Was der Tod uns lehren kann - Elisabeth Kübler-Ross - E-Book

Was der Tod uns lehren kann E-Book

Elisabeth Kübler-Ross

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Beschreibung

Elisabeth Kübler-Ross versammelt in diesem Buch Erfahrungen mit dem Sterben: Es berichten Angehörige, Ärzte und Seelsorger aus verschiedenen Kulturen. Die Leser erhalten neue Blickwinkel und hoffnungsvolle Gedanken, die eigene Lebensreise besser zu verstehen. Was Leser meinen: »Ein wichtiges Thema für uns alle.« »Der Tod ist oft ein Tabu Thema , es ist hier sehr gut behandelt.«

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Elisabeth Kübler-Ross (Hrsg.)

Was der Tod uns lehren kann

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Jens Fischerunter Mitwirkung von Helmut Weigel

Knaur e-books

Über dieses Buch

Elisabeth Kübler-Ross versammelt in diesem Buch Erfahrungen mit dem Sterben: Es berichten Angehörige, Ärzte und Seelsorger aus verschiedenen Kulturen. Die Leser erhalten neue Blickwinkel und hoffnungsvolle Gedanken, die eigene Lebensreise besser zu verstehen.

Was Leser meinen:

»Ein wichtiges Thema für uns alle.«

Inhaltsübersicht

Gebet für die HeilendenWidmungVorwort1. KapitelErfahrungen und ErkenntnisseZu diesem Buch2. KapitelDer organisatorische Kontext des SterbensTod in der ersten Person3. KapitelSterben unter den Indianern AlaskasDie jüdische Auffassung des TodesDie jüdische Auffassung des TodesDer Tod, der dem Tod ein Ende machtI. Tod und Wiedergeburt im HinduismusII. Tod, Wiedergeburt und Befreiung in der buddhistischen LehreIII. Die Überwindung des Todes4. KapitelLeben bis zum TodDas Leben-bis-zum-Tod-ProgrammMethode und VorgehenMaßeinheiten und statistische AnalysenZusammenfassung der hauptsächlichen ErgebnisseBegräbnisseTrauer und Reife einer MutterDer Tod einer FrauDorothy Pitkins letzte Zeilen5. KapitelDer Tod als Teil meines persönlichen LebensEin Brief an ElisabethLouieFür meine Frau Wanda6. KapitelSterben und ReifenEine FallstudieReligion und ReifeOmegaLiteraturhinweisDanksagung
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Gebet für die Heilenden

Gebet des Heiligen Franziskus

(bearbeitet von Charles C. Wise)

 

Herr,mach mich zum Werkzeug Deines Heils:

wo Krankheit ist,laß mich Heilung bringen;

wo es Verwundungen gibt,Hilfe;

wo es Leiden gibt,Linderung;

wo Traurigkeit herrscht,Trost;

wo Verzweiflung ist,Hoffnung;

wo der Tod ist,Einwilligung und Frieden.

 

Gib, daß ich nicht so sehr

danach trachte, mich zu rechtfertigen,als zu trösten;

Gehorsam zu finden,als zu begreifen;

geehrt zu werden,als zu lieben …

denn dadurch, daß wir uns selber schenken,bringen wir Heilung,

dadurch, daß wir zuhören,spenden wir Trost,

und durch das Sterbenwerden wir geboren zum ewigen Leben.

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Gewidmet Manny, Kenneth und Barbara,

deren Liebe dieses Werk ermöglicht hat,

und dem Andenken an meine Mutter,

die an dem Tage starb, an dem das

Manuskript dieses Buches fertiggestellt wurde:

am 12. September 1974.

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Vorwort

Tod ist ein Thema, das unsere Gesellschaft mit ihrer Verehrung der Jugend und Orientiertheit am Fortschritt übergeht, außer acht läßt und verleugnet. Es scheint beinahe so, als sähen wir im Tod nur eine weitere Krankheit, die überwunden werden muß. Aber es bleibt eine Tatsache, daß der Tod unvermeidlich ist. Wir werden alle sterben. Das ist nur eine Frage des Zeitpunktes. Tod ist ebensosehr ein Teil der menschlichen Existenz, der menschlichen Reifung und Entwicklung wie die Geburt. Er ist eines der wenigen Dinge im Leben, auf die wir zählen und von denen wir überzeugt sein können, daß sie sich ereignen werden. Der Tod ist nicht ein Feind, der überwunden werden muß, oder ein Gefängnis, aus dem man entfliehen muß. Er ist integraler Bestandteil unseres Lebens und verleiht der menschlichen Existenz Sinn. Er setzt unserer Lebenszeit eine Grenze und zwingt uns, etwas Produktives innerhalb dieser Zeit zu tun, solange wir sie noch nützen können.

Daher ist das die Bedeutung des Todes: Die letzte Stufe der Reife: Alles, was du bist, und alles, was du getan hast und gewesen bist, konvergiert in deinem Tod. Wenn du stirbst und wenn du das Glück hast, vorher davor gewarnt zu werden (nicht nur in der Weise, wie wir alle zu jeder Zeit gewarnt werden, wenn wir uns unserer Begrenztheit bewußt sind), dann bekommst du deine letzte Chance zur Reife, das heißt wahrhaft jener zu werden, der du wirklich bist, in noch umfassenderer Weise Mensch zu sein. Aber du brauchst nicht zu warten, bis der Tod auf deiner Schwelle steht, um wirklich mit dem Leben anzufangen. Wenn du es vermagst, in dem Tod einen unsichtbaren, aber freundlichen Gefährten auf deiner Lebensreise zu sehen – der dich sanft daran erinnert, nicht bis morgen mit dem zu warten, was du eigentlich tun willst –, dann kannst du lernen, dein Leben wirklich zu leben und nicht nur einfach dahinzugleiten.

Es ist nicht so wichtig, ob du jung stirbst oder in fortgeschrittenerem Alter. Es kommt darauf an, ob du die Jahre, die dir gegeben waren, wirklich voll gelebt hast. Jemand kann in achtzehn Jahren mehr gelebt haben als ein anderer in achtzig. Leben soll dabei nicht heißen, krampfhaft eine Vielfalt und Quantität von Erfahrungen aufzuhäufen, die Wert nur in der Vorstellung anderer haben. Leben soll hier vielmehr heißen, jeden Tag so zu verbringen, als sei es der letzte. Wir meinen damit, Frieden und Stärke zu finden, um mit den Enttäuschungen und dem Schmerz des Lebens fertig zu werden, und zugleich nach Möglichkeiten zu suchen, um die Freuden und das Entzücken am Leben erreichbarer zu machen, sie zu vergrößern und zu erhalten. Eine dieser Möglichkeiten liegt darin, sich auf einige Dinge zu konzentrieren, die man auszublenden gelernt hat – das Entstehen neuer Blätter im Frühling zu bemerken und sich daran zu freuen, die Schönheit der Sonne zu bewundern, wie sie jeden Morgen aufgeht und jeden Abend versinkt, Trost zu finden im Lächeln oder in der Berührung eines anderen, das Größerwerden eines Kindes mit Staunen zu beobachten und teilzunehmen an dem wunderbar unkomplizierten, enthusiastischen und vertrauensvollen Zugang zum Leben, den Kinder haben.

Freude haben an der Möglichkeit, jeden neuen Tag neu zu erleben, heißt sich auf die endgültige Annahme des Todes vorzubereiten. Es sind jene, die nicht wirklich gelebt haben, die Vorhaben unerledigt gelassen haben, Träume unerfüllt, Hoffnungen zerstört und die die wirklichen Dinge im Leben an sich haben vorüberziehen lassen (andere zu lieben und von ihnen geliebt zu werden, zum Glück und Wohlbefinden anderer Menschen positiv beizutragen, herauszufinden, wer das denn wirklich ist: man selbst), die am meisten zögern, sich auf den Tod einzulassen. Es ist niemals zu spät, mit dem Leben und dem Reifwerden zu beginnen. Das ist die Botschaft, die in jedem Jahr in Dickens »Weihnachtsgeschichte« deutlich wird – sogar der alte Scrooge, der Jahre damit vertan hat, ein Leben ohne Liebe und Sinn zu führen, ist durch seine willensmäßige Entscheidung in der Lage, den Weg, auf dem er sich befindet, zu verlassen. Reifen ist die menschliche Weise des Lebens, und der Tod ist die letzte Stufe in der Entwicklung menschlicher Wesen. Um das Leben jeden Tag richtig einzuschätzen und nicht nur in der Zeit, wo der Tod nahe bevorsteht, muß man den eigenen unvermeidlichen Tod fest vor Augen haben und akzeptieren. Wir müssen es zulassen, daß der Tod den Kontext für unser Leben liefert, denn in ihm liegt die Bedeutung des Lebens und der Schlüssel zu unserer Reife.

Denke an deinen eigenen Tod. Wieviel Zeit und Energie hast du darauf verwandt, deine Gefühle, Überzeugungen, Hoffnungen und Befürchtungen über das Ende deines Lebens zu überdenken? Was wäre, wenn man dir sagte, du hättest nur noch eine begrenzte Zeit zu leben? Würde es deine gegenwärtige Lebensweise verändern? Gibt es Dinge, die vor deinem Tode zu tun für dich eine Notwendigkeit wäre? Hast du Angst vor dem Sterben? Vor dem Tod? Kannst du die Quelle deiner Ängste identifizieren? Denke an den Tod von jemandem, den du liebst. Über was würdest du mit einem Sterbenden reden, den du liebst? Wie würdest du die Zeit mit ihm verbringen? Bist du vorbereitet, dich mit allen gesetzlichen Einzelheiten zu befassen, die den Tod eines Verwandten betreffen? Hast du mit deiner Familie über den Tod und das Sterben gesprochen? Gibt es Dinge, emotionale oder praktische, von denen du meinst, es wäre nötig, sie mit deinen Eltern, den Kindern, den Geschwistern vor deinem eigenen Tod oder dem ihren zu regeln? Welche Dinge auch immer dein persönliches Leben sinnvoller machen würden – tue sie jetzt, denn du wirst sterben. Vielleicht wirst du nicht die Zeit oder die Energie haben, wenn sich das unwiderrufliche Ende ankündigt.

In diesem Buch hat Dr. Elisabeth Kübler-Ross (die »Tod-und-Sterben-Dame«, als die sie bekannt ist) eine Vielfalt von Ansichten zum Thema Tod und Sterben gesammelt, die dir eine Orientierung geben werden bei deiner Suche nach der Bedeutung von Leben und Tod. Ob du nun ein Patient bist, der im Sterben liegt, ein Verwandter, Freund oder Geliebter von jemandem, der stirbt, Angehöriger einer der Pflegeberufe, die mit Sterbenden zu tun haben, oder einfach jemand, der lernen möchte, in einem umfassenderen Sinn zu leben durch das bessere Verständnis der Bedeutung des Todes – dieses Buch liefert Einsichten, die dir helfen sollten, Frieden in Leben und Tod zu finden.

Frau Dr. Kübler-Ross läßt uns teilnehmen an den Erfahrungen ihres eigenen Lebens, die ihr die Orientierung und die Stärke gegeben haben, die notwendig sind, um unsere Augen und unsere Herzen für die Realitäten des Todes und des Sterbens zu öffnen. Aus Diskussionen des Problems aus der Sicht von Pfarrern und Rabbis, Ärzten, Krankenschwestern, Beerdigungsunternehmern und Soziologen, aus der Darstellung der Ansichten von Tod und Sterben in anderen Kulturen, aus der Mitteilung der Gefühle von Menschen, die sterben oder den Tod derer erfahren, die sie lieben, hat die Autorin eine Sammlung von Perspektiven über den Tod und das Sterben zusammengestellt und miteinander verbunden, die die Gedanken und die Gefühle über diesen Gegenstand stimulieren sollten. Wer du auch bist und in welchem Stadium der Reife du dich befindest, du wirst hier etwas finden, den Weg deiner Lebensreise zu erhellen.

Niemand von uns weiß, was uns nach diesem Leben erwartet. Aber du wirst die Gedanken, die Meinungen und Hoffnungen anderer Kulturen und von Angehörigen unserer eigenen Kultur hören. Du wirst die Entwicklung einer Frau beobachten können, die die Erfahrung des Todes ihres einzigen Sohnes mitteilt. Du wirst lernen, wie einige einen Weg gefunden haben, sich durch ihren Kummer über den Tod einer geliebten Person hindurchzuarbeiten, und du wirst Möglichkeiten sehen, dir selbst und andern in diesem Prozeß zu helfen. Du wirst erfahren, auf welche Faktoren es dabei ankommt, wie eine Person dem Tod begegnet, und Einsicht gewinnen in die Art von Persönlichkeitsmerkmalen, die Einwilligung in jenes Schicksal vorhersehen lassen. Und du wirst sehen, wie alle diese Dinge im alltäglichen Leben angewandt werden können, selbst wenn noch fünfzig Jahre auf dieser Erde vor dir liegen.

Aber es genügt nicht, einfach mit dem Intellekt diesen Gegenstand des Todes und des Sterbens zu behandeln. Du mußt über die Worte hinausgehen und dich auf die Gefühle einlassen, die jene Worte bei dir hervorrufen. Während der Lektüre ist es wichtig, daß du dich einstimmst und deine eigenen tief innerlichen Reaktionen auf die vorgelegten Berichte überprüfst. Dann denke über diese Gefühle nach, die sowohl dein Verhältnis betreffen zu dem Tod anderer – von Freunden, in der Familie oder von sterbenden Patienten, denen du beruflich einen Dienst erweist – als auch zu deinem eigenen Tod und schließlich zu der Weise, wie du dein Leben lebst.

Wegen des Mutes und der Liebe zur Menschlichkeit, die Elisabeth Kübler-Ross damit bewiesen hat, daß sie das vielfach gemiedene Thema des Todes und des Sterbens ins öffentliche Bewußtsein gehoben hat, erhalten wir alle hier eine unvergleichliche Möglichkeit: die wirkliche Bedeutung des Lebens dadurch zu entdecken, daß wir uns über die Stellung des Todes im Spektrum der menschlichen Entwicklung klar werden und dadurch lernen, die Gabe unseres Lebens so glücklich und produktiv wie möglich zu nutzen. Wenn man ein Problem annimmt, macht man, gleichgültig, ob man es lösen kann oder nicht, einen Fortschritt. Tod ist ein Problem unserer Gesellschaft. Wir fordern dich auf, die Herausforderung und die Möglichkeit zu akzeptieren, die dir jetzt durch die direkte Konfrontation mit diesem Problem gegeben ist. Du wirst durch diese Erfahrung reifer werden.

 

Joseph L. Braga

Laurie D. Braga

 

 

 

Elisabeth Kübler-Ross hat nicht nur die von ihr namentlich gezeichneten Beiträge (S. 21–43 und S. 259–272) verfaßt, sondern auch die Einleitungen zu den einzelnen Kapiteln und die kursiv gesetzten Einführungstexte zu jedem Beitrag.

 

Joseph und Laurie Braga sind die Herausgeber der Buchreihe »Human Development Books«, innerhalb derer das vorliegende Werk in den Vereinigten Staaten von Amerika erschienen ist.

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1. Kapitel

Reif werden zum TodeEine Entdeckungsreise

Elisabeth Kübler-Ross

Erfahrungen und Erkenntnisse

Wenn dieses Buch erscheint, werden über zehn Jahre seit meinem ersten Interview mit einem jungen sterbenden Patienten vor einer Gruppe von Medizinstudenten in Colorado vergangen sein.

Es war auf gar keine Weise geplant oder vorgesehen, und zu jener Zeit hatte niemand auch nur die leiseste Ahnung, daß diese Art von »Tod-und-Sterben-Seminar« allgemein bekannt und im ganzen Land und in Übersee nachgeahmt werden würde. Als Ausländerin habe ich niemals daran gedacht, ein Buch über diesen Gegenstand zu schreiben. Ich versuchte einfach, meinen Beruf als neuer Lehrer für Psychiatrie gut auszufüllen. Ich kam aus Europa und war betroffen über das mangelhafte Verständnis und die fehlende Wertschätzung der Psychiatrie unter den Medizinstudenten. Ich muß zugeben, daß viele der Lehrer einfach langweilig waren und nur den Inhalt von psychiatrischen Lehrbüchern mit den jungen Medizinstudenten repetierten, die besser daran getan hätten, die Originaltexte selbst zu lesen. Andere überfluteten die Studenten mit einer Terminologie, die für sie keinen Sinn besaß. So kam es, daß die Studenten einfach abschalteten oder in den Vorlesungen dösten.

Psychiatrie unter einem ausgezeichneten und bewunderten Professor (Dr. Sydney Margolin, Denver) zu lehren war für mich eine Herausforderung. Ich suchte nach Möglichkeiten, das Interesse meiner Studenten während der zweistündigen Vorlesung wach zu halten. Da ich die Absicht hatte, nicht über psychiatrische Krankheiten zu sprechen, kam mir der Gedanke, daß Tod und Sterben einen interessanten Gegenstand darstellten, mit dem letzten Endes alle Studenten in Kontakt kommen würden. Ich suchte verzweifelt nach Literatur, aber da gab es wenig zu finden. Schließlich stellte ich meine erste Vorlesung zusammen, eine Kompilation aus Ritualen und Sitten in anderen Kulturen, über die Weisen, mit dem Tod fertig zu werden: von den amerikanischen Indianern bis hin zum modernen Menschen des Westens. Um diese Darstellungen auf ein klinisches und bedeutsameres Niveau zu heben, ließ ich der Vorlesung ein Interview mit einem sechzehnjährigen Mädchen folgen, das unter akuter Leukämie litt, und ich forderte einige Medizinstudenten auf, Fragen an sie zu richten. Den Hauptteil des Gespräches bestritt die Patientin. Die Studenten waren erschrocken, nervös, steif oder sehr akademisch – sie zeigten mehr Beklemmungen als das sterbende Mädchen.

Zu meiner Erleichterung schlief niemand von den Studenten ein. Sie saßen schweigend dabei und blieben versunken in ihren eigenen Gedanken und Gefühlen über das Mysterium des Todes, dem sie sich als zukünftige Ärzte stellen mußten (obgleich ihnen das noch nicht aufgegangen war bis zu dem Augenblick, wo sich ihnen das Mädchen mitteilte).

Viel später in Chicago, wo diese Seminare regelmäßig jede Woche stattfanden, beschrieb eine Medizinstudentin sehr treffend, was sie in all den Jahren ihrer Ausbildung niemals bemerkt hatte: »Trotz aller meiner Erfahrungen als Medizinstudent bei dramatischen und verzweifelten Wiederbelebungsversuchen kann ich mich kaum daran erinnern, einen Toten gesehen zu haben. Das liegt zweifellos zum Teil daran, daß ich das Verlangen hatte, so wenig wie möglich mit Leichen zu tun zu haben. Zum Teil jedoch liegt es auch an dem bemerkenswerten Akt des Verschwindenlassens, mit dem Leichen sorgfältig und eilig außer Sicht geschafft werden. In all den Stunden bei Tag und Nacht, die ich in diesem Hospital verbrachte, habe ich niemals auch nur eine Kleinigkeit der ›Prozession‹ gesehen vom Herausholen der Bahre aus dem Zimmer des Patienten bis zu seinem Ziel, sei es die Pathologie oder die Leichenhalle.«

Viele Jahre hindurch habe ich immer wieder sterbende Patienten gebeten, unsere Lehrer zu sein. Sie taten das freiwillig und waren sich durchaus bewußt, daß viele Studenten sie beobachten und ihnen zuhören würden. Um größere Privatheit zu erreichen, saßen wir hinter einem durchsichtigen Spiegel, wurden gesehen und gehört von Ärzten, Schwestern, Geistlichen, Sozialarbeitern und anderen, die sich mit sterbenden Patienten beschäftigten. Einige der Beobachter konnten kaum die Angst ertragen, die diese Gespräche in ihnen hervorriefen. Andere waren erfüllt von Scheu und Bewunderung über den Mut und die Offenheit dieser Patienten. Ich glaube nicht, daß irgendeiner von den Hunderten von Studenten, die dabeigesessen und zugehört haben, unberührt geblieben ist. Alte Erinnerungen kamen an die Oberfläche, begleitet von einem neuen Bewußtsein der eigenen Ängste, die verstanden, aber nicht verurteilt werden wollten. Wir alle machten in vieler Hinsicht Fortschritte, vielleicht die wichtigsten in bezug auf die Bewertung des Lebens selbst.

Einer meiner einfühlsamsten Studenten berichtete von diesen Erinnerungen: »Ich erinnere mich an G., einen meiner besten Freunde. Ich war zwanzig, als G. ins Krankenhaus ging wegen einer Routineuntersuchung. Er bedeutete mir sehr viel, besonders während meiner Teenagerjahre. Ich glaube, wie alle Teenager war ich der Meinung, daß meine Eltern mich nicht verstanden, und irgendwie verstand G. mich immer. Ich traf ihn als Ministranten in der Kirche. Als ich älter wurde, schien er der einzige Mensch zu sein, mit dem man wirklich reden konnte.«

Dieser Student beschrieb später, wie er Musik studierte, wie eine schwere Krankheit ihn zwar am Leben ließ, aber ohne Gesangsstimme, und wie es G. war, der ihn dazu ermutigte, niemals aufzugeben. Er gewann seine Stimme wieder, aber dann sah er sich einer anderen Tragödie gegenüber: »Im nächsten Herbst kam G. ins Krankenhaus zu einer Gewebsentnahme. Es war Krebs. Der Arzt sagte ihm, daß er vielleicht noch sechs Monate zu leben hätte. Ich besuchte ihn in den folgenden Monaten regelmäßig zu Hause, und allmählich gelangte die Wahrheit auch zu mir. Er wurde dünner und schwächer und war schließlich ans Bett gefesselt, ein Skelett mit weißen Haaren. Ich konnte es nicht mehr länger ertragen und verließ ihn. Ich sah ihn als Lebenden nie wieder. Er starb einige Wochen später. Noch im Tod erinnerte er sich an mich. Er wußte, daß ich als jüngeres Mitglied des Chores niemals Solo-Arien würde singen können, und er bestimmte in den Anweisungen für sein Begräbnis, daß ich dabei singen sollte. Sein Begräbnis war ein festliches Ereignis. Menschen, denen er irgendwann einmal geholfen hatte, kamen von überallher zusammen. Ich konnte nicht glauben, daß ein einzelner Mann im Leben so vieler Menschen eine Rolle spielen konnte. Und ich glaube, ich habe mir niemals verziehen, daß ich ihn in jenen letzten Wochen im Stich gelassen habe.«

Der Student, der diese Erinnerungen vor wenigen Jahren aufschrieb, ist jetzt einer der hilfreichsten Pfarrer, die ich kenne, für Schwerkranke oder Hinterbliebene. Durch solche Verluste und dadurch, daß wir Sorge um andere Menschen tragen, lernen wir mit ihnen, dem Tod ins Auge zu sehen statt ihn zu verleugnen.

Eine junge Sozialarbeiterin beschrieb uns die Gründe, warum sie an den Tod-und-Sterben-Seminaren teilnehmen wollte. Sie hatte Jahre hindurch mit älteren Menschen gearbeitet und sich bei dieser Arbeit niemals wohl gefühlt, bis sie an den Seminaren teilnahm und hörte, was unsere Patienten zu sagen hatten: »Einer der Hauptgründe dafür, warum viele von uns es vermeiden, vom Tod zu reden, ist das schreckliche und unerträgliche Gefühl, daß es nichts gibt, was man sagen oder zum Trost des Patienten tun könnte. Ich hatte ein ähnliches Problem bei der Arbeit mit vielen alten und hinfälligen Patienten in den vergangenen Jahren. Immer hatte ich das Gefühl, hohes Alter und Krankheit seien so vernichtend, daß ich, obgleich ich Hoffnungen vermitteln wollte, nur Verzweiflung brachte. Ich hatte den Eindruck, das Problem der Krankheit und des Todes sei so unlösbar, daß ich diesen Menschen nicht helfen könnte. Ich glaube, dieses Seminar hat mich dazu gebracht, einzusehen, daß Leben nicht in geistiger und physischer Agonie enden muß. Dadurch, daß ich etwa Herrn N. (einem unserer interviewten Patienten) zuhörte, wie er den Tod seines Schwiegervaters als etwas nahezu Schönes beschrieb, und dann sah, wie er selbst so gut mit dem eigenen nahenden Tod fertig wurde, gewann ich das Gefühl, daß es tatsächlich möglich ist, die Krise des Sterbens auf eine würdige Weise zu meistern. Bei der Arbeit mit jedem Patienten muß es ein Ziel geben, das beide verfolgen, und den Glauben, daß Lösung oder Trost möglich ist. Aus den Beobachtungen der Interviews scheint es mir, als ob das Zuhören selbst einen Trost für diese Patienten bedeutet. Eine weitere große Hilfe, die nach meinem Eindruck ein Sozialarbeiter der Familie eines sterbenden Patienten geben kann – nicht in der Weise, die die Fachliteratur betont (Haushaltsführung, finanzielle Hilfe usw.) –, liegt darin, sie darin zu unterstützen, sich besser dem Patienten mitzuteilen. Herr N. wollte mit seiner Frau über seine Krankheit sprechen und sie mit ihm. Aber beide hatten Angst, dem anderen Schmerz zu bereiten, und sie wußten nicht, wieviel der andere wußte. Mit Hilfe der Gruppe war Frau N. in der Lage, das Thema mit ihrem Mann anzusprechen, und dann konnten sie sich einander mitteilen und zu einer Quelle des Trostes füreinander werden – anstatt, daß jeder für sich allein litt. Das Seminar war sicherlich eine Hilfe für mich, um dieses zu begreifen, daß Menschen nicht alleine leiden müssen, wenn sie sterben. Es ist möglich, ihnen zu helfen, ihre Gefühle mitzuteilen und auf diese Weise Erleichterung und Frieden zu finden.«

Viele unserer Patienten gelangten aus einem Stadium des Schocks und des Unglaubens zu der immer wiederkehrenden Frage: »Warum ich?« Viele unserer sterbenden jungen Menschen versuchten, in ihrem Leiden einen Sinn zu sehen. Victor Frankl hat einmal geschrieben: »Wir wollen einmal überlegen, was wir tun können, wenn ein Patient fragt, was der Sinn des Lebens ist. Ich habe Zweifel, ob ein Arzt diese Frage im allgemeinen beantworten kann. Denn der Sinn des Lebens unterscheidet sich von Mensch zu Mensch, von Tag zu Tag und von Stunde zu Stunde. Worauf es daher ankommt, ist nicht der Sinn des Lebens im allgemeinen, sondern vielmehr der besondere Sinn eines menschlichen Lebens zu einem gegebenen Zeitpunkt.«

Später macht er deutlich, was jeder von uns öfter begreifen sollte: »Da jede Lebenssituation eine Herausforderung an den Menschen darstellt und ihm ein Problem zur Lösung vorlegt, könnte die Frage nach dem Sinn des Lebens tatsächlich umgekehrt werden. Letzten Endes sollte der Mensch nicht danach fragen, was der Sinn des Lebens sei, sondern vielmehr begreifen, daß er es ist, der befragt wird. Mit einem Wort, jeder Mensch wird vom Leben befragt; und er kann dem Leben nur antworten, indem er für sein eigenes Leben antwortet. Dem Leben kann er nur antworten, indem er sich verantwortlich verhält.«

Wenn man Hunderte von sterbenden Patienten gesehen hat, wie sie durch die Krise ihrer Krankheit weiterkommen, verantwortlich werden für ihr eigenes Leben, fragt man sich, ob Frankl selbst dieses Maß der Weisheit und des Verständnisses, des Mitleids und des inneren Reichtums erreicht hätte, wenn er nicht in den Todeslagern des Zweiten Weltkrieges Tausende von Malen die Erfahrung der Konfrontation mit dem Tode gemacht hätte! Ein junger Pfarrer, der seinen Pflichten als Krankenhaus-Seelsorger mit sehr gemischten Empfindungen entgegensah, resümierte seine Empfindungen nach dem Tod-und-Sterben-Seminar, für das er sich zur Vorbereitung auf seinen Beruf eingeschrieben hatte:

 

»Ich betrachte diese Möglichkeit als eine völlig neue Erfahrung für mich, und zwar eine, der ich mit einem Gemisch aus Aufregung, Neugier und Schrecken entgegensehe. Ich will fünf ›Regeln‹ in diese Erfahrung einbringen, ›Regeln‹, von denen ich weiß, daß sie sich durch die Erfahrung, die ich mit ihnen machen werde, verändern werden:

 

Nummer 1: Konzentriere dich auf den sterbenden Patienten nicht als auf einen Fall einer Krankengeschichte, sondern als auf einen Partner in einer Mensch-zu-Mensch-Beziehung. Diese Haltung macht Einstellungen erforderlich, die mir neu sind. Zunächst muß ich versuchen, ich selbst zu sein. Wenn der sterbende Patient mich ablehnt, aus welchem Grund auch immer, muß ich dieser Ablehnung standhalten. Ebenso muß ich die andere Person sie selbst sein lassen, ohne meine eigenen Gefühle der Ablehnung oder der Feindseligkeit auf sie zu projizieren. Da der Patient ein menschliches Wesen ist, gehe ich davon aus, daß er dieselbe Art von Liebe und Fürsorge nötig hat wie ich, wenn ich an seiner Stelle wäre.

 

Nummer 2: Ehre die Heiligkeit des menschlichen Wesens. So wie ich ›geheime‹ Wertvorstellungen, Ängste und Freuden habe, so auch er. Sein Gott, sein Christus und sein Wertsystem sind ebenso wie die meinen in einem langen Leben der Neugierde, des Kampfes und der Hoffnung gewonnen worden. Ich glaube daran, daß wir, wenn wir miteinander über uns selbst reden, etwas Gemeinsames finden werden. Und diese Gemeinsamkeit ist jener ›bewunderungswürdige Bestandteil‹, der Menschen in die Lage versetzt, einander an ihrem Leben Anteil haben zu lassen. Diese Anteilhabe ist die Verwirklichung unseres Menschseins.

 

Nummer 3: Die Heiligkeit des Individuums zu ehren, zwingt den Berater, den Patienten sagen zu lassen, was er empfindet. In dieser Situation muß der Pfarrer ›den Patienten er selbst sein lassen‹. Diese einfache Regel bedeutet nicht, allen Anforderungen des Patienten zu entsprechen und zum Spielball aller seiner Wünsche zu werden. Ist der Berater ehrlich, wird er seine Vorurteile deutlich sehen und sie akzeptieren als Bestandteil seiner Persönlichkeit und sich nicht für sie entschuldigen oder sie zu verbergen suchen. Die Annahme, daß ›ich weiß, was für den Patienten das Beste ist‹, ist falsch. Der Patient weiß das am besten.

 

Nummer 4: Ich muß mich ständig fragen: Welche Erwartungen wecke ich bei dem Patienten und mir selbst? Kann ich einsehen, daß ich weder das Leben dieser Person zu retten noch sie in einer unerträglichen Situation glücklich zu machen vermag, dann glaube ich, daß ich mich genau wie ein Mensch verhalte und getrost aufhören kann, beides zu versuchen. Wenn ich meine eigenen Gefühle der Frustration, des Zorns und der Enttäuschung zu verstehen lerne, dann kann ich diese Gefühle in konstruktiver Weise benutzen. Gerade in dieser Einsicht liegt menschliche Weisheit.

 

Nummer 5: Meine fünfte und letzte Regel, die Regel, die alle vier umfaßt, ist ausgedrückt in dem Gebet der anonymen Alkoholiker: Gott gebe mir die innere Heiterkeit, jene Dinge, die ich nicht ändern kann, zu akzeptieren, er gebe mir den Mut, die Dinge zu verändern, die ich verändern kann, und die Weisheit, eines vom anderen zu unterscheiden.«

 

Worauf wir alle während der ersten schwierigen und einsamen Jahre unserer Tod-und-Sterben-Seminare gehofft haben, ist vielleicht am besten in diesem Gebet zusammengefaßt. Studenten kamen aus zahlreichen Studienrichtungen: Medizin, Kinderpflege, Sozialarbeit, Soziologie und Philosophie, Theologie und Psychologie. Ich bin sicher, jeder kam aus anderen Gründen. Einige fühlten sich tatsächlich unwohl bei ihrer Arbeit mit sterbenden Patienten und suchten ihre eigenen Frustrationen und Beklemmungen zu verstehen. Andere wußten, daß es keine Examen gab, und kamen aus reiner Neugier; wieder andere kamen und »wußten nicht warum«, aber offensichtlich mit irgendeinem ungelösten Kummer oder einer Todeserfahrung in ihrem eigenen Leben. Die Studenten stellten niemals ein Problem dar. Sie füllten den Veranstaltungsraum lange vor Beginn und setzten oft ihre Diskussion der Interviews fort, wenn ich schon längst den Raum verlassen hatte.

Auch die Patienten, die man gebeten hatte, teilzunehmen, stellten kein Problem dar. Sie waren oft sehr dankbar dafür, »nützlich« sein zu können, dankbar für das Gefühl, daß jemand sie benötigte und nicht umgekehrt. Wenn ich anfing zu reden, überwanden sie sehr schnell ihre anfängliche Scheu und ließen uns recht bald Anteil haben an der unvorstellbaren Einsamkeit, die sie empfanden. Fremde Menschen, die wir niemals zuvor getroffen hatten, teilten uns ihren Kummer, ihre Isolierung und ihre Unfähigkeit mit, mit ihren nächsten Verwandten über ihre Krankheit und den Tod zu reden. Sie drückten ihren Ärger über die Ärzte aus, die sich nicht auf eine Ebene mit ihnen stellten, über die Pfarrer, die sie mit der nur allzu oft wiederholten Phrase »es ist Gottes Wille« zu trösten suchten, und über ihre Freunde und Verwandten, die sie mit dem unvermeidlichen »nimm’s nicht so schwer, so schlimm ist es doch gar nicht« besuchten. Wir lernten rasch, uns mit ihnen zu identifizieren, und wir entwickelten eine größere Sensibilität für ihre Bedürfnisse und Befürchtungen als jemals zuvor. Sie lehrten uns eine Menge über das Leben und das Sterben, und sie freuten sich darüber, daß wir sie baten, unsere Lehrer zu sein.

Unser Hauptproblem waren die Ärzte. Anfangs ignorierten sie das Seminar. Später verweigerten sie uns die Erlaubnis, ihre Patienten zu befragen. Oft wurden sie ängstlich und feindselig, wenn wir uns an sie wandten. Viele Kollegen antworteten mir höchst empört: »Sie können doch diesen Patienten nicht interviewen. Er stirbt nicht. Er könnte sogar in die Lage kommen, noch einmal nach Hause zu gehen.« Es lag auf der Hand, daß sie den Kern des Seminars gar nicht verstanden hatten. Wir hatten gar nicht den Wunsch, mit sterbenden Patienten während des letzten Tages ihres Lebens zu sprechen. Wie hätten wir denn im allerletzten Moment Familien wieder zusammenbringen können? Wie hätten wir die Einsamkeit und die Furcht unserer Patienten erleichtern können, wenn es uns nicht gestattet gewesen wäre, sie schon vor ihrem akuten Sterben zu besuchen? Wie hätten wir unsere Studenten darüber belehren können, was ein Patient mitmacht, wenn wir ihn nur in seinen wenigen letzten Tagen gesehen hätten? Wir konnten unseren Kollegen nicht verständlich machen, daß wir alle sterben – daß wir alle unsere Begrenztheit ins Auge fassen müssen, lange bevor wir tödlich krank sind. Das ist vielleicht die weitreichendste Lektion, die wir von unseren Patienten lernten: Lebe so, daß du nicht zurücksehen und sagen mußt: »Gott, wie habe ich mein Leben vertan!«

Frau M. war 71 Jahre alt. Einer ihrer wiederkehrenden Sätze war: »Könnte ich doch mein Leben noch einmal leben und dabei wissen, was ich jetzt weiß, dann würde ich es ganz anders anfangen.« Als sie näher auf das Thema einging, wurde deutlich, daß es ihr so vorkam, als sei ihr ganzes Leben zum größten Teil vertan. Ihr Leben war erfüllt gewesen von Bedrängnissen aufgrund ihrer Fehlschläge in der Ehe, verschiedener beruflicher Veränderungen und vieler Umzüge. Im Rückblick auf ihr Leben sah sie sich jetzt im Hospital entwurzelt, ohne Freunde und sinnvolle Beziehungen, die ihr etwas bedeuteten, und ihre Furcht wurde vergrößert durch das Bewußtsein ihrer begrenzten Lebenserwartung. Mitten in diese Leere und diese Sorge kam die Einladung in unser Seminar. Jemand brauchte sie. Wir baten sie, uns zu sagen, was sie verändern würde, wenn sie noch einmal die Möglichkeit dazu hätte. Wir wurden in ihr Leben hineingezogen, und sie begann, uns zu vertrauen. Wir wurden Freunde. Wir fingen an, uns auf die Besuche bei ihr zu freuen. Und wir verließen sie bereichert und in dem Bewußtsein, daß wir heute leben sollten und nicht erst morgen oder übermorgen, damit wir nicht alleine stürben. Glücklicherweise hatte sie einen Arzt, der uns vertraute und uns erlaubte, sie vor ihrem allerletzten Tag zu besuchen.

Eine wirkliche Veränderung trat ein, als unser Seminar »berühmt« wurde. Mehrere Jahre hindurch hatte ich meine Tod-und-Sterben-Seminare nahezu unbemerkt gehalten; sie standen auf keinem Studienplan, wurden aber dennoch von Studenten stark besucht. Nachdem daraus jedoch ein offizieller Kurs geworden war, der von der Presseabteilung der Universität bekanntgemacht wurde, erregte das die Neugier der Magazine wie »Time« und »Life«, und deren Redakteure besuchten meinen Veranstaltungsraum. Damals konnte ich noch nicht wissen, daß der Artikel in »Life« Tausende von Leben verändern sollte, darunter auch mein eigenes.

Es war an einem kalten und regnerischen Herbsttag, als ich Susanne interviewte, ein hübsches Mädchen, 21 Jahre alt, die in unserem Krankenhaus mit akuter Leukämie lag. Sie sprach offen über ihren Wunsch, kein Begräbnis zu haben und ihren Körper einem medizinischen Institut zu vermachen. Sie sprach über ihren Verlobten, der sie offenbar im Stich gelassen hatte, als sich die Diagnose bestätigt hatte. (Obgleich sie diese Tatsache immer noch verleugnete.) Und sie erwähnte auch, ihr sei bewußt, daß ihre Tage gezählt waren.

Tief beeindruckt von ihrer Offenheit und Furchtlosigkeit, lud ich sie ein, an meinem Seminar teilzunehmen, so daß meine Studenten sie hören und von ihr lernen konnten. Als wir den Raum, in dem der Kurs stattfand, betraten, eröffnete sie das Gespräch mit der Feststellung: »Ich weiß, meine Chancen sind eins zu einer Million. Heute möchte ich nur über diese eine Chance reden.« Überflüssig zu sagen: Wir wechselten das Thema des Seminars an diesem Tag und sprachen »über das Leben«. Wir fragten sie einfach, wie es denn sein würde, wenn sie leben könnte. Sie ließ uns Anteil nehmen an ihren Hoffnungen, noch im Juni ihren Schulabschluß erreichen und im Juli heiraten zu können. Ihr »Einsatz bei dem Handel« war, daß sie fünf Jahre warten wollte, bevor sie Kinder bekam, damit sie sicher sein konnte, daß sie deren Heranwachsen erleben würde. Zufällig bemerkte ich, daß die Leute vom »Life«-Magazin hinter dem Beobachtungsschirm waren und ihr erstes und einziges Tod-und-Sterben-Seminar beobachteten. Aber ich hatte keine Zeit, mich um sie zu kümmern. Ich war zu sehr mit Susanne beschäftigt, die die Stärke zu haben schien, ihre eigene begrenzte Lebensspanne fest ins Auge zu fassen, und die zugleich in der Lage war, »in einer vorübergehenden Verleugnung zu leben« und von all den Dingen zu träumen, die ihrem Leben Sinn gegeben hätten. Überflüssig zu sagen: Wir nahmen einfach an ihren Träumen Anteil.

Nach der ungeheuren Publizität, die wir durch »Life« erhielten, war mein eigenes Leben nie wieder dasselbe. Meine erste Reaktion war die Sorge um Susanne. Ich hatte keine Vorstellung davon, was sie empfinden würde, wenn sie Seiten über Seiten mit ihren Bildern in einem international bekannten Magazin sehen würde, ein wahrhaftiges Zeugnis ihres Mutes und ihrer inneren Größe. Die ersten Exemplare des Magazins wurden während der Nacht an mich geliefert. Ich mußte bei ihr sein, bevor das Magazin am Zeitschriftenstand des Krankenhauses auslag. In den frühesten Morgenstunden brach ich zum Krankenhaus auf und sah voller Angst ihrer Reaktion entgegen. Sie blickte flüchtig auf ihr Bild und rief aus: »Lieber Himmel, das ist aber kein gutes Bild von mir!« Wie gesund und normal war sie in all diesem Trubel! Ihre plötzliche Bekanntheit machte wenig Eindruck auf sie. Sie konzentrierte sich einfach auf die Hoffnung, noch einmal nach Hause zu kommen und – wie sie sagte – »jeden Augenblick voll zu genießen«. Sie verließ das Krankenhaus noch einmal. Sie bekam ihren geliebten kleinen Hund, und sie erlebte jede Minute voll. Ich glaube, Susanne lebte in den wenigen letzten Monaten ihres Lebens mehr als die 71 Jahre alte Frau in sieben Jahrzehnten. Aber Susanne tat noch mehr, dessen sie sich kaum bewußt war: Dadurch, daß sie uns hatte Anteil nehmen lassen, durch den Artikel in »Life«, berührte sie Tausende von Leben in der ganzen Welt. Briefe überfluteten mein Haus aus jeder Ecke der Welt – Briefe des Glaubens, der Liebe, der Anteilnahme, der Hoffnung und der Ermutigung; ein Brief von einem Mann auf dem Weg in den Tod, ein gekritzeltes Stück Papier von einem sehr alten Mann, der seit Jahren keinen Brief mehr geschrieben hatte, Hunderte von Briefen von sterbenden Kindern, Teenagern und Erwachsenen, die Mut aus ihrem Mut gewannen und sie liebten, ohne sie jemals persönlich gesehen zu haben.

Nach Susannes Tod am 1. Januar 1970 schien die Welt verändert. Ich bin nicht sicher, ob es ihr unpersönlicher einsamer Tod auf der Intensivstation war oder die seelische Verlassenheit ihrer Eltern im Wartezimmer in jener Nacht, die uns alle aufrührte. Ich faßte den Entschluß, über den Tod und das Sterben zu reden, damit wir einige der Einstellungen verändern könnten, die in dieser den Tod verleugnenden Gesellschaft vorherrschen.

Nach ihrem Tod war ich nicht länger mehr beleidigt, ja noch nicht einmal beeindruckt durch die negative und feindliche Einstellung der Ärzte. Ich begann, ihre Seite ebenso zu sehen wie die unsere. Ich begann einzusehen, daß unsere medizinischen Ausbildungsstätten sie nahezu ausschließlich in der Wissenschaft der Medizin vorbereiten und ihnen nur wenig Hilfe in der medizinischen Kunst geben. Ich machte beträchtliche Anstrengungen, an die Medizinstudenten heranzukommen, die bereit und willens waren, mehr über ihre Rolle in der Fürsorge für Patienten zu lernen, die jenseits medizinischer Hilfe sind. Bei jedem Interview begleiteten wir den Patienten zurück in sein Zimmer, oder wir setzten die Diskussion darüber, was wir gelernt hatten, unter uns fort. Plötzlich teilten Geistliche und Ärzte ihre eigenen Beklemmungen mit. Krankenschwestern sprachen zum erstenmal über ihre Frustrationen, darüber, daß ihre Freiheit, dem Patienten das zu sagen, was sie wußten, so begrenzt war. Sozialarbeiter und Beschäftigungstherapeuten diskutierten ihre Ängste und Bedrängnisse, und schließlich befanden wir uns in einem interdisziplinären Dialog, der um des Ärztestabes und der Patienten willen so notwendig ist.

Weiterhin erreichte uns Post. Einladungen kamen von überallher im Land, in Krankenhäusern, Seminaren, Schulen für Pflegepersonal und anderen Institutionen zu sprechen. Höhere Schulen folgten, und schon nach kurzer Zeit schien der Markt überflutet zu sein mit Büchern und Artikeln über die Bedürfnisse sterbender Patienten. Filme und Video-Aufzeichnungen wurden gemacht, und nahezu jedes theologische Seminar im Land nahm einige Aspekte des Dienstes an sterbenden Patienten in seinen Ausbildungsplan auf.

Es sind nun über 10 Jahre seit meiner ersten Vorlesung über den Tod und das Sterben vergangen. Während des letzten Jahres bin ich beinahe 400000 Kilometer in den Vereinigten Staaten, in Kanada und Europa gereist. Selbst aus Ländern wie Korea haben mich Einladungen erreicht – meine eigenen persönlichen Bedürfnisse und die Bedürfnisse meiner Kinder und meiner Familie haben mich gehindert, sie anzunehmen. Mich haben mehr Briefe, als ich zählen kann, von sterbenden Patienten, von Hinterbliebenen und von Angehörigen der helfenden Berufe erreicht, Briefe mit zutiefst persönlichen Ausdrücken der Liebe und der Furcht, der Hoffnung und der Verzweiflung, des Verständnisses und des Bewußtseins, dem eigenen Tod gegenüberzustehen.

Bald werde ich meine Reisen beenden. Ich habe getan, was mir zu tun bestimmt war. Ich habe als Katalysator fungieren können und den Versuch gemacht, in unser Bewußtsein zu heben, daß wir nur dann wirklich leben und das Leben lieben und verstehen können, wenn uns jederzeit deutlich ist, daß wir endliche Wesen sind. Ich brauche nicht zu betonen, daß ich diese Lektionen von meinen sterbenden Patienten gelernt habe, die in ihrem Leiden und Sterben realisierten, daß wir nur das Jetzt haben: »So koste es ganz aus und finde heraus, was dich bewegt, denn kein anderer kann das für dich tun!«

Ich weiß nicht, was die Zukunft für mich bereithält, aber etwas weiß ich: Die Arbeit mit sterbenden Patienten ist nicht morbide und niederdrückend, sondern kann eine der beglückendsten Erfahrungen überhaupt sein, und ich habe das Gefühl, daß ich in den letzten Jahren intensiver gelebt habe als einige Menschen es in ihrem ganzen Leben tun.

Zu diesem Buch

Der Tod ist uns immer nahe und wird uns immer nahe bleiben. Er ist ein untrennbarer Bestandteil der menschlichen Existenz. Deswegen war und ist er immer Gegenstand tiefer Betroffenheit für uns alle. Seit der Morgendämmerung der Menschheit hat der menschliche Geist über den Tod nachgedacht und nach einer Antwort auf seine Geheimnisse gesucht. Denn der Schlüssel zur Frage nach dem Tod öffnet die Tür zum Leben.

In vergangenen Zeiten starben Menschen in einer den meisten von uns unfaßbar großen Zahl als unglückliche Opfer von Krieg und Seuchen. Das normale Leben war eine besondere Gabe des Schicksals, und Tod war ein gefürchteter und schreckenvoller Feind, der ohne Unterschied Reiche und Arme, Gute und Schlechte anfiel. Die Denker der Vergangenheit, fromme Menschen und Repräsentanten der Aufklärung schrieben Bücher über den Tod. Sie versuchten, ihn dadurch seiner Fremdheit und seines Schreckens zu entkleiden, daß sie ihn ernsthaft studierten. Sie versuchten, seinen Sinn im Leben der menschlichen Wesen zu finden. Und dadurch, daß sie den Sinn des Todes verdeutlichten, trugen sie gleichzeitig dazu bei, die Bedeutung des Lebens zu verstehen.

Gegenwärtig ist die Menschheit von Tod und Zerstörung wie niemals zuvor umgeben, und es wird zur wesentlichen Aufgabe, daß wir die Probleme des Todes studieren und versuchen, seine wirkliche Bedeutung zu begreifen. Für jene, die sich um das Verständnis des Todes bemühen, stellt er eine in hohem Maße kreative Kraft dar. Die höchsten spirituellen Werte des Lebens können aus dem Bedenken und dem Studium des Todes entspringen.

Aus der Beschäftigung mit verschiedenen Religionen können wir erkennen, daß der Gedanke des Todes den Kern aller Glaubensbekenntnisse, Mythen und Mysterien darstellt. Der Beitrag über »Die jüdische Auffassung des Todes« und der mit dem Titel »Der Tod, der dem Tod ein Ende macht« (im Hinduismus und Buddhismus) zeigen, wie verschiedene Anschauungen des Todes das Leben jener beeinflussen, die diese Anschauungen teilen. Die durchgehenden Fragen, die Menschen in ihren Mythen und Religionen zu klären suchen, sind jene, die sich auf Wiedergeburt, Auferstehung und das Leben nach dem Tode erstrecken: Gibt es ein anderes Leben nach diesem Leben? Und wenn es eines gibt, welche Beziehung besteht zwischen diesem anderen Leben und der Weise, in der man hier sein Leben lebt? Das ist nicht nur eine Frage nach Gut oder Böse, Himmel oder Hölle, wie sich aus dem Beitrag über den Hinduismus und Buddhismus ergibt. Das ist auch eine Frage nach der Reife und nach dem Grad der Klarheit, der in diesem Leben erreicht wird.

Von den indischen Vedas vor 3000 Jahren bis zu den Aussagen unserer zeitgenössischen Denker ist es das Ziel aller Philosophen gewesen, den Sinn des Todes zu deuten und damit den Menschen zu helfen, ihre Furcht zu überwinden. Sokrates, Platon und Montaigne haben gelehrt, daß Philosophieren nichts anderes heißt, als das Problem des Todes zu studieren. Und Schopenhauer nannte den Tod »den eigentlichen inspirierenden Genius … der Philosophie«.

Thomas Mann sagte einmal: »Ohne den Tod hätte es wohl kaum Dichter auf der Erde gegeben.« Jeder, der sich mit der Dichtung aus allen Jahrhunderten beschäftigt, kann das bestätigen. Das erste Epos, der babylonische Gilgamesch, und das erste bekannte lyrische Gedicht der Weltliteratur, ein Gedicht der Sappho, handeln in der Hauptsache vom Tod. Seither hat es keinen großen Dichter gegeben, der nicht einige seiner schönsten Verse dem Tod gewidmet hat. Ein jeder von ihnen berührte das tiefste Geheimnis des Lebens, indem er über den Tod sprach.

»In mir gibt es keinen Gedanken, den nicht der Tod mit seinem Meißel geformt hat«, sagte Michelangelo. Von den ägyptischen, etruskischen und attischen Anfängen der Kunst bis zum modernen Surrealismus hat der Tod eine wichtige Rolle gespielt.

Und wie in der Philosophie, der Literatur und der Kunst war der Tod auch der große Inspirator der Musik. Die ersten Lieder waren Begräbnisgesänge, und die große Musik eines Bach, Gluck, Mozart, Beethoven, Schubert, Liszt, Verdi, Mahler, Mussorgsky und der modernen Komponisten hat häufig den Tod als Leitmotiv.

Doch der Tod hat auch die ethische Haltung der Menschen stark beeinflußt. Tod war der große Lehrmeister jener edlen Charaktere in der Geschichte, die wir als Heroen, Heilige oder Märtyrer der Wissenschaft verehren.

Ich hoffe, meinen Lesern eine wichtige Botschaft vermitteln zu können: nämlich, daß der Tod nicht eine katastrophale, destruktive Angelegenheit sein muß. Vielmehr kann man ihn als einen der konstruktivsten, positivsten und kreativsten Bestandteile der Kultur und des Lebens ansehen.

Dieses Buch unternimmt den Versuch, den Leser mit einigen anderen Aspekten des Todes und des Sterbens vertraut zu machen, mit den Anschauungsweisen anderer Völker, anderer Kulturen, anderer Religionen und Philosophien. Ich hoffe, daß auf allen diesen Seiten eines deutlich wird: nämlich daß alle Menschen im wesentlichen gleich sind. Sie alle erfahren dieselbe Angst und denselben Kummer, wenn der Tod eintritt. Wir sind endliche kleine Wesen, die einander helfen könnten, wenn wir nur zu zeigen wagten, daß wir Anteil nehmen, wenn wir etwas Mitleid bewahren und nicht zuletzt, wenn wir damit aufhören würden, die Haltung von Richtern einzunehmen, und versuchen würden zu verstehen, warum Menschen sich in der Krise so verhalten, wie sie es tun. Dafür brauchen wir nicht nur ein fundiertes Verständnis des allgemeinen Verhaltens, sondern auch des kulturellen und religiösen Hintergrunds des Individuums.

In den Jahrzehnten, die vor uns liegen, können wir vielleicht ein Universum erleben, eine Menschheit und eine Religion, die uns alle in einer friedlichen Welt vereinen. Es ist die Aufgabe eines jeden von uns, die Grundlagen für diese zukünftige Generation zu legen, indem wir jetzt den Versuch unternehmen, unsere Mitmenschen zu verstehen und um sie besorgt zu sein, gleichgültig welches ihr Bekenntnis, ihre Hautfarbe oder ihre Philosophie ist. Durch die Einsicht, daß letzten Endes wir alle dasselbe Schicksal teilen – daß ebenso sicher, wie wir leben, wir auch sterben werden –, kann uns klar werden, daß wir auch im Leben eine Einheit darstellen müssen, in dem Bewußtsein und der Anerkenntnis unserer Unterschiede und dennoch akzeptierend, daß im Hinblick auf unser Menschsein wir alle gleich sind.

 

Elisabeth Kübler-Ross

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2. Kapitel

Warum ist Sterben so schwer?