Was das Gehirn essen will - Aileen Burford-Mason - E-Book

Was das Gehirn essen will E-Book

Aileen Burford-Mason

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Beschreibung

Schöpfen Sie Ihr geistiges Potential voll aus! Die Fähigkeiten unseres Gehirns sind weitaus größer, als die, die wir nutzen. Doch bei den meisten Menschen wird es nicht ausreichend versorgt. Dieses Buch hilft Ihnen dank zahlreicher Tipps und Anleitungen, dem entgegenzuwirken und die naturgegebenen Fähigkeiten Ihres Gehirns ein Leben lang zu fördern. Wussten Sie, dass unser Gehirn den zehnfachen Energieverbrauch unserer restlichen Organe hat? Daher liegt es nahe, dass es selbst bei ausgewogener Ernährung nicht immer die Unterstützung bekommt, die es bräuchte, um sein gesamtes Potential voll ausschöpfen zu können. Die führende Ernährungswissenschaftlerin Aileen Burford-Mason schildert wirkungsvolle Ernährungsprogramme und erläutert die angemessene Anwendung von Nahrungsergänzungsmitteln, die sicherstellen, dass wir unsere geistige Leistungsfähigkeit aufrechterhalten können – von der Schwangerschaft bis ins hohe Alter. Das können Sie erreichen: • Eine spürbare Verbesserung der Hirnleistung • Bessere Laune • Höhere Konzentration • Mehr Kreativität und Leistung am Arbeitsplatz • Besserer Umgang in Stresssituationen • Mehr Freude am Leben • Einen tiefen und festen Schlaf

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Seitenzahl: 524

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Aileen Burford-Mason

Was das Gehirn essen will

Mentale Power durch richtige Ernährung

Aus dem Amerikanischen von Maren Klostermann

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Healthy Brain. Optimize Brain Power at any Age« im Verlag HarperCollins Publishers Ltd, Toronto

© 2017 by Aileen Burford-Mason

Für die deutsche Ausgabe

© 2018 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung von Fotos von © shutterstock

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96269-7

E-Book: ISBN 978-3-608-11104-0

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung

Teil 1

Das Gehirn – eine Betriebsanleitung

1. Kapitel

Eine Zeitreise

2. Kapitel

Veranlagung oder Umwelt?

3. Kapitel

Der Zusammenhang zwischen Ernährung und Kognition

4. Kapitel

Vitamine, Mineralstoffe und Hirnfunktion

Teil 2

Wenn das Gehirn streikt

5. Kapitel

Alzheimer und Demenz: unsere größten Ängste

6. Kapitel

Wie das Gehirn auf Stress reagiert

7. Kapitel

Hirnverletzungen: Trauma und Schlaganfall

Teil 3

Zurück zum Anfang

8. Kapitel

Gehirn im Aufbau: Ernährung und Schwangerschaft

9. Kapitel

Supplemente und Schwangerschaft

10. Kapitel

Vorgeburtliche Planung: eine Checkliste

Teil 4

Wie das Gehirn ein Leben lang hält

11. Kapitel

Das lernende Gehirn: Ernährung und schulischer Erfolg

12. Kapitel

In der Arbeitswelt

13. Kapitel

Was tun, wenn das Gedächtnis versagt?

Teil 5

Strategieplanung

14. Kapitel

Kaufen mit Köpfchen: kostenbewusste Entscheidungen im Lebensmittelladen

15. Kapitel

Supplement-Protokolle

Anhang

Obst- und Gemüse-Tagebuch

Danksagung

Anmerkungen

Register

Dem Andenken meiner Freundin und Mentorin Dr. Ursula Martius Franklin (1921–​2016)

Wir ertrinken in Information und dürsten nach Einsicht. Die Welt der Zukunft wird von Synthetisierern beherrscht werden, von Menschen, die in der Lage sind, sich die richtige Information zur richtigen Zeit und mit den richtigen Mitteln zu beschaffen, sie kritisch zu überdenken und dann einsichtige Entscheidungen zu treffen.

E. O. Wilson(1)Die Einheit des Wissens

Einleitung

Wenn das menschliche Gehirn so schlicht wäre, dass wir es verstehen könnten, wären wir so schlicht, dass wir es nicht könnten.

Emerson M. Pugh(1) in G. E. Pugh(1),The Biological Origin of Human Values

Man kann heute kaum noch eine Zeitung oder Zeitschrift aufschlagen, ohne auf einen Artikel über den angegriffenen Zustand unserer kollektiven psychischen Gesundheit zu stoßen. Autismus(1) bei Kindern(1) nimmt zu; immer mehr Jugendliche(1) nehmen sich das Leben; Angststörungen und Depressionen(1) sind zu Volkskrankheiten geworden. Die Angehörigen der Baby-Boom-Generation müssen die erschreckende Möglichkeit in Betracht ziehen, in nicht allzu ferner Zukunft dement zu werden. In Kanada wird einer von fünf Menschen im Laufe seines Lebens eine psychische Erkrankung entwickeln.

In anderen Berichten wird beklagt, dass unsere Nahrungsmittel(1) immer schlechter werden und eine falsche Ernährung(1) zu der enormen Belastung beiträgt, die unsere durch chronische Krankheiten(1) strapazierten Gesundheitsbudgets bewältigen müssen. Doch nur selten wird in den Medienberichten eine Verbindung zwischen der sich verschlechternden mentalen Gesundheit und unserem Essen hergestellt. Als das stoffwechselaktivste Organ unseres Körpers hat das Gehirn einen zehnmal höheren Nährstoffbedarf als alle anderen Organe. Es ist daher das erste Organ, das schwächelt, sobald es zu einer Unterversorgung mit Nährstoffen kommt. Einige Störungen in der Hirnchemie sind vorübergehend und reversibel. Wenn wir zum Beispiel zu lange nichts gegessen haben und unser Blutzuckerspiegel fällt, lässt unsere Konzentration nach. In diesem Fall ist leicht Abhilfe zu schaffen: Wir müssen einfach nur etwas essen. Was das Gehirn jedoch nicht aushält, ist eine kontinuierliche Unterversorgung mit den Nährstoffen(1), die es braucht – mit den unabdingbaren Bestandteilen der Nahrung, die es am Laufen halten.

Laut Weltgesundheitsorganisation sind inzwischen weltweit 47,5 Millionen Menschen von Demenz(1) betroffen, und durch die steigende Lebenserwartung werden die Zahlen weiter in die Höhe schießen.1 In Kanada zeigen Statistiken der Alzheimer-Gesellschaft, dass mehr als eine halbe Million Menschen unter der Krankheit leiden und jedes Jahr 25 000 neue Fälle hinzukommen.2 Wissenschaftler räumen jetzt allerdings ein, dass Demenz keine unausweichliche Begleiterscheinung des Alterungsprozesses ist. Sie ist eine Lifestyle-Erkrankung, und die Hauptrisikofaktoren sind schlechte Ernährung(2) und mangelnde Bewegung(1). Medikamentöse(1) Behandlungsansätze haben sich bislang als spektakuläre Fehlschläge erwiesen, was bedeutet, dass unsere beste Option darin besteht, präventiv Maßnahmen gegen den Ausbruch der Demenz(2) zu ergreifen.

Derzeitige Anstrengungen zielen auf Personen, die an der Schwelle zur Krankheit stehen, also auf Menschen im mittleren Lebensalter, die gedrängt werden, das Rauchen(1) aufzugeben, weniger Alkohol(1) zu trinken, täglich Sport zu treiben und sich gesünder zu ernähren. Doch wenn wir wollen, dass unser Gehirn ein Leben lang funktioniert, müssen wir schon viel früher beginnen. Genaugenommen wird das Leistungsvermögen unseres Gehirns zu einem Gutteil bereits in utero festgelegt – in den neun Monaten vor unserer Geburt. Wie andere Alterserkrankungen auch ist Demenz(3) möglicherweise eine Spätfolge der Unterernährung(1) in früheren Lebensstadien, wobei die Schwangerschaft(1) eine Phase erhöhter Anfälligkeit darstellt.

Auch wenn wir die Ernährung(3), die wir vor der Geburt erhalten, nicht beeinflussen können, lässt sich die Leistungsfähigkeit jedes Gehirns durch die richtige Ernährungsweise und angemessene Nahrungsergänzung(1) steigern. Ungeachtet unserer frühen Ernährungsgeschichte gibt es viele Möglichkeiten, die Hirnleistung in späteren Lebensstadien zu fördern. Wir können den genetischen Einfluss unseres ernährungsbezogenen Erbes durchaus überwinden. Umgekehrt wird auch das intelligenteste Gehirn leiden, wenn es langfristig zu wenig von den Nährstoffen erhält, die es für seine Funktion braucht. Ganz gleich, mit wie viel Grips wir auf die Welt kommen, wird das Gehirn nicht ein Leben lang durchhalten, wenn wir es nicht anständig füttern(4).

Berücksichtigt man zudem die Hinweise darauf, dass Stress und intensive geistige oder körperliche Anstrengung den Bedarf an bestimmten Nährstoffen(2) drastisch erhöhen, laufen wir alle Gefahr, von Zeit zu Zeit unter Nährstoffdefiziten zu leiden. Viele Menschen zwingen ihr Gehirn zu harter Arbeit und versagen ihm gleichzeitig die Versorgung, die es benötigt, um effizient zu funktionieren. Man denke an den Studenten, die ehrgeizige Führungskraft, den Sportler oder den »Wochenendkrieger«. Sie alle bleiben vielleicht unter ihren Möglichkeiten, weil ihnen Eiweiß, Vitamin C(1) oder Magnesium(1) fehlen. Wie Sie in diesem Buch sehen werden, können sowohl ein hart arbeitender Körper als auch ein aktives Gehirn von der Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln(2) profitieren.

Eine Autobahnbrücke, die nicht regelmäßig kontrolliert und gewartet wird, wird wahrscheinlich irgendwann in sich zusammenbrechen, und gefährliche Betonbrocken werden auf die darunter hindurchfahrenden Autos stürzen. Auch beim Gehirn können wir nicht davon ausgehen, dass es ohne anständige Wartung und kontinuierliche Aufmerksamkeit, die sich auf seinen Nährstoffbedarf richtet, ordentlich funktioniert. Der kumulative Effekt einer jahrelangen falschen Ernährung führt schließlich zum Kollaps des Gehirns.3

Die Medizin steht im 21. Jahrhundert vor einem Dilemma. Obwohl eine schlechte Ernährung(5) zum Anstieg von Fettleibigkeit(1), Diabetes(1) und Herzerkrankungen(1) führt, wird in der medizinischen Ausbildung wenig Gewicht auf dieses Thema gelegt. Im Durchschnitt erhalten Studenten während des Medizinstudiums kümmerliche 19,6 Stunden Unterricht in Ernährung.4 Folglich entsprechen die Ernährungskenntnisse vieler Ärzte bei Abschluss des Studiums denen eines Highschool-Schülers. Zwischenzeitlich explodiert der gesamte Bereich der Ernährungsforschung(1). Die Forschungsliteratur ist inzwischen so umfangreich und komplex, dass es einen regelrechten Kraftakt bedeutet, die Wissenslücke zwischen jenen, die sich über Entwicklungen auf dem Laufenden halten, und jenen, die es nicht tun, zu schließen.

Doch obwohl Ärzte die Bedeutung der Ernährung(6) für die Gesundheit ignorieren, haben die Patienten ihre Hausaufgaben gemacht und sich selbst via Internet aufgeklärt. Viele sind über neueste Forschungsergebnisse besser informiert als ihre Ärzte. Häufig finden sie eigenständig heraus, dass sich unerklärte Symptome, die sie an sich bemerken, durch eine Ernährungsumstellung und Nahrungsergänzungsmittel(3) beheben lassen. Kein Wunder, dass diese Patienten frustriert sind, wenn die Rolle der Ernährung(7) bei ihrer Behandlung ignoriert wird – wenn ihr Arzt die Forschungsdaten, die bedeutsam für ihre Therapie sind, entweder gar nicht kennt oder als irrelevant abtut.

Die berufliche Ausbildung von Ernährungsberatern ist ein weiteres Problem, da sie derzeit auf der Vorstellung gründet, dass eine ergänzende Aufnahme von Vitaminen(1) in Form von Supplementen nicht notwendig sei. Wenn wir gut essen, so heißt es, sind wir gesund: Wer die offiziellen Richtlinien für eine gesunde Ernährung befolgt, erhält alle wichtigen Nährstoffe(3), die er braucht. Staatliche Statistiken in Kanada und den USA zeigen jedoch, dass eine Unterversorgung mit zentralen Nährstoffen in der Bevölkerung weit verbreitet ist, sogar bei Menschen, die sich gesund zu ernähren glauben.5 In Kanada kam ein Senatsausschuss zu dem Ergebnis, dass die offiziellen Ernährungsrichtlinien(1) des kanadischen Food Guide einer umfassenden Überarbeitung bedürfen und keine solide Anleitung für eine gesunde Ernährung bieten: »Kanadas Food Guide ist bestenfalls ineffektiv und schlimmstenfalls förderlich für den Anstieg der Fettleibigkeit(2) und der ernährungsbezogenen chronischen Krankheiten(2) in Kanada.«6

Seit den Anfängen der Vitaminforschung(1) ist klar, dass sich der Bedarf an einzelnen Nährstoffen von Mensch zu Mensch – häufig extrem – unterscheidet. In dem 1959 erschienenen Heinz Handbook of Nutrition heißt es zum Beispiel: »In Anbetracht des heutigen genetischen und physiologischen Erkenntnisstands ist das typische Individuum wohl eher eine Person, die im Hinblick auf viele essenzielle Nährstoffe(1) einen durchschnittlichen Bedarf hat, aber in Bezug auf einige wenige essenzielle Nährstoffe auch einen Bedarf zeigt, der alles andere als durchschnittlich ist. (2)«7

Ist es eine überholte Vorstellung, dass jeder von uns seinen ganz eigenen, einzigartigen Vitaminbedarf hat? Ist es in Ordnung, zu glauben, dass die derzeit offiziell sanktionierten und empfohlenen Tagesdosierungen(1) für Vitamine(2) (RDA, Recommended Daily Allowance) allen Bedürfnissen gerecht werden? Nein. Im Gegenteil. Neu entstehende Wissenschaften zeigen, dass wir, wenn überhaupt, unterschätzt haben, wie individuell wir sind, was die Nährstoffbedürfnisse betrifft. Eine ganze Reihe neuer Disziplinen wie Nutrigenomik, Metabolomik und viele andere »-omiken« bestätigt, was wir seit Jahrzehnten wissen: Es gibt keine allgemeingültige Regel (oder Mengenangabe) für alle.

Um diese neuen Disziplinen zu verstehen, muss man sich gut in den komplexen Zusammenhängen von Biochemie, Genetik und Ernährung(8) auskennen. In einem Bericht wurde kürzlich konstatiert: »Selbst gut ausgebildeten Spezialisten fällt es häufig schwer zu erkennen, wie relevant diese Disziplinen für praktische Präventionsmaßnahmen sind, durch die man die Gesundheit optimieren, Krankheitsausbrüche verzögern und den Schweregrad von Krankheiten verringern kann.«8 Wie sollen dann erst Laien, die keine ernährungswissenschaftlichen Fachkenntnisse besitzen und nichts von der rasant voranschreitenden Forschung wissen, die Relevanz verstehen?

Ernährungsrichtlinien(2) in allen Industrieländern haben es vermieden, sich mit dieser unbequemen Wahrheit auseinanderzusetzen. Stattdessen wird eine einzige Aufnahmemenge für jeden Nährstoff empfohlen und als allgemeingültiger Wert festgesetzt – mit geringfügigen Abwandlungen für Männer und Frauen und für unterschiedliche Altersgruppen. Doch die derzeitigen Empfehlungen gehen nicht nur weit an den Nährstoffbedürfnissen der meisten Menschen vorbei, sondern sind tatsächlich für alle suboptimal.

Auch wenn dieses Buch weder ein Lehrbuch über das Gehirn noch ein Ernährungsratgeber ist, möchte es dennoch zeigen, wie Gehirn und Ernährung zusammenwirken. Letztendlich sind alle Teile des Gehirns aufs Engste miteinander verknüpft und arbeiten harmonisch zusammen, um Stimmungen, Fokus und Aufmerksamkeit zu steuern. Alle sind an der Gedächtnisbildung(1) sowie der Speicherung und dem Abruf von Erinnerungen(1) beteiligt. In ähnlicher Weise müssen auch alle essenziellen Nährstoffe(3) jederzeit in optimalen Mengen und in einem ausgewogenen Verhältnis im Körper vorhanden sein. Es gibt keine einzelne Nährstoff-Wunderpille.

Das klingt jetzt vielleicht kompliziert, aber das vorliegende Buch erklärt Schritt für Schritt, wie Sie Ihre Ernährung(9) umstellen und angemessene Nahrungsergänzungsmittel(4) auswählen können. Der sofortige Lohn für die Anwendung dieser Strategien ist ein merklicher Anstieg der Gehirnvitalität – eine Verbesserung der Stimmung, Konzentration, Kreativität und beruflichen Arbeitsleistung sowie der Fähigkeit, das Leben zu genießen, gut zu schlafen(1) und Stress erfolgreich zu bewältigen. Und auf lange Sicht haben sich die Ernährungsumstellungen, die ich beschreibe, als besonders vielversprechend erwiesen, um vor der Alzheimer(1)-Krankheit und anderen Formen der Demenz(4) zu schützen.

Noch eine letzte Bemerkung: Leser, die mit aktuellen Trends in der Hirnforschung vertraut sind, wissen vermutlich um das rege Interesse am »Mikrobiom(1)« – den vielen Billionen Mikroben, die in und auf unserem Körper leben. In den ersten Lebenstagen werden wir durch eine riesige Sammlung von Mikroorganismen besiedelt – von Bakterien, Viren und Pilzen. Obwohl das individuelle Darm-Mikrobiom(2) bei jedem Menschen relativ stabil ist, treten Veränderungen auf, wenn wir anhaltendem Stress(1) oder Medikamenten(2) wie Antibiotika(1) oder den Stoffen einer Chemotherapie ausgesetzt sind. Auch in Reaktion auf eine schlechte Ernährung, Magen-Darm-Erkrankungen und Reiseaktivitäten kann es schnell zu Verschiebungen beim Mikrobiom(3) kommen.9

Veränderungen in der Zusammensetzung und Vielfalt dieser Mikroben beeinflussen nachweislich unsere Anfälligkeit für Herzerkrankungen(2), Autoimmunerkrankungen(1), Gewichtszunahme(1), das metabolische Syndrom(1) und Typ-2-Diabetes(1). Da das Mikrobiom(4) im Darm mit dem zentralen Nervensystem interagiert, wirkt es sich auch auf unsere Hirnfunktion aus. Wir wissen, dass ein gesundes Mikrobiom eine wesentliche Rolle für die normale Hirnentwicklung(1) in der frühen Kindheit spielt. Die Hirnfitness des Erwachsenen wird ebenfalls beeinflusst: Die Forschung fängt an, Zusammenhänge zwischen dieser größtenteils verborgenen Welt der Mikroben und dem Angst(1)- und Depressionsniveau(2) und sogar Störungen wie Autismus(2), bipolarer Störung(1) und Schizophrenie(1) herzustellen.

Zur Zeit ist noch nicht ganz klar, wie wir diese komplexen mikrobiellen Gemeinschaften beeinflussen können. Es bedarf noch vieler weiterer Forschungsanstrengungen, bevor wir genau wissen, wie man sie für eine Verbesserung der mentalen und physischen Gesundheit nutzbar machen kann. Aus diesem Grund halte ich es für verfrüht, das Thema Mikrobiom(5) in diesem Buch ausführlich zu erörtern. Doch wir sollten dranbleiben! Dieser komplexe Bereich schreitet in rasantem Tempo voran.

Teil 1

Das Gehirn – eine Betriebsanleitung

1. Kapitel

Eine Zeitreise

Ich, George Bush, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, erkläre hiermit die Dekade, beginnend am 1. Januar 1990 zum Jahrzehnt des Gehirns(1). Ich rufe alle öffentlich Bediensteten und das Volk der Vereinigten Staaten dazu auf, es durch entsprechende Programme, Zeremonien und Aktivitäten zu begehen.

Es ist der 17. Juli 1990. Im Weißen Haus hat George H. W. Bush(1) gerade die Präsidentielle Proklamation Nr. 6158 unterzeichnet, die das Jahrzehnt, das am 1. Januar 1990 begonnen hat, zum Jahrzehnt des Gehirns(2) ausruft. In den vorangehenden 15 Jahren hat die bildgebende Technik zur Darstellung des Gehirns bahnbrechende Fortschritte gemacht. Es ist jetzt möglich, in ein lebendes Gehirn hineinzuschauen und Bilder davon zu machen, wie es arbeitet. In Anbetracht dieser innovativen Technik ist die Zeit reif für eine große politische Geste – eine Initiative, die einen nie dagewesenen Strom von staatlichen und privaten Geldern in die Hirnforschung fließen lassen wird.

(3)Die neue Initiative findet großen Anklang. Ärzte erhoffen sich von den substantiellen Finanzspritzen für die Hirnforschung, dass man besser versteht, was bei einer Vielzahl von psychischen Störungen falsch läuft – von Depression(3) und Autismus(3) bis zu Schizophrenie(2), Epilepsie, Drogensucht und Demenz(5) –, und dass man neue und verbesserte Behandlungs- und Präventionsmethoden entwickeln wird. Und da psychische Krankheiten einen substantiellen und wachsenden Teil der Gesundheitskosten verursachen, gehören auch staatliche Stellen und Gesundheitsökonomen zu den eindeutigen Befürwortern dieses Programms.

(4)Für den Rest von uns markiert dieses Jahrzehnt den Beginn einer anhaltenden Begeisterung für die Hirnforschung. Verglichen mit der gesamten früheren Geschichte verdoppelt sich im Jahrzehnt des Gehirns(5) das Wissen um das Gehirn und seine inneren Mechanismen. Die Medien berichten begeistert und häufig sensationsheischend von neuen Forschungsergebnissen. Wissenschaftler reagieren auf das gestiegene Medieninteresse, indem sie populärwissenschaftliche Bücher verfassen, in denen sie ihre hochtechnologische Arbeit erklären – Bücher, die wiederum ein besser informiertes Laienpublikum schaffen, das begierig auf weitere Erkenntnisse wartet.

Unsere Neugier ist geweckt. Wie steuert das Gehirn unsere Handlungen, Gedanken und Gefühle? Können diese neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse uns klüger machen oder den Verlauf einer lebenslangen Depression(4) oder Angststörung verändern? Werden wir endlich ansatzweise verstehen, was im Kopf eines geliebten Freundes oder Familienangehörigen vor sich ging, der sich das Leben nahm? Kann die wachsende Sammlung der Informationen über das Gehirn und seine Mechanismen vielleicht dazu beitragen, dass wir endlich verstehen, was den Menschen ausmacht?

Die Kommandozentrale

Das Bestreben, das menschliche Gehirn(1) zu verstehen und zu begreifen, wie es unsere physische und psychische Funktionsweise steuert, ist so alt wie die dokumentierte menschliche Geschichte. Die alten Griechen verstanden wenig von grundlegender Hirnphysiologie und –anatomie, und die Argumente ihrer Zeit waren hauptsächlich philosophischer Art: Welcher Teil des Gehirns beherbergt den »gesunden Menschenverstand«? Welche Bereiche steuern Erinnerung(2), Vernunft und Vorstellungskraft? Welche Beziehung besteht zwischen Kopf und Herz, Geist und Seele? Wo sitzt die Seele?

(2)Hippokrates(1) (460-um 370 v. Chr.) glaubte, das Gehirn sei der Sitz der Intelligenz und zuständig für all unsere Sinne. »Die Menschen sollten wissen, dass aus nichts anderem als dem Gehirn Freuden, Wonnen, Gelächter, Spott sowie Kummer, Leid, Verzweiflung und Wehklagen hervorkommen«, erklärte er. Doch nicht allzu lange danach setzten sich die Ansichten eines anderen prominenten und einflussreichen Griechen durch: Nach Auffassung von Aristoteles(1) (384–​322 v. Chr.) und seiner Anhänger bestimmt nicht das Gehirn, sondern das Herz über unser innerstes Wesen: Unsere Intelligenz entspringe einzig dem Herzen, das Gehirn sei lediglich ein Kühlsystem, nützlich nur als eine Art Sicherheitsventil für die aufwallende Hitze, die von unserem heißen Herzen produziert werde.

Überflüssig für die Reise

(3)Die alten Ägypter legten ebenfalls wenig Wert auf das Gehirn. Wie viele frühe Zivilisationen konservierten die Ägypter die Körper von Verstorbenen durch Mumifizierung. Sie glaubten, dass der Körper im Leben nach dem Tod wieder auferstehen würde, deshalb musste er so perfekt wie möglich erhalten bleiben.

(4)Der Mumifizierungsprozess war aufwändig und langwierig. Zuerst wurden die inneren Organe entnommen, weil sie schnell verwesten, und gesondert einbalsamiert. Das einzige Organ, das völlig unberührt im Körper belassen wurde, war das Herz. Da es als Sitz des Geistes und der Empfindungen galt, wurde ihm eine entscheidende Bedeutung für das Leben nach dem Tod zugeschrieben. Dann wurde der Körper, zusammen mit dem unangetasteten Herzen, entwässert und einbalsamiert. Die anderen inneren Organe wurden später an ihren ursprünglichen Platz zurückgesetzt und der Körper mit zahlreichen Schichten von Leinenbahnen umwickelt. Zwischen die Schichten steckte man Amulette, um den Körper auf seiner Reise ins Jenseits zu schützen.

(5)Das einzige Organ, das im Laufe dieses Prozesses, entsorgt wurde, war das Gehirn. Die alten Ägypter waren überzeugt, dass sie im Leben nach dem Tod ausgezeichnet ohne Gehirn auskommen würden.

Abkehr vom Aberglauben

(6)Die Blütezeit des Islam (vom 7. bis zum 13. Jahrhundert) brachte viele neue Ideen in Technik und Medizin hervor, und an die Stelle fantasievoller Spekulationen trat allmählich ein eher systematischer und wissenschaftlicher Ansatz zur Entschlüsselung des Gehirns und seiner Geheimnisse. Der bedeutende arabische Arzt und Wissenschaftstheoretiker Alhazen(1) (965–​1040), der vor allem dafür bekannt ist, dass er beschrieben hat, wie das Auge Bilder ans Gehirn übermittelt, vertrat als Erster die Auffassung, dass alle Theorien über die Funktionsweise des Gehirns verworfen werden sollten, wenn sie nicht durch Beobachtungen und Experimente belegt werden könnten. »Der Wahrheitssuchende ist nicht jeder, der die Schriften der Alten studiert und, seiner natürlichen Neigung folgend, sein Vertrauen in sie setzt, sondern der, welcher seinem Vertrauen in sie misstraut und fragt, was er aus ihnen gewinnt, der, welcher sich Argumenten und Nachweisen unterwirft, nicht aber den Aussagen von Menschen, deren Natur mit allen möglichen Unvollkommenheiten und Mängeln behaftet ist«, schrieb er.

(7)Das war der Anfang dessen, was wir heute als wissenschaftliche Methode bezeichnen.

Während der Renaissance waren viele Wissenschaftler gleichzeitig begnadete Künstler. Als akribische Leichensektionen allmählich immer mehr Details der menschlichen Anatomie enthüllten, musste jede neue Entdeckung dokumentiert und illustriert werden. So florierten Kunst und Wissenschaft Seite an Seite. Das berühmteste Beispiel für die Verbindung von Kunst und Wissenschaft ist der Maler und Erfinder Leonardo da Vinci(1) (1452–​1519). Da Vinci(2) war Autodidakt, betrieb zunächst intensive Studien der Physiologie und Anatomie, um den Aufbau des menschlichen Körpers in seinen Gemälden möglichst naturgetreu darstellen zu können. Doch er interessierte sich auch für den Aufbau des Gehirns und fertigte detaillierte und wunderschöne Zeichnungen davon an.

Zu dieser Zeit erhielten die verschiedenen Teile des Gehirns bestimmte Bezeichnungen, die wir bis heute benutzen. Das Cerebrum (lateinisch für »Gehirn«), das vorn im Schädel sitzt, nimmt etwa zwei Drittel der Gesamtmasse des Gehirns ein. Es besteht aus der rechten und der linken Hemisphäre und steuert höhere Hirnfunktionen wie Denken und Handeln. Das Cerebellum(1) (lateinisch für »Kleinhirn«) sitzt hinten im Schädel und steuert Bewegung(2) und Gleichgewicht. Die Medulla oblongata(1) liegt vor dem Cerebellum und reguliert die unwillkürlichen Vorgänge im Körper, wie Blutdruck, Herzschlag, Verdauung und Atmung(2).

Wenn Falten etwas Gutes sind

Zu den frühesten und bekanntesten Lehrbüchern der Anatomie gehört das 1543 erschienene De humani corporis fabrica (Über den Bau des menschlichen Körpers) von Andreas Vesalius(1). In diesem Werk wurde erstmals klar zwischen zwei verschiedenen Arten von Hirngewebe unterschieden, die eine unterschiedliche Färbung aufwiesen, nämlich zwischen der grauen Substanz(1) oder der äußeren Schicht des cerebralen Cortex(1) und der inneren weißen Substanz(1).

Dieser Text umfasst auch die ersten korrekten Zeichnungen von der Oberfläche des Gehirns – von den vielen in Furchen (Sulci) und Windungen (Gyri) verlaufenden Falten auf der Außenseite. Die frühen Anatomen hatten diese Hirnwindungen für etwas Willkürliches gehalten, vergleichbar mit den wurmartigen Schlingen des Darms, die aus dem Bauch quollen, wenn sie ihn aufschnitten. Vesalius(2) selbst hielt diese Erhebungen und Täler für nichts Besonderes: »Am Gehirn des Menschen ist nichts Ungewöhnliches, und diese Windungen, die in seiner Substanz auftauchen, finden sich auch im Gehirn von Esel, Pferd, Ochse und anderen Tieren, die ich untersucht habe.«

Ende des 16. Jahrhunderts jedoch war klar, dass sich Vesalius(3) in dieser Hinsicht geirrt hatte. Die Oberflächenwindungen sind weder etwas Zufälliges noch lose Schlingen, sondern fest verbunden mit den tieferen Teilen des Gehirns. Und sie sind bei den höheren Säugetieren tatsächlich umfangreicher als bei anderen Tieren. Vergleicht man die Gehirne verschiedener Spezies, wird das Faltenwerk mit zunehmender Größe des Cerebellums(3) immer komplexer. Alte Stiche aus jener Zeit zeigen eine klare evolutionäre Weiterentwicklung: Das Bibergehirn ist glatt, das Fuchsgehirn hat fünf Windungen, das Gehirn des Pferdes hat mehr Vertiefungen als das des Schafes und das Elefantengehirn mehr als das des Pferdes. Doch kein Gehirn im Tierreich weist komplexere Windungen auf als das menschliche.

Dellen, Knubbel und Persönlichkeit

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war der Name des deutschen Anatoms Franz Joseph Gall(1) (1758–​1828) in aller Munde. Ausgebildet in Anatomie und Sektion entdeckte er als Erster die Hirnnerven – zwölf Nervenpaare, die direkt aus dem Gehirn entspringen. Einige dieser Nerven, so zeigte er, steuern Sinnesorgane, andere kontrollieren Muskeln, und wieder andere sind mit Drüsen oder inneren Organen wie Herz oder Lunge verbunden. Diese Entdeckung war ein wichtiger und dauerhafter Beitrag, den Gall(2) zu der entstehenden Wissenschaft der Neurologie(1) leistete.

Doch Galls(3) Erforschung der Hirnnerven war nicht das, was die größte Aufmerksamkeit erregte – was ihn vielmehr berühmt und in der breiten Öffentlichkeit ungeheuer populär machte, war seine Lehre der Phrenologie(1). Nach Galls(4) Theorie war das Gehirn kein einzelnes Organ, sondern setzte sich aus vielen verschiedenen Organen zusammen, die alle ihren bestimmten Platz in den Windungen des Gehirns hatten und jeweils für unterschiedliche Empfindungen und mentale Funktionen zuständig waren. Weil die Form des Schädels den Windungen des Gehirns folgte, so Galls(5) Überzeugung, konnte man die Größe und Form des Schädels – seine Dellen, Knubbel und Vertiefungen – nutzen, um bestimmte Charaktereigenschaften und geistige Stärken und Schwächen zu ermitteln.

Gall(6) untersuchte die Köpfe von Personengruppen, die seiner Ansicht nach für gesellschaftliche Verhaltensextreme standen – Kriminelle und Geistliche zum Beispiel – und kartographierte die Regionen, die seines Erachtens bestimmte Eigenschaften wie Hinterlist und Kriminalität, Ehrlichkeit und Pflichtbewusstsein und sogar künstlerische Begabungen wie Musikalität steuerten. Das gegenseitige Abtasten und Deuten von Schädeldellen und -knubbeln wurde zu einer beliebten Freizeitbeschäftigung – zum sonntäglichen Gesellschaftsspiel. Sogar Queen Victoria soll einen Phrenologen eingeladen haben, der die Köpfe ihrer zahlreichen Kinder(2) in Augenschein nehmen und so Erkenntnisse über ihre Talente und Charaktermerkmale gewinnen sollte.

Mitte des 19. Jahrhunderts war die Phrenologie(2) zu einem Big Business geworden, insbesondere in den USA, wo Phrenologie-Institute in den meisten größeren Städten gegründet wurden. Phrenologen behaupteten, sie könnten Krankheiten diagnostizieren und das künftige Krankheitsrisiko berechnen. Paare nutzten die »Schädellehre«, um vor der Ehe ihre Verträglichkeit testen zu lassen, und Unternehmen, um Stellenbewerber zu überprüfen. Es wurde sogar vorgeschlagen, dass Politiker durch Phrenologen begutachtet werden sollten, bevor sie sich um ein öffentliches Amt bewarben(3). Aus jener Zeit stammen einige heute noch gebräuchliche Ausdrücke wie »Denkerstirn«, oder »Du solltest mal deinen Kopf untersuchen lassen«.

Der Niedergang der Phrenologie(4) und die Geburtsstunde der Psychologie(1)

Das einzige Problem war, dass Gall(7) trotz seiner ganzen Sezierfähigkeiten kein guter Wissenschaftler war. Bei seiner ursprünglichen Arbeit war er höchst selektiv vorgegangen, hatte nur von denjenigen Personen berichtet, die seine Theorien bestätigten, und war über alle Gegenbeweise hinweggegangen. Der französische Physiologe Marie-Jean-Pierre Flourens(1) (1794–​1867) übte öffentlich Kritik an Galls(8) Thesen, die er für eine Täuschung der Öffentlichkeit und eine Pseudowissenschaft hielt. Er wurde schließlich von Napoleon Bonaparte beauftragt, Galls(9) populäre Theorien zu überprüfen. Flourens(2) widerlegte Galls(10) Thesen durch Tierversuche, und die Phrenologie(5) wurde als Hokuspokus entlarvt.

Letztendlich führten die öffentlichen Streitigkeiten über die Phrenologie(6) und über den Zusammenhang zwischen Schädelform und Hirnfunktion allerdings dazu, dass Wissenschaftler noch einmal über das Wesen der vielen faltigen Windungen auf dem cerebralen Cortex(2) nachdachten. Warum waren sie beim Menschen, verglichen mit anderen Säugetieren, so zahlreich und komplex? Welche evolutionären Zwänge hatten dazu geführt, dass sie sich herausbildeten? Carl Wernicke(1) (1848–​1905) vertrat die Auffassung, dass sie ein Ergebnis der zunehmenden Gehirngröße waren. Als der Mensch schlauer und sein Gehirn größer wurde, wurde das Hirnwachstum durch die Größe des Schädels begrenzt. Als das Gehirn sich aufgrund dieses Platzmangels nicht nach außen ausdehnen konnte, erweiterte es sich nach innen.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erschienen allmählich detaillierte Abbildungen, die den Aufbau und die Funktion verschiedener Hirnregionen zeigten. Gefühle, Lernen(1) und Erinnerung(3) wurden dem Vorderhirn, das den cerebralen Cortex(3) umfasst, zugeordnet. Informationen von den Augen, Ohren und anderen Sinnesorganen wurden zunächst vom Mittelhirn verarbeitet und dann an das Vorderhirn weitergeleitet. Die Sprache wurde in der linken Hemisphäre verortet und vegetative Funktionen wie Atmung und Verdauung im »Hinterhirn«, wo sich die meisten Hirnnerven befinden.

Das erneute Interesse an der Frage, wie das Gehirn unser Verhalten beeinflusst, führte im späten 19. Jahrhundert zur Entstehung einer neuen Disziplin – der Psychologie(2). Der deutsche Physiologe Wilhelm Wundt(1) (1832–​1920) gehörte zu den Ersten, die einen systematischen Ansatz bei der Erforschung anomaler psychischer Zustände anwandte, indem er messbare Phänomene wie Aufmerksamkeitsspanne und Reaktionszeit nutzte. Mentale Prozesse, so argumentierte er, könnten genauso analysiert und tabellarisch dargestellt werden wie chemische Verbindungen in den Naturwissenschaften.

Wundt(2) leistete auch einen wichtigen Beitrag zu der sich entwickelnden wissenschaftlichen Methodik. Nach seiner festen Überzeugung sollten alle Experimente unter sorgfältig kontrollierten Bedingungen durchgeführt und ausführlich beschrieben werden, damit sie später von anderen Wissenschaftlern wiederholt werden könnten: Sei ein Ergebnis nicht reproduzierbar, sei es wahrscheinlich falsch.

Interessanterweise deuten neuere Wissenschaftsanalysen darauf hin, dass bis zu 50 Prozent der heute veröffentlichten wissenschaftlichen Forschungsergebnisse – sogar in führenden medizinischen Fachzeitschriften – möglicherweise nicht reproduzierbar und damit irreführend sind.1

Ein unbeabsichtigtes Experiment

Im Warren Anatomical Museum auf dem Campus der Harvard University Medical School befindet sich in einem Glaskasten eine seltsame Sammlung von Gegenständen: ein menschlicher Schädel, die eiserne Gesichtsmaske eines Mannes und ein langer Metallstab. Der Schädel und die Gesichtsmaske gehörten Phineas Gage, einem Bauarbeiter. Bei dem Metallstab handelt es sich um eine Stopfstange, mit der man das Dynamit in die Spalten und Löcher drückt, die man zuvor ins Gestein gebohrt hat, wenn man für ein Bauvorhaben Felswände sprengen will.

Im Jahr 1842 ist der 25-jährige Phineas Gage Vorarbeiter eines Bautrupps, der eine neue Eisenbahnstrecke durch die felsige Hügellandschaft von Vermont verlegt. Als Gage die Metallstange benutzt, um das Dynamit ins Gestein zu stopfen, kommt es plötzlich zu einer Explosion, die die Stange hoch durch die Luft fliegen lässt. Sie durchbohrt die Wange von Gage, dringt durch den Frontallappen ins Gehirn, durchschießt den Schädel, tritt schließlich wieder aus und landet einige Fußbreit entfernt senkrecht in der Erde.

Phineas Gage bleibt wie durch ein Wunder am Leben. Sofort nach dem Unfall kann er gehen und sprechen und begibt sich zurück in sein Hotel, wo ihm ein Arzt später die Splitter seines geborstenen Schädels aus dem Gehirn zieht und die Wunde verbindet. Anfangs überlebt er ein Koma, eine Hirninfektion und Phasen des Deliriums, alle unterbrochen von Phasen geistiger Klarheit. In den folgenden vier Jahren erholt er sich allmählich, doch die Genesung verläuft langsam und unstet. Dass Gage überhaupt überlebt, ist seinem behandelnden Arzt Dr. John Martin Harlow zu verdanken: Nur wenige Ärzte jener Zeit wären kompetent genug gewesen, um einen Hirnabszess erfolgreich zu drainieren.

Physisch erholt sich Phineas Gage relativ gut, obwohl er auf einem Auge blind ist und eine Gesichtshälfte gelähmt bleibt. Doch vom Temperament her ist er allen Berichten zufolge ein völlig anderer Mensch geworden. Vorher stets ein pflichtbewusster, ruhiger und fleißiger Arbeiter, ist er jetzt missgelaunt und streitsüchtig. Nachdem seine Arbeitgeber ihn entlassen haben, fällt es ihm schwer, einen Job längere Zeit zu behalten. Seine berühmte Geschichte, die sich heute in zahllosen neurologischen Lehrbüchern findet, war ein wichtiger Meilenstein in der Erforschung der Hirnanatomie und ihrer Verbindung zum Verhalten. Sie zeigte nicht nur, dass die Persönlichkeit mit dem Frontallappen zusammenhängt, sondern verdeutlichte, wie die Persönlichkeit sich ändern kann, wenn diese Hirnregion geschädigt wird.

Kürzlich rollten Wissenschaftler der UCLA den Fall von Phineas Gage noch einmal auf und nutzten dazu Bildgebungsdaten von seinem Schädel. Wie sie feststellten, muss die Stopfstange wohl ausgedehnte Schädigungen der weißen Substanz(2)-Verbindungen im gesamten Gehirn verursacht haben. Da man heute weiß, dass die weiße Substanz(3) verschiedene Hirnregionen verbindet, die zusammenarbeiten müssen, damit Verstand und Erinnerung(2) funktionieren, vermuten die Wissenschaftler, dass die Zerstörung dieser weißen Substanz(4) die Vernetzung der verschiedenen Hirnregionen behinderte. Diese Schädigung verursachte die Verhaltensveränderungen, die bei Phineas Gage beobachtet wurden.2

Phineas Gage starb im Alter von 37 Jahren, zwölf Jahre nach seinem Unfall, nach einem epileptischen Anfall in San Francisco.

Das Mikroskop enthüllt weitere Geheimnisse

Inzwischen deckte die sich entwickelnde Wissenschaft der Mikroskopie weitere Geheimnisse des Gehirns auf. Mitte des 17. Jahrhunderts hatte der englische Universalgelehrte Robert Hooke(1) (1635–​1703) ein Vergrößerungsglas benutzt, um ein kleines Stückchen Kork zu untersuchen. Was er sah, deutete darauf hin, dass der Korkstoff ganz und gar mit Luft gefüllt war, die in kleinen, voneinander getrennten Kammern vollkommen eingeschlossen war. Da diese Kammern von der Form her so ähnlich aussahen wie die kleinen Räume oder Zellen(1), die von Mönchen in Klostern bewohnt werden, bezeichnete Hooke(2) diese Gebilde als »Zellen«.3 Ohne es zu wissen, hatte er gerade den Grundbaustein aller Lebensformen, von Pflanzen bis hin zu Tieren und Menschen, entdeckt.

Als die Optik sich weiterentwickelte, wurde das Vergrößerungsglas durch das Mikroskop ersetzt. Selbst diese anfangs noch groben Geräte offenbarten so viele Feinheiten und Details der Hirnanatomie wie nie zuvor. Mit neueren Methoden wurde das empfindliche, geleeartige Hirngewebe »fixiert«: Man tränkte es in Alkohol oder Formaldehyd, um es haltbarer zu machen und um es in dünne, fast durchsichtige Scheiben schneiden zu können. Eine Vielzahl von Färbetechniken wurde entwickelt, um verschiedene innere Strukturen der Zellen(2) hervorzuheben und sichtbar zu machen.

Doch die Wissenschaft schreitet selten auf so direktem Wege voran, dass sie quasi einfach die Punkte wie beim Malen nach Zahlen verbindet. Sehr häufig führen widersprüchliche Auffassungen dazu, dass sich gegnerische Parteien bilden, die alle behaupten, dass ihre Deutung der wissenschaftlichen Beobachtungen die korrekte sei. Obwohl die Wissenschaftler sich einig waren, dass die Zelle(3) die Grundeinheit aller Lebensformen bildete, wurde bezweifelt, dass die Zelltheorie auch auf das Gehirn und das Nervensystem zutraf. Der spanische Pathologe Santiago Ramon y Cajal(1) (1852–​1934) vertrat als Erster die Ansicht, dass die im Gehirn beobachteten Zellen(4), die sogenannten Neuronen(1), die grundlegenden Funktionseinheiten des Gehirns und des Nervensystems seien, und eine wachsende Zahl anderer Wissenschaftler teilte diese Auffassung. Eine andere Gruppe war jedoch überzeugt, dass nicht diese Zellen, sondern das unter dem Mikroskop sichtbare dichte Netz (Retikulum) feiner Fasern für die Funktionsweise des Gehirns zuständig war.

Gib es weiter

Heute wissen wir, dass es sich bei diesen Fasern um Fortsätze der Neuronen(2) handelt, die nicht unabhängig von ihnen existieren. Jedes Neuron(3) hat drei verschiedene Bereiche. Der größte und offensichtlichste Zentralteil ist das Soma oder der Zellkörper(1), der den Zellkern(1) beherbergt. Davon gehen zahlreiche dürre Zweige, die sogenannten Dendriten(1), nach außen ab, die sich selbst wiederum – häufig weitreichend – verzweigen und in ihrer Gesamtheit als Dendritenbaum bezeichnet werden. Dendriten(2) nehmen chemische Signale von anderen Neuronen auf und transportieren sie zum Zellkörper(2), der sie dann zu anderen Zellen(5) weiterleitet. Ein völlig anderer Fortsatz des Zellkörpers(3), das Axon(1), das zusammen mit seiner Umhüllung auch als Nervenfaser bezeichnet wird, hat die Aufgabe, die Impulse von der Zelle(6) wegzuleiten.

Jede Nervenzelle besitzt zahlreiche Dendriten(3), aber nur ein Axon(2), das zum Teil sehr lang sein kann – so ist eine Nervenfaser, die Nachrichten von der Wirbelsäule zum kleinen Zeh überträgt, unter Umständen bis zu einem Meter lang. Die graue Substanz(2) im Gehirn enthält den überwiegenden Teil der Zellkörper(4) und Dendriten ebenso wie einige Axone, wohingegen sich die weiße Substanz(5) größtenteils aus den informationsbearbeitenden Axonen(3) zusammensetzt und weniger Zellkörper(5) umfasst. Die Tatsache, dass der Zellkörper, die Dendriten(4) und das Axon(4) alle zu einer einzigen Zelle(7) gehören, war das ganze 19. Jahrhundert hindurch noch weitgehend unbekannt, weil die Teile alle einzeln und getrennt voneinander erforscht wurden.

Da das ausgereifte Gehirn unter dem Mikroskop so unglaublich komplex aussieht, hatte Cajal(2) die Idee, dass es einfacher sein könnte, es in früheren Entwicklungsphasen zu untersuchen. Mittels einer kurz zuvor entwickelten neuen und verbesserten Färbetechnik behandelte er das Hirngewebe von Hühnerembryonen und wies nach, dass Zellkörper(6), Dendriten(5) und Axon(5) alle zur selben Zelle(8) – dem Neuron(4) – gehörten. Cajal(3) hatte viel mit Leonardo da Vinci(3) gemeinsam: Auch er war nicht nur ein begabter Wissenschaftler, sondern auch ein begnadeter Künstler. Seine wunderbar detailgenauen Federzeichnungen kann man heute im Cajal(4) Institute in Madrid bewundern.

1906 erhielt Santiago Ramon y Cajal(5) den Nobelpreis für Medizin gemeinsam mit dem italienischen Pathologen Camillo Golgi(1), dem Erfinder der Silberfärbung, die Cajal(6) verwendet hatte.

Hirnwellen(1)

Dass man versuchte, die Hirnanatomie zu verstehen, indem man Exemplare durchs Mikroskop betrachtete, war zwar eine feine Sache, aber die statischen Bilder gaben keinen Aufschluss über die Hirnaktivität. Im späten 19. Jahrhundert wurden dann spontane elektrische Signale beobachtet, die vom Gehirn ausgingen. Sie ließen sich aufzeichnen, indem man Elektroden direkt auf die freigelegten Gehirne von Kaninchen und Hunden aufsetzte. Da die Signale in ihrer Stärke(1) variierten, nannte man sie Hirnwellen(2).

Der deutsche Physiologe und Psychiater Hans Berger(1) (1873–​1941) erfand die erste Maschine, die Hirnwellen(3) beim Menschen aufzeichnete: den Elektroenzephalograph (EEG(1)). Dazu musste man das Gehirn nicht freilegen, wie er feststellte. Man konnte die Elektroden direkt auf die Kopfhaut setzen. Die vom EEG(2) aufgezeichneten Veränderungen der elektrischen Spannung waren gering – zehntausend Mal geringer als die einer einzelnen AA-Batterie –, doch endlich war es möglich, die Aktivität des Gehirns zu erfassen. Man konnte anfangen, dieses komplexe und geheimnisvolle Organ bei der Arbeit zu beobachten.

Das Elektroenzephalogramm(3) bedeutete einen wichtigen Fortschritt in der Neurologie(2) und ist heute noch genauso nützlich wie am Tag seiner Erfindung. Tierversuche zeigten, dass die Hirnwellen(4), kurz bevor ein epileptischer Anfall einsetzt, eine Spitze erreichen. Deshalb nutzte man das EEG(4) im Zweiten Weltkrieg, um Piloten auf Epilepsie zu untersuchen und ihre Flugtauglichkeit zu überprüfen. In den 1950er Jahren zeigte das EEG(5) erstmals, dass die Hirnwellen(5) während des Schlafs(2) jenen von wachen Probanden sehr ähnlich waren. Bis dahin war man der Auffassung gewesen, dass das Gehirn während des Schlafs(3), der einfach als Ausfallzeit für das müde Gehirn betrachtet wurde, inaktiv sei. Doch das EEG(6) besagte etwas anderes. Während des Schlafs(4) war das Gehirn genauso rege wie in jeder wachen Phase.

In späteren Kapiteln werden wir uns ausführlicher mit dem Schlaf(5) befassen, da man heute weiß, dass eine gesunde Nachtruhe entscheidend für eine Fülle von metabolischen und kognitiven(1) Funktionen, einschließlich Lernen(2) und Gedächtnis(3), ist. Außerdem werden wir sehen, dass ein gesunder Schlaf davon abhängt, wie unser Gehirn ernährt wird(6).

Der Krieg der »Funken und Suppen«

Eine wichtige Frage blieb unbeantwortet: Wie kommunizieren die Neuronen(5)? Mitte des 20. Jahrhunderts herrschte generell Einigkeit darüber, dass Neuronen voneinander getrennt und nicht in kontinuierlichen Netzwerken verbunden sind, wie die Retikularisten des 19. Jahrhunderts geglaubt hatten. An den Verbindungsstellen von Nervenzellen, den sogenannten Synapsen(1), liegt ein Zwischenraum zwischen dem Axonenende(6) des Neurons und dem Dendriten(6) des nächsten Neurons. Die entscheidende Frage war, wie Signale diesen synaptischen(2) Spalt überbrückten. Wie wurden Informationen von einer Nervenzelle an eine andere weitergegeben? War das Signal elektrischer oder chemischer Art?

Pharmakologen glaubten, dass Nerven durch die Freisetzung einer chemischen Substanz an der Synapse(3) kommunizieren, während Neurophysiologen glaubten, dass ein elektrischer »Funke« von einem Neuron(6) zum anderen springt und dadurch Informationen übermittelt. Wie sich herausstellte, hatten beide recht. Die Übertragung zwischen Nerven erfolgt tatsächlich durch direkte Bewegung von Molekülen von einem Neuron(7) zum anderen. Otto Loewi(1) und Henry Dale(1) erhielten 1936 den Nobelpreis, weil sie zeigten, dass chemische Botenstoffe (Neurotransmitter(1)) vom hinteren Ende des Axons(7) in die Synapse(4) entleert werden und dass diese Messengermoleküle eine schnelle Nachrichtenübertragung ermöglichen, sowohl zwischen Neuronen(8) als auch zwischen Gehirn und Organen und Muskeln.

Doch die Pharmakologen hatten kaum ihren Siegeszug beendet, als man elektrische Synapsen(5) entdeckte. Erstmals in den 1950er Jahren im primitiven Gehirn des Flusskrebses identifiziert, stellte man später fest, dass sie in allen Nervensystemen vorhanden sind. Obwohl elektrische Synapsen klar in der Minderheit sind, haben sie unverkennbar Merkmale, die sie von ihren chemischen Verwandten abheben. Erstens sind sie auf Geschwindigkeit angelegt, und die Übertragung erfolgt außerordentlich schnell – im Bruchteil einer Millisekunde. Elektrische Synapsen sind notwendig für blitzschnelle Reaktionen wie Reflexhandlungen. Zweitens steuern elektrische Synapsen die Synchronizität, wobei Neuronengruppen(9) gleichzeitig feuern, um eine Reaktion zu verstärken. Elektrische Synapsen(6) stimmen die Ausschüttung von Hormonen(1) wie Adrenalin(1) oder Cortisol(1) ab, die in unser Kreislaufsystem strömen, wenn wir unter Stress stehen.

Die elektrische und die chemische Kommunikation zwischen den Neuronen(10) sind beide von essenzieller Bedeutung. Sie ergänzen sich, arbeiten Seite an Seite, um eine normale physiologische Funktionsweise zu gewährleisten.

Die anderen Gehirnzellen

(1)Die Neuronen(11) galten zwar als Hauptakteure im Gehirn, auf die sich der Großteil der Aufmerksamkeit konzentrierte, aber es wurde auch noch eine weitere Zellart gesichtet. Anfangs wurden diese Zellen(9) gar nicht als solche erkannt, weil sie wie ein öliger Schlick aussahen, der die Lücken zwischen den Neuronen füllte. Unter Verwendung spezieller Fixierungen und Färbungen konnte man dann später nachweisen, dass es sich um eigenständige Zellen handelte. Da man ihnen keine große Bedeutung für die Hirnfunktion beimaß und der Ansicht war, dass sie lediglich dazu dienten, die Neuronen zu stützen und an ihrem Platz zu halten, bezeichnete man sie als Gliazellen(1) (Glia ist das griechische Wort für »Leim«).

Darstellung einer Nervenzelle

Doch frühe Neurowissenschaftler unterschätzten die Rolle der Gliazellen(2). Einige Arten – die Oligodendrozyten – entwickeln Fortsätze, die sich um Axone wickeln und eine Isolierschicht, die sogenannte Myelinscheide(1), bilden. Diese Isolierung ermöglicht eine schnellere Übertragung von elektrischen Signalen von einem Neuron(12) zum anderen und dient als Schutzschicht für das Axon(8). Die weiße Substanz(6) des Gehirns besteht größtenteils aus myelinisierten Axonen(9), die unterschiedliche Teile der grauen Substanz(3) miteinander verbinden. Myelin(1) ist der Stoff, der der weißen Substanz(7) ihre charakteristische Farbe verleiht.

Die Oligodendrozyten sind dafür zuständig, das Axon(10) in einem guten Betriebszustand zu halten, es mit Nährstoffen zu versorgen, Abfall zu beseitigen und das Myelin(2) zu reparieren und zu ersetzen. Wenn das Myelin verloren geht, wird das Axon(11) geschädigt. Es bilden sich Narben, die die Effizienz, mit der das Axon(12) die verschiedenen Teile des Gehirns verbindet, verringern. Ein Verlust oder eine Beschädigung der Myelinscheide(2) – Demyelinisierung – spielt eine große Rolle bei verschiedenen chronischen neurologischen Erkrankungen(1), zum Beispiel bei Parkinson(1) oder Multipler Sklerose(1).

Die Blut-Hirn-Schranke(1)

Gliazellen(3) sind ein wichtiger Bestandteil der Blut-Hirn-Schranke(2). Diese Barriere wurde vor mehr als hundert Jahren entdeckt, als wissbegierige Forscher blauen Farbstoff in den Blutkreislauf von Tieren injizierten. Durch die Substanz verfärbte sich jedes Gewebe außer dem Gehirn und dem Rückenmark, die beide irgendwie fähig waren, die Aufnahme des Farbstoffs zu blockieren. Heute weiß man, dass die Blut-Hirn-Schranke(3) eine halbdurchlässige Membran ist, die einigen Molekülen den Zugang zum Gehirn verwehrt und andere hereinlässt. So werden Giftstoffe, die das Gehirn schädigen könnten, Hormone(2) und Neurotransmitter(2) aus anderen Teilen des Körpers sowie einige Medikamente(3) blockiert, während Nährstoffe und andere Medikamente mühelos Zugang erhalten.

Die Gliazellen(4) sind von wesentlicher Bedeutung für die Integrität der Blut-Hirn-Schranke(4). In anderen Teilen des Körpers können Moleküle problemlos aus kleinsten Blutgefäßen (Kapillaren) in das umgebende Gewebe eintreten, indem sie kleine Zwischenräume zwischen den Zellen(10) der Blutgefäßwände durchdringen. Im Gehirn ballen sich die Gliazellen(5) dicht an den Kapillaren entlang und verhindern, dass bestimmte große Moleküle die Blutbahnen verlassen und ins Gehirn eindringen. Neuere Forschungen deuten darauf hin, dass die Gliazellen(6) mehr als reine Wächter und Reinigungskräfte sind. Sie sind aktiv an der Synapsenbildung(7) beteiligt, und eine Fehlfunktion der Gliazellen(7) spielt möglicherweise eine wesentlich wichtigere Rolle bei der Entwicklung neurologischer Störungen wie Multipler Sklerose(2) als bisher angenommen.

Albert Einstein(1) war einer der bedeutendsten Wissenschaftler aller Zeiten – so brillant, dass sein Name heute zu einem Synonym für den Begriff »Genie« geworden ist. Wenige Stunden nach seinem Tod im Jahr 1955 wurde ihm das Gehirn entnommen und in ein Gefäß mit Formaldehyd gelegt. Wissenschaftler auf der ganzen Welt erhielten Proben davon, damit sie Untersuchungen vornehmen konnten. Es hatte viele Spekulationen darüber gegeben, was Einsteins(2) Gehirn zu etwas so Besonderem machte. War es größer? War sein frontaler Cortex(1) umfangreicher oder enthielt, verglichen mit Durchschnittsmenschen, mehr Neuronen(13)? Nein. Tatsächlich waren die Regionen, die mit Sprache und Sprechen zusammenhängen, kleiner als erwartet (offenbar hatte Einstein(3) erst im Alter von vier Jahren zu sprechen begonnen). Die Wissenschaftler waren verwirrt.

Doch in den 1980er Jahren machte man eine unerwartete Entdeckung. Einsteins(4) Gehirn enthielt keine größere Anzahl von Nervenzellen als die Gehirne von Nicht-Genies, mit denen es verglichen wurde, aber es wies mehr Gliazellen(8) auf, vor allem in den Regionen, die an Kreativität und komplexen Denkprozessen beteiligt sind. Wie es scheint, haben wir die wichtige Rolle, die die Gliazellen(9) insbesondere im Hinblick auf die Intelligenz spielen, noch nicht ansatzweise verstanden.

Moderne bildgebende Verfahren für das Gehirn

Dank der hochentwickelten Technik des 21. Jahrhunderts ist es Wissenschaftlern heute möglich, weniger offensichtliche und subtilere Aspekte der Hirnfunktion, wie Kreativität und logisches Denken, zu erforschen. Diese neuen Untersuchungsmethoden machen sich den Umstand zunutze, dass jede aktive Hirnregion mehr Glukose(1) und Sauerstoff(1) verbraucht. Dieser Anstieg im Verbrauch lässt sich durch verschiedene neue Formen von Hirnscans sichtbar machen. Bereiche mit höherem Sauerstoff- oder Glukoseverbrauch leuchten auf, während Hirnregionen, die nicht aktiv an einer bestimmten Aufgabe beteiligt sind, dunkel bleiben. Außerdem kann eine neue Art von quantitativem EEG(7) (qEEG) elektrische Aktivität in verschiedenen psychischen Zuständen deutlich machen. Solche Techniken haben eine neue Ära des Brainmappings(1) eingeläutet, in der Eigenschaften wie Stimmung, Kreativität, Verlangen oder Ekel bestimmten Hirnregionen zugeordnet werden können.

Für das Brainmapping(2) gibt es zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten. Da man jetzt ins lebende Gehirn schauen kann, ist es möglich, Aufnahmen vom Gehirn depressiver(5) Patienten zu machen und sie mit jenen von gesunden Personen zu vergleichen, um präzisere und spezifischere Diagnosen zu stellen. Diese Informationen können wiederum dazu beitragen, die besten Behandlungsoptionen und ihre jeweilige Wirksamkeit beim einzelnen Patienten zu ermitteln. Das Brainmapping(3) ist nicht nur für die medizinische Wissenschaft von Interesse, sondern hat auch kommerzielle Anwendungsbereiche. Im letzten Jahrzehnt haben Universitätswissenschaftler angefangen, mit Marktforschern zusammenzuarbeiten, um Unternehmen dabei zu helfen, genauer herauszufinden, auf welche »Knöpfe man drücken« muss, damit die Kunden in Kauflaune kommen; erforscht wird dabei nicht nur, ob Kunden auf Werbung reagieren, sondern auch warum sie es tun.

Die Begriffe »Neuromarketing(1)« und »Neuroökonomie« gehören mittlerweile zum Wortschatz von Wirtschaft und Wissenschaft und erweitern die Werbestrategien um eine ganz neue Dimension.

Neuromarketing(2): Manipulation unseres Gehirns?

(3)Eine bekannte Geschichte aus der Welt der Werbung veranschaulicht, wie nützlich das Brainmapping(4) für Industrie und Handel wird. Im Jahr 2008 wollte das Fastfood(1)-Unternehmen Frito-Lay den Marktanteil für seine Cheetos, ein Snackprodukt, ausweiten. Dieses von Ernährungsexperten oft geschmähte Käseknabberzeug war bei Kindern(3) heiß begehrt. Nun wollte Frito-Lay auch in den Erwachsenenmarkt expandieren. Deshalb beauftragte es ein Neuromarketing(4)-Unternehmen herauszufinden, was Erwachsene motivieren würde, mehr Cheetos zu kaufen. Eine Tüte Cheetos zu verzehren kann eine Riesenschweinerei sein. Den meisten Kindern(4) macht es nichts aus, wenn Hände und Gesicht am Ende mit einer klebrigen, orangefarbenen Masse beschmiert sind, aber Frito-Lay fürchtete, dass Erwachsene sich davon möglicherweise abgeschreckt fühlten.

(5)Doch das Brainmapping(5) erzählte eine andere Geschichte: Die Schweinigelei war genau das, was die Erwachsenen ansprach. Das Ablecken des pikanten, klebrigen Stoffs von den Fingern aktivierte Hirnregionen, die etwas mit Subversion zu tun haben, und führte offenbar dazu, dass sie sich wieder wie unartige Kinder(5) fühlten. In Anbetracht dieser Information entwickelte das Unternehmen eine Reihe von TV-Werbespots, die Erwachsene dabei zeigten, wie sie Cheetos naschten und kindischen Schabernack trieben. In einem Werbespot reagiert ein Flugzeugpassagier auf einen laut schnarchenden Sitznachbarn, indem er ihm zwei der wurmförmigen Snacks in die Nase steckt. In einem weiteren nimmt eine Frau in einem Waschsalon Rache, indem sie der Weißwäsche ihres Opfers eine Tüte der grellorangefarbenen Snacks hinzufügt.

(6)Herkömmliche Zielgruppen lehnten diese, wie sie fanden, fiesen Werbespots ab. Doch das Brainmapping(6) bestätigte die früheren Ergebnisse – unbewusst weckten die Spots eine starke positive Reaktion. Also strahlte Frito-Lay die Werbespots aus, was dem Unternehmen ein Umsatzplus von glatten 47,6 Millionen Dollar einbrachte.(7)

Was wir von der Dekade des Gehirns gelernt haben

Der Dekade des Gehirns verdanken wir mehr Informationen über den Aufbau und die Funktion des Gehirns als je zuvor, doch trotz der zahllosen neuen Studien, die in relativ kurzer Zeit veröffentlicht wurden, und der eindrucksvollen Fortschritte in unserer Fähigkeit, lebende Gehirne auszukundschaften, wissen wir immer noch sehr wenig darüber, wie man das Gehirn glücklich, gesund und leistungsfähig erhält.

Während unser Wissen über das Gehirn explosionsartig zugenommen hat, scheint unser kostbares Denkorgan gleichzeitig immer fragiler zu werden. Demenz(6) – der ultimative Kollaps des Gehirns und die am meisten gefürchtete Alterserkrankung – ist ein enormes öffentliches Gesundheitsproblem. Und wir fangen gerade erst an, die Riesenkrankheitsbelastung zu erkennen, die Depressionen(6) in vielen reichen Ländern der ganzen Welt darstellen.

Am anderen Ende der Lebensspanne werden offenbar auch die Gehirne unserer Kinder(6) anfälliger für psychische Probleme: Bei immer mehr Kindern(7) wird eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung oder eine Autismus(4)-Spektrum-Störung diagnostiziert. Die wirtschaftlichen, sozialen und psychologischen Kosten für diese Erkrankungen sind hoch. Der Suizid(1), vor hundert Jahren noch eine seltene Todesursache, gehört heute zu den Top Ten. Nicht nur ältere Erwachsene, auch Kinder(8) und Jugendliche(2) nehmen sich immer häufiger das Leben(2). Die Dekade des Gehirns hat an diesen Zahlen wenig geändert.

Trotz all der neuen Technik, die uns zur Verfügung steht, scheint die medizinische Wissenschaft keine neuen Erkenntnisse darüber gewonnen zu haben, wodurch Fehlfunktionen unserer neuronalen Netzwerke ausgelöst werden. Könnte das vielleicht damit zusammenhängen, dass man den Ernährungsbedürfnissen des Gehirns und der Frage, was es für eine normale Funktion und für die Bewahrung seiner Leistungsfähigkeit braucht, bislang nur wenig Beachtung geschenkt hat?

2. Kapitel

Veranlagung oder Umwelt?

– Sie, Ihre Freuden und Leiden, Ihre Erinnerungen(4) und Ziele, Ihr Sinn für Ihre eigene Identität und Willensfreiheit – bei alledem handelt es sich in Wirklichkeit nur um das Verhalten einer riesigen Ansammlung von Nervenzellen und dazugehörigen Molekülen.

Sir Francis Crick(1)Was die Seele wirklich ist

So wie das anhaltende Interesse an der Funktionsweise des Gehirns im 19. Jahrhundert die beiden Disziplinen Psychologie(3) und Psychiatrie hervorbrachte, entwickelte sich als nächster großer Fortschritt Mitte der 1950er Jahre die Kognitionswissenschaft(1). Dieser interdisziplinäre Bereich vereint die Forschungsbemühungen von Neurowissenschaftlern, Psychologen(4), Psychiatern, Anthropologen, Philosophen, Linguisten und Fachleuten für künstliche Intelligenz.

Gemeinsames Ziel der Kognitionswissenschaftler(2) ist es, die grundlegenden geistigen Fähigkeiten, die wir zum Leben brauchen, besser zu verstehen und herauszufinden, wie wir sie erwerben, weiterentwickeln und ihrer Verschlechterung vorbeugen können. Schwerpunkt der Forschung ist weniger, wie viel wir wissen, sondern vielmehr, wie wir lernen(3); daher konzentriert sich die Kognitionswissenschaft(3) darauf, wie wir Probleme lösen, uns an neue Herausforderungen anpassen und emotional im Alltag reagieren. Sie erforscht das Lang- und Kurzzeitgedächtnis(1), das logische und vernunftbegabte Denkvermögen und wie gut und wie schnell wir Informationen verarbeiten, die wir hören (auditive Verarbeitung) oder sehen (visuelle Verarbeitung) – also genau die Fähigkeiten, die im Alter nachlassen.

Die Gesamtheit dieser Fähigkeiten macht unseren Intelligenzquotienten(1) oder IQ aus. Schon bei kleinen Kindern(9) lassen sich außergewöhnliche kognitive(2) Fähigkeiten ohne aufwändige Testverfahren erkennen. Kinder(10) im Vorschulalter, die neugierig sind, gut argumentieren können, Probleme lösen, ohne frustriert zu werden, zuhören und Anweisungen befolgen, haben von Natur aus eine gute Kognition(3). Sobald diese Kinder in die Schule kommen, blühen sie auf und eignen sich erfolgreich Grundfertigkeiten wie Lesen und Schreiben an. Diese Kinder lernen(4) schnell und haben Spaß daran.

Kinder(11) mit schlechter angeborener Kognition(4) hingegen lassen sich leicht ablenken; ihnen fällt es schwer, sich zu konzentrieren oder sich an den Stoff zu erinnern(5), der am Tag zuvor oder in der letzten Woche unterrichtet wurde. Ihnen macht die Schule weniger Freude. Hier kann allerdings gute Pädagogik viel bewirken, denn kognitive(5) Fähigkeiten sind erlernbar. Mit Übung und Geduld können sie häufig enorm verbessert werden. So wie schwache Muskeln durch Übung stärker werden, lassen sich auch angeborene kognitive(6) Fähigkeiten durch Übung und Ausdauer stärken. Unser Gehirn ist unglaublich anpassungsfähig.

Gute Verbindungen sind das A und O

(2)Obwohl die meisten Organe und Gewebe des Körpers sich ständig selbst erneuern, sind die meisten der 100 Milliarden Neuronen(14) des Gehirns schon vor der Geburt vorhanden. Einige Hirnregionen produzieren bis etwa zum zweiten Lebensjahr weiterhin neue Nervenzellen. Doch danach gibt es nur noch zwei Hirnstrukturen, die sich selbst ständig erneuern: der Hippocampus(1), der besonders stark an Lernen(5) und Erinnerung(6) beteiligt ist und für die Verbindung von Lernen und Gefühlen sorgt, und der Riechkolben, der über der Nasenhöhle sitzt und wichtig für den Geruchssinn ist. Die Neurogenese(1) in diesen Regionen setzt sich bis ins hohe Alter fort, nimmt aber im Laufe der Jahre stetig ab.1

(3)Obwohl das Gehirn von Neugeborenen über eine größere Zahl an Neuronen(15) verfügt als das Erwachsenengehirn, sind diese wesentlich kleiner – nur etwa ein Viertel so groß wie im erwachsenen Gehirn. Der zunehmende Gehirnumfang während der Kindheit hängt größtenteils mit Veränderungen in der Größe und Komplexität einzelner Neuronen zusammen, die immer weiter sprießen und neue Dendriten(7) bilden. Ungefähr in der fünften Woche nach der Empfängnis beginnt die Synapsenbildung(8) der Neuronen. Bis zum Alter von etwa zwei Jahren tauchen rasch immer mehr neue Synapsen(9) auf; im Gehirn eines Kleinkinds(12) bilden sich mitunter bis zu 40 000 neue Synapsen pro Sekunde.2 Diese Phase der Überproduktion von Synapsen (Blooming) wird angetrieben durch das Bedürfnis des Kindes(13) nach neuen Erfahrungen und Anreizen und vor allem durch seine Interaktionen mit der Umwelt. Bei Säuglingen und Kleinkindern(14), die ohne körperlichen oder sozialen Kontakt aufwachsen, wird dieses rege Wachstum gehemmt. Die Zahl der im cerebralen Cortex(4) gebildeten Synapsen erreicht ihren Höhepunkt innerhalb der ersten zwei bis drei Lebensjahre und nimmt dann zwischen früher Kindheit und Jugend um etwa ein Drittel ab.

(4)Dieser Rückgang hat seinen guten Grund: Eine Vielzahl von Synapsen(10) sorgt zwar für ein großes Lernpotential, doch ein Gehirn mit so vielen möglichen neuronalen Leitungsbahnen ist desorganisiert und reagiert langsam. Stellen Sie sich vor, Sie müssten Ihren Weg zu einem neuen Ziel unter Verwendung einer Landkarte finden, auf der alle erdenklichen Routen – von Autobahnen über Nebenstrecken bis hin zu Wanderwegen – in einem Wust von gegenseitigen Verbindungen verzeichnet sind. Sie würden viel Zeit brauchen, um überhaupt einen Weg auszutüfteln, und die Strecke würde sich möglicherweise als ziemlicher Umweg erweisen. Genauso ist es beim Gehirn, wenn es mit überschüssigen Synapsen überladen ist. Signale brauchen länger, um eine Hirnregion mit einer anderen zu verbinden, und das Denken wird verlangsamt. Glücklicherweise setzt im weiteren Verlauf der Hirnreifung ein Prozess des »Zurückstutzens« ein (Pruning): Synapsen(11) in wenig genutzten Nervenbahnen werden beseitigt, während Vernetzungen, die durch Lernen(6) und Erfahrung verstärkt werden, erhalten und ausgebaut werden.

(5)Blooming und Pruning (Blühen und Stutzen) erfolgen in unterschiedlichem Tempo in unterschiedlichen Hirnregionen. Hirnbereiche, die am sensorischen Input – Berührung, Geschmack, Sehen und Hören – beteiligt sind, wachsen in den ersten Monaten nach der Geburt sehr schnell, während Hirnregionen, die am logischen Denken, Planen und Schlussfolgern beteiligt sind, sich in gleichbleibendem Tempo bis zur Adoleszenz weiterentwickeln. Nach und nach nimmt die Hirnarchitektur Gestalt an, und unter idealen Bedingungen entsteht eine effiziente Denkmaschine(6).

Alkoholkonsum(2) und Rauchen(2) während der Schwangerschaft(2) können die Bildung und Verdrahtung fötaler Hirnzellen(2) beeinträchtigen. Auch Strahlenbelastungen, Infektionen und einige chemische Substanzen können sich negativ auf die fötale Hirnentwicklung(7) auswirken.

Wer rastet, rostet

Vor nicht allzu langer Zeit dachte man, dass die Fähigkeit, neue neuronale Verbindungen herzustellen – der Normalfall bei Säuglingen(15) und Kleinkindern(16) – in älteren Gehirnen verloren geht. Wenn demzufolge ein Teil des Gehirns geschädigt wird, ist die Verbindung zwischen dieser Region und den Funktionen, die von ihr gesteuert wurden, für immer dahin. Heute weiß man, dass diese Annahme falsch ist. Das erwachsene Gehirn ist nichts Statisches, sondern formt sich selbst ständig neu, baut weiterhin neue Verbindungen zwischen Neuronen(16) in Reaktion auf Erfahrung, und beseitigt zu wenig genutzte Verbindungen. Diese Fähigkeit des Gehirns, sich ein ganzes Leben lang zu verändern, wird als Neuroplastizität(1) bezeichnet.

Veränderungen im Gehirn können entweder positiv oder negativ sein. Die graue Substanz(4) kann sich ausdehnen oder schrumpfen. Die Nervenzellen können ihre Dendriten(8) verlängern, um neue Verbindungen zu schaffen, oder sie können schrumpfen, was die Vernetzung verschiedener Hirnregionen verringert. Diese physiologischen Veränderungen im Gehirn spiegeln sich in deutlichen Veränderungen unserer kognitiven(7) Fähigkeiten wider. Wir können klüger und empathischer(1) werden, in größerem Einklang mit unserer Umwelt leben, weniger ängstlich und geistig flexibler werden. Wir können aber auch depressiv(7) und einsam werden und insgesamt weniger gut funktionieren.

Neuere Studien deuten darauf hin, dass Erinnerungen(7) nicht nur, wie ursprünglich angenommen, in Synapsen(12) gespeichert werden. Während des Lernprozesses kommt es zu Veränderungen in den Neuronen(17) selbst, die wahrscheinlich im Zellkern(2), in seiner DNA, bewahrt bleiben. Diese Veränderungen scheinen dauerhaft zu sein, so dass – vorausgesetzt, die Hirnzellen(3) selbst überleben – neue Synapsen(13) gebildet und Erinnerungen(8) abgerufen werden können, wenn Axone(13) Schaden nehmen oder Dendriten(9) schrumpfen.3 Das ist eine gute Nachricht für alle, die einen Schlaganfall(1) oder ein Schädel-Hirn-Trauma(1) erleiden.

In seinem 2007 erschienenen populären Buch The Brain That Changes Itself: Stories of Personal Triumph from the Frontiers of Brain Science (Neustart im Kopf) schildert der kanadische Psychiater Norman Doidge(1) an Beispielen aus der Praxis die Fähigkeit des Gehirns, sich durch die Bildung neuer neuronaler Schaltkreise anzupassen und zu verändern. Diese Fähigkeit, neue Synapsen(14) zu bilden und sie neu anzuordnen, nennt sich Neuroplastizität(2). Doidge(2) zeigt, wie Therapeuten dieses Phänomen nutzen können, um Patienten dabei zu helfen, ihr Gehirn neu zu verschalten und sich von Hirnschädigungen nach einem Trauma(2) oder Schlaganfall(2) zu erholen. Laut Doidge(3) können Techniken zum Training der Neuroplastizität(3) den Patienten helfen, Depressionen(8), Ängste und sogar Lernschwächen zu überwinden.

Annas Geschichte

Meine Freundin Anna sprühte vor Temperament und Lebensfreude. Als sportbegeisterte Draufgängerin war sie immer auf der Suche nach körperlichen Herausforderungen. Im Sommer lief sie Wasserski, im Winter fuhr sie Abfahrtsrennen. Im Urlaub war sie diejenige, die zum Tauchen ging, das Gleitschirmfliegen ausprobierte oder eine Fahrt mit dem Heißluftballon unternahm. Sie war die geborene Abenteuerin.

Als Kind(17) war sie leidenschaftlich gern geritten und als sie in den Vierzigern war, beschloss sie, wieder damit anzufangen. An ihrem ersten Tag im Reitstall wurde sie aufgefordert, sich ein Pferd auszusuchen. »Aber nehmen Sie nicht die kleine schwarze Stute da drüben«, warnte der Besitzer. »Sie ist launisch und unberechenbar.« Doch Anna schlug die Warnung in den Wind. »Her damit! Ich werd’ sie schon bändigen«, beharrte sie. Zuerst ging alles gut. Das Pferd schien einen Narren an Anna gefressen zu haben und kam jedes Mal zur Begrüßung angetrabt, wenn seine neue Freundin auftauchte. Dann ritt Anna eines Tages mit der Stute aus, und ein Auto in der Nähe hatte eine laute Fehlzündung. Das erschrockene Pferd bäumte sich auf, ging durch und warf Anna ab. Sie erlitt eine schwere Rückenmarksverletzung, die die Axone(14) und Nervenfasern durchtrennte, die das Gehirn mit ihrer unteren Körperhälfte verbanden. Anna war querschnittsgelähmt.

Nach einem einjährigen Aufenthalt in einer Reha-Klinik teilte man ihr mit, ihr Zustand habe sich im Rahmen des Möglichen optimal verbessert und weitere Fortschritte seien nicht mehr zu erwarten. Geistig war sie klar wie eh und je. Sie konnte eigenständig essen, wenn jemand die Nahrung zerkleinerte und ihr einen Löffel an die Hand band. Doch für alle anderen Aufgaben war sie vollständig auf die Hilfe anderer angewiesen. Die Ärzte meinten, sie würde nie wieder laufen können. Für den Rest des Lebens würde Anna einen Rollstuhl brauchen.

Doch jetzt setzte dieselbe eigensinnige Entschlossenheit ein, die sie dazu veranlasst hatte, das unberechenbarste Pferd im Stall zu wählen. Sie musste ihre Unabhängigkeit zurückgewinnen. Sobald sie wieder zu Hause war, startete sie unter Anleitung eines Physiotherapeuten ein rigoroses Trainingsprogramm. Die erste Herausforderung bestand darin, mittels der Arme und eines Krankenbettgalgens allein ins Bett und wieder herauszukommen. Sie übte dieselbe Bewegung immer wieder, Tage und Monate, bis es ihr schließlich gelang.

Als Nächstes wollte sie unbedingt die Kontrolle über Blase und Darm zurückerobern und arbeitete daran, die entsprechenden Muskeln an ihre frühere Funktionsweise zu erinnern. Nach monatelangen Anstrengungen gewann sie schließlich die Kontrolle zurück und war nicht mehr inkontinent. Zwei Jahre nach dem Unfall konnte sie sich allein anziehen und ausziehen, aufstehen und wieder ins Bett gehen und sich ohne fremde Hilfe zwischen Küche und Bad bewegen – Riesenschritte in Richtung Selbstständigkeit. Obwohl es quälend langsam voranging, machte sie weitere Fortschritte, absolvierte tagtäglich sechs bis acht Stunden ein spezielles Übungsprogramm.

Fünf Jahre später ist sie in der Lage, nur mit Hilfe eines Gehstocks eineinhalb Kilometer am Stück zu laufen, auch wenn sie es ermüdend findet und auf Reisen oder beim Einkaufen einen Rollstuhl nutzt. Sie fährt einen kleinen Sportwagen, der speziell für ihre Bedürfnisse umgerüstet ist, und nutzt ihn, um Familie und Freunde zu besuchen. Lachend erklärt sie, dass sie gänzlich unabhängig wäre, wenn sie bloß in der Lage wäre, ihren Rollstuhl allein zusammenzuklappen und im Kofferraum ihres Autos zu verstauen. Ihre erstaunliche Genesung hat alle medizinischen Prognosen widerlegt.

Auch wenn Annas Entschlossenheit und Beharrlichkeit sicher außergewöhnlich sind, ist ihre Geschichte ein perfektes Beispiel dafür, wie lange Erinnerungen(9) in den Neuronen(18) bewahrt bleiben. Mit der richtigen Stimulation können alte Nervenbahnen reaktiviert und neue gebildet werden.

Lernen(7) und Erinnerung(10)

Das Kurzzeitgedächtnis(2) ermöglicht es uns, Informationen für kurze Zeiträume (eher Sekunden als Minuten) im Kopf zu behalten – und hängt stark von unserer Konzentrationsfähigkeit ab. Es ist ein wichtiger erster Schritt im Lernprozess. Zum Langzeitgedächtnis(1) gehört jede erlernte Information oder Fähigkeit, die für die Zukunft gespeichert wird, auch wenn wir sie erst vor einigen Augenblicken erworben haben.

Am Kurzzeitgedächtnis(3) ist hauptsächlich der präfrontale Cortex(1)