats Webseite und ihrem Instagram-Kanal.

seelenmut.net

1 Wenn die Seele hungert: Meine Geschichte

Für mich war das Gefühl, so perfekt zu sein, wunderbar. Es war berauschend! Ich wollte mehr davon. Jedes Gramm weniger auf der Waage beflügelte mich zu einem neuen Ziel: Noch weniger!

Eine ganz normale Kindheit

Ich funktioniere nicht richtig und gehöre nicht dazu.

Ich bin behütet aufgewachsen. In einem kleinen malerischen Ort im Schwarzwald, mit einem kleinen Bruder und mit Eltern, die überall einen guten Ruf hatten. Wir hatten ein schönes Zuhause und alles, was wir zum Leben brauchten. Wir wurden gut erzogen und ernährt, gefördert und gefordert. Meine Eltern wollten, was alle Eltern wollen: das Beste für mich. Nur dass ihr Bestes nicht immer gut für mich war.

Gesund zu leben und sich gesund zu ernähren, hatte in meiner Familie einen hohen Stellenwert. Meine Mutter achtete sehr auf ihre Ernährung und ihr Gewicht und wollte das auch an ihre Kinder weitergeben. Möglichst viel Obst und Gemüse zu essen und keinen »ungesunden Schrott«, war eine der obersten Familiengebote. »Achte auf deinen Körper«, sagte meine Mutter immer wieder, »damit du gesund und schlank bleibst.«

Als mein Bruder geboren wurde, bekam das Thema Gesundheit umso mehr Gewicht. Er kam mit einem Herzfehler auf die Welt, musste in seinen ersten Lebensjahren mehrfach operiert werden, war oft krank, bei Ärzten und Therapeuten und immer mal wieder stand seinetwegen der Krankenwagen vor der Tür. Es war beängstigend und verwirrend. Ich war vier Jahre alt, als er geboren wurde, und begriff überhaupt nicht, was die ganze Unruhe zu bedeuten hatte und warum sich alles nur noch um das neue Geschwisterchen zu drehen schien. Ich lief so mit, war oft bei Oma oder anderen Verwandten und Nachbarn und bekam kleine oder größere materielle Trostpflaster.

Aus Sicht einer Erwachsenen kann ich verstehen, wie schwer die Situation für meine Eltern gewesen sein muss, dass sie sicher selbst oft mit allem überfordert waren, aber als kleines Mädchen fühlte ich mich einsam, verlassen und ungeliebt. Ich war wütend und traurig darüber, dass ich andauernd zurückstecken oder rücksichtsvoll sein sollte. Und wenn meine Eltern dann mit mir schimpften, schämte ich mich und war noch trauriger. Außerdem schienen für mich stets strengere Regeln zu gelten als für meinen kleinen Bruder, wodurch ich mich noch weniger geliebt fühlte. Wenn ich diesen Kummer in Worte fasste, bekam ich Ärger. Ich bekam Ärger, weil ich »Ärger machte«, weil ich »übertrieb«, zu emotional war oder nicht so, wie es erwartet wurde. Ich wurde immer widerspenstiger, feindseliger und unsicherer. Ich zog mich zurück, flüchtete mich in Traumwelten, las viel, verbrachte Tage und Nächte mit meinen Büchern und hockte am liebsten in meinem Zimmer, dem einzigen Ort, an dem ich Geborgenheit fand. Ich tobte nicht mit den anderen durch die Wälder und Wiesen vor unserer Haustür, stand auf dem Spielplatz oder Schulhof oft alleine rum und war so linkisch und unsicher, dass andere Abstand hielten. Ich hatte nichts Tolles vorzuweisen, das mir ihre Aufmerksamkeit gesichert hätte, und quälte mich mit dem Gefühl, »anders zu sein«. So als hätte ich keinen Platz auf dieser Welt. Nicht in meiner Familie, nicht im Kindergarten, im Ort, in den fünf Schulen, die ich im Laufe meines Lebens besuchen sollte. Ich fühlte mich ausgegrenzt und nicht gesehen.

Das alles musste daran liegen, dass ich irgendetwas falsch machte, und es konnte sicher anders werden, wenn ich endlich das Richtige tat. Wenn ich mich ein bisschen mehr anstrengen würde und so wäre wie alle anderen. »Warum kannst du nicht so sein wie andere Mädchen?«, fragten meine Eltern. Ja, warum konnte ich nicht? Ich hasste mich so sehr dafür, dass ich das nicht hinbekam.

Meine Eltern nahmen mein seelisches Ungleichgewicht durchaus wahr, konnten es aber nicht richtig deuten und verstehen. Und ich selbst verstand mich ja auch nicht. Ich war einfach nur unglücklich und wusste weder genau, warum noch wie ich da wieder rauskommen sollte. Ich hatte immer mehr das Gefühl, ein Problem zu sein und keine Person.

Je länger dieser Zustand anhielt, desto mehr verlor ich das Interesse an den Dingen, besonders an der Schule. Am Ende der Grundschulzeit war ich in meinen Leistungen so weit abgesackt, dass ich nur eine Empfehlung für die Hauptschule bekam. Meine Mutter war außer sich. Das hatte es in ihrer Familie noch nie gegeben und war ein Ding der Unmöglichkeit. Also schickte man mich auf eine Waldorfschule in die Schweiz.

Mit zehn Jahren fuhr ich jeden Tag eine Stunde Zug hin und zurück. Meine Leistungen besserten sich, ich schrieb sogar Bestnoten, aber ich blieb eine Außenseiterin oder wurde es jetzt erst recht. Vielleicht als selbsterfüllende Prophezeiung, weil ich mich so fühlte und so verhielt und dann auch so behandelt wurde? Meine Mitschüler neckten mich, freundlich formuliert, sie hänselten mich, sie versteckten die Sachen aus meinem Schulranzen im Klassenzimmer und dachten sich allerlei Pranks aus. Sie hatten ihren Spaß mit mir, aber sie hatten diesen Spaß ohne mich. Für mich war jeder Schulmorgen mit Angst gefüllt und mit der Sorge, was mich diesmal wohl erwarten würde.

Dass ich damals gemobbt wurde, ist eine Erkenntnis, für die ich Jahre gebraucht habe. Heute ist man in den Schulen schon viel achtsamer mit diesem Thema, aber damals war ich auch damit allein. Jahre später erzählte eine Klassenkameradin meiner Mutter am Telefon, dass das eine Art Aufnahmeritual gewesen wäre und alle Neuen da durchmussten. Die Grausamkeit schien ihr überhaupt nicht bewusst.

Süße Verführung

Eine süßliche Stimme in meinem Kopf versprach mir immer wieder Linderung durch Essen.

Nach einem qualvollen Schuljahr entschieden meine Eltern, dass ich nicht länger auf die Waldorfschule gehen musste, aber da ich in einem »normalen Umfeld« offenbar nicht klarkam, schien eine noch radikalere Veränderung vonnöten. Sie schickten mich ins Internat. Mit diesem Schulmodell würde ich sicher endlich Anschluss an Gleichaltrige finden, könnte mich ganz auf die Schule konzentrieren und würde selbstsicherer und erfolgreicher werden. Aber das gelang nicht. Ganz im Gegenteil. Ich hatte es an der Grundschule nicht geschafft, an der Waldorfschule nicht und nun am Internat auch nicht. Es war schlimmer als alles andere. Ich war die totale Versagerin.

Im Einzelnen zu schildern, was diese Erfahrung mit mir gemacht hat, würde den Rahmen dieses Buches sprengen, aber ich litt unter einer ständigen Anspannung, hatte das Gefühl, immer auf der Hut sein zu müssen, konnte mich kaum noch entspannen, schlief unruhig und entwickelte alle möglichen Ängste, die mich tagsüber quälten und nachts als düstere Albträume aus dem Schlaf rissen. Als ich nach zwei Jahren vom Internat wieder auf ein Gymnasium zu Hause wechseln durfte, war ich psychisch völlig am Ende.

Zu den Problemen mit der Schule kam in dieser Zeit noch mehr Kummer. Meine Eltern trennten sich. Mein Bruder blieb bei meiner Mutter, ich zog nach meiner Rückkehr aus dem Internat bei meinem Vater ein. Niemand hatte mich gefragt, was ich gern hätte oder mir wünschen würde. Ich wurde vor vollendete Tatsachen gestellt und musste mich mal wieder anpassen. Die Lösung war mir im Grunde recht, weil mein Verhältnis zu meinem Vater viel enger und unbelasteter war als das zu meiner Mutter, trotzdem litt ich unter der Scheidung. Und ich erlebte aus nächster Nähe mit, wie mein Vater zu kämpfen hatte, dass er traurig war und oft überfordert mit der Rolle als Alleinerziehender. Ich machte mir Sorgen um ihn und darum, dass ich seine Situation durch meine Unfähigkeit auch noch verschlimmerte.

»Streng dich an«, gab mein Vater mir mit auf den Weg, wenn er morgens das Haus verließ, weil die letzten Schuljahre vor der Gymnasialstufe so wichtig und richtungsweisend waren. Es war sein Ersatz für »Hab dich lieb« oder »Pass auf dich auf«, aber in meinen Ohren klang es wie ein: »Bitte funktioniere!« Und das wollte ich ja. Ich wollte so gern gut sein, normal, eine Tochter und Freundin, die man gern um sich hatte und die man liebte. Warum verdammt noch mal war das so schwer?

Mein Vater, der es – wie viele Männer seiner Generation und der Generationen vor ihm – nicht gelernt hatte, über Gefühle zu sprechen, schüttelte oft hilflos den Kopf. Alles Emotionale war für ihn schwer zu greifen und selbst wenn er das wollte, konnte er mich oft nicht verstehen. Immerhin ging er mit mir zum Schulpsychiater, der vorschlug, ich sollte eine Weile in eine Klinik gehen. Das war eine so schreckliche Vorstellung, dass ich mich sofort dagegen sträubte. Und mein Vater wollte das auch nicht. Die Lösung schien viel zu drastisch. Einen Psychologen oder sogar Psychiater aufsuchen zu müssen, weil man nicht richtig »funktionierte«, war schlimm genug, eine psychische Erkrankung passte nicht zu dem Bild, das wir nach außen hin abgeben wollten. Es wäre ein Makel, das Symptom eines Scheiterns. Und ein Klinikaufenthalt würde dieses Scheitern nach außen hin sichtbar machen.

Alles blieb also beim Alten. Nur die Last des Versagens und der Druck auf meinen Schultern schienen mit jedem Tag größer zu werden. Schmerz und Selbsthass waren im Laufe der Jahre so sehr angewachsen, dass ich es in meiner eigenen Haut kaum noch aushielt. Das Leben schien nur noch hart und bitter. Ich verhalf ihm zu ein bisschen Süße, indem ich Süßes in mich hineinstopfte. Anfangs hatte ich noch das eiserne Obst-Gemüse-Gebot meiner Mutter im Hinterkopf, aber von Woche zu Woche futterte ich immer öfter und immer mehr »Schrott«. »Manchmal braucht die Seele eben Streicheleinheiten«, kommentierte mein Vater mit einem Lächeln. Und genau so war es. Das Essen spendete mir einen ungeahnten Trost, es milderte meinen Leidensdruck und sorgte für Momente der Leichtigkeit.

Nur leider nicht auf der Waage. Mit zwölf Jahren wog ich gut siebzig Kilo. Nicht dramatisch, aber doch definitiv zu viel. Meinem Ansehen in der Schule und meinem Selbstbild tat das keineswegs gut. Eine süßliche Stimme in meinem Kopf säuselte mir zu, viel Süßes zu essen, und später, nicht zu essen. Rückblickend sehe ich in der Phase meines übersteigerten Süßigkeitenkonsums die ersten Symptome einer Essstörung. Aber magersüchtig wurde ich erst Jahre später.

Die Angst vor dem Scheitern

Jetzt würde ich endlich gut sein, alles aufholen und die Erwartungen an mich erfüllen.

Als alles anfing, war ich siebzehn, im letzten Schuljahr an der Mittelschule und stand kurz vor der Mittleren Reife. Nach außen hin hatte sich vieles in meinem Leben stabilisiert. Ich hatte den »Süßigkeitenspeck« wieder abgenommen, kam an der Schule einigermaßen klar, der Alltag mit meinem Vater hatte sich eingespielt und meine Noten hatten sich verbessert. Ich war allerdings auch keine überragende Schülerin und bekam deshalb immer wieder zu hören, wie wichtig dieses Schuljahr sei, wenn ich den Sprung auf ein weiterführendes Gymnasium schaffen wollte. Ich musste mich nur richtig anstrengen.

Also strengte ich mich an. Ich fing an, hart zu arbeiten, und entdeckte eine neue Stärke: Ich war gut im Auswendiglernen. Mit der richtigen Vorbereitung konnte ich nicht nur den Stoff, sondern jedes einzelne Wort genau wiedergeben. Einmal saß ich bei der Rückgabe einer Klausur direkt neben meiner Lehrerin und sah schon von meinem Platz aus meinen Namen ganz oben auf der Liste stehen. Ich hatte nicht nur gut abgeschnitten, ich war die Beste! Da stand sie rot auf weiß: die Eins.

In vielen Fächern sammelte ich in den nächsten Wochen glanzvolle Noten und genoss die bewundernden Blicke meiner Mitschülerinnen, wenn ich genannt und als Beste gelobt wurde. Endlich wurde ich gesehen. Ich war jemand. Ich malte mir immer wieder aus, wie ich bei der Zeugnisausgabe in die stolzen Gesichter meine Eltern schaute und wie wir danach alle vier vereint mein großartiges Zeugnis feiern würden. Nur, dass meine Noten noch gar nicht so großartig waren. »Vollgas dieses Schuljahr«, sagte mein Vater und ich nickte brav.

Doch mit jeder Schulwoche, die verging, wuchsen die Zweifel und meine innere Unruhe. Meine altvertrauten Gefährtinnen meldeten sich: der Druck und die Angst vor dem Scheitern. Das ganze Abschlussjahr schien aus Druck zu bestehen und sich nur um die eine alles entscheidende Frage zu drehen: Wie würde ich abschneiden? Wie würde es weitergehen? Würde ich es aufs Gymnasium schaffen? Über eine Alternative dachte ich gar nicht nach, schon allein deshalb, weil ich keine anderen Vorstellungen oder Ambitionen hatte. Ich übernahm als normal und gegeben, was in meiner Familie als normal galt: aufs Gymnasium gehen, Abitur machen, studieren …

Habe ich bewusst darüber nachgedacht, den Druck zu lindern und mich durch Essen zu betäuben? Ich kann mich nicht erinnern. Wenn ich in dieser Zeit überhaupt über Ernährung nachdachte, dann im Sinne meiner Mutter über gesunde oder ungesunde Sachen und natürlich auch über mein Aussehen und Gewicht. Aber nicht besonders oft. Essstörungen waren absolut kein Thema. Nie im Leben hätte ich mir vorstellen können, dass sich das ändern würde und ein Vortrag an meiner Schule eine so verhängnisvolle Entwicklung in Gang setzen könnte.

Ich erinnere mich noch sehr genau an diesen Tag. Es war ein Mittwoch, nach der großen Pause, als eine meiner Klassenkameradinnen im Fach Hauswirtschaft einen Vortrag über Essstörungen hielt. Anfangs war ich wenig interessiert. Ich kritzelte müde und gelangweilt auf meinem Block herum und hörte kaum zu. Im ersten Teil des Vortrags ging es um Bulimie und mir wurde schon beim Zuhören schlecht. Wie verzweifelt musste man sein, um Essen in sich reinzustopfen und sich dann den Finger in den Hals zu stecken?

Ab heute Diät

Ich wurde zur Expertin in Sachen Kaloriengehalt und die Waage im Bad wurde schon bald zu meiner täglichen Begleiterin und Mahnerin.

Das Thema Magersucht illustrierte meine Mitschülerin durch Fotos von ausgemergelten Frauen. Ich war schockiert und die Bilder haben sich eingebrannt. Warum nur taten Menschen sich so etwas an? Erst das Thema Hintergründe und Ursachen ließ mich wirklich aufhorchen: Leidens- und Leistungsdruck, Essen als Trost, Aufmerksamkeit, Kontrolle, Krankheitsgewinn … Die Worte bohrten sich in mein Gehirn. Auch nach dem Vortrag konnte ich die Gedanken daran nicht abschütteln. Also begann ich, mich mit Essstörungen zu beschäftigen.

Ich vertiefte mich ohnehin gern in Themen, die mich interessierten, las wochenlang Bücher dazu und durchforstete das Internet. Jetzt las ich mit einer seltsamen Mischung aus Ekel und Faszination die Erfahrungsberichte von Mädchen, die mitten in der Magersucht steckten oder den Ausstieg geschafft hatten. Ich mochte mir nicht vorstellen, wie sehr sie leiden mussten, bemerkte aber auch, wie viel Zuwendung sie auf der anderen Seite bekamen. Wie Eltern, Freunde und Angehörige sich um sie sorgten, sich kümmerten und versuchten zu helfen. Aufmerksamkeit! Krankheitsgewinn! Kontrolle!

Schließlich stieß ich im Netz auf einen Begriff, der mein Leben verändern sollte: Ana.