Was geschah wirklich mit Dulce Veiga? - Caio Fernando Abreu - E-Book

Was geschah wirklich mit Dulce Veiga? E-Book

Caio Fernando Abreu

4,8

Beschreibung

Vor zwanzig Jahren ist die Sängerin mit der rauchigen Stimme verschwunden, auf der Schwelle zum großen Erfolg und stets auf der Suche nach "etwas anderem". Keiner, der sie je gehört hat, konnte sie vergessen, auch der Reporter nicht, den sein Sensationsblatt beauftragt, den Mythos aufzuspüren. Eine atemberaubende Odyssee durch São Paulo führt ihn zu der Punkrockgruppe Márcia Fellatio und die Vaginas Dentatas und ihrer Agentin, einem Virginia-Woolf-Double, zu einem neureichen orientalischen Pressemagnaten in seiner (Alb-)Traumvilla, durch eine semipornografische Off-Off-Theaterproduktion und zu einer abgehalfterten Telenovela-Heroine. Des Weiteren treten auf: die frustrierte Klatschspaltenkolumnistin, der exhibitionistische Rasta-Mann, die wahrsagende Mulattin von nebenan mit ihrem halbwüchsigen Transvestitensohn, zwei argentinische Bodybuilder, der melancholische portugiesische Kneipenbesitzer am Ende einer Sackgasse. In dieser grimmigen Asphaltgroteske tauchen allmählich die Gespenster einer verführerisch erscheinenden Vergangenheit auf, und des Rätsels Lösung wartet hinter den verträumten Klängen eines melancholischen Bossa Nova. Von Caio Fernando Abeu außerdem in der Edition diá: Kleine Monster. Erzählungen Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Marianne Gareis, Gerd Hilger, Maria Hummitzsch, Gaby Küppers und Gotthardt Schön ISBN 9783860345429

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Über dieses Buch

Vor zwanzig Jahren ist die Sängerin mit der rauchigen Stimme verschwunden, auf der Schwelle zum großen Erfolg und stets auf der Suche nach »etwas anderem«. Keiner, der sie je gehört hat, konnte sie vergessen, auch der Reporter nicht, den sein Sensationsblatt beauftragt, den Mythos aufzuspüren. Eine atemberaubende Odyssee durch São Paulo führt ihn zu der Punkrockgruppe Márcia Fellatio und die Vaginas Dentatas und ihrer Agentin, einem Virginia-Woolf-Double, zu einem neureichen orientalischen Pressemagnaten in seiner (Alb-)Traumvilla, durch eine semipornografische Off-Off-Theaterproduktion und zu einer abgehalfterten Telenovela-Heroine. Des Weiteren treten auf: die frustrierte Klatschspaltenkolumnistin, der exhibitionistische Rasta-Mann, die wahrsagende Mulattin von nebenan mit ihrem halbwüchsigen Transvestitensohn, zwei argentinische Bodybuilder, der melancholische portugiesische Kneipenbesitzer am Ende einer Sackgasse.

In dieser grimmigen Asphaltgroteske tauchen allmählich die Gespenster einer verführerisch erscheinenden Vergangenheit auf, und des Rätsels Lösung wartet hinter den verträumten Klängen eines melancholischen Bossa Nova.

»Herausragend in der modernen brasilianischen Literatur.« (Jornal da Tarde, Brasilien)

»Abreus Roman ist so wohltuend frisch erzählt, so spontan, ehrlich, direkt und leicht, dass man anfangs den Strudel nicht merkt, in den die Geschichte einen zieht. Sie reißt mit in magmatische Abgründe und stellare Höhen. Beschwingter Witz und prickelnde Selbstironie halten einen bei klarem Verstand.« (DeutschlandRadio)

Der Autor

Caio Fernando Abreu, geboren 1948, studierte Literatur und Theater in Porto Alegre und lebte seit 1968 als freier Autor in São Paulo. Wie kein Zweiter beschrieb er die zahllosen Widersprüche des urbanen Brasilien. Zweimal erhielt er den bedeutendsten brasilianischen Literaturpreis Prêmio Jabuti. Sein Werk umfasst Romane, Erzählungen, Theatertexte, Songtexte und Drehbücher. 1996 starb er an den Folgen seiner HIV-Infektion. Onde andará Dulce Veiga? ist außer ins Deutsche auch ins Englische, Französische, Italienische, Niederländische und Spanische übersetzt worden.

Der Übersetzer

Gerd Hilger, geboren 1958, hat über modernes brasilianisches Theater promoviert und lebt heute als Organisationsberater in Köln. Neben dem vorliegenden Roman übertrug er, unter anderem, auch zwei Erzählungen von Caio Fernando Abreu ins Deutsche.

Caio Fernando AbreuWas geschah wirklich mit Dulce Veiga?

Ein Low-Budget-Roman

Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Gerd Hilger

Edition diá

 

 

Inhalt

I Montag − Vaginas DentatasII Dienstag − The Hard Core of BeautyIII Mittwoch − Das muselmanische RaubtierIV Donnerstag − Der grüne SesselV Freitag − Das QuecksilberlabyrinthVI Samstag − Ferner Stern des NordensVII Sonntag − Weiter nichts

Impressum

Zur Erinnerung an Nara LeãoFür Odete Lara, Guilherme de Almeida Prado, Cida Moreyra und alle Sängerinnen Brasiliens

»I had seventeen dollars in my wallet. Seventeen dollars and the fear of writing. I sat erect before the typewriter and blew on my fingers. Please God, please Knut Hamsun, don’t desert me now. I started to write and I wrote:«John Fante, Dreams from Bunker Hill

I MontagVaginas Dentatas

1

Eigentlich hätte ich singen müssen.

Mich kugeln vor Lachen oder weinen, aber ich wusste nicht mehr, wie das geht. Oder wenigstens eine Kerze anzünden, in die Consolação-Kirche laufen, ein Vaterunser beten, ein Ave-Maria und ein Ehre-sei-Gott, alles, was mir noch einfiel; und dann ein bisschen Kleingeld, hätte ich mal welches gehabt, aber seit Monaten Ebbe, in den Opferstock werfen, »Für die Seelen im Fegefeuer«. Dank sagen, um Erleuchtung bitten, wie früher, als ich noch gläubig war.

Das waren Zeiten, dachte ich und zündete mir eine Zigarette an. Allerdings ohne theatralische Geste, so als lauerte in irgendeinem Winkel eine Filmkamera. Oder Gott. Ohne Richter oder Zuschauer, ohne Close-up oder Zoom stand ich früh am Nachmittag im glühend heißen Februar einfach so da und starrte den Telefonhörer an, den ich gerade aufgelegt hatte. Ich bekreuzigte mich nicht mal, hob auch die Augen nicht zum Himmel. Das Mindeste, was in solchen Fällen von einem erwartet wird, nehme ich an, auch ohne Glauben. Wie eine Art mystischer konditionierter Reflex.

Ein Wunder war geschehen. Ein zufälliges, aber grundlegendes Wunder für einen wie mich, der keine reichen Eltern hat, kein Anlagevermögen, weder Immobilien noch Erbschaft, und der lediglich versucht, allein in einer höllischen Stadt zu leben, die da draußen hinter dem noch geschlossenen Apartmentfenster vibrierte. Nichts besonders Aufsehenerregendes wie: urplötzlich sein Augenlicht wiederzuerlangen oder sich aus dem Rollstuhl zu erheben mit dem seligen Lächeln und der Leichtigkeit eines Menschen, der übers Wasser wandelt. Obwohl meine Kurzsichtigkeit nur schlimmer wurde und meine Knie häufig zitterten – keine Ahnung, ob aus chronischem Hunger oder reiner Traurigkeit –, funktionierten meine Augen und Beine noch einigermaßen. Andere Organe, ehrlich gesagt, weitaus weniger.

Ich fasste mir an den Hals. Und wenn im Kopf etwa –

Schluss damit, sagte ich mir, während ich so dastand, nackt im schlierigen Halbdunkel der Mittagszeit. Mach dir doch mal dieses Wunder klar, Mann. Und das schlichte, in seiner Einfachheit geradezu unbedeutende kleine Wunder, imstande, ein bisschen Ruhe in dieses Hin und Her ohne Ziel und Rhythmus zu bringen, das ich mit einer gewissen Nachsicht und völlig fantasielos mein Leben zu nennen beliebte, es hatte einen Namen. Es nannte sich: ein Job.

Ich betrachtete mein Gesicht in dem alten, zerkratzten Spiegel. Die Furchen, von denen ich nicht wusste, ob sie zum Spiegel oder zur Haut gehörten, begrüßte ich mit einem Kopfnicken: »Prima, Glückwunsch. Jetzt hast du einen Job.« Aber ich verspürte einfach keinen Schub von Selbstachtung, keinen Schauer freudiger Erwartung, der meine geröteten Augen leuchten oder meine müde Brust schwellen ließe. Auf der hatte ich im Übrigen – ich wollte zwar nicht daran denken, tat es aber doch – vor kaum einer Woche das erste graue Haar entdeckt.

Ich seufzte.

Tatsächlich würde nur ein kompletter Idiot oder ein total unerfahrener Grünschnabel in – ach, nicht mal Ekstase, aber doch wenigstens Begeisterung geraten wegen eines kleinen Pöstchens, das er als Reporter beim Diário da Cidade, der vielleicht übelsten Tageszeitung der Welt, ergattert hat. Ich meine, ein Idiot war ich noch nicht geworden, zumindest kein kompletter. Und was die Erfahrung betrifft, davon schien dieses vom Schlaf noch verquollene, zerfurchte Gesicht mit Dreitagebart, das mich zwischen den Kratzern im Spiegel beäugte, mehr als genug zu haben. Also gut, sagte das Gesicht im Spiegel, wenn du unbedingt Verwüstung mit Erfahrung verwechseln willst … Ich seufzte erneut. Nein, liebes Gesicht, Seite um Seite auf den Schreibmaschinen dieses präinformatischen Käseblättchens vollzuschreiben, das war sicherlich kein Grund für Freudensprünge.

Aber ich musste zufrieden sein. Und wenn man das wirklich will, dann wird man es auch. Es funktionierte schon. Das konnte doch der erste Schritt sein, um aus dem Morast von Depressionen und Selbstmitleid aufzutauchen, in dem ich mich seit fast einem Jahr suhlte. Mir gefiel der Ausdruck Morast von Depressionen & etc. so gut, dass ich fast schon ein Blatt Papier suchen und ihn aufschreiben wollte. Ich hatte zwar den paranoiden Tick abgelegt, mir einzubilden, ich würde ständig gefilmt oder von einem Gott mit fliegenhaften Facettenaugen abtaxiert, doch den Tick, dass mich jemand schreibt, noch nicht. Und wenn ich Balletttänzer wäre, würde ich mir womöglich die ganze Zeit, bei jeder Bewegung einbilden, dass mich jemand modelliert? Ahh … Jede Geste eine wahre ästhetische Apologie der reinen Form.

Das war komisch. Und ziemlich schizophren. Aber plötzlich hatte die Wirklichkeit eine weitaus weniger rhetorische Wendung genommen.

»Du fängst heute an, mein Freund«, hatte Castilhos am Telefon gesagt. Mit diesem Unterton, aus dem ich als alter Subliterat eine, sagen wir rau-komplizenhafte Zärtlichkeit hätte heraushören können, der in Wahrheit aber nichts weiter war als eine Überdosis Nikotin und Genervtheit: »Und sieh zu, dass du mir nicht schon am ersten Tag Scheiße baust, okay? Ich hab den Jungs mein Wort gegeben, dass du einer von der knallharten Sorte bist.«

Verblüffend: In der Nacht war ich als arbeitsloser, verschuldeter, verbitterter, einsamer und illusionsloser vierzigjähriger Journalist schlafen gegangen, und am nächsten Tag weckt mich wie durch ein Wunder diese Stimme aus der Vergangenheit und erzählt mir, ich wäre »einer von der knallharten Sorte«. Ab heute ein Leben aus Tatsachen. Action, Bewegung, Dynamik. Die Klappe fällt. Gott blättert eine weitere Seite seines endlosen und stinklangweiligen Drehbuchs um. Der Bildhauer treibt einen weiteren Splitter aus dem Marmor.

Ich setzte Kaffeewasser auf, in der Feuchtigkeit meiner Küche gediehen weißliche Pilze. Sympathisch, geradezu bukolisch. Ich schaltete das Radio ein und ging unter die Dusche. Die Wohnung war so klein, dass man all diese Dinge praktisch gleichzeitig machen konnte. Mit einer Hand seifte ich mir den Kopf ein, mit der anderen regelte ich die Lautstärke des Radios im Wohnzimmer, während ich ein Bein ausstreckte, um den Herd abzustellen, als das Wasser kochte.

»Jetzt aber! Na los! Hopp!«, grölte ich unter dem eiskalten Strahl. »Yippie-ay-ho, Silver!«

Dann hörte ich im Radio ein Lied, das mir bekannt vorkam. Es ging um so was wie »die Wirklichkeit ist ganz egal, was zählt, ist eine schöne Illusion«. Dem konnte ich rundum zustimmen. Zumindest in den letzten Monaten hatte ich außer Fantasien nichts erlebt. Aber die Melodie, die in irgendeiner Rumpelkammer meines Gedächtnisses widerhallte, war ein alter Bolero oder Foxtrott, und was da jetzt aus dem Radio donnerte, war einer von diesen Rocksongs mit entfesseltem Elektrobass, giftsprühendem Schlagzeug und hysterischen Synthesizern. Die Stimme der Sängerin hörte sich an wie Glas in einem Mixer. Jedenfalls stimmt der Text, dachte ich. Und alle Dinge, an die ich mich erinnerte oder zu erinnern glaubte, denn vor lauter Erinnern hatte ich schließlich bloße Literatur aus ihnen gemacht – und sauschlechte noch dazu –, sie zählten nicht mehr.

Der Rest vom letzten Stück Seife flutschte mir durch die Finger. Er war so winzig, dass er im Abfluss verschwand.

2

»Das soll wohl ein Witz sein«, sagte ich. »Diese Gruppe gibt es wirklich?«

Castilhos schnippte die Asche von einer seiner Zigaretten. Solange ich ihn kannte, also seit ungefähr zwanzig Jahren, rauchte er drei oder vier Zigaretten gleichzeitig. Einige hielten an der Metallkante des Tisches, die voller Brandflecke war, die Balance, andere verteilten sich auf die Aschenbecher, verloren zwischen Papierstapeln, Fotos, Büroklammern, Akten, Briefumschlägen, Plastikbechern, Süßstoff, Alleskleber, Rollen mit Münzgeld, Lotterielosen, Notizblöcken, Bleistiften, Kugelschreibern, Butterbrotresten, Cola-light-Dosen und einem Keramikochsen aus dem brasilianischen Nordosten, den ich aus früheren Redaktionsräumen kannte. Der Ventilator hinter ihm blies mir Asche in die Augen. Vermutlich war die Temperatur in dem mit Teppichboden ausgelegten Raum genauso hoch wie im Ofen eines Krematoriums.

Er legte die Zigarette in einen Aschenbecher, der die Form zweier muschelartig geöffneter Hände hatte, als warteten sie auf himmlisches Manna. Diesen Aschenbecher kannte ich auch, dämmerte mir. Alte Redaktionsräume, andere Zeiten. Ehrlich gesagt kam mir in diesem ganzen Trödel ein Teil nach dem anderen bekannt vor, er inbegriffen. Und das würde ich nicht unbedingt als angenehmes Gefühl bezeichnen.

Castilhos wühlte in den Fotos, fischte eine Mulattin in Minitanga und weißen Stiefeln heraus und heftete sie mit einer Büroklammer an ein Blatt, das derart heftig mit Radiergummi bearbeitet worden war, dass die Korrekturen das Papier durchgescheuert hatten:

»Was ist daran so komisch, nur wegen des Namens? So sind nun mal die Zeiten, was soll man da machen? Jetzt nennen sie sich Miese Ratten, Sudelwürmer, Widerlinge und so was.« Er drehte sich zu dem niedrigeren Tischchen neben ihm, spannte ein Blatt in die Maschine und tippte in einem Rutsch. »Na das sind vielleicht Schenkel!«

Ich sah ihn an, ohne zu begreifen. Soweit ich wusste, stand er auf asketisch dünne Frauen wie Audrey Hepburn. Allerhöchstens noch Deborah Kerr. Von den jüngeren vielleicht Michelle Pfeiffer. Auf keinen Fall Mulattinnen in weißen Stiefeln.

»Der Untertitel ›Na das sind vielleicht Schenkel!‹ kommt genau hin, hat zwanzig Anschläge, wenn man das vielleicht streicht.« Er riss das Blatt raus und brüllte: »Pai Tomás, komm her.«

»Ausgezeichnet«, sagte ich. Ich hatte vergessen, dass es immer so zuging, wenn man sich mit ihm unterhielt. Zwei, drei Themen überkreuz, unterbrochen von Seufzern, Husten, Fauchen, Telefonaten, Zigaretten und Gebrüll. Harte Schnitte, Rückbezüge und Themenwechsel, ohne jede Einleitung à la Wie-ich-gerade-sagte oder so.

»Pai Tomás, wo steckt dieser Trottel?« Er fuhr mit seinen gelben Fingerspitzen geistesabwesend über die Schenkel der Mulattin. Sie erstaunten mich immer wieder, die Hände von Castilhos. Sie waren nicht, wie man hätte erwarten können, große behaarte Pranken, sondern klein, wulstig und rosa. Wenn ich stinksauer auf ihn wurde, brauchte ich nur seine Hände anzusehen. Dann verzieh ich ihm alles, sofort. »Kotzbrocken, neulich sind hier ein paar Jungs mit so einem Namen für ihre Gruppe aufgetaucht. Nicht Gruppe, Band. So sagt man heutzutage. Dann war da noch eine, Die Schleimschnecken. Und schließlich tauchte ein Beelzebub und die Engel vom anderen Ufer auf. So sind nun mal die Zeiten, was soll man da machen?«

Das Telefon klingelte, er nahm den Hörer ab. Ich schaute mich um, aber der riesige, heruntergekommene Raum mit seinen stelzbeinigen Ventilatoren war fast menschenleer. Bis auf einen ganz in Schwarz gekleideten Jungen mit gelgestylter Igelfrisur, der mit rasendem Eifer tippte, womöglich eine vernichtende Kritik über die Engel vom anderen Ufer.

»Um acht ist Redaktionsschluss«, brüllte Castilhos. »Um acht und keine verdammte Minute später. Bis um sieben will ich das auf meinem Tisch haben, damit ich diesen Mist wenigstens noch mal durchsehen kann, okay?« Er knallte den Hörer auf, Zigarettenkippen flogen durch die Gegend. »Schwachsinnige, alles Schwachsinnige. Da hat doch neulich einer geschrieben, die Dingsda hätte den Oskar als beste Akteuse gekriegt, das ist doch nicht auszuhalten!«

Wie aus dem Nichts tauchte neben seinem Schreibtisch plötzlich ein junger Schwarzer auf, der jedoch schlohweiße Haare hatte wie der Alte Mann beim Umbanda. Er machte einen Diener. Im Ernst. Unter seinem aufgeknöpften olivgrünen Hemd sah ich eine Kette mit roten und schwarzen Perlen. Sie glänzten, blank vom Schweiß seiner schwarzen Haut. Castilhos hielt das Foto der Mulattin hoch und fuchtelte damit vor meiner Nase herum.

»Pai Tomás, das ist unser neuer Reporter für das Ressort Unterhaltung.

»Laroiê!«, grüßte Pai Tomás und neigte sein weißes Haupt. Ich lächelte. Das heißt, ich spannte meine Gesichtsmuskeln an, um meine Zähne zu zeigen. Mir war etwas schwindlig, ich hatte an diesem Tag noch nichts gegessen. Ich kniff die Augen zusammen, und als ich sie wieder aufschlug, hatte sich Pai Tomás in Luft aufgelöst. Bei Castilhos wusste man nie mit Sicherheit, wann etwas nicht mehr witzig war, sondern schwülstig, folkloristisch oder irgendwie bedrohlich. Hinter seinem Schreibtisch sickerte das fahle Licht der Avenida 9 de Julho durch die schmutzigen Fensterscheiben. Die Stadt sah aus, als hätte man eine trübe Glasglocke drübergestülpt. Rauch, verbrauchte Atemluft, Schweißausdünstungen, Kohlenmonoxyd, Viren. Ich betrachtete erneut seine Hände und machte ganz entspannt einen letzten Anlauf:

»Ich bin wirklich drauf angewiesen, Castilhos, ehrlich. Aber ich weiß nicht, ob ich unbedingt der Richtige dafür bin.«

»Und ob du das weißt. Haargenau weißt du das. Du machst das schon, okay? Nur weil die Band Márcia Fellatio und die Vaginas Dentatas heißt, was ist denn schon dabei? Ist doch sogar ein ausgesprochen origineller Name, und die Mädels sind bestimmt in Ordnung. Wird andauernd im Radio gespielt.«

»Ich höre mir nur gregorianische Gesänge an«, log ich. Und seufzte: »Mannweiber, Sexistinnen, rebellische Halbstarke. Denn sie wissen nicht, was sie tun – und wozu …«

»Guter Titel für eine Kritik. Aber sieh sie dir erst mal an, schreiben kannst du später.« Er zündete sich eine Zigarette an. »So sind nun mal die Zeiten.«

»Was soll man da machen?«, ergänzte ich. »Gib mir ihre Telefonnummer.«

Er schob einen Stapel Blätter beiseite und nahm einen Terminkalender. Da waren schon mehr lose Blätter drin als eingebundene. Und dabei haben wir erst Februar, dachte ich. Er hielt mir einen Zettel hin.

»Frag nach Patricia. Oder Vanessa oder Mônica oder Cristiane, einer dieser neumodischen Namen. Zustände sind das, es gibt einfach keine Veras, Juçaras und Elviras mehr. Ganz zu schweigen von den Carmens.«

»Castilhos, wohnst du noch an der Avenida São João?«

Er zog mit dem Fuß eine Schublade auf und knallte sie mit voller Wucht wieder zu, schob die Brille in die Stirn und streichelte die Hörner des Keramikochsen. Daran konnte ich mich noch erinnern: Zeichen dafür, dass nichts mehr zu bereden war. Im Aufstehen sagte ich:

»Nimm dich in Acht, tapferer Krieger, wenn die Finger des großen Meisters den Ochsen bei den Hörnern packen.«

Er grunzte. Vielleicht war es auch ein Lächeln, keine Ahnung.

Ich ging an den leeren Tischen entlang hinaus. Eine Blondine um die fünfzig, mit Goldschmuck behangen und in einem dekolletierten Kleid mit Tigermuster, beugte sich über ihre Schreibmaschine, als ich vorbeikam. Sie hätte eine ordinäre Frau sein können, aber irgendetwas an ihrem allzu gereckten Hals und den steifen, durchgedrückten Schultern verriet eine gewisse Vornehmheit. Wer weiß, womöglich eine Frischgeschiedene, die einen Neuanfang versuchte, eine russische Ex-Balletttänzerin, in die Tropen vernarrt und aus Gründen des Überlebens gezwungen, Schund zu übersetzen. Auf dem Seicho-No-Ie-Kalender hinter ihr an der Wand war zu lesen: Jetzt ist der entscheidende Augenblick für eine Wiedergeburt. Ich wollte mich gerade zum Telefonieren neben sie setzen, als Castilhos blökte:

»Das ist die Titelseite vom Freitag«, und dann deklamierte er, ohne aufzustehen, doch mit tragender Stimme in einem derart perfekten Englisch, dass ich keine Silbe verstand: »Disable all the benefits of your country, be out of love with your Nativity, and almost chide God for making that countenance you are.«

Die Finger des schwarz gekleideten Jungen verharrten über der Tastatur.

»John Donne«, tippte er.

Die russische Ex-Balletttänzerin klatschte in die Hände:

»Fernando Pessoa.«

Da lag sie völlig falsch. In den zwanzig Jahren, die ich dieses Spiel kannte, duldete Castilhos aus dem portugiesischen Sprachraum nur Camões. Und gelegentlich, zur allgemeinen Überraschung, Florbela Espanca: »Vom Leben immerzu dasselbe sonderbare Übel, und das Herz dieselbe offne Wunde!« Jetzt warteten alle gespannt und sahen zu mir herüber. Das war so entscheidend wie eine Aufnahmeprüfung.

Ich ging aufs Ganze:

»Shakespeare.«

Castilhos bestätigte:

»As you like it. Vierter Akt, erste Szene.«

Die anderen beiden applaudierten, ich bedankte mich mit einem Nicken. Dann bat ich die Blondine um Erlaubnis und griff zum Telefonhörer. Bevor ich die Nummer wählen konnte, streckte sie ihre mit zahllosen Ringen und langen, dunkelroten Fingernägeln verzierte Hand über den Tisch.

»Angenehm«, sagte sie, ohne den geringsten russischen Akzent. Ganz im Gegenteil, ihre Vokale klangen ein bisschen nach Bahia. »Ich bin Teresinha O’Connor.«

»Teresinha wie?«

»O’Connor«, artikulierte sie lupenrein. »Irischer Abstammung, weißt du. Ich bin die Klatschreporterin. Sagst du mir Bescheid, wenn du eine Meldung für mich hast? Leute, die mit Kunst zu tun haben, kriegen immer was mit.«

»Wird gemacht«, versprach ich. Und begann, die Nummer zu wählen.

3

Aus dem Hintergrund drang höllisches Geschrei. Mord und Totschlag, Stierkampf, Kinderfest oder Vergewaltigung. It’s only rock and roll, dachte ich, wahrscheinlich proben sie gerade. Wir brüllten uns an, ohne irgendwas zu verstehen. Dann hörte ich ein dumpfes Geräusch wie das Zuschlagen einer Tür, das Geschrei klang jetzt gedämpft, und am Telefon die Stimme:

»Mit wem willst du sprechen?«

»Mit Vanessa«, sagte ich.

»Welche Vanessa, Redgrave oder Bell?«

»Irgendeine.«

»Hier gibt’s keine Vanessa, Herzchen. Versuch’s mal mit Jane.«

Ich erwiderte:

»Welche Jane, Fonda oder Bowles?«

Ihre Verblüffung war übertrieben. Sie kam aus Rio de Janeiro, das erkannte ich an den Zischlauten und dem in der Kehle gerollten R. Und sie hatte ihren Spaß:

»Sagtest du Bowles, Jane Bowles? Kenn ich nicht.«

»Hör zu«, sagte ich. »Wenn du es darauf anlegst, können wir das stundenlang weiter treiben. Ich kann auch nach Marianne Faithfull fragen oder Moore, nach Charlotte Brontë oder Rampling. Ungeheuer kulturell und so. Aber zufällig bin ich im Dienst, Süße.« Die Süße gehörte eigentlich nicht zu meinem Repertoire, aber ich dachte, es könnte helfen. Dann meinte ich etwas förmlicher: »Mit wem spreche ich denn?«

»Mit Patricia.«

Neal oder Highsmith, hätte ich beinahe gefragt. Das war ansteckend.

»Genau mit dir wollte ich sprechen.«

»Dann leg los, mein Engel.«

Während ich erklärte, dass ich einen Artikel über die Gruppe schreiben musste und so – ich fand es besser, die Gruppe zu sagen, ich war noch nicht so weit, öffentlich so was wie Márcia Fellatio und die Vaginas Dentatas in den Mund zu nehmen –, telefonierte Teresinha O’Connor am Nebentisch wie eine Wilde. Sie war eine von denen, die mit der Spitze des Kugelschreibers die Nummer wählen und dann an der Kappe herumkauen, während sie darauf warten, dass jemand abnimmt.

»In Ordnung«, sagte Patricia. »Presse ist Presse, aber ganz so einfach ist es auch wieder nicht. Anrufen und gleich ein Interview ausmachen. Vorher brauche ich dein Geburtsdatum.«

»Was?«

»Datum, Ort, Uhrzeit. So wie es Yoko immer gemacht hat, als all die Typen John Lennon interviewen wollten. Wir sind zwar Brasilianer, aber trotzdem wählerisch, kapiert?«

»Aber wozu brauchst du das?«

»Für dein Horoskop, ist doch klar. Ich muss sehen, ob alles zusammenpasst.«

Rockmusikerin, Intellektuelle und Astrologin. Trägt bestimmt eine Brille, dachte ich. Und ich stellte mir die rosa Oberfläche des Neptun vor, Miranda, Vulkane gefrorener Gase. Dann den im All verschollenen Satelliten Voyager und Mick Jaggers Stimme, die stellvertretend für uns alle I can’t get no satisfaction in die Unendlichkeit hinausgrölt. Ich brauchte eine Weile für das richtige Datum, das Jahr fiel mir nicht mehr genau ein.

»Das ist alles?« Patricia schien enttäuscht.

»Ja.«

»Und die Uhrzeit?«

»Die Uhrzeit weiß ich nicht.«

»Dann läuft überhaupt nichts. Wie soll ich ohne genaue Uhrzeit den Aszendenten bestimmen? Steht die nicht auf der Geburtsurkunde?«

»Nein.«

»Frag deine Mutter.«

»Meine Mutter lebt nicht in Brasilien«, schwindelte ich.

»Ruf sie an, so teuer ist das nicht. Ruf doch aus der Zeitung an.«

»Sie hat kein Telefon.« Sie lebt in einem verlassenen Dorf in den Karpaten, erzählte ich mir selbst. Im tiefsten Schnee, in einer Hütte ohne Telefon oder Zeitung, Klatschreporterinnen oder Rockbands, nur Elche gibt es da. Wo lagen noch gleich die Karpaten?

»Weißt du denn wenigstens, ob es morgens, nachmittags oder nachts war?«

»Frühmorgens«, sagte ich. Das stimmte sogar. Meine Mutter erzählte immer, sie hätte die ganze Nacht nicht geschlafen. Damit ich mich schuldig fühlte, klar. Aber einmal hat sie so was gesagt wie »als ich aus dem Fenster sah, ging gerade die Sonne auf, und du bist herausgekommen«. Das gefiel mir, zumindest war es ein sonniger Tag gewesen.

»Bleib am Apparat«, bat Patricia.

Am anderen Ende brandete kurz das höllische Geschrei auf. Allmählich kam Leben in die Redaktion. Dicke Kerle vom Sportressort, strubbelige Mädchen von der Unterhaltung, picklige Laufburschen. Ich wurde langsam alt. Und kriegte schlechte Laune. Ich senkte den Blick und fing an, konzentrische Kreise auf die Rückseite des Zettels mit ihrer Telefonnummer zu malen. Den Kopf bewegte ich bei dieser Hitze nur gemächlich, das machte mich noch schwindliger. Miranda, listete ich auf, Karpaten, Passo da Guanxuma. Das war alles weit weg, alles Fiktion. Unter die konzentrischen Kreise schrieb ich »Alles dreht sich nur um dich«, wie auf einer Postkarte, die ich mal irgendwo gesehen hatte. Gerade wollte ich das zweite d mit Tinte ausmalen, als es im Hörer wieder laut wurde und dann wieder gedämpft.

»Hallo«, sagte ich.

»Hör zu, mein Lieber, heute geht es auf gar keinen Fall. Wir machen eine Aufnahme. Außerdem ist Tag des Mondes, das ist nicht günstig. Sehr unbeständig, verstehst du? Erst am Freitag, am Tag der Venus. Um sechs Uhr nachmittags, mit dem Löwen im Aszendenten und der Sonne im nächsten Haus.«

Ich betonte jede Silbe derart gestochen, dass selbst eine gezähnte Vagina begreifen musste, wie wütend ich langsam war:

»Patricia, ich muss diesen Artikel am Donnerstag abgeben. Damit er am Freitag erscheint. Ich kann nicht warten, bis die Sterne günstig stehen und Uranus im Scheißhaus sitzt.«

Sie sagte nichts, war das zu grob gewesen?

»Es geht um die Titelstory«, lockte ich. Klang fast wie Vanity Fair. »Auf Seite eins, in Farbe.«

Plötzlich gab sie nach.

»Einverstanden. Wir machen gleich einen Clip im Studio. Komm einfach vorbei. Aber auf keinen Fall ein Interview. Erst nach dem Horoskop. Hier ist die Adresse.«

Als ich fertig war mit dem Aufschreiben ihrer endlosen Beschreibungen Marke »Also du weißt doch wo diese ziemlich heruntergekommene Tankstelle ist und da siehst du ein Werbeplakat mit der Slip-Reklame von diesem superscharfen Typen genau neben einem grässlichen grün gekachelten Wohnhaus …«, drückte ich meine Zigarette in Teresinha O’Connors hochkünstlerischem Bronzeaschenbecher aus. Sie hielt mir ihre Wange hin, Küsschen Küsschen.

»Drei zum Heiraten«, bettelte sie.

Ich gab ihr nur eins, ohne die Haut zu berühren. Oder besser gesagt, die Schminkeschicht zwischen meinem Mund und ihrer Haut. Ich nahm einen dicken Packen Blätter und rannte raus. An der Tür hörte ich noch Teresinhas Stimme:

»Vergiss meine Meldungen nicht, hast du gehört?«

4

Ehe ich ein Taxi fand, kam ich an zwei Liliputanern, einem Buckligen, drei Blinden, vier Lahmen, einem Arm- und Beinamputierten, einem weiteren Einarmigen, dann einem Mann in Lepralumpen, einer blutenden Schwarzen, einem Alten mit Krücken, zwei Arm in Arm gehenden mongoloiden Zwillingen und so vielen Bettlern vorbei, dass ich sie nicht mehr zählen konnte. Die Kulisse bildeten süßlich riechende Müllsäcke, umherschwirrende Fliegen und Kinder.

An der Straßenecke stand ein Mann in Skianzug und mit grünem Käppi und spielte Drehorgel für einen dieser Sittiche, die Glückslose ziehen. Ich blieb stehen. Der Mann ließ den Vogel dreimal nach dem gefalteten Los picken, bevor er es mir hinhielt. Da stand:

»Das Arbeiten wird dir alle guten Dinge des Lebens bringen: Lerne, mit einem ehrbaren Leben glücklich zu sein, glaube fest an frohe Kunde, und dir kommt unverhoffter Reichtum ins Haus, davon lebst du gut und gerne, dieses sagen dir die Sterne.«

Der japanische Taxifahrer versuchte, mich in ein Gespräch zu verwickeln, aber ich antwortete nur mit einem Grunzen, und nach der Bemerkung, dass bald ein gehöriger Regen runterkäme, gab er auf. Ich schob meinen Sitz nach hinten, streckte die Beine aus und kurbelte das Fenster noch ein Stückchen runter. Er schaltete das Radio ein, und ich betete, es möge keiner dieser Sender mit hyperrealistischen Beschreibungen von vergewaltigten alten Frauen, Würmern im Butterbrot oder Massakern im Waisenhaus sein. Plötzlich erklang die raue Stimme von Cazuza. Gleich sucht er einen anderen Sender, da war ich mir sicher, aber er tat es nicht. Mit der Folge, dass ich ihn ein bisschen zu mögen begann, so asiatisch, wie er aussah, vielleicht war er Buddhist?, und ich bat ihn, doch ein bisschen lauter zu stellen, legte den Kopf an die klebrige Nackenstütze, und fast eine Sekunde, ganz kurz nur, während der Wagen durch den hektischen Verkehr über den glühenden Asphalt kroch, während mein Hemd vor Schweiß troff und sich der Blätterstapel zwischen meinen Fingern in Teigmasse verwandelte, ganz kurz nur schloss ich die Augen, der Wind wehte mir ins Gesicht und trocknete den Schweiß, und wieder, fast eine Sekunde, wie jemand, der plötzlich seufzt oder blinzelt und dann normal weitermacht, blitzschnell wie ein Falter, der in einer Sommernacht auf der Suche nach einer Lichtquelle umherflattert, wie jemand, der das Licht an- und ausmacht und im leeren Zimmer gerade noch das in der Luft spürbare, sanfte Beben des Flügelschlags bemerkt, nicht mehr das Insekt, das schon davongeflogen ist, ganz kurz nur, am trüben Grund des Denkens, wollte ich schauen in das Dunkel der Welt, ohne es zu wollen, herauszufordern oder zu beeinflussen, und schließlich, fast eine Sekunde, dachte ich in dem Taxi Richtung Ibirapuera an Pedro.

5

Bevor ich sie überhaupt sah, schlug mir ein heftiger Schwall Trockeneis durch die Tür entgegen, die sie öffnete und gleich wieder schloss. Sie blieb vor mir stehen wie die Hohepriesterin, die einen Schatz bewacht. Eine mindestens eins achtzig große Hohepriesterin, nicht viel älter als zwanzig und dem Aussehen nach einer dieser langbeinigen Vögel, die auf den Ökokalendern am Rand der Sümpfe weilen. Sie hätte ganz witzig wirken können, wenn sie bloß nicht so krampfhaft auf ernst machen würde.

Patricia trug eine Brille, wie ich mir gedacht hatte. Keine runde, riesengroße, um zu betonen, dass sie viel las, auch keine mit bunter Fassung, um klarzustellen, dass sie trotz des vielen Lesens keine Langweilerin war. Eine Schmetterlingsbrille aus den Fifties von irgendeinem Edeltrödler im Stadtviertel Jardins. Das krause, fast blonde Haar hing in wüsten Kaskaden bis zum Hosenbund der knallengen Jeans. Die natürlich zerfranst war. An den Füßen schleppte sie schwere Stiefel, wie Soldaten oder Bergsteiger sie tragen. Sie machte den Eindruck, als wäre es ihr vollkommen egal, ob sie hübsch, nett oder manierlich aussah. Vielleicht hatte diese Ausstrahlung einer problematischen Oberschülerin deshalb etwas so Hilfloses.

Ich konnte den Blick einfach nicht von ihrem T-Shirt abwenden. Auf der Brust war etwas, das aussah wie die Zeichnung eines senkrecht geöffneten Mundes, ein bordeauxroter, blutähnlicher Fleck auf weißem Grund. Zwischen den violett getönten Lippenkonturen dieses Angst einflößenden Schlundes drohten zwei Zahnreihen, gezackt wie Haifischzähne. Und als ich an Lippen dachte, mit gerecktem Kopf, um besser zu sehen, fiel endlich der Groschen. Dies war eine Vagina dentata. Aber Gewissheit hatte ich erst, als Patricia sich umdrehte und ich auf ihrem Rücken den Namen der Gruppe lesen konnte.

Sie musterte mich gelangweilt, an mir war nichts Besonderes. Eine Jeans genau wie ihre, aber ohne Löcher, und ein weißes T-Shirt ohne Aufdruck, weder Vagina noch Phallus. Kein Ohrring, keine grüne Strähne im Haar. Eine Uniform, Kriegspfad oder Tarnung. Und unsichtbar sein wollte ich schon lange.

Sie fragte mich:

»Bist du der Typ von der Zeitung?«

»Ja.«

»Du siehst wahnsinnig spießig aus.«

»Stimmt«, erwiderte ich.

Sie lugte über ihren Brillenrand.

»Dein Aszendent ist bestimmt Fische.«

Wortlos starrte ich auf die Vagina zwischen ihren Brüsten. Ich wusste, wir konnten uns jeden Moment wieder in einen labyrinthischen Dialog verstricken: Dorothy Parker oder Lamour, vielleicht Dandridge?

In diesem Augenblick hörte ich es.

Durch die Tür drang ein vertrautes Lied. Mehr als vertraut. Dieses Lied, oder das seltsame Gefühl, das es in mir auslöste, hatte etwas Verwirrendes. Ich versuchte genauer hinzuhören, aber in meiner Erinnerung war es nicht exakt dasselbe. Obwohl auch das drinsteckte, was ich nicht wiedererkannte und woran ich mich halb erinnerte, in dem Lied oder in mir. Ich empfand Sehnsucht, ungeheure Traurigkeit und etwas anderes, noch finsterer, Angst oder Mitleid. Schemenhafte Gestalten jagten durch meinen Kopf, undeutlich wie in einem schlecht eingestellten Fernseher, so verschwommen, als würden zwei oder drei Projektoren gleichzeitig verschiedene Bilder auf eine einzige Leinwand werfen. Verschmelzung, dachte ich: Palimpsest. Und ich sah ein dunkles, hohes Zimmer vor mir, dessen Vorhänge das Tageslicht fernhielten, einen altmodischen Aschenbecher in Form eines runden Döschens, wie es in den Schwarz-Weiß-Filmen der vierziger Jahre die Frauen in der Handtasche haben, eine Perlenkette an einem blassen Frauenhals. Das ergab keinen Sinn.

Patricia sah mich neugierig an. Irgendein Lichtreflex ließ eines der Steinchen am Rand ihrer Brille funkeln. Vielleicht zeichnete sich deshalb zwischen all den unscharfen Bildern ganz deutlich ein Sessel in meinem Gedächtnis ab. Oder in meiner Einbildung, keine Ahnung. Ein klassischer Sessel, eine mit grünem Samt bezogene Bergère. Ich sah mich nach einem ähnlichen Grünton um, fand aber keinen. Wie Pflanzenblätter, die nie Sonne abkriegen, moosfarben, flaschengrün – wie ein Stück Glas, das ich einmal im Sand gefunden hatte, vom Meersalz und dem Wasser so grün und blank gescheuert, als hätte es die Farbe des tiefsten Meeresgrundes aufgesogen. So war das Grün des Sessels.

»Ich kenne dieses Lied«, sagte ich.

Patricia zuckte mit den Schultern.

»Kennt doch jeder. Ist unser großer Hit, steht auf dem zweiten Platz.«

Ich schob sie zur Seite.

»Das muss ich deutlicher hören.«

»Du kannst da jetzt nicht rein«, wollte sie gerade sagen.

Aber ich war schon drin. Der große Raum war vom Trockeneis vernebelt. Zwischen den Schwaden erkannte ich nach und nach ein paar Männer oder Teile von ihnen. Oberkörper, Köpfe. Kurz darauf, im Hintergrund, eine Kulisse aus bemaltem Pappmaché, Nachbildungen von Gebäuderuinen. Sie waren von Mülltonnen umstellt, die fast die Größe der Männer hatten. Daraus quollen unvermutete Gegenstände: das Bein einer Schaufensterpuppe, eine Pendeluhr, ein in zwei Hälften gespaltenes Cello, geköpfte Puppen, Plastikblumen, Grabsteine, Knoblauchzöpfe, Salvador Dalí in Hollywood, dachte ich, als Ausstatter eines Christopher-Lee-Films.

Vor den Bauten spielten drei Mädchen, die Jeans und das gleiche T-Shirt wie Patricia anhatten, Schlagzeug, Bassgitarre und Synthesizer. Das waren die Vaginas Dentatas: eine schwarze Schlagzeugerin mit bunten Perlen in den geflochtenen Haaren, eine fast kahl geschorene Dicke am Synthesizer und eine riesige Japanerin. Davor stand noch ein Mädchen, an eine unechte Straßenlaterne gelehnt, in schwarzem Leder, mit gebleichten Haaren und einer Gitarre. Von dort, wo ich stand, konnte ich ihr Gesicht nicht erkennen. Ich bemerkte lediglich den Kontrast zwischen den schweren Klamotten und ihren fast weißen Haaren, die unter dem bläulichen Scheinwerferlicht wie ein Heiligenschein um ihr wachsbleiches Gesicht schwebten. Unwirklich wie ein Engel. Ein Engel des Bösen, ohne Flügel oder Harfe, ein gefallener Engel. Das war Márcia Fellatio.

Als ich reinkam, hörte sie sofort auf zu singen. Wie durch Telepathie brachen im selben Augenblick auch die drei Vaginas Dentatas ab. Patricia stöhnte mir ins Ohr.

»Ich hab dich gewarnt, Márcia kann das nicht ausstehen.«

Im künstlichen Nebel schrie ein Mann.

»Was ist denn das für eine Scheiße, Mädels? Es war doch alles in Ordnung. So läuft’s jedenfalls nicht.«

Márcia schlug mit der Gitarre gegen die Straßenlaterne. Der Pappmast wankte auf dem bemalten Styroporsockel. Die Hände in die Hüften gestemmt, sah sie mich und Patricia an. Die Schwarze mit den Zöpfchen fing an, im Takt auf eins der Becken zu dreschen. Das war wohl Absicht: die offenkundige musikalische Untermalung für das Crescendo der Spannung eine Sekunde vor dem Wutausbruch.

»Patricia«, brüllte Márcia wie ein Sklavenschinder, hundert Peitschenhiebe und anschließend Salz in die Wunden. »Hab ich dir nicht schon tausendmal gesagt, dass ich keine Fremden in der Nähe dulde, wenn wir aufnehmen?«

»Das ist der Typ von der Zeitung«, erklärte Patricia. Ihre Stimme klang kindlich, krächzend. Lächerlich, aber es passte gleichzeitig zu ihrer Aufmachung eines langbeinigen Vogels. »Er ist einfach reingegangen. Ich kann nichts dafür.«

Die präapokalyptische Post-Punk-Primadonna musterte mich scharf. Vielleicht lag es am Licht, dass ihre Augen zu sehr funkelten. Synthetisch, als wären sie aus Acryl oder schössen Salven von Laserstrahlen ab. Ein trügerischer Leuchtturm, der die Seefahrer in die Irre führt. Grün vielleicht, überlegte ich.

»Wo kommst du überhaupt her?«

»Vom Diário da Cidade«, stammelte ich. New York Times, Le Monde oder so was hätte ich lieber gesagt. »Ich muss eine Titelstory über euch schreiben. Patricia hat keine Schuld, ich war derjenige.«

Márcia trat noch mal gegen den Mast. Ein Mann schrie:

»Mensch, gleich ist mein ganzes Bühnenbild im Arsch, Puppe.«

Das Becken des Schlagzeugs schepperte weiter. Die Japanerin entriss ihrem Bass einen markerschütternden Akkord, der gellend im Raum verhallte. Die Dicke rauchte, auf ihren Synthesizer gestützt, mit zynischem Grinsen. Sie amüsierten sich eindeutig.

Einer der Männer klatschte in die Hände.

»Wie sieht’s aus, Jungs«, doch niemand lachte. »Wir können nicht ewig hierbleiben. Wollt ihr nun diese Scheiße aufnehmen oder nicht?«

Márcias Laseraugen fegten durchs Studio:

»Was du Scheiße nennst, nenne ich Kunst. Jeder sieht nur das, was er sehen kann.«

»Schon gut«, entschuldigte sich der Unsichtbare. »Entschuldigung, war nicht so gemeint. Machen wir weiter.«

Patricia drückte meinen Arm.

»Ist sie nicht toll?«, säuselte sie.

Man hörte nur das Hämmern des Schlagzeugs, das mit dem Geheul der Bassgitarre abwechselte. Márcia senkte den Kopf, trat kurz gegen den schiefen Mast und nahm die Gitarre.

»Alles klar«, sagte sie. »Vergiss es, diesmal lasse ich’s noch durchgehen.«

»Auf-nahme!«, schrie der Regisseur.

Márcia drehte sich um und hob den rechten Arm. Der Zeigefinger deutete zur Decke. Am Handgelenk trug sie ein Nietenarmband. Márcia sah zu den Vaginas Dentatas hinüber, dann zählte sie, mit dem Fuß aufstampfend:

»One, two, three!«

Bei dem schauderhaften Gitarrenakkord musste ich an einen der scharlachroten Fingernägel von Teresinha O’Connor denken, der von oben nach unten über eine Schiefertafel kratzte. Márcia fing wieder an zu singen.

Diese raue und durchdringende Stimme, wie zermahlenes Glas, das in einem Mixer herumwirbelt, war weder hässlich noch schräg, es war nur unangenehm, wie sie sich im Hirn des Zuhörers breitmachte. Egal, was sie gerade sang, diese Stimme hörte sich an, als käme sie aus den Tiefen atomarer Ruinen. Nicht aus den nachgebauten Pappmachéruinen dieser Kulisse, sondern Hiroshima, Köln nach dem Bombenangriff, Trümmer eines Dorfes in der Nähe eines Atomkraftwerks nach dem GAU, so als hätte sie den Weltuntergang überlebt, die Stimme einer radioaktiven Meerjungfrau. Es war dieselbe Stimme, die ich beim Duschen im Radio gehört hatte, bevor ich in die Redaktion fuhr.

Ich fuhr mir mit der Hand über den Nacken, die Gänsehaut war noch da. Aber das war nicht alles, wie ich mehr ahnte als wusste. Ich kannte dieses Lied woandersher, aus anderen Zeiten. Ich konzentrierte mich auf den Text.

Er war verzerrt durch das Arrangement, radioaktiver Wind in einer gotischen Kathedrale, war schneller gesungen, gestöhnt, gebrüllt, völlig anders als früher sein getragener Ton. Das verseuchte Geheul der Gitarre, die Trommelschläge wie ferne Explosionen, sie besudelten einen alten Schlager aus den vierziger oder fünfziger Jahren. Zu meiner Verblüffung wusste ich noch den kompletten Text.

Ich fing an mitzumachen, bewegte die Lippen stimmlos zu den Worten, singen konnte ich nicht:

Weiter nichts,

weiter nichts als eine Illusion.

Ohne Witz,

denn mein Herz verlangt den falschen Ton.

Falle ich auch immer wieder rein

auf die ganzen Liebeslügen,

ich leb glücklich und lass mich betrügen

durch die Illusion vom Glücklichsein.

Allen bringt die Liebe

nichts als Leid und Schmerz,

darum ist die Illusion der Liebe

so viel besser für mein Herz.

Und in meinen Träumen brauch ich

weiter nichts, das weiß ich schon,

weiter nichts als eine schöne Illusion.

Nichts, weiter nichts, wiederholte Márcia fast reglos, und sie ließ den Mast erst los, als sie sich verbeugte, wobei sie theatralisch eine Hand ausstreckte und das im Licht der erlöschenden Scheinwerfer entstellte Gesicht nach oben richtete. Ich schloss die Augen und sah wieder den grünen Sessel. Sonst nichts, weiter nichts, bis allmählich dieselben, von einer anderen Stimme gesungenen Verse wiederkehrten. Eine volle, tiefe Frauenstimme von früher.

»Schnitt!«, rief jemand.

Da fiel es mir blitzartig wieder ein: Dulce Veiga.

Dulce, auch Dulce Veiga hatte dieses Lied aufgenommen. Vor zehn, fünfzehn, zwanzig oder wie vielen Jahren? Die Gänsehaut kroch mir vom Nacken über die Arme, seltsam, wie eine Warnung.

»Dulce Veiga«, sagte ich ins Dunkel hinein.

»Was ist?«, fragte Patricia.

Ich gab keine Antwort, das Licht ging an.

Der Regisseur schrie:

»Fünf Minuten, wir machen ein paar Gegenschnitte.«

Márcia kam zwischen den Mülltonnen hervor und steuerte auf mich zu. Patricia zauberte eine Coca-Cola mit Strohhalm aus dem Nichts und hielt sie ihr hin. Ganz dicht neben mir zog Márcia ihre Jacke aus. Sie hatte nichts drunter. Die Warzen ihrer kleinen festen Brüste waren steif, als ob sie erregt wäre. Dazwischen prangte ein tätowierter Schmetterling. Patricia hatte sich in eine Sklavin verwandelt und begann, ihr mit einem Strohfächer Luft zuzuwedeln. Ich konnte den Blick nicht von ihren Brüsten lassen.

»Entschuldige den Aufstand eben«, sagte sie mit etwas heiserer Stimme. Ihre Augen waren wirklich grün. »Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn ein Fremder dabei ist.«

»Alles klar«, sagte ich.

»Alles klar«, sagte sie.

»Alles klar«, wiederholte ich.

»Alles ganz wunderbar«, sagte die Japanerin hinter mir, während sie meinen Hintern tätschelte.

»Dieses Lied«, sagte ich. »Das Lied, das du gesungen hast.«

»Es heißt Weiter nichts.«

»Ich kenne es.«

»Na und? Kennt doch jeder. Ein alter Schlager von Orlando Silva, na wennschon.«

Unvermittelt fragte ich:

»Kennst du die Aufnahme von Dulce Veiga?«

Márcia schnorchelte mit dem Strohhalm den letzten Rest der Cola. Ohne zu antworten, reichte sie Patricia die leere Flasche. In einer Ecke drängten sich die drei Vaginas Dentatas begierig um einen Spiegel auf den Knien eines untersetzten Mannes. Von unserem Platz konnte man das Tack-tack der Rasierklinge hören, die auf den Spiegel klopfte. Ich spürte einen kalten Schauer im Bauch. Wie ein drittklassiger Star blies Márcia den Zigarettenrauch an die Decke. Wenn sie ihren Hals so reckte, sah man schwach die blauen, pulsierenden Adern. Ich dachte an Lestat, den Vampir: Der würde durchdrehen.

Die Japanerin rief:

»Willst du nichts? Komm schnell, bevor sich die gierige Meute alles allein reinzieht.«

Márcia fragte einladend: »Willst du eine Line?«