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»Meine liebste Tochter, ich hatte all die Jahre ein Geheimnis vor dir. Du bist adoptiert …«
Als Sabina und ihr Mann Ted erfahren, dass sie ein Kind erwarten, empfinden sie nichts als Glück. Doch als Sabina ihren Eltern freudestrahlend davon erzählt, reagiert ihre Mutter sehr seltsam und zurückhaltend. Sabina ist wie vor den Kopf gestoßen, doch bald wird ihr klar, dass es eine Sache gibt, die ihre Eltern bisher verschwiegen haben: Sie ist adoptiert. Sabinas heile Welt bricht von einem Moment auf den anderen über ihr zusammen. Wie kann eine Mutter ihre eigene Tochter weggeben? Sie macht sich auf, ihre leibliche Mutter zu suchen, doch was sie entdeckt, erschüttert nicht nur ihr eigenes Leben …
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Seitenzahl: 401
Veröffentlichungsjahr: 2018
Buch
Als Sabina und ihr Mann Ted erfahren, dass sie ein Kind erwarten, empfinden sie nichts als Glück. Doch als Sabina ihren Eltern freudestrahlend davon erzählt, reagiert ihre Mutter sehr seltsam und zurückhaltend. Sabina ist wie vor den Kopf gestoßen, doch bald wird ihr klar, dass es eine Sache gibt, die ihre Eltern bisher verschwiegen haben: Sie ist adoptiert. Sabinas heile Welt bricht von einem Moment auf den anderen über ihr zusammen. Wie kann eine Mutter ihre eigene Tochter weggeben? Sie macht sich auf, ihre leibliche Mutter zu suchen, doch was sie entdeckt, erschüttert nicht nur ihr eigenes Leben …
Autorin
Kelly Rimmer fand Fiktion schon immer besser als die Realität – und wurde deshalb Romanautorin. Sie lebt mit ihrem Mann Daniel und zwei kleinen Kindern im ländlichen Australien, und wenn sie nicht gerade liest, schreibt oder vom Lesen und Schreiben träumt, arbeitet sie in der IT-Branche. Nach So blau wie das funkelnde Meer ist Was das Herz nie vergisst ihr zweiter Roman im Blanvalet Verlag.
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Kelly Rimmer
Roman
Deutsch von Astrid Finke
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »The Secret Daughter« bei Bookouture, an imprint of StoryFire Ltd, Ickenham.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.1. Auflage
Copyright der Originalausgabe © 2015 by Kelly Rimmer
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2018 by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Friedel Wahren
Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de
LH ∙ Herstellung: sam
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN 978-3-641-17673-0V001www.blanvalet.de
Für Maxwell und Violette
Kapitel eins
Sabina
März 2012
In meiner Familie wissen alle, dass ich Geheimnisse nicht sonderlich gut bewahren kann. Nur zweimal in meinem ganzen Leben ist es mir gelungen, etwas Interessantes für mich zu behalten.
Als ich feststellte, dass ich mich in meinen besten Freund verliebt hatte, geschah es zum ersten Mal. Wir waren mit Bekannten zum Essen gegangen, und bei der Vorspeise ertappte ich ihn dabei, dass er mich mit unendlich viel Stolz und Liebe ansah. Unter seinem Blick schmolz ich förmlich dahin. Diese beunruhigende Erkenntnis verheimlichte ich immerhin mehrere Stunden lang. Sobald die anderen gegangen waren, platzte ich allerdings bei einem völlig anderen Gesprächsthema damit heraus. Ted sagte später, ich hätte während des ganzen Abends jeglichen Blickkontakt mit ihm vermieden, worüber er sich gewundert habe. Er meint im Übrigen, dass meine Augen alles sofort verraten, selbst wenn ich nichts sage. An jenem Abend hätte ich ihn nur ansehen müssen, dann wäre alles klar gewesen.
Angesichts meiner spektakulären Unfähigkeit im Umgang mit Geheimnissen ist es wohl umso beeindruckender, dass ich meine neu entdeckte Schwangerschaft ganze zwei Tage für mich behielt, bevor ich meiner Mutter davon erzählte. Da Ted und ich beide wissen, dass ich mich jedes Mal verplappere, trafen wir zahlreiche Vorsichtsmaßnahmen. Ich rief meine Eltern an und lud sie zum Abendessen ein. Sobald wir uns auf Tag und Stunde geeinigt hatten, nahm Ted mir das Handy weg und versteckte es.
Wobei ich sicher bin, dass dieses Mal das mit dem Geheimnis auch ohne extreme Maßnahmen geklappt hätte. Unsere Ankündigung sollte ein ganz besonderer Moment werden, denn als Einzelkind hatte ich immer den unerklärlichen Drang verspürt, Mum und Dad zu Großeltern zu machen. Meine Eltern hatten eine Familiengründung zwar bisher mit keinem einzigen Wort erwähnt, aber seit ich auf die vierzig zuging, hatten sich alle ihre Freunde mittlerweile ganze Scharen lärmender Enkel zugelegt. Im Bekanntenkreis wurden Großelterngeschichten ausgetauscht, wie Kinder Fußballbilder tauschen. Meine Eltern hingegen hatten außer über meine nicht sonderlich beeindruckende Lehrerinnenlaufbahn und die gemeinsamen Reisen mit Ted nichts zu berichten gehabt.
Es wäre nett gewesen, gemeinsam zu essen und ihnen die Neuigkeit dann ganz kultiviert beim Kaffee zu erzählen, aber das kam natürlich nicht infrage. Stattdessen begrüßte ich sie schon an der Tür mit zwei makellos verpackten Geschenken und einem vermutlich verwirrend tränenfeuchten Lächeln im Gesicht.
»Sabina, alles in Ordnung? Wofür ist das denn?« Vorsichtig nahm meine Mutter die Schachtel entgegen. Mit der freien Hand hängte sie ihre Handtasche an den Garderobenhaken neben der Tür, wickelte sich sorgsam aus dem Schal und legte ihn darüber. Dad kam hinter ihr herein, küsste mich wie immer flüchtig auf die Wange, nahm sein Geschenk und schüttelte es neugierig.
»Vorsicht, das ist zerbrechlich!« Ich lachte, dann scheuchte ich sie ungeduldig in die Wohnung und schloss die Tür. Ich merkte, dass sie sich verwundert ansahen, und lächelte von Ohr zu Ohr. »Setzt euch und macht die Geschenke auf! Jetzt kommt schon, los!«
Ted beobachtete uns von der kleinen Küchennische aus. Er kümmerte sich um das aufwändige Essen, seit ich mich beim Kochen allzu sehr abgelenkt hatte, indem ich die Schleifen an den Geschenkschachteln genau richtig binden wollte. Seit jenem Augenblick vor zwei Tagen, als wir morgens nebeneinander im Badezimmer standen und den zweiten Balken auf dem Schwangerschaftstest entdeckten, zeigte mein Mann einen merkwürdigen Gesichtsausdruck. Ich hatte zwar erwartet, ihn nervös und euphorisch zu erleben, aber mit dieser plötzlichen Zufriedenheit hatte ich nicht gerechnet. Wir waren wirklich bereit, in jeder Hinsicht.
Als meine Eltern sich setzten und die Geschenke auspackten, lehnte Ted sich mit verschränkten Armen an die Wand neben dem Herd. Er sah mir in die Augen, und ich spürte eine überwältigende Freude zwischen uns. Einen allerletzten Augenblick lang hatten wir ein Geheimnis, von dem niemand auf der Welt außer uns wusste.
Dad holte sein Geschenk zuerst aus der Schachtel.
»Ein Kaffeebecher?«, fragte er. Ratlos drehte er ihn um und entdeckte die Schrift auf der anderen Seite. Bester Opa der Welt. Er sah mich mit großen Augen an, dann ließ er den Becher fast fallen, sprang auf und schloss mich in die Arme. »Sabina! Ach, mein Schatz!«
Alles war so, wie ich es mir ausgemalt hatte. Ich lachte und vergoss gleichzeitig ein Tränchen an seiner Schulter, während er planlos drauflosfragte.
»Seit wann weißt du es?«
»Seit ein paar Tagen.«
»Und wann ist es so weit, wann kommt sie?«
»Sie?«, lachte ich. »Es kommt im November.«
»Habt ihr beiden schon über eine Ausbildungsversicherung nachgedacht? Dazu ist es nie zu früh, die Steuervorteile sind immens. Ich maile euch nächste Woche die Informationen. Sabina, setz dich! Du musst dich schonen. Wir brauchen Champagner, ein solcher Anlass schreit nach einem Moët. Ich fahre schnell los und kauf eine Flasche.«
Er hatte mich sanft zum Sofa geschoben, und als ich mich nun setzte, sah ich zum ersten Mal zu Mum hinüber. Sie saß stocksteif auf dem Sofa. Den Becher hielt sie zwischen beiden Händen, die Ellbogen hatte sie auf die Oberschenkel gestützt. Ihre Wangen waren gerötet, ihr Blick wirkte eigenartig starr.
»Megan, alles in Ordnung?« Mit wenigen Schritten hatte Ted den Raum durchquert und setzte sich neben meine Mutter auf das Sofa. Sie schüttelte sich kaum merklich und lächelte erst Ted, dann mich strahlend an.
»Das sind ja wunderbare Neuigkeiten. Ich freue mich so sehr für euch. Ich wusste nicht … Wir hatten keine Ahnung, dass ihr schon Kinder wollt.«
»Mum, ich bin achtunddreißig. Wir sind verheiratet, wir haben beide einen soliden Beruf, wir sind um die halbe Welt gereist und haben uns jetzt hier in Sydney schön eingerichtet. Worauf sollten wir noch warten?«
»Du hast recht. Natürlich hast du recht.« Ihr Blick wanderte zu dem Becher zurück. »Ob achtunddreißig oder achtundneunzig, du bleibst immer mein Baby«, sagte sie leise.
»Ach, nicht so trübselig, Meg!« Dad suchte in seiner Hosentasche nach dem Autoschlüssel. »Bald hast du ein richtiges Baby, mit dem du spielen kannst. Ich fahre jetzt los. Kommst du mit, Ted?«
»Kannst du bitte auf das Gemüse aufpassen, Bean?«
Ich musterte Mum, die nach wie vor auf den Becher starrte. Lächelnd nickte ich Ted zu, aber sobald Dad weg war, deutete ich mit der Schulter auf meine Mutter. Ted zuckte mit den Achseln, und ich erwiderte seinen fragenden Blick mit einer Grimasse.
Als meine Mutter und ich allein waren, sprach ich sie einfach an.
»Du wirkst nicht sehr fröhlich, Mum.«
»Aber selbstverständlich freue ich mich.« Sie packte den Becher wieder ein, stand auf und ging die wenigen Schritte zum Essbereich hinüber. Dann stellte sie die Schachtel auf den Tisch. »Wie weit bist du, hast du gesagt?«
»Achte Woche, glaube ich. Nächste Woche habe ich einen Ultraschall, um ganz sicher zu sein. Aber der Arzt meint, dass es im November so weit ist.«
»Schatz!« Entsetzt sah meine Mutter mich an. »Dann solltest du noch mit niemandem darüber reden. In der achten Woche ist es überhaupt nicht sicher, ob es auch klappt.«
Die Brutalität dieses Satzes fuhr mir durch alle Glieder. Eine Sekunde lang verschlug es mir die Sprache. Mums Worte waren grausam, der Ton klang sehr scharf – in meinen Ohren wie eine Alarmsirene. Ich war noch gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass mit meiner Schwangerschaft irgendetwas schiefgehen könnte, und warum auch? Ich war zum ersten Mal schwanger. Warum sollte ich mich auf das Schlimmste gefasst machen?
Ich weiß nicht, was sich in meinem Gesicht widerspiegelte, aber ich hatte sofort mit den Tränen zu kämpfen. Mum zuckte zusammen, ballte die Fäuste und atmete tief durch.
»Sabina, ich will sagen, dass eine Schwangerschaft … Es ist einfach so … Das klappt nicht immer …« Ihre braunen Augen waren voller Verzweiflung. »Ich will nur nicht, dass du enttäuscht bist. Mach dir bitte keine allzu großen Hoffnungen!«
»Aber ich mache mir große Hoffnungen.« Ich wollte mich beschäftigen, mich davon ablenken, wie sehr sie mich gekränkt hatte, wie enttäuschend sich der Abend entwickelte. Ich hatte mit Begeisterung gerechnet. Ich hatte erwartet, dass sie mir gleich Tipps für die Schwangerschaft geben und mit mir Pläne für die Zeit nach der Geburt schmieden würde. Also stand ich auf, um an ihr vorbei in die Küche zu gehen, aber sie hielt mich am Ellbogen fest und drehte mich langsam zu sich um. Eine einzelne Träne lief mir die Wange hinunter, und ich wischte sie ungeduldig ab.
»Entschuldige bitte, Sabina!«, murmelte meine Mutter. Sie legte mir die Hände um das Gesicht, strich mir mit dem Daumen über die Wange und betrachtete mich eindringlich. »Natürlich freust du dich, und das ist auch richtig so. Aber meine Schwangerschaften waren einfach furchtbar. Ich habe große Angst um dich.«
»Schwangerschaften?«, wiederholte ich. Bisher hatte ich noch nie von irgendwelchen möglichen Geschwistern auch nur gehört. »Aber du hast mir nie erzählt, dass du Probleme hattest …« Ich suchte nach einer möglichst feinfühligen Formulierung. » … ich meine, mich zu kriegen.«
Ich beobachtete sie einen Moment lang. Ihr Blick ging ins Leere, und ihre Lippen zitterten leicht, während sie nach einer Entgegnung suchte. Die tiefe Traurigkeit in ihren Augen war bestürzend, und ich begriff plötzlich, dass wir unabsichtlich eine alte Wunde bei meiner wundervollen Mutter aufgerissen hatten. Ich fiel ihr um den Hals und drückte sie an mich. Sie war nach außen hin nie ein besonders zärtlicher Mensch gewesen, aber in dieser Situation schien es einfach die richtige Reaktion zu sein. Mum erwiderte die Umarmung kurz und steif, dann löste sie sich und strich sich die Bluse glatt.
»Es war grauenvoll für uns. Für dich und Ted wird es sicher viel einfacher.«
Ich spürte ein dumpfes Pochen in den Ohren. Hektisch versuchte ich, die neuen Informationen zu verarbeiten. Die freudige Erwartung hatte sich in Luft aufgelöst. Stattdessen empfand ich nur Angst und eine erhöhte Anspannung. Meine Mutter hatte Probleme gehabt, ein Kind auszutragen? Adrenalin flutete mir durch die Adern, als befände ich mich in akuter körperlicher Gefahr.
»Aber … tut mir wirklich leid, dass ich dich das fragen muss. Ich will nur Bescheid wissen, damit ich mit meinem Arzt sprechen kann.« Es kostete mich enorme Anstrengung, ohne Zittern in der Stimme zu sprechen. »Weißt du, warum das damals so schwierig war?«
Seufzend schüttelte sie den Kopf.
»Es gab viele Vermutungen, aber nein, wir haben es nie so richtig erfahren. Schwanger geworden bin ich immer einigermaßen problemlos, zumindest in den ersten Jahren. Ich habe das Kind einfach immer wieder in den ersten drei Monaten verloren.«
Mit Ausnahme der üblichen knalligen Rougekreise auf den Wangen war Mum jetzt totenbleich im Gesicht.
»Wie oft?«, fragte ich zaghaft.
»Sehr oft«, erwiderte sie knapp. »Du musst dir aber wirklich keine Sorgen machen, mein Schatz. Es tut mir leid, dass ich so abweisend reagiert habe. Ihr habt mich überrumpelt. Mir war nicht klar, dass ihr eine Familie gründen wollt.«
»Aber natürlich mache ich mir Sorgen. Ich verstehe gut, dass du nur ungern darüber sprichst, aber ein bisschen mehr musst du mir schon erzählen.« Da die Starre nicht aus ihrem Gesicht wich, entschloss ich mich, das Offensichtliche auszusprechen. »Was, wenn es genetisch ist?«
Meine Begeisterung über die Schwangerschaft war wie weggeblasen, zumindest im Augenblick. Mir war gerade klargeworden, dass sowohl die Vorfreude als auch die Schwangerschaft etwas Zerbrechliches waren, dass bloße Worte sie gefährden konnten. Ich dachte an die winzigen Strampelanzüge, die ich gleich an dem Tag gekauft hatte, als ich den Test gemacht hatte. Sie lagen offen auf der Kommode in meinem Zimmer, und ich schämte mich plötzlich meiner Naivität. Am liebsten wäre ich ins Schlafzimmer gelaufen, um sie wieder einzupacken und ganz oben im Kleiderschrank zu verstecken.
Die Wahrscheinlichkeit, dass ich die Strampelanzüge je brauchen würde, war eventuell deutlich geringer, als man normalerweise erwarten konnte. Das kleine Wesen, das ich sicher und geborgen in meinem Bauch geglaubt hatte, war dort unter Umständen ganz und gar nicht sicher. Gab es in meinen Erbanlagen einen eingebauten Schalter, den ich von Mum geerbt hatte und der mich am Kinderkriegen hinderte?
Meine Mutter rang offenbar um Worte, um sich zu erklären, aber ich wurde sofort ungeduldig.
»Es tut mir wirklich leid, Mum, aber ich muss das wissen.«
»Es ist nichts Genetisches.«
»Du hast gesagt, dass es keine vernünftigen Erklärungen gab, nur Vermutungen. Wie kannst du da so sicher sein?«
»Ich weiß es eben.«
»Aber …«
»Sabina, lass es gut sein!«
Zum zweiten Mal an diesem Abend verschlug es mir die Sprache, während ich den Rücken meiner Mutter anstarrte, die zum Herd gegangen war und sich dort an den verschiedenen Töpfen und Pfannen zu schaffen machte. Es entging mir nicht, wie sehr ihre Hände zitterten, wenn sie einen Topfdeckel hob, wie heftig er klapperte, wenn sie ihn zurücklegte. Als ich wieder sprechen konnte, wäre es ein Leichtes gewesen, das Thema fallen zu lassen. Mum und ich hatten eine sehr enge Beziehung, enger, als ich das von anderen Müttern und Töchtern kannte. Die Vorstellung, ihr Kummer zu bereiten, war mehr als schmerzlich für mich.
Aber hier ging es um etwas anderes, um etwas Kostbares, das ich bereits liebte. Seit der Schwangerschaft meiner Mutter hatte sich medizinisch vieles verändert, und falls mein Kind und ich gefährdet waren, konnten die Ärzte sicher etwas unternehmen, wenn sie über die nötigen Informationen verfügten. Ich versuchte es etwas weniger direkt.
»Kannst du mir vielleicht ein bisschen erzählen, wie das war, als du mit mir schwanger warst?«, fragte ich vorsichtig. »War dir morgens oft schlecht? Bisher hatte ich richtig Glück. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich schwanger bin.«
Mum beschäftigte sich immer noch mit den Töpfen. Ich hatte den Eindruck, dass jedes meiner Worte sie verletzte, und fühlte mich hilflos. Gerade als ich die Hand nach ihr ausstrecken wollte, flog die Haustür auf, und Dad kam mit Ted zurück. Ihre Stimmen waren laut und munter, ein unangenehmer Kontrast zu der angespannten Stimmung zwischen mir und Mum. Sie blickte quer durch unser kleines Wohnzimmer zu meinem Vater an der Haustür hinüber, und aus seinem Gesicht wich alle Farbe.
»Megan?« Schlagartig wurden seine Schritte und Worte bedächtig.
»Wir müssen fahren«, sagte sie leise.
»He, nein!« Ted schwenkte die eisgekühlte Flasche. »Wir haben etwas zu feiern. Schon vergessen? Was ist eigentlich los?«
»Bitte nicht, Mum! Ich höre ja schon auf«, sagte ich, aber sie schüttelte nur den Kopf und marschierte an den beiden Männern vorbei. Als sie ihren Schal von der Garderobe nahm, ohne ihn wie sonst sorgsam um den Hals zu schlingen, wurde mir klar, dass sie in Panik war.
Dad sah mich an.
»Was hat sie denn gesagt?«
»Sie hat mir nur g… geraten, mich n… nicht zu sehr auf d… das Baby zu freuen«, flüsterte ich. Beim Klang meines eigenen Stotterns brach ich in Tränen aus. Ich hatte viele Jahre Logopädie hinter mir, um den Sprachfehler in den Griff zu bekommen, vor allem auf Drängen meiner Mutter mit ihrem eisernen Willen. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal über ein Wort gestolpert war. Aber ich konnte mich auch nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so verstört gewesen war.
»Sie hat mir erzählt, dass sie so viele Fehlgeburten hatte und wir noch mit niemandem über meine Schwangerschaft reden sollen. Über meine Frage, warum und ob es was Genetisches war, hat sie sich richtig aufgeregt. Es tut mir so leid.«
»Sonst hat sie nichts gesagt?«
»Was gibt es denn sonst noch?«
Dad stieß ein Geräusch zwischen Knurren und Seufzen aus.
»Ich bringe sie nach Hause. Entschuldige bitte, dass sie euch den Abend verdorben hat!« Er nahm seine Opatasse und ging zur Haustür. »Sie muss sich erst mal daran gewöhnen und ein bisschen beruhigen, dann machen wir es wieder gut. Versprochen.«
Die Tür fiel hinter meinem Vater ins Schloss, und das Schluchzen, das ich bisher mühsam zurückgehalten hatte, brach aus mir heraus. Ted ließ die Flasche aufs Sofa fallen und nahm mich in die Arme.
»Was zum Henker war hier gerade los?«
»K … Keine Ahnung«, stieß ich mühsam hervor. »Aber ich glaube, wir s… sollten morgen besser zum Arzt gehen.«
Als er mich sanft mit dem Rücken zur Couch drehte, sodass wir nebeneinander saßen, sah ich, dass Mums Becher immer noch auf den Esstisch stand.
Kapitel zwei
Lilly
Juni 1973
Lieber James,
ich stecke in großen Schwierigkeiten.
Ich habe Dir etwas verschwiegen. Eigentlich wollte ich es Dir erzählen, aber ich hatte zu große Angst. Wir können ja nur am Telefon miteinander sprechen, und dann ist immer jemand in der Nähe und hört zu. Ich wollte Dir einen Brief schreiben, aber Tata bringt meine Briefe zur Post. Und wenn er das gelesen hätte …
Tja, wenn er es gelesen hätte, wäre vermutlich genau das Gleiche passiert.
Ich bin schwanger, James. Das ist wahrscheinlich ein großer Schock für Dich, und es tut mir leid, dass Du es so erfahren musst. Aber ehrlich gesagt ist es schon schwierig genug, diesen Brief abzuschicken, damit Du es überhaupt erfährst.
Ich weiß nicht, wann es passiert ist, wahrscheinlich kurz bevor Du zum Studieren weggezogen bist. Ich komme mir so dumm vor. Wusstest Du, dass man so Babys macht? Du bestimmt, Du bist so klug. Also, ich nicht. Und obwohl das Anfang Januar war, habe ich erst im April gemerkt, dass ich schwanger bin. In der Schule haben die Nonnen ständig über Sex geredet, aber das klang immer so schmutzig und ekelhaft. Mir war nicht klar, dass sie das meinten, was wir getan haben. Bei uns war alles ganz natürlich. Wir haben nie beschlossen, jetzt sind wir ein Paar. Wir waren einfach Freunde, und dann waren wir mehr. Ich kann mich nicht einmal an unseren ersten Kuss erinnern. Du? Damals schien das alles gar nicht wichtig, es war einfach nur der nächste Schritt in unserer Liebe. Alles ist wie von selbst passiert. Ich bin überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen, es könnte das sein, wovor die Nonnen immer gewarnt haben.
Anfangs glaubte ich, ich sei nur müde, weil Du mir so sehr gefehlt hast. Ich wäre am liebsten den ganzen Tag im Bett geblieben und hatte kaum Appetit, was Mama fast wahnsinnig machte. Sie schimpfte immerzu, und Henri nannte mich nur noch die liebeskranke Lilly. Dann hatte ich wieder mehr Appetit, meine Kleider wurden enger und enger, aber ich habe immer noch nichts gemerkt. Ich dachte, dass ich nur zu viel esse, weil ich die Zeit vorher fast keinen Bissen hinunterbekommen hatte.
Was los ist, habe ich erst verstanden, als ein Mädchen in der Schule von seiner Periode sprach und mir auffiel, dass ich die letzte schon vor Weihnachten hatte. Sogar ich weiß, was das bedeutet.
Anfangs tat ich einfach so, als ob nichts wäre, und eine Zeit lang war das gar nicht schwierig. Die Jungs haben mich geärgert, weil ich dick bin, aber das bin ich gewöhnt. Die Schuluniform wurde immer enger, was niemandem auffiel. Ich dachte weder an das Kind noch an Dich, auch nicht daran, was das für uns alle bedeutet.
Dann begann das Baby in meinem Bauch zu strampeln. Mir war klar, dass früher oder später irgendjemand eins und eins zusammenzählt und mein Geheimnis ans Tageslicht kommt. Jede Nacht wälzte ich mich schlaflos im Bett und wartete auf das Donnerwetter. Wenn mein Geheimnis zu erdrückend wurde und meine Furcht zu groß, dass Tata davon erfuhr, schloss ich die Augen und malte mir die Folgen aus. Ich hatte die verrückte Vorstellung, dass sich die Angst verflüchtigte, wenn ich nur alles ganz genau plante.
Ich stellte mir Tatas Wut und Scham vor. Mamas Abscheu. Ich sah es vor mir wie einen Film, probierte unterschiedliche Versionen aus. Was passiert, wenn Tata es nachts herausfindet oder morgens oder während ich in der Schule bin. Bei gutem oder schlechtem Wetter, am Geburtstag eins der anderen Kinder oder wenn die Wehen einsetzen.
Was auch immer ich mir ausmalte, die Geschichte endete immer gleich: Ich stelle meinen Koffer vor Eurer Haustür ab, klopfe und rufe nach Deiner Mutter.
Mit fast allem lag ich richtig. Heute Morgen hat Tata mich geweckt, und ich musste einen Koffer packen. Die anderen Kinder, alle sieben, mussten sich in einer Reihe aufstellen und sich von mir verabschieden. Kasia und Henri weinten, ich sah das Mitleid in ihren Augen. Am schlimmsten war Mama. Sie konnte mich nicht einmal ansehen, sondern versteckte sich in der Küche und weinte. Als ich sie am Kleid zog und zu mir umdrehen wollte, schüttelte sie meine Hand ab und schluchzte noch lauter.
Dann stieß Tata mich in den Wagen und tobte, genauso wie ich es mir vorgestellt hatte. Den ganzen Weg vom Haus bis zur Straße brüllte er so wütend, dass ihm der Speichel aus dem Mund spritzte, während ich mir alle Mühe gab, nicht zu heulen.
Er hat mir schlimme Worte an den Kopf geworfen, was ich vermutlich verdient habe. Ich ziehe den Namen Wyzlecki in den Schmutz und habe ihn enttäuscht. Das Schlimmste war, dass er Schimpfwörter benutzte, die ich meinem Tata überhaupt nicht zugetraut hätte. Weil ihn Tränen ja immer noch wütender machen, starrte ich nur vor mich hin und riss mich zusammen. Du weißt, wie stark sein Akzent wird, wenn er zornig ist. Aber heute klang es so, als würde er auf Polnisch brüllen, einen endlosen Schwall an Beleidigungen.
Ich beherrschte mich und dachte, alles wird gut. Ich nahm an, er brächte mich zu Deinen Eltern. Obwohl sie sicher auch böse auf uns wären, könnte ich Dich wenigstens anrufen. Doch Tata fuhr nicht zu Euch. Mein Koffer lag hinten im Auto, aber die Erleichterung, ihn vor Eurer Haustür abzusetzen, war mir nicht vergönnt.
Statt links auf die Straße zu Eurem Haus abzubiegen, fuhr er nach rechts Richtung Orange.
Nach Orange braucht man nur vierzig Minuten. Da ich allerdings das Reiseziel nicht kannte, kam mir die Fahrt endlos vor. Ich flehte ihn an, mir zu sagen, wohin er mich brachte, aber er meinte nur, dass er den Müll unserer Familie nicht bei Euch ablädt. Ich fühlte mich wie im freien Fall. Ich wusste nur, dass der Wagen von allem Vertrauten wegfuhr. Mir ging alles Mögliche durch den Kopf. Schickt er mich nach Polen zu Onkel Adok, den ich gar nicht kenne? Fahren wir in eine Abtreibungsklinik? Gibt es die überhaupt?
Ganz kurz dachte ich, er bringt mich zum Bahnhof und schickt mich zu Dir. Wie schön das gewesen wäre.
Aber schließlich hielten wir vor dem großen Krankenhaus in Orange, was ich zuerst überhaupt nicht verstand. Eine Zeit lang saßen wir einfach im Auto. Tata starrte vor sich hin, die Hände auf dem Lenkrad. Jetzt war ich diejenige, die tobte. Erst schien er mich überhaupt nicht zu hören, aber dann muss ich doch zu ihm durchgedrungen sein. Zum ersten Mal in meinem Leben weinte ich, ohne dass er sich aufregte.
Nein, heute schimpfte er mich nicht wegen meiner Tränen und erzählte mir nicht, wie viel schwerer sein Leben als junger Mann im kriegsgebeutelten Polen gewesen war. Nachdem sein Zorn verraucht war, blieben nur noch Scham und Trauer übrig. Tata teilte mir mit, dass ich nicht ins Krankenhaus komme, sondern in das Entbindungsheim gegenüber. Bis zur Geburt muss ich hierbleiben.
Im Haus sprachen wir mit Schwestern und Sozialarbeiterinnen. Sie setzten uns in ein kleines kaltes Zimmer, und Tata unterschrieb viele Zettel. Es gab mehrere Aktenmappen, und als wir fertig waren, stand auf jeder Liliana Wyzlecki, BZA.BZA muss ein Kürzel sein, vielleicht die Bezeichnung für mich in diesem Haus. Früher oder später finde ich das bestimmt heraus.
Ich habe alle enttäuscht, James. Ich war so dumm, jetzt bin ich schwanger und habe alles kaputtgemacht.
Ich weiß nicht, ob es eine Möglichkeit gibt, Dir meinen Brief zu schicken. Ich habe keine Ahnung, was jetzt passiert und wie ich an diesem schrecklichen Ort überleben soll.
Ich weiß nur, dass unsere Liebe so ein Wunder war, dass wir ohne Absicht ein Kind gemacht haben. Und ich liebe es jetzt schon genauso wie Dich.
Du hast gerade erst mit dem Studium angefangen und träumst davon seit Jahren. Von Deinem Abschluss hängen alle unsere Zukunftspläne ab. Deshalb weiß ich genau, dass ich sehr, sehr viel von Dir verlange.
Aber wenn Du nicht zu mir – zu uns – zurückkommst und wenn wir nicht heiraten können, bevor das Baby zur Welt kommt, dann weiß ich nicht, was werden soll. Ich mag es mir überhaupt nicht vorstellen. Tata lässt mich mit einem Kind nicht nach Hause, und ohne Dich kann ich mich nicht ernähren.
Es hat keinen Sinn, mich hier anzurufen oder mir zu schreiben. Sie haben mir schon gesagt, dass ich nicht mit Dir sprechen darf. Also komm bitte einfach! Steig in den nächsten Bus und fahr hierher, damit wir sofort heiraten können! Ich bin sicher, dann lassen sie mich gehen.
Ich liebe Dich von ganzem Herzen, James. Bitte entschuldige, dass ich Dir das alles nicht früher erzählt habe, und bitte, bitte komm und hilf mir und unserem Kind!
In Liebe
Lilly
Kapitel drei
Sabina
März 2012
Am nächsten Tag hatte ich einen emotionalen Kater.
Mit gedämpfter Stimme verabredeten Ted und ich uns beim Frühstück zum Arztbesuch in der Mittagspause. Vorher hatten wir uns fröhlich und aufgeregt darüber unterhalten, inzwischen aber trauten wir uns nicht, noch überschwänglich zu sein. Die Schwangerschaft erschien uns plötzlich zu anfällig, um sie lauten Stimmen oder Gefühlen auszusetzen.
Während des Vormittags gab es Momente, in denen ich mich ganz auf meine jeweilige Klasse konzentrierte, und kurz verblasste dann das Bild meiner bestürzten Mutter vor meinem geistigen Auge. Drei einstündige Kurse musste ich überstehen, einschließlich einer Kindergartengruppe, die immer besonders anstrengend war, aber ich war dankbar für die Ablenkung. Schon immer hatte ich mich nur mit Musik wirklich lebendig gefühlt, und an jenem Tag kam mir sogar das Trommeln Fünfjähriger auf ihren Pulten wie eine Erste-Hilfe-Maßnahme vor.
Nach dem Unterricht holte ich mein Handy vom Schreibtisch. Ich rechnete fest mit einem verpassten Anruf oder einer Nachricht von Mum auf der Mailbox. Als der Bildschirm leer war, wurde mir schwer ums Herz. Ich tippte eine SMS ein.
Mum, das mit gestern tut mir sehr leid. Ich weiß, es ist schwer, aber können wir bitte reden? Wenn du so weit bist. Ich will nur meine Schwangerschaft schützen, falls ich überhaupt etwas tun kann. Alles Liebe XO
Unser Hausarzt war verständnisvoll und schlug uns eine Reihe von Routineuntersuchungen vor, da wir ja nicht genau wussten, wo wir nach möglichen Problemen suchen sollten.
»Schwierigkeiten mit der Fruchtbarkeit sind nicht immer genetisch«, versicherte er uns. »Und selbst dann heißt das längst nicht, dass Sie sie von Ihrer Mutter geerbt haben. Und inzwischen lässt sich dagegen sicher etwas unternehmen. Die Medizin hat seit Ihrer Geburt große Fortschritte gemacht. Aber meiner Meinung nach sollten wir uns darum kümmern, deshalb schicken wir Sie nächste Woche zum Ultraschall. In der Zwischenzeit lasse ich Bluttests durchführen, um die üblichen Fragen abzuklären.«
Hinterher ging es mir kein bisschen besser. Ich ließ mir Blut abnehmen und ging dann mit Ted essen. Fast schweigend saßen wir in dem Café, das immer noch schweigende Handy auf dem Tisch.
Die Woche bis zum ersten Ultraschall würde sehr lang werden. Ich war unentschlossen, worüber ich mir mehr Gedanken machen sollte – um das Wohlergehen meiner Mutter oder darum, so viel wie möglich von ihr zu erfahren und damit dem Ungeborenen zu helfen.
Ted griff über den Tisch und drückte meine Hand. »Soll ich sie vielleicht anrufen, Bean?«
»Nein, lieber nicht. Gestern Abend war sie so fertig, dass ich nicht weiß, wie ich mich verhalten soll. Schließlich will ich sie ja nicht noch mehr aufregen.«
»Der ganze Stress kann nicht gut für dich sein.«
Ich betrachtete meinen Teller. Die Pasta mit Hühnchen und Pilzen, die ich mir bestellt hatte, war jetzt ordentlich in vier Quadranten geteilt, aber ich hatte nur einen Bissen gegessen.
»Sagst du das, weil ich meinen Teller kaum angerührt habe?«
Ted kicherte.
»Nun ja, ich kenne dich seit fast zwanzig Jahren, und ich habe noch nie erlebt, dass es dir den Appetit verschlägt.«
Ich lächelte schwach, spießte ein Stückchen Huhn auf die Gabel und führte sie zum Mund. Die Soße war üppig, randvoll mit Sahne und Käse und kräftig gewürzt. Ich ließ den Geschmack eine Weile auf mich wirken und spürte, wie die Lust auf Essen sich regte.
»Wenn wir in den nächsten Tagen nichts von ihr hören, rufe ich sie an«, sagte ich nach einigen Bissen. »Vielleicht kann Dad mir alles erklären, damit sie es nicht muss.«
»Er wirkte gestern auch ziemlich verschreckt. Es muss für beide damals ein Albtraum gewesen sein, wenn sie nach so vielen Jahren noch darunter leiden.«
»Ich weiß nicht, wie man mit einem solchen Verlust weiterleben …« Mir versagte die Stimme. »Ich meine nur … Jetzt schon, nach so kurzer Zeit, liebe ich dieses Baby. Sollte ihm etwas zustoßen …«
Wieder drückte Ted mir die Hand. »Bleiben wir optimistisch!«
Da der Nachmittag ohne eine Reaktion meiner Mutter verstrich, kehrte ich nach der Arbeit nach Hause zurück, um meinem normalen Alltag nachzugehen. Teds Wagen stand in der Auffahrt, also suchte ich ihn in dem kleinen Büro gegenüber unserem Schlafzimmer auf und gab ihm einen Kuss auf den Kopf. Er führte gerade ein Telefonat, ein langweiliges, wie ich aus dem Zeitungsartikel schloss, den er gleichzeitig am Computerbildschirm las. Er deutete auf die Uhr und hielt sechs Finger hoch, um mir zu bedeuten, dass er nicht vor sechs fertig wäre – noch eine halbe Stunde.
Ich stellte das Essen in den Ofen und zog mir eine Haremshose und eins von Teds T-Shirts an, froh, meinen BH loszuwerden. Meine Klamotten waren alle etwas zu eng geworden. Das hatte aber nichts mit der Schwangerschaft zu tun, sondern mit mangelnder Selbstdisziplin während des Sommers.
Im Herbst war um diese Uhrzeit der gemütlichste Platz in unserer kleinen Einliegerwohnung der Esstisch. Dort konnte ich die Wärme der untergehenden Sonne genießen und gleichzeitig fernsehen, während ich arbeitete beziehungsweise zumindest so tat als ob. Ich breitete meine Unterrichtspläne auf dem Tisch aus und drückte den Startknopf auf der Fernbedienung. Obwohl der Timer am Herd lief, reichte das hörbare Ticken nicht als Ermahnung aus, dass es bald etwas zu essen gab. Ich öffnete eine Schachtel Cracker und nahm mir ungefähr zehn Minuten lang vor, nur noch einen, während die Gameshow den Kampf um meine Aufmerksamkeit gegen meine Unterrichtsplanung gewann.
Als es klingelte, warf ich einen Blick auf die Wanduhr: 17:43. Beliebte Vertreterzeit. Auf dem Weg zur Tür wappnete ich mich, übte schon einmal halblaut die Worte Nein danke. Durch die Glasscheibe erkannte ich Silhouetten und zog eine Grimasse. Gleich zwei? Mehr als einer bedeutete meistens, dass es sich bei dem angebotenen Produkt um Religion handelte. Wenn ich solche Gespräche abwimmelte, hatte ich immer ein besonders schlechtes Gewissen. Die Motivation jener Leute kam mir immer so viel unschuldiger vor.
Als ich feststellte, dass es in Wirklichkeit meine Eltern waren, empfand ich spontan Freude und Erleichterung. Einen Sekundenbruchteil später allerdings bemerkte ich betroffen, dass beide geweint hatten.
»Wir müssen mit dir reden, Sabina.«
Dads Haltung strahlte etwas ungewöhnlich Niedergeschlagenes aus, und mir dämmerte, dass sie nicht über den gestrigen Abend oder meine Schwangerschaft sprechen wollten. Seinen hängenden Schultern nach musste jemand krank sein oder im Sterben liegen. Meine Mutter neben ihm wirkte aufs Äußerste angespannt. Steif und kerzengerade stand sie vor mir, ihre braunen Augen blitzten. Sie sah aus wie jemand, der bereit war, in die Schlacht zu ziehen.
»Oh mein Gott! Was ist los?« Ich war wie erstarrt. Wenn ich sie nicht hereinließ, musste ich vielleicht nicht hören, was sie zu sagen hatten. Doch Dad deutete auf das vollgestellte Wohnzimmer hinter mir.
»Dürfen wir?«
»Ted?«, rief ich, während ich die Tür weiter aufzog.
»Ich telefoniere noch.« Die Worte schwebten durch den Flur zu mir herüber und enthielten reine Information, keine Verärgerung über die Unterbrechung.
»Ted.« Dieses Mal hatte mein Ton etwas Drängendes. Ich sah, wie sich Dads breite Schultern hoben und senkten, als er geräuschvoll einatmete.
»Setzen wir uns!« Er legte mir die Hände auf die Schultern und schob mich zum Sofa. Sein Duft nach Seife und Sicherheit umhüllte mich, und ich bekam feuchte Augen. Als er mich schließlich sanft auf den Sitz drückte, küsste er mich auf die Schläfe, und mir rollten Tränen über die Wangen. Meine Mutter setzte sich steif auf die Couch gegenüber, genau wie am Vorabend. Dann kam Ted herein.
»Was ist denn los?« In seinen leuchtend blauen Augen lag Beunruhigung. Doch meine Eltern beachteten ihn nicht. Ihre Blicke waren unverwandt auf mich gerichtet.
»Es tut mir leid, dass ich dir das aufladen muss, mein Schatz«, sagte Dad. Er klang ruhig und beherrscht. Abgesehen von seinen rot geränderten Augen hätte dies eine ganze normale Unterhaltung sein können. »Es wird ein Schock für dich sein, aber du musst uns glauben, dass wir es dir nur verschwiegen haben, weil wir es für das Beste hielten.«
Meine Mutter hatte immer noch kein Wort gesagt.
»Was … was denn?« Ich spürte die Angst wie aufsteigende Bläschen in der Kehle, wie kleine Stromschläge auf den Armen. Meine Gedanken überschlugen sich. Krebs. Wahrscheinlich war es Krebs. Und wenn sie es mir schon einige Zeit verschwiegen hatten, war Dad vielleicht nicht mehr lange unter uns.
»Sabina.« Sein Flüstern klang rau, sein Arm um meine Schultern zitterte. »Du wurdest adoptiert.«
Da. Drei knappe Worte, und mein Leben zerbrach. Das wusste ich in dem Moment noch nicht, doch es war die dicke schwarze Linie durch meine Zeitachse. Ab sofort gab es ein Vorher und ein Nachher.
Allerdings hatte ich wirklich noch nichts begriffen, denn in meiner ersten Reaktion hielt ich Dads Satz für Unsinn, ja geradezu für lachhaft absurd. Ich sah zu Ted hinüber. Er hob die Brauen und spiegelte damit meine eigene Empfindung – totale, tiefste Ungläubigkeit.
Es war einfach ausgeschlossen.
Völliger Quatsch.
Das hätte ich doch mit Sicherheit gemerkt oder zumindest geahnt. Ich hätte weder Mums braune Augen noch Dads Lächeln gehabt. Wir hatten gemeinsame Interessen, Gewohnheiten und Eigenschaften, zu viele, um sie aufzuzählen, viel zu viele, als dass sie rein zufällig sein konnten. Wie albern. Sollte das ein Witz sein?
Ich lachte. Es begann als letzter Ausbruch von Selbstvertrauen einer Frau, die genau wusste, wer sie war. Als niemand mitlachte, verebbte das Lachen zu einem verwirrten Wimmern.
»Ist das ein W… Witz?« Ich linste zu meiner Mutter hinüber, die resigniert auf den Boden starrte. Ihre Anspannung war verschwunden, sie war sichtlich zusammengesunken. Aber nein, es wurde keine Pointe geliefert, dies war eine Wahrheit, die lange hinter einer Mauer versteckt worden war. Und diese Mauer war soeben eingestürzt.
Ich stand auf, weg von meinen Eltern, als wären sie plötzlich eine Bedrohung. Da ich aber die Blicke nicht von ihnen abwenden konnte, stolperte ich rückwärts auf meinen Ehemann zu. Ted fing mich auf und schlang die Arme um mich. So viele Fragen stürmten gleichzeitig auf mich ein, dass ich keine einzige davon sinnvoll stellen konnte.
»Warum habt ihr … Aber wie … Was war … und wieso …?«
Die Worte klemmten. Sie flossen nie, wenn ich mich aufregte, sie blieben hängen, als hätte die Platte mit meiner Tonspur einen Sprung. Dann umkreiste ich endlos eine Silbe oder einen Laut, bis es mir gelang, mich zu beruhigen und meine Stimme in einen Rhythmus zu zwingen. Der sanfte Druck von Teds Arm beruhigte mich, und ich konnte den Satz beenden.
»Das verstehe ich nicht. Warum habt ihr das vor mir geheim gehalten? Wie konntet ihr nur?« Jetzt spielte sich meine Platte zwar wieder ab, aber zu schnell, sodass ich selbst in meinen eigenen Ohren lächerlich und panisch klang.
»Wir hielten es für das Beste«, sagte mein Vater. Ich sah zu Mum hinüber, meiner engsten Freundin … beziehungsweise hatte ich das bisher geglaubt. Plötzlich fiel mir auf, dass sie seit ihrer Ankunft keinen Augenkontakt hergestellt hatte.
Kein Wunder, dass sie so heftig reagiert hatte, als ich mich nach ihrer Schwangerschaft erkundigt hatte. Sie hatte gar keine gehabt.
»Wie kann es das Beste sein, sie fast vierzig Jahre lang zu belügen?« In der Stille, die seiner Frage folgte, schwang Teds Fassungslosigkeit mit.
»Das waren damals andere Zeiten«, versuchte mein Vater zu erklären. »Als du zu uns kamst, Sabina, wurde uns gesagt, es sei besser, wenn du dich nie damit auseinandersetzen müsstest. Und bis sich die gesellschaftliche Meinung darüber geändert hatte, warst du schon so alt, dass es einfach zu spät schien. Wir dachten …« Er brach ab, und seine Lippen bebten, als er schließlich flüsternd weitersprach. »Wir kamen zu dem Schluss, dass du es besser nie erfahren solltest.«
»Und wo … wo habt ihr mich her?« Vor meinem geistigen Auge sah ich mich auf einer Türschwelle liegen, ungewollt und ungeliebt. Ich malte mir peitschenden Regen, Dunkelheit, einsames Weinen und Hilflosigkeit aus. Das Bild war so plastisch, dass ich eine Sekunde lang überlegte, ob es eine echte Erinnerung war.
Entdeckte ich gerade eine Entstehungsgeschichte für mich selbst, das genaue Gegenteil der mir bisher bekannten Wahrheit?
»Du wurdest aus dem Entbindungsheim adoptiert, in dem deine Mutter damals gearbeitet hat.«
»Sie hat dort gearbeitet?« Ich war verwirrt. Meine Mutter? Wer war meine Mutter? War es Megan, die wie ein Häufchen Elend vor mir saß, oder die namenlose, gesichtslose Frau, die mich geboren und dann offensichtlich im Stich gelassen hatte?
»Ja. Nein, Moment mal, du meinst die Frau?« Auch Dad wusste offenbar nicht genau, wie er sie nennen sollte. »Sie war eine Bewohnerin des Heims. Mum hat dort gearbeitet.«
Ich musterte sie. War sie tatsächlich körperlich geschrumpft seit gestern Abend? Oder war das eine optische Täuschung? Jetzt hielt sie sich die Hände vor das Gesicht. Ich hätte gern gewusst, was sie dachte. Und warum diese Frau, die im Lauf der Jahrzehnte Tausende von Stunden mit mir geredet und vieles zerredet hatte, immer wieder darauf verzichtet hatte, mir die entscheidende Tatsache mitzuteilen.
Es war wie eine außerkörperliche Erfahrung, ich schwebte an der Zimmerdecke, während das Gespräch unter mir stattfand. Wir waren keine gewöhnliche Familie, wir waren eine außergewöhnliche Familie, mit einem sehr engen, offenen und ehrlichen, ganz und gar gesunden Verhältnis zueinander. Oder einem Verhältnis, so schien es nun, das bis ins Innerste verlogen war.
»Warum erzählt ihr mir das jetzt?«
Selbst Dad fühlte sich sichtlich unwohl. Sonst gab es das bei ihm nicht. Er war immer selbstsicher und stark, er regelte einfach alles. Er konnte mit mir über Menstruation und Jungs und Sex und das passende Kleid für eine Party reden. Mit den peinlichen Momenten des Elternseins ging er unbefangen um.
»Uns ist klar, dass Megan dich gestern ziemlich erschreckt hat. Sie hätte dich nicht mit unseren Problemen belasten dürfen. Davon hättest du nichts erfahren sollen. Natürlich machst du dir Sorgen, vielleicht etwas geerbt zu haben. Aber du darfst dich während deiner gesamten Schwangerschaft nicht umsonst ängstigen oder dich, Gott bewahre, so reinsteigern, dass tatsächlich noch etwas Schreckliches passiert.«
Später, viel später, als der Schock nachließ und die Wahrheit zu mir durchgedrungen war, sollte ich mich in jenen Augenblick zurückversetzen und ihn aus jedem Blickwinkel analysieren. Vorerst aber musste ich ihn einfach durchstehen, und das schien mir schon schwierig genug, ohne die Information zu sezieren, die mir da häppchenweise verabreicht wurde. Das war ein Segen. Denn hätte ich gleich begriffen, dass Dad gerade zugab, sein Schweigen nur deshalb zu brechen, weil er und Mum keine andere Wahl zu haben glaubten … also, dann wäre ich vermutlich auf der Stelle in tausend Scherben zersprungen.
»Warum hat sie mich abgegeben?«
Endlich hob meine Mutter den Kopf. Stumme Tränen liefen ihr über die Wangen.
»Es war eine andere Zeit, Sabina. Sie war sechzehn Jahre alt. Dich zu behalten stand nicht zur Debatte.«
»War dieses Krankenhaus in die Zwangsadoptionen verstrickt, die jetzt andauernd in den Nachrichten kommen?«, fragte Ted. Er lachte immer über mein mangelndes Interesse an Tagespolitik, aber das war genau der Grund. Den Begriff Zwangsadoption hörte ich gerade zum ersten Mal, und ich hätte gern darauf verzichtet. Das alles stürmte auf mich ein, aber bevor ich meine chaotischen Gedanken sortieren konnte, schluchzte Mum auf, und ich hielt es nicht mehr aus. Ich befreite mich aus Teds Armen, setzte mich neben sie und schlang ihr die Arme um die schmalen Schultern. Soeben hatte ich den größten Verrat meines Lebens entdeckt, doch ich konnte die Verräterin nicht weinen sehen.
»Mum.« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und so stark die Bestürzung und die Verwirrung auch waren, der Drang, sie zu trösten, war noch stärker. Ich streichelte sie zwischen den Schulterblättern und starrte fassungslos auf den Boden. Die eigenartige Benommenheit eines physiologischen Schocks setzte ein. Es war, als stünde ich in einem Glaskäfig und sähe draußen einen Wirbelsturm vorbeifegen.
Nun stand Dad auf und ging vor Mum in die Hocke. Hinter ihrem Rücken berührten sich unsere Arme.
»Beruhige dich, Meg!«
Obwohl er leise und ausdruckslos sprach, hörte ich es. In seinem Tonfall erkannte ich die einzige Dissonanz, die in der Melodie unserer Familie meinem Empfinden nach schon immer präsent gewesen war. Ted hätte denselben Satz sagen können und hätte sich sowohl vernünftig als auch einfühlsam angehört. Bei Dad klang er wie ein Befehl. Dad stand leidenschaftlich hinter seiner Familie, und das war fast immer sehr gut – außer in Momenten, in denen die Leidenschaft einfach zu weit ging und er fordernd und herrisch wurde.
Das störte mich. Nicht zum ersten Mal, aber meinen Vater an jenem Abend so scharf mit meiner Mutter sprechen zu hören war beinahe zu viel. Ich wandte mich an meinen Mann, meinen Fels in der Brandung. Ted saß uns gegenüber auf dem Sofa, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Seine Hände hingen zwischen den Beinen. Er konnte wirklich sehr sensibel sein, wenn es nötig war, vor allem aber war er rational. Er würde aus diesem Durcheinander eine Wahrheit herausfiltern, die ich verarbeiten konnte.
»Und wer war sie?«, fragte er ruhig.
Eine ganze Weile reagierte niemand. Das Schweigen war unbehaglich, dann beklemmend. Mir wäre die Frage gar nicht eingefallen. Doch jetzt, da sie im Raum stand, brauchte ich unbedingt eine Antwort. Als mir schließlich klar wurde, dass meine Eltern sie einfach nicht zur Kenntnis nahmen, hakte ich nach.
»Mum?«
»Wir haben nie etwas über sie erfahren.«
Log sie? Wieder wich sie meinem Blick aus, aber ihr schlechtes Gewissen war unübersehbar. Ihre Schultern sanken nach vorn, als sie sprach. Die Schwere der Worte schien sie zu Boden zu drücken. Ted runzelte die Stirn und bemerkte es ebenfalls – das klare Anzeichen einer Lüge.
»Megan, es steht meiner Frau doch zu, alles zu erfahren, was du weißt«, sagte er sachlich.
Meine Mutter schüttelte den Kopf, und die Tränen flossen wieder.
»Tut mir ehrlich leid, Sabina, ich kann dir nichts sagen. Mehr weiß ich nicht.«
»Nun ja, sind Akten vorhanden?«, fragte Ted. »Es muss doch Unterlagen geben. Was ist mit Sabinas Geburtsurkunde?«
Das war der Hoffnungsschimmer, auf den ich sehnlichst gewartet hatte. Ich richtete mich auf und wandte mich zu Dad um.
»Da stehen eure Namen drauf.« Erleichterung erfüllte mich. Ich war zu verstört, um zu erkennen, wie albern das war. Als könnten sie sich vielleicht ja doch geirrt haben. »Die habe ich seit Jahren. Es stehen eure Namen drauf.«
»Ist das nicht das Original?«, fragte Ted, woraufhin ich wieder in mich zusammensank.
»Doch, ist es schon.« Mum schüttelte abermals den Kopf. »Wie gesagt, es waren andere Zeiten. Weil wir dich gleich nach der Geburt adoptiert haben, wurden wir als deine Eltern aufgeführt. Und das sind wir auch. Damals haben sich Kliniken nicht immer die Mühe gemacht, zusätzliche Akten aufzubewahren.«
»Dann könnte ich sie also gar nicht finden, selbst wenn ich es wollte?« Schlagartig betrauerte ich einen Verlust, von dem ich Minuten zuvor noch nichts gewusst hatte. Den ich noch gar nicht einzuordnen wusste.
»Sehr wahrscheinlich nicht, mein Liebling«, sagte Dad.
Eine Zeit lang schwiegen wir wieder, jeder in Gedanken mit der verfahrenen Situation beschäftigt. Dennoch war es laut im Zimmer, denn der Fernseher lief noch im Hintergrund. Irgendjemand hatte in der Gameshow viel Geld gewonnen. Zu triumphaler Musik regneten Ballons und Luftschlangen von der Decke herab.
Bei mir war nie eine Angststörung diagnostiziert worden, aber meiner Einschätzung nach war das der treffendste Begriff dafür, dass meine Sorgen manchmal außer Kontrolle gerieten. Wenn ich überrumpelt wurde, wälzte mein Verstand eine Situation um und um, bis ich von dem wirbelnden Gedankentornado fast mitgerissen wurde. Beinahe zufällig hatte ich im Lauf der Jahre gelernt, solche Panikanfälle abzuschwächen, indem ich mir die nackten Tatsachen vor Augen führte. Indem ich mich in der Realität verankerte, statt mich in meinen Ängsten zu verlieren.
Also ja, die Sonne schien immer noch durch das Fenster, und ein greller Lichtfleck auf den glänzenden Dielen in der Küche blendete mich. Der Timer am Ofen tickte weiterhin, und dem herzhaften Geruch nach zu urteilen, war das Lamm mit Linsen fast fertig. Die Zeit marschierte voran, wie sie es immer getan hatte. Meine nackten Füße waren angenehm kühl. Ich war immer noch ich, und ich war immer noch da. Die roten Streifen auf meinem Bauch von der zu engen Arbeitshose waren mittlerweile vermutlich verblasst.
Und keine Umstände dieser Welt, keine Kraft im Universum konnten mich dazu zwingen, das winzige Lebewesen aufzugeben, das in mir heranwuchs. Es war die körperliche Manifestation meiner Liebe zu Ted. Wie konnte sich jemand von einem solchen Wesen trennen? Die Antwort drängte sich fast sofort auf.
Ihre Geschichte – meine Geschichte – handelte vielleicht nicht von Liebe.
Mich überlief eine Gänsehaut, ich ließ Mum los und stand auf.
»Wir sollten gehen, damit du darüber nachdenken kannst.« Auch Dad erhob sich und streckte sich zu seiner vollen Länge. Ich dachte kurz an die Angst zurück, die ich bei seiner Ankunft verspürt hatte, als ich dachte, er sei möglicherweise krank. Das wäre mir lieber gewesen, denn gegen eine Krankheit konnten wir gemeinsam kämpfen. Krankheit bedeutete, dass es noch Hoffnung gab, selbst wenn sie nur schwach war. Dies aber, dies hieß, dass ab sofort nichts mehr so war wie vorher.
»Das halte ich für eine gute Idee.« Mein stets aufmerksamer Mann musterte mich eindringlich. Ich fragte mich, was er gerade dachte und ob er spürte, wie aufgewühlt ich war. Wenn der Schock erst nachließ, war ich mit Sicherheit ein Wrack.
»Liebst du uns noch?«, fragte meine Mutter plötzlich. Während mein Vater bereits auf dem Weg zur Tür war, wollte sie ganz offensichtlich nicht gehen, bevor ich ihr versichert hatte, dass alles in Ordnung war. Und sonst hätte ich auch genau das getan, daher erwartete sie es wahrscheinlich.
Von ihrem eingefallenen, tränenfeuchten Gesicht sah ich zu Dads verhalten flehendem Blick, dann zu Boden.
»Natürlich l… liebe ich euch«, murmelte ich stockend, verwaschen. »Lasst mich einfach in Ruhe darüber nachdenken.«