Was die Schweiz zusammenhält - Michael Hermann - E-Book

Was die Schweiz zusammenhält E-Book

Michael Hermann

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Beschreibung

Welche Kräfte halten das heterogene Gebilde der Schweiz, bestehend aus Direkter Demokratie, Machtteilung und -begrenzung, Föderalismus, Mehrsprachigkeit etc. als stabile staatliche Einheit zusammen? Gibt es eine spezifische schweizerische Identität und, wenn ja, aus welchen Quellen nährt sie sich? Aus vier Perspektiven nähert sich der Politikwissenschaftler und Geograf Michael Hermann dem ‹Phänomen Schweiz› an. Schicht für Schicht legt er dabei das feinstoffliche Gewebe frei, das dieses Land ausmacht und letztlich auch zusammenhält: «Diese eigentümliche Nationalität» Das Gewebe der Schweiz Von Stadt und Land Ein polarisiertes Land? «Bis heute wird am Nationalfeiertag die schweizerische ‹Willensnation› beschworen. An allen anderen Tagen leben Schweizerinnen und Schweizer ihr Leben, ohne angestrengt nationale Beziehungsarbeit zu leisten. Dennoch schaffen sie ganz nebenbei Kohäsion. Genau dies ist der Zauber des Gewebes der Schweiz.»

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Seitenzahl: 224

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Michael Hermann

WAS DIE SCHWEIZ ZUSAMMENHÄLT

© 2016 Zytglogge Verlag AG, BaselAlle Rechte vorbehaltenLektorat: Thomas GierlCovergestaltung: Melanie BeuggerGesetzt aus: Frutiger LT Std, Garamond Premier Pro, Palatino LT StdGesamtherstellung: Schwabe AG, Muttenz/Basel eISBN (ePUB): 978-3-7296-2098-8 eISBN (mobi): 978-3-7296-2099-5

www.zytglogge.ch

Michael Hermann

WAS DIE SCHWEIZ ZUSAMMENHÄLT

Vier Essays zu Politik und Gesellschaft eineseigentümlichen Landes

Inhalt

Zu diesem Buch

«Diese eigentümliche Nationalität»

Unwahrscheinliches Land

Terre irredente gegen Willensnation

Eine in diesen Bergen schwebende Idee

Abgrenzung und Neutralität

Frühsommer 1940 – die Prüfung

Die Pilet-Projektion

Guisans Inszenierung

Die übersehene Anpassung

Narration der Stärke

Blocher und die Iden des März

Von den Zapoleten zur Kuckucksuhr

Nicht-kommunizierbarer Nationalstolz

Das Biedere und das Monströse

Streit um den Sonderfall

Cool Switzerland

Aus der Festung – in die Festung?

Herz der Finsternis

Zwischen Furcht und Hoffnung

Helvetischer Narzissmus

Das Gewebe der Schweiz

Wie Konfession und Sprache zusammenspielten

Belgisches Kontrastbild

Zentrifugaler Föderalismus

‹Le fossé› wird geschlossen

Jura und der Aufstand der Unterdrückten

Röstigraben mit umgekehrtem Vorzeichen

Kampf gegen Deutschschweizer Dominanz

An der Brünig-Napf-Reuss-Linie

Aufstand der Wohlhabenden

«Schuften für die Faulen»

Eine Union zwischen Hammer und Amboss

Im Gewebe Europas

Institutionalisierter Wille

Von Stadt und Land

Stadt und Land auf Augenhöhe

Johanna Spyris Archetyp

Dörfliches Bewusstsein

‹Der Grüezi-Faktor›

Das wahre ländliche Drama

Politisierung des Stadt-Land-Gegensatzes

«Gestrichene Lippen und rote Fingernägel»

Zwischen Landidörfli und Ballenberg

‹Geistige Bauern›

Erwachendes Grossstadtleben

Wie die Städte links wurden

Sozialistische Kultur

Die Parabel vom ‹roten Arbon›

Ära rot-grüner Städte

Städter aus Überzeugung

Das Beste beider Welten

Neubegründung einer schweizerischen Kunst

Ein polarisiertes Land?

Eigentümliche Parteienlandschaft

Von Parteien und Sekten

«Der rote Ansturm ist abgeschlagen»

Katholische Säule der Konkordanz

Nachkriegsjahre als Übergangszeit

Wandel und Widerstand

Freiheit, Staat und Gurkensalat

Keine gekreuzten Pfade

Die Auto-Partei und der Gegen-Zeitgeist

«Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben»

Warum gerade die SVP?

Die Kartellbrecher und das Ende des Bürgerblocks

Lernendes System

Abschied der Reform-Sozialdemokratie

Verantwortungsdefizit

Wie aus Konsens Polarisierung wurde

Prinzip der Mehrheit

Reformstarre und Strukturerhalt

Den ‹Volkswillen› gibt es nicht

Die Schönheit des Systems

Progressive Kraft

Wert der Verbindlichkeit

Dank

Über das Buch

Über den Autor

Zu diesem Buch

‹Was die Schweiz zusammenhält› ist nicht nur der Titel dieses Buchs, es ist offenbar auch ein Denkanstoss. Verblüffend oft, wenn ich diesen Buchtitel irgendwo erwähnte, folgte unaufgefordert und meist blitzschnell eine Antwort auf die darin eingebettete Frage. Es sei «das Geld», mit dem die Gegensätze überdeckt würden, meinte ein alter Bekannter. Ohne «den Gotthard», diese durchlöcherte Trutzburg, wäre das Land längst zerfallen, warf ein anderer ein. Natürlich sei es «der Filz», gab sich einer überzeugt, der selbst einmal über die Verflechtungen von Armee, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik geschrieben hatte. Es sei «die Angst», meinte eine Freundin, die sich als Pfarrerin nahe bei den Seelennöten der Menschen bewegt. Der rechte Publizist befand, es sei «der Streit mit der SVP». «Die gelben Briefkästen», fügte jemand an, der Werbekampagnen macht. Für sie sei es «der Föderalismus», gab schliesslich eine nahe­stehende Geografin zu bedenken.

Die meisten waren überzeugt, sie hätten die ‹richtige› Antwort gegeben, und es spiegelte sich in ihren Augen jeweils eine leise Enttäuschung, wenn ich weder ihrem Geistesblitz zustimmen wollte, noch selbst eine kurze Antwort anbieten konnte. Am Schluss hat es die Summe der Antworten selbst bestätigt: Den einen Faktor, der ‹die Schweiz zusammenhält›, den gibt es nicht. Jedes ‹Bindemittel› wurde mit Überzeugung genannt – kein einziges aber mehr als einmal. Wie ein funkelnder Edelstein wirft die Frage nach dem Zusammenhalt auf jeden Einzelnen und jede Einzelne ihre ganz eigenen Strahlen zurück.

Es gibt nicht den einen Faktor und es gibt keine knappe Antwort. Doch es gibt so etwas wie eine Essenz dessen, ‹was die Schweiz zusammenhält›. Dieser Essenz versucht sich dieses Buch in vier Essays anzunähern. Aus vier Perspektiven möchte ich mit Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, Schicht für Schicht in das feinstoffliche Gewebe eindringen, das dieses Land ausmacht und letztlich auch zusammenhält.

‹Diese eigentümliche Nationalität›heisst der erste Essay. Sein Thema ist die Identität. Wer sind wir? Was macht uns anders und besonders? Es geht dabei nicht zuletzt um die Frage, warum Schweizerinnen und Schweizer sich so sehr mit sich und mit ihrer Aussenwahrnehmung beschäftigen. Warum führen boshafte Bemerkungen, wie jene vom damaligen deutschen Finanzminister Peer Steinbrück, der die Kavallerie losschicken wollte, um die Schweizer Steueroase auszutrocknen, zu heller Empörung? Es ist, als ob der Schweiz ein Stück Urvertrauen fehlen würde. Auf eigentümliche Weise paart sich hier ein ‹Sonderfallglaube› mit einem latenten Minderwertigkeitskomplex. Der Text zeigt auf, woher diese sonderbare Mischung kommt.

Der Essay erzählt eine Entwicklungsgeschichte, die im 19. Jahrhundert, in der Zeit des erwachenden Nationalismus, beginnt. Er schildert, wie die ‹Abgrenzung gegen aussen› und der symbolische Rückzug in die Alpen zu bestimmenden Narrativen dieses Landes geworden sind und wie sich der linke Gegendiskurs daran aufgerieben hat. Der Text ist ein Plädoyer für etwas mehr Gelassenheit im Umgang mit dieser faszinierenden und «eigentümlichen Nationalität» (Gottfried Keller).

‹Das Gewebe der Schweiz›ist womöglich die knappste Antwort auf die von diesem Buch aufgeworfene Frage nach dem Zusammenhalt des Landes. Dieser Zusammenhalt war keineswegs immer gewiss. Wie eine «Bombe» habe die «Plötzlichkeit des Kriegsausbruches» eingeschlagen. Der tief besorgte Schweizer Dichter Carl Spitteler griff 1914 zu drastischen Worten: «Die Vernunft» habe die «Zügel» verloren. Die Romands schauten nach Frankreich, die Deutschschweizer nach Deutschland, und die Einheit war akut bedroht. In diesem Essay beschreibe ich, wie die Vielzahl sich überlagernder Gegensätze und der ganz eigene, kleinteilige Föderalismus in der Schweiz ein festes Gewebe geschaffen haben. Ganz anders etwa als in Belgien, wo alle wichtigen Konfliktlinien entlang der Sprachgrenze verlaufen, schaukeln sich in der Schweiz die Gegensätze nicht auf. Konflikt­linien, die sich durchkreuzen, tragen letztlich zur Festigkeit eines Gewebes bei – das galt letztlich auch im Ersten Weltkrieg.

Bis heute wird am Nationalfeiertag die schweizerische ‹Willensnation› beschworen. An allen anderen Tagen leben Schweizerinnen und Schweizer ihren Alltag, ohne angestrengt nationale Beziehungsarbeit zu leisten. Dennoch schaffen sie ganz nebenbei Kohäsion. Genau dies macht den Zauber des Gewebes der Schweiz aus.

‹Von Stadt und Land› jeweils das Beste wollte schon Johanna Spyri. Die Autorin der weltbekannten ‹Heidi›-Romane hat eine archetypische Gegenüberstellung von Stadt und Land geschaffen. Spyris Sehnsucht ist dabei die schweizerische Sehnsucht schlechthin geblieben: am Fortschritt teilzu­haben, ohne jedoch die ursprüngliche, gemeinschaftliche Geborgenheit zu verlieren.

Der dritte Essay handelt vom Spannungsfeld zwischen Stadt und Land und zeigt auf, wie das Ländliche seine prägende Rolle in der Schweiz erhalten hat. Es geht aber auch um die Entwicklung der ‹roten Städte›, die seit einigen Jahren als ‹rot-grüne Städte› eine Renaissance erleben.

Im Spannungsfeld von Stadt und Land wird deutlich, wie in diesem Land sozialer Kitt hergestellt wird. Nur in diesem Land mit seiner dörflich anmutenden Milizkultur bewegen sich Regierungsmitglieder fast so ungezwungen wie Gemeindepräsidenten. Doch der soziale Kitt ist am Bröckeln. Die ländliche Lebenswelt wird zurückgedrängt. Die Renaissance des Städtischen droht Opfer ihres Erfolgs zu werden. Die schweizerische Kunst, am Wandel teilzuhaben, ohne die Verwurzelung aufzugeben, muss neu fundiert werden. Eine zentrale Rolle spielt hierfür das ‹Zwischenland› – die oft geschmähten Agglomerationen, die dennoch für viele das Beste beider Welten verkörpern.

‹Ein polarisiertes Land?› Ist sie das, die Schweiz?Zumindest hat sich in der für Konsens und Ausgleich bekannten Demokratie in den letzten Jahren eine der polarisiertesten Parteienlandschaften Europas ausgebildet. Dass Konsens und Polarisierung kein Widerspruch sind, zeige ich im vierten Essay und werfe dabei die Frage auf, was dies für die Zukunft und den Zusammenhalt dieses Landes bedeuten kann.

Der Text wirft einen Blick zurück, dorthin, wo die Kultur des Konsenses und des Ausgleichs entstanden ist. Er legt dar, wie sich Gegenkräfte formten und dabei längst nicht immer erfolgreich waren. Dann wurde jedoch die facettenreiche Politiklandschaft voller Eigentümlichkeiten in wenigen Jahren fast vollständig eingeebnet, und die SVP legte einen beeindruckenden Aufstieg hin. Doch was wäre passiert, wenn die FDP nach 1979 im Geist ihres neuen Slogans ‹Mehr Freiheit, weniger Staat› auf konsequent rechtsbürgerlichem Kurs weitergefahren wäre? Auch solche Fragen habe ich mir gestellt. Es zeigt sich dabei, wie stark Politik durch den jeweiligen Zeitgeist und immer auch durch den Widerstand dagegen geprägt ist. Und es zeigt sich, wie sehr aber auch Lernprozesse greifen.

Machtteilung und Machtbegrenzung begründen die Schönheit unseres Systems. Die Klugheit seiner Entscheide liegt in der Vielzahl der Perspektiven, die zusammenfliessen. Mit der ideologischen Schliessung der Parteien und dem Triumph der Vermarktungslogik hat jedoch die Reform­fähigkeit des Systems gelitten. Die wuchernde Initiativdemokratie stellt es vor immer neue Belastungsproben. Doch trotz aller parteipolitischen Polarisierung hat es seine innere Mitte und seinen weisen Kern bewahrt.

Es ist ein mehrschichtiges, feinstoffliches Gewebe, das die Schweiz zusammenhält. Dieses Gewebe ist an manchen Stellen fadenscheinig geworden. Ein Teil seiner alten Qualitäten, wie etwa die klassische Konkordanz, sind mit dem Wandel der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wohl unwiederbringlich verlorengegangen.

Mit diesen vier Essays, die auch so etwas wie Entwicklungsgeschichten sind, will ich aufzeigen, dass dieses Gewebe nie einfach da war, sondern von Menschen gewoben und stets von Neuem erschaffen wurde. Und ich will zeigen, dass es sich lohnt, weiter am Gewebe dieses eigentümlichen Landes zu arbeiten.

«Diese eigentümliche Nationalität»

«Mehr als nur eine hochgerüstete, mächtige Armee sah in den Kuhhirten der Schweiz eine leichte Beute, nur um an den Alpenpässen ins Verderben zu stürzen.»1 So hielt es 1842 der englische Staatsmann, Dichter und Historiker Thomas Babington Macaulay fest. Er sah die Alpen als Bollwerk und Refugium, die der Schweiz seit Jahrhunderten das Über­leben sicherten. Dieses Fremdbild fügte sich auf wundersame Weise ins Selbstbild der Schweizerinnen und Schweizer.

Genau genommen erlebte das Alpenland in der Neuzeit jedoch nur einen militärischen Eroberungsversuch. Nämlich kurz vor der Machtergreifung Napoleons, als das republikanische Frankreich einen Saum besetzter Territorien zum Schutz gegen das monarchische Europa errichtete und 1798 schliesslich auch in die Schweiz einmarschierte. Dem französischen Revolutionsexport hatte die Schweiz militärisch wenig entgegenzusetzen. Das Bollwerk war keines. Die topographischen Gegebenheiten im Alpenland stellten die französische Revolutionsarmee vor keine ernsthaften Probleme. Weder die Juraketten entlang der Grenze noch der aufflammende Widerstand in der gebirgigen Zentralschweiz, unter anderem am Morgarten, vermochten sie aufzuhalten. In zwei kurzen Kampagnen wurden die einheimischen Truppen in die Knie gezwungen. Das «Gefecht von Morgarten» ist längst vergessen, und die erfolgreiche französische Invasion ist unter der Bezeichnung «Franzoseneinfall» als Randnotiz in die eid­genössische Geschichtserzählung eingegangen. «Einfall» ist als Begriff geschickt gewählt, denn er klingt nicht nach vollständiger Eroberung und Besatzung, sondern eher nach einem episodenhaften, kriminellen Beutezug. Episodenhaft war der «Franzoseneinfall» allerdings nur, weil die Eidgenossenschaft keinen harten Widerstand zu leisten vermochte.

Es erstaunt nicht, dass die Schweiz lieber der «Schlacht am Morgarten» von 1315 gedenkt als dem «Gefecht von Morgarten» von 1798. Bei der mittelalterlichen Morgartenschlacht fügte ein wilder Haufen wehrhafter Bauern einem übermächtigen habsburgischen Ritterheer unter geschickter Ausnutzung des Geländes mit herunterrollenden Baumstämmen und mit Hellebarden eine blutige Niederlage zu. So sieht es zumindest die Legende, und so ist es ins kollektive Gedächtnis eingegangen. Und diese bildstarke Geschichte gefiel auch dem dichtenden Historiker Macaulay. Sie hatte er 1842 vor Augen, während er die reale, nicht einmal ein halbes Jahrhundert zurückliegende, aber wenig spektakuläre Invasion der Franzosen ausblendete. Die eidgenössische Propaganda entfaltete ihre Wirkung nicht nur gegen innen.

Unwahrscheinliches Land

Macaulay, der wache Beobachter des Zeitgeschehens, spürte, dass in Europa ein neues Zeitalter angebrochen war. Sein Essay mit der Randnotiz zu den wehrhaften Schweizer Kuhhirten war dem preussischen König Friedrich dem Grossen gewidmet. Dieser hatte auf flachem Land, ohne jeglichen naturräumlichen Schutz, im 18. Jahrhundert den Kern einer neuen europäischen Grossmacht gelegt. Die Leistung des ‹Alten Fritz› öffnete Macaulays Augen. Die alten geostrategischen Gewissheiten, die sich stark an naturräumlichen Bedingungen orientierten, verloren rasch an Bedeutung. Es war eine abstrakte Idee, welche nun mehr und mehr an Kraft gewann. Die Idee der ‹Nation›, die Vorstellung einer Verbindung von Volk und Staatskörper, sollte bald alles andere an politischer Sprengkraft in den Schatten stellen. Macaulay hatte es richtig erahnt. Auf dem Fundament Preussens entstand mit Deutschland die stärkste und schliesslich auch bedrohlichste Macht Europas.

Aus heutiger Perspektive ist es nicht mehr ganz einfach nachvollziehbar, doch Nationalismus war zunächst eine progressive, emanzipatorische Idee. Getragen wurde sie vom in der Aufklärung geweckten Selbstbewusstsein des Bürgertums. Das Anliegen war, den alten, rein machtpolitisch begründeten Territorialstaat abzulösen. Statt als Machtinstrument Herrschender wurde der Staat als Gehäuse eines souveränen Volks gesehen. Dabei stand nicht die kulturelle Abgrenzung gegen Fremde im Vordergrund. Der Nationalismus war ursprünglich keine Bewegung gegen die Anderen, sondern eine Bewegung gegen die Oberen – war also nicht horizontal, sondern vertikal ausgerichtet. Ganz handfest zeigte sich der vertikale Nationalismus in der Französischen Revolution, als die Bevölkerung dem König buchstäblich die Souveränität entriss.

Mit der deutschen und der italienischen Einigungsbewegung im 19. Jahrhundert verlagerte sich die Stossrichtung von der Vertikalen in die Horizontale. Bis dahin waren der italienische und der deutsche Sprachraum in eine Vielzahl von Herzogtümern und Königreichen geteilt. Hier löste der Nationalismus eine ganz andere Dynamik aus als im längst geeinten Frankreich. Hier ging es darum, das auf mehrere Staaten verteilte Volk in einen geeinten Nationalstaat zu führen. Nicht die Frage der Volkssouveränität stand im Zentrum, sondern die politische Debatte um Identität und Abgrenzung. Wie lässt sich ein Volk bestimmen? Wie von anderen Völkern und Nationen abgrenzen? Nach französischem Vorbild lag die naheliegende Antwort bei der gemeinsamen Abstammung, Kultur und Sprache. So entstand der Begriff der ‹Kulturnation›. Er steht für ein durch eine gemeinsame Kulturtradition verbundenes Volk, dem das gemeinsame staatliche Gehäuse noch fehlt. Für die Einigungsbewegungen war der ethnische Nationalismus eine sinnfällige Weltsicht. Für die sprachlich und konfessionell bunt zusammengewürfelte Schweiz bedeutete sie eine existenzielle Bedrohung.

Das Besondere an der Schweiz ist weniger ihr Überleben bis in die Neuzeit. Das haben auch viele andere Kleinstaaten zwischen Sizilien und Dänemark geschafft. Die meisten davon ohne strategische Gebirgsübergänge und ohne alpinen Rückzugsraum. Bis ins 19. Jahrhundert waren Staaten primär Ausdruck von Machtkonfigurationen. Mehr und mehr rückte für das politische Handeln jedoch das Volk und insbesondere das, was die Politik dafür hielt, ins Zentrum. Europa stand vor der Epoche des aggressivsten Nationalismus. Aus dem freundlichen Lied des Demokraten und Patrioten Ernst Moritz von Arndt, ‹Des Deutschen Vaterland› von 1813, wurde nun bitterer Ernst.

Was ist des Deutschen Vaterland?So nenne mir das grosse Land!Ist’s Land der Schweizer? Ist’s Tirol?Das Land und Volk gefiel mir wohl.Doch nein, nein, nein!Sein Vaterland muss grösser sein!

Das Besondere und gewissermassen auch Unwahrscheinliche an der Schweiz ist ihr heiles Überleben dieser Epoche mitten im Auge des Orkans. Sie liegt eingepfercht zwischen Deutschland und Italien, den wichtigsten Treibern eines übersteigerten, in den Faschismus mündenden Nationalismus. Und sie liegt genau an der Hauptachse des deutsch-französischen Spannungsfelds, welches das westliche Europa bis 1945 in Schach hielt.

Die drei Hauptakteure des europäischen Nationalismus – Deutschland, Frankreich und Italien – umklammerten die Schweiz. Mehr noch, sie ragten sprachkulturell mitten in sie hinein. Doch statt aufgesogen zu werden, verfestigte sich das Land im 19. und 20. Jahrhundert zu einer starken, selbstbewussten Nation. Der Vielvölkerstaat trotzte dem Zeitgeist. Das gelang ihm vor allem auch deshalb, weil sich seine inneren kulturellen Spannungsfelder zu einem stabilen Gewebe verflochten und es sich auf leistungsfähige Institutionen stützen konnte. Auf diese Themen gehe ich in späteren Kapiteln ein. In diesem hier bleiben wir bei der von Thomas Babington Macaulay aufgeworfenen Frage nach dem Überleben und Gedeihen von Nationen in einer sich verändernden, bedrohlichen Welt. Wie gelang es der Schweiz, mit einer eigenen nationalen Erzählung dem ethnischen Nationalismus zu widerstehen? Wie hat diese Identitätsdebatte ihr politisches Bewusstsein geprägt? Und wie wirkt dies bis heute ins politische Handeln hinein.

Terre irredente gegen Willensnation

‹Terre irredente›, unerlöstes Land, nannten italienische Nationalisten die italienischsprachigen Gebiete, die 1861 nicht Teil ihrer geeinten Nation wurden. Irredentismus steht für eine politische Ideologie, die alle Menschen und Lebensräume einer bestimmten Ethnie in einem Staat zusammenführen will. Im Zug des ‹Risorgimento›, der italienischen Wiedererstehung, liessen sich einige wichtige Regionen wie das Trentino oder Triest zunächst nicht aus der Österreichisch-Ungarischen Monarchie herauslösen. Auf diese hatte es der Irredentismus vor allem abgesehen. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert rückte aber auch die italienischsprachige Schweiz in dessen Blickwinkel. Das Tessin und die Bündner Südtäler sollten in den Schoss des italienischen Mutterlands heimkehren. Wenn die Sprache die italienische Kulturnation definiert, dann gehört zu dieser schliesslich auch die italienischsprachige Schweiz. Die Irredentisten waren überzeugt, dass das gemeinsame Band der ‹Italianità› stärker sein müsste als die Bindung der Südschweiz zur von Deutschsprachigen dominierten Eidgenossenschaft. Sie täuschten sich. Offenbar hatte sich in diesem wunderlichen Land eine Identität entwickelt, die so gar nicht der herrschenden Ideologie dieser Zeit entsprach.

Viel eher ins Bild passte da der Zusammenbruch des österreich-ungarischen Vielvölkerstaats und des Osmanischen Reichs nach dem Ersten Weltkrieg. Die beiden Grossreiche zerfielen unter dem Druck erstarkender Nationalismen und verschwanden von der Landkarte. Die Vertreter der nationalen Sache sahen sich in ihrer Überzeugung bestätigt. Offenbar hat die fehlende ethnische Homogenität einen Zerfall unausweichlich gemacht. Ganz offensichtlich wollten die Völker unter ihresgleichen leben – das war die Ideologie, die bis heute ihre blutige Spur durch die Weltgeschichte zieht. Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich waren jedoch nur deshalb dem Untergang geweiht, weil die beiden Grossreiche alleine durch die äussere Klammer eines Herrscherhauses zusammengehalten wurden. Sie hatten es verpasst, eine eigene nationale Identität zu erschaffen. Ganz im Gegensatz zur Schweiz, deren Bevölkerung sich über alle kulturellen Unterschiede hinweg immer mehr als ein Volk und eine Nation verstand. Für die Errichtung eines stabilen Staatsgebildes braucht es keine ethnische Entmischung und keinen Irredentismus. Einem Nationalstaat muss keine einheitliche Kulturnation vorausgehen. Die Schweiz hat sich nicht anders als ihre Nachbarstaaten zu einem Nationalstaat entwickelt. Hierfür hat sie ihre eigene nationale Identität erschaffen müssen und stellte so dem ethnischen Begriff von Nationalität einen politischen entgegen.

Der ethnische Nationalitätenbegriff geht von unveränderlichen kulturellen Identitäten aus, an die sich die politischen Institutionen anpassen müssen. Der politische Nationalitätenbegriff dagegen erkennt an, dass eine Nation mittels Institutionen und kollektiver Erfahrungen erschaffen werden kann. Für die erste Vorstellung steht der Begriff der ‹Kulturnation›, für die zweite das Konzept der ‹Willensnation›. Die Willensnation ist ein stehender Begriff, der dazu diente und immer noch dient, das Besondere an der Schweiz hervorzuheben, die sich nicht auf eine einheitliche Kulturnation abstützen kann. Inhaltlich ist dieses Konzept keineswegs auf dieses Land beschränkt. Einwandererstaaten wie die USA oder Kanada sind reine Willensnationen, die ihre Identität aus dem Nichts erschaffen haben. Doch damit nicht genug. Jeder Nationalstaat trägt Züge einer Willensnation. Er ist mehr als ein erstarrtes Gewand einer bestehenden Kultur. Er kann langfristig nur existieren, wenn er stets von Neuem Bindung herzustellen vermag. Dazu schafft er Symbole und pflegt Mythen. Seine Institutionen – von der Schule über die Nationalmannschaft bis zur Armee – schaffen Identität. Kollektive Erfahrungen vertiefen diese und sorgen dafür, dass die Nation nicht zu einer blossen ethnischen Konfiguration verkommt.

Dabei haben ausgerechnet Italien und Deutschland, die beiden vehementesten Vertreter der Idee der Kulturnation, gezeigt, dass kulturelle Muster nicht unveränderlich sind. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs haben sie sich auf bemerkenswerte Weise neu orientiert und ihre Identität neu erfunden. Nur im unsäglichen Begriff der ‹deutschen Leitkultur› lebt die alte Tradition gelegentlich noch auf. Nationenbildung oder englisch ‹nation building› ist in einer Welt zerfallender Staaten und ethnischer Konflikte ein hochaktuelles Konzept. Was dabei möglich ist, trotz aller Schwierigkeiten und trotz Zähheit kultureller Muster, zeigt die Geschichte der Schweiz.

Eine in diesen Bergen schwebende Idee

Wenn nicht eine gemeinsame Kulturtradition, was ist es dann, was die Schweiz zusammenhält? Gottfried Keller gab auf diese Frage in seinem ‹Grünen Heinrich› von 1854 eine viel­sagende Antwort. Als Heinrich, der Protagonist aus Kellers grossem Entwicklungsroman, zu Beginn des ersten Bands für seine Lehr- und Wanderjahre nach Deutschland aufbricht, trifft er dort auf einen Grafen, der ihn nach seiner «schweizerischen Nationalität» befragt. Da der junge Mann ja ausreise, gebe diese ihm offenbar keine «Ideen für ein höheres Bedürfnis». Heinrich erklärt ihm daraufhin das Wesen der Schweiz und schliesst mit dem schönen Satz: «Nicht die Nationalität gibt uns Ideen, sondern eine unsichtbare, in diesen Bergen schwebende Idee hat sich diese eigentümliche Nationalität zu ihrer Verkörperung geschaffen.»

Die Idee der Schweiz ist, dass es sie gibt. Kellers Tautologie ist nicht absurd, sondern sie trifft den Kern des schweizerischen ‹nation buildings›. Die Schweiz existiert und verkörpert dabei eine zunächst noch unsichtbare Idee, die sie selber mit Inhalten füllen muss. Anders als das Deutschland des Grafen, das seine ‹Idee› aus der deutschen Kulturtradition schöpfen konnte.

Die von Keller angesprochenen Berge sind ein naheliegender Bezugspunkt dafür. Ihre Mächtigkeit ist augenfällig. Bis zum Zerfall Österreich-Ungarns war die Schweiz das einzige Land Europas mit einer massgeblich durch hohe Berge geprägten Topographie – sieht man von den Zwergstaaten Andorra und Liechtenstein ab. Lange waren die Berge den Einheimischen allerdings eher unheimlich und symbolisierten, wenn schon, Gefahr. Bis die Gelehrten in der Epoche der Aufklärung die Alpen zu bereisen und zu beschreiben begannen. Mit Albrecht von Hallers Gedicht ‹Die Alpen› von 1729 rückte mehr und mehr ihre Schönheit und Erhabenheit ins Blickfeld. Es war aber nicht Ästhetik alleine, die sie zu einem idealen Identitätsträger machten. Ihre narrative Kraft gewannen sie vor allem deshalb, weil sie durch ihre Unzugänglichkeit Sinnbild für ein Refugium sind. Für ein schützendes Zuhause, in das sich die Nation, zumindest in ihrer Imagination, notfalls zurückziehen kann. Die grosse narrative Kraft des Gebirges hatte auch den englischen Zeit­chronisten Thomas Babington Macaulay ergriffen. Mit ihm viele seiner Mitbürger, die in der Zeit von Gottfried Keller immer zahlreicher die Alpen zu bereisen begannen und damit die Grundlage für den schweizerischen Tourismus legten. Die Berge sind ein wichtiger Strang der identitätsstiftenden Erzählung im Vielvölkerstaat, die Abgrenzung gegen aussen ein anderer. Nicht selten berühren sich diese beiden.

Abgrenzung und Neutralität

Der Aufstieg des ethnischen Nationalismus machte das Sich-Abgrenzen zu einer schieren Notwendigkeit für das mehrsprachige Land. Ich gehe später vertieft auf die inneren Spannungsfelder ein, doch so viel sei vorweggenommen: Im Ersten Weltkrieg lagen die Sympathien der Romandie bei Frankreich, während die Deutschschweiz auf Seiten Deutschlands stand. Ein Riss ging durch das Land. Der italienische Irredentismus, der bis dahin im Leeren verhallte, entfaltete nun auf einmal seine Wirkung. Im Tessin erblühte die Italianità und die Kulturzeitschrift ‹L’Adula› forderte ab dem Ersten Weltkrieg ganz offen den Anschluss an Italien.

Die Fliehkräfte, die sich bereits im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 bemerkbar gemacht hatten, begründeten in der Schweiz jeweils einen forcierten Abgrenzungsdiskurs. Politiker und Intellektuelle suchten nach Bildern und Erzählungen, die trotz kultureller Unterschiede eine gemeinsame Herkunft aufzeigten und die Wesensdifferenz zu anderen Nationen betonten. Sie übernahmen die nationalistische Denkweise und mussten zugleich eine Gegenerzählung dazu erfinden. Neben den Bergen fiel die Wahl auf etwas, das erst auf den zweiten Blick naheliegend ist. In dieser Zeit, da alle von ‹Kultur› und immer häufiger von ‹Rasse› sprachen, zeichnete sich die mehrsprachige Schweiz allein schon dadurch aus, dass sie nicht am Zerfallen war. In konsequenter Anwendung der kellerschen Tautologie wurde der Wille zur Unabhängigkeit und zur Abgrenzung gegenüber übergeordneten Herrschaftsstrukturen zum eigentlichen Kern der schweizerischen Identität gemacht. Oder eben: Die Idee der Schweiz ist, dass es sie trotz vorherrschendem ethnischem Nationalismus immer noch gibt.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erwachte in der Schweiz das Interesse an Schillers Drama vom Freiheitskämpfer Wilhelm Tell. Der unbeugsame Bergler hatte sich in dieser Erzählung gegen eine fremde Besatzungsmacht aufgelehnt. In Erinnerung an den mythologischen Rütlischwur von 1291 wurde 1891 der 1. August zum Nationalfeiertag erklärt. Die hoch- und spätmittelalterlichen Auseinandersetzungen mit dem Habsburgerreich liessen sich auf ideale Weise zum heldenhaften Kampf gegen fremde Mächte stilisieren. Die Kunst der nationalen Mythenbildung liegt darin, verschiedenste ganz unterschiedliche Stränge zu einer grossen, sinnstiftenden Erzählung zu verzwirnen. Die nationale Geschichte wird so zur wundersamen Erfüllung eines vorgegebenen Schicksals.

Neben den Bergen und der Abgrenzung gehört zur gros­sen schweizerischen Erzählung natürlich auch die Neutralität. Die unterschiedlichen Loyalitäten in den deutsch-französischen Auseinandersetzungen verschafften diesem Konzept seine eminente gesellschaftspolitische Bedeutung. 1914, nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, hielt der spätere Literaturnobelpreisträger Carl Spitteler eine wichtige Rede zur Einheit der Schweiz. Aus Sorge um die Kluft entlang der Sprachgrenze forderte er, dass der Schweizer Bevölkerung mit «Russ und Salz die Grundsätze der Neutralität» einzuprägen seien. Er schloss mit einem eindringlichen Aufruf für «den richtigen neutralen, den Schweizer Standpunkt». Neutralität war ganz wesentlich eine Idee zur Vergewisserung nach innen. Mit der historischen Rückverankerung der schweizerischen Neutralitätspolitik in der verlorenen Schlacht bei Marignano 1515 liess sich die «immerwährende, bewaffnete Neutralität» als schweizerische Eigenart begründen. Dabei war es letztlich nicht entscheidend, wie sich die schweizerische Aussenpolitik seit der frühen Neuzeit tatsächlich entwickelt hatte. Entscheidend war, dass die Neutralität unter dem Eindruck des sich zuspitzenden deutsch-französischen Gegensatzes eine ganz neue, innenpolitische Bedeutung erhielt. Der Begriff der ‹Neutralität› entfaltet bis heute seine Wirkung, nicht weil er für die internationalen Beziehungen besonders entscheidend wäre, sondern weil er zum Bestandteil der politischen Identität vieler Schweizerinnen und Schweizer geworden ist.

Womöglich hätte sich der auf Abgrenzung und Neutra­lität beruhende Identitätsdiskurs wieder abgeschwächt und wäre von anderen Erzählungen ersetzt worden. So wurde die Schweiz nach dem Ersten Weltkrieg rasch Mitglied des Völkerbunds, dessen Hauptsitz in Genf angesiedelt war. Doch dann brachten der aufkommende Faschismus und der Zweite Weltkrieg die Mentalität der Abgrenzung mit Vehemenz zurück. Im Kalten Krieg verfestigte sie sich schliesslich zur harten Staatsideologie.

Frühsommer 1940 – die Prüfung

«Les Ardennes sont imperméables aux chars!» – die Ardennen sind undurchdringbar für Panzer. Diese Überzeugung herrschte noch am Vorabend des Zweiten Weltkriegs im französischen Generalstab. Als am 10. Mai 1940 die deutsche Offensive im Westen startete, waren es jedoch genau die Ardennen, welche die deutsche Heeresleitung, nach einem Plan von Generalleutnant Erich von Manstein, für ihren zentralen Angriff wählten. In der stark bewaldeten, von steilen Hügeln und Furchen durchzogenen Gebirgslandschaft stauten sich die Panzer und Truppentransporter zeitweise auf über 250 Kilometern, doch der Vorstoss verlief noch schneller als von den Deutschen geplant. Der «Sichelschnitt», wie ihn der britische Premier Winston Churchill später nannte, war die Basis für die rasche und brutale Niederlage der gros­sen französischen Armee. In nur sechs Wochen fegte die Wehrmacht die Alliierten vom europäischen Festland – nachdem sich in den vier Jahren des Ersten Weltkriegs die Frontlinien zwischen den Opponenten kaum hatten verschieben lassen. Das NS-Regime räumte alles weg, was sich ihm in den Weg stellte – auch Frankreich, die vermeintlich stärkste Militärmacht des Kontinents, auf dessen Unterstützung der Schweizer Oberbefehlshaber General Guisan sein gesamtes Abwehrdispositiv gebaut hatte. Die Schweiz, die eben noch in einem vermeintlichen stabilen Gleichgewicht zwischen dem demokratischen Frankreich und dem faschistischen Deutschland aufgehoben war, stand als parlamentarische Demokratie plötzlich ganz alleine da. Das gesamte europäische Festland von Lissabon bis in den Ural war nun beherrscht von totalitären Diktaturen.

«Eine neue Zeit bricht an», schrieb, von den Ereignissen mitgerissen, der liberale ‹Bund›: «Es kommt eine einzigartige grosse Gelegenheit näher, den Völkern ein Leben ohne Ausbeutung zu ermöglichen.»2