Was kommt. Was geht. Was bleibt. -  - E-Book

Was kommt. Was geht. Was bleibt. E-Book

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Beschreibung

Vor 225 Jahren verlegte Bartholomä Herder, der Ur-Ur-Ur-Großvaters des heutigen Verlegers, Manuel Herder, das erste Herder-Buch. Zu diesem Anlass erscheint ein Band, in dem prominente Autorinnen und Autoren die wichtigsten Themen unserer Zeit verhandeln. Es entsteht eine geistige Landkarte unserer Gegenwart mit Blick voraus. »Was kommt. Was geht. Was bleibt.« bietet vielfältige und spannende Anregungen, sich mit den Themen von heute und morgen auseinanderzusetzen.

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Manuel Herder (Hg.)

Was kommt.

Was geht.

Was bleibt.

Kluge Texte über die wichtigsten Fragen

unserer Zeit

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rohrdorf

Umschlagmotiv: © aksol/shutterstock; VolodymyrSanych/shutterstock

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau

ISBN Print 978-3-451-39583-3

ISBN E-Book 978-3-451-83151-5

Papst Franziskus, Jorge Mario Ber­goglio, (* 17. Dezember 1936 in Buenos Aires) ist seit dem 13. März 2013 Bischof von Rom. Der argentinische Jesuit ist Sohn einer siebenköpfigen Familie italienischer Auswanderer und war von 1973 bis 1979 Provinzial der argentinischen Jesuiten. Von 1998 bis 2013 war er Erzbischof von Buenos Aires, er wurde 2001 zum Kardinal ernannt.

Viele seiner Bücher sind in deutscher Übersetzung im Verlag Herder erschienen, darunter Die Freude des Evangeliums. Das Apostolische Schreiben »Evangelii gaudium« über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute (2014) und zuletzt Du bist wundervoll. Vom Mut, seine Träume zu leben (2023).

Inhalt

Zum Geleit

Bartholomä Herder

Vorwort

Manuel Herder

Absage

Älterwerden

Sky du Mont

Angst

Katharina Domschke

Antisemitismus

Ruth Weiss

Apostel

Johanna Rahner

Arbeit

Lars P. Feld

Aufstieg

Ana-Maria Trăsnea

Auto(mobil)

Walter Kohl

Barmherzigkeit

Mouhanad Khorchide

Berlin Alexanderplatz

Fadi Saad

Bevölkerungspyramide

Bernd Raffelhüschen

Bildung

Rüdiger Safranski

Bleibendes

Christoph Kardinal Schönborn

Brandstifter

Rafael Seligmann

Bürger

Andreas Rödder

Bürokratieabbau

Boris Palmer

Chaos

Christian Streich

Crux

Jan-Heiner Tück

Demokratie

Jean Asselborn

Deutsch

Sylvie Goulard

Deutschland AG

Karl-Ludwig Kley

Dienen

Michael Seewald

Digitalisierung

Cherno Jobatey

Drohnenkriege

Markus Reisner

Ehe

Johannes Hartl

Einsamkeit

Anselm Grün

Engagement

Anna-Nicole Heinrich

Fachkräfte-Weltmeister

Verena Pausder

Familienunternehmen

Stefan Hipp

Feiertag

Heiner Wilmer

Föderalismus

Reiner Haseloff

Fortschritt

Barbara Junge

Frieden

Franz Alt

Gebet

Martin Werlen

Gedichte

Manuel Herder

Geduld

Renate Köcher

Gegenwind

Alexander Marguier

Gespräch

Giovanni di Lorenzo

Globalisierung

Harold James

Gottesdienst

Antje Jackelén

Haltung

Margot Käßmann

Heimat

Markus Söder

Hoffnung

Tomáš Halík

Hören – Suchen

Stephan Burger

Hut

Maite Kelly

Influence

Michelle Nadine (@Cafeidos)

Jubiläum

Alain Berset

Kinderwahlrecht

Jörg Maywald

Klimaaktivismus

Achim Wambach

Konsequenz

Thomas Frings

Konservativ

Winfried Kretschmann

Krieg

Nikola Eterović

Künstliche Intelligenz

Alexander Van der Bellen

Lachen

Armin Laschet

Leere

Sylvia Wetzel

Leid

Monika Renz

Liebe

Gerald Hüther

Linksextremismus

Klaus Schroeder und Monika Deutz-Schroeder

Mainstream

Wulf Schmiese

Marktwirtschaft

Roland Koch

Nachbarn

Gerd Krumeich

Neutralität

Barbara Schmid-Federer

Optimismus

Mojib Latif

Qualität

Gabriele Haug-Schnabel

Rechnen

Ille C. Gebeshuber

Rechtsextremismus

Matthias Meisner

Reform

Carsten Linnemann

Risiko

Thomas de Maizière

Schule

Jürgen Kaube

Sicherheit

Boris Pistorius

Sicherheitsversprechen

Herbert Reul

Social Media

Martin Horn

Solidarität

Basil Kerski

Spielen

Renate Zimmer

Sport

Pirmin Zurbriggen

Streit

Michael Wolffsohn

Tiere

Julia Enxing

Toleranz

Joachim Gauck

Transformation

Hildegard Müller

Veränderung

Philippa Rath

Verschwörungstheorien

Sineb El Masrar

Versöhnung

Sophie von Bechtolsheim

Vision

Ola Källenius

Vollkontakt

Simon Biallowons

Wandel

Martina Merz

Wandern

Beate Gilles

Wegschauen

Stephanie zu Guttenberg

Weltbürgerrecht

Wolfgang Huber

Weltfrieden

Julian Nida-Rümelin

Weltkirche

Jean-Claude Kardinal Hollerich

Zeitenwende

Sigmar Gabriel

Zensur

Susanne Schröter

Zweifel

Georg Gänswein

Zwiespalt

Abigail Favale

Editorische Anmerkung zum Geleitwort

Manuel Herder

Danksagung

Manuel Herder

Bildnachweis

Über den Herausgeber

Zum Geleit

Bartholomä Herder

Meine Familie stammt seit jeher aus Rottweil am Neckar. 1441 zahlte sie hier zum ersten Mal Steuern. Die Familie gehörte größtenteils der Tuchmacherzunft an. Das Herder’sche Haus in der Hauptstraße war eines ihrer Stammsitze. Rottweil war eine Freie Reichstadt, als ich 1798 mit meinem Lebenswerk begann. Doch Althergebrachtes galt damals schon nicht mehr viel – die Welt befand sich mitten in einem nie da gewesenen Wandel, und nicht nur reichsfreie Städte sollten schon bald der Vergangenheit angehören.

Als einziges Kind unserer Familie durfte ich in die Klosterschule Sankt Blasien. Von meinem Zuhause war es ein weiter Weg, der zu Fuß oder auf Pferde- oder Ochsengespannen zurückgelegt werden musste. Dabei ging es bergauf und bergab über die Berge des Schwarzwaldes hinweg. Die Strecke war schön, aber die Schwarzwaldtäler und Berge verlangten mir auf den Reisen viel ab. Wahrscheinlich hat mich das die Ausdauer gelehrt, die ich später brauchte, um mich auf all die langen Reisen zu machen, die mein Leben prägen sollten. Als mich die Benediktinermönche in Sankt Blasien fragten, was ich einmal werden wolle, gab ich zu Protokoll, dass ich »gelehrter Buchhändler« werden und vermittels »guter Schriften« ins »Leben eingreifen« wolle. Und das Leben war damals in voller Bewegung.

In den 1770er Jahren sagten sich im fernen Amerika die Kolonialisten von der englischen Krone los und erklärten ihre Unabhängigkeit. Sie gründeten eine Republik, an deren Spitze ein gewählter Präsident stehen sollte. Sieben Jahre Krieg waren die Folge. Doch das waren nur Vorboten dessen, was 1789 in Frankreich losbrach: Revolution! Von Hunger und Armut getrieben, hatten die französischen Bauern und schließlich das ganze Volk rebelliert und mehr Mitspracherecht verlangt. Doch was ursprünglich als ein Ruf nach Nahrung und mehr Rechten begonnen hatte, brach sich als blutige Revolution Bahn. Alles sollte sich verändern. Die Woche sollte zehn Tage haben, der Tag zehn Stunden, die Stunde 100 Minuten und die Minute 100 Sekunden. Monate wurden umbenannt und die bisherigen Feste und Feiertage verboten. Ersetzt wurden sie durch neue, revolutionäre Feiertage wie den Tag der Vernunft. Doch anstatt Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit brachten die Jakobiner die Terreur. Das hieß Verfolgungen und unzählige Hinrichtungen. Selbst König Ludwig XVI. wurde durch die Guillotine geköpft. Nichts konnte das Morden stoppen. Nicht einmal die Armeen Österreichs und Preußens, die gegen Frankreich marschierten. In Europa ging die Angst um. Am Ende der Revolution hatte Frankreich einen neuen Monarchen. Ein unbekannter Korse, der sich zum Kaiser aufschwang und die Welt so veränderte, wie es ihm passte. Er zwang die Völker in Kriege, deren Schlachten tödlicher waren als alles, was Menschen vorher je gesehen hatten.

Meine Familie hatte Glück, dass weder ich noch mein jüngerer Bruder Andrä zwangsrekrutiert wurden, um auf fernen Schlachtfeldern unser Leben zu lassen. Waren die Burschen erst einmal von den Häschern des Militärs gefasst, hat man die wenigsten je wiedergesehen. Es war furchtbar.

Bis zum Reichsdeputationshauptschluss 1803 war meine Heimatstadt Rottweil eine Freie Reichsstadt und unterstand nur dem Kaiser des Reichs. Drei Jahre später gab es das Reich nicht mehr – genauso wenig wie die Universität, an der ich studiert habe, obwohl diese seit 1551 Bestand gehabt hatte. Die deutschen Fürsten hatten sich lieber mit Napoleon zusammengetan, als den Habsburgern in Wien die Treue zu halten. Das Reich war Geschichte und damit eine weitere Gewissheit, die wir bis dahin im Leben gehabt hatten. Doch diese rauen Zeiten boten mir Chancen, die ich so sonst nie gehabt hätte.

Nach meiner Schulzeit und dem Studium der Philosophie an der Universität Dillingen kehrte ich nach Rottweil zurück. Dort beteiligte ich mich an einer Buchhandlung. Wir nannten sie die neue Schulbuchhandlung. Ab 1798 gab ich meine ersten Bücher heraus. Mein erstes Buch handelte noch von »Reichsstaatsrechtlichen Untersuchungen«. Doch schon in einem meiner nächsten ging es um die Zeit, als französische Truppen Ägypten besetzt hatten: Briefe über die neuesten Ereignisse in Ägypten und ihre Beziehungen auf den Handel nach Ostindien und im Mittelländischen Meere. Unsere Bücher brachten die großen Veränderungen der Welt in unsere Heimat. Doch mein unternehmerischer Start in Rottweil wollte nicht so recht gelingen, da die notwendigen Genehmigungen des Magistrats ausblieben. Einen nicht gelernten Schriftsetzer wollte man in der Stadt nicht als Verlagshändler haben, und so machte ich einen neuen Anfang.

Ich war nach Meersburg gegangen, um am Hof des Fürstbischofs von Konstanz, Karl Theodor von Dalberg, Aufträge zu erhalten. Man hatte mir und meiner Familie ein Haus direkt hinter dem Stadttor angeboten, eine Förderung mit Bargeld zugesagt und mir in Aussicht gestellt, eine Verlagshandlung als Fürstbischöflicher Hofbuchhändler gründen zu können. Die entsprechende Urkunde habe ich am 27. November 1801 erhalten. Doch da der Fürstbischof sein Geld für sein neues Schloss ausgab, anstatt mir die versprochenen Summen auszuzahlen, stand ich schon bald wieder mit leeren Taschen da. Deshalb zog es mich und meine Frau Jeanette Burkart, die ich in Rottweil kennengelernt hatte, nach Freiburg. Wir hofften, dass uns die dortige Universität mit ihren vielen Gelehrten neue Perspektiven für unsere Verlagsbuchhandlung bieten würde.

Während des Kongresses zur Neuordnung Europas reiste ich 1815 nach Wien. Ich lebte im Bürgerspital, 1. Hof, 1. Stiege, 4. Stock, Nr. 8. So lernte ich diese wunderbare Stadt und die Hofburg kennen. Ich freundete mich mit Fürst Metternich an. Es gelang mir, von diesem den Auftrag zur Herausgabe der Feld-Zeitung zu erhalten. Eigentlich war der Auftrag schon vergeben, und mein Schreiben an den Hofkriegsrat vom 20. April 1815 wurde umgehend abschlägig beantwortet. Ich gab nicht auf, und tatsächlich bekam ich einige Wochen später, am 30. Mai, einen von Metternich unterzeichneten Erlass, der mich zum k.k. Felddrucker ernannte und berechtigte, eine Feld-Zeitung zu verbreiten. Ich reiste also hinter den Truppen her, als diese Napoleon entgegenzogen. Am 24. Juni 1815 konnte ich in der ersten Ausgabe meiner Zeitung den Sieg von Waterloo verkünden. Dann folgte ich den preußischen und österreichischen Truppen bis in die französische Hauptstadt.

In Paris hatte der Verleger André Le Breton etwa vierzig Jahren zuvor sein unglaubliches Werk, die Encyclopédie, veröffentlicht. Er hatte dafür Denis Diderot gewonnen. Es war das erste große Werk, in dem die neue Technik des Kupferstichs verwendet wurde. Le Breton hat ein Meisterwerk unserer Zunft geschaffen, und ich war einer der Ersten, der diese Technik in die deutschen Länder brachte. Ein Umstand, der mir ohne die Kriegslust Napoleons nie zuteilgeworden wäre.

Jede Generation erlebt ihre Zeit als eine Zeit unglaublicher Veränderungen. Sie erlebt den Wandel so intensiv, dass sie sich kaum vorstellen kann, dass frühere Generationen einen vergleichbaren Wandel erlebt haben könnten. Und doch gibt es Phasen des Wandels, die einschneidender sind als andere. Es gibt Zeiten, in denen eine völlig neue Weltordnung entsteht und nichts bleibt, wie es war. Ich habe eine solche Zeit erlebt.

In einer solchen Zeit braucht es Gedanken, die den Menschen Halt geben. Mit meinem Verlag wollte ich genau dazu beitragen. Meine Grundüberzeugung habe ich in dem damaligen Bewerbungsschreiben auf das Amt des Fürstbischöflichen Hofbuchhändlers vom 13. Juni 1801 festgehalten. Ich erklärte darin, dass ich »auf Zusprache mehreren Gelehrten eine Sammlung von Schriften zu veranstalten« gedächte, »die 1. dem Priester, Seelsorger etc. zur Führung seines Amtes« und »2. dem Schulmann, dem Erzieher und der Jugend angenehm und nützlich sind«. Ich fügte hinzu, ich wolle »die Liebe zur Literatur verbreiten und gute Schriften unter das Volk bringen«.

Vorwort

Manuel Herder

Aus den ersten Büchern von 1798 und der Idee, die Bartholomä Herder im Juni 1801 skizzierte, wurde Herder. Ein Verlag für Religion, Erziehung und die großen Fragen des Lebens.

Bartholomä Herder veröffentlichte in seinen frühen Rottweiler Jahren Bücher wie Das gute und verständige Kind an seinem ersten Kommunionstage und Schöne Geschichten und lehrreiche Erzählungen zur Sittenlehre für Kinder. Heute finden sich in unserem Verlagsprogramm Auf dem Weg zur Erstkommunion und Aus Erziehung wird Beziehung. Damit sind wir über sechs Verlegergenerationen hinweg der Idee unseres Gründers treu geblieben. Die Themen, zu denen Bartholomä seit 1798 verlegte, beschäftigen jede Generation aufs Neue. Die Fragen zu Kindheit, Jugend, Familiengründung und Kindererziehung wollen von jeder Generation neu beantwortet werden – genau wie Fragen um Glaube, Hoffnung Liebe und Tod.

Man kann sich einen Verlag wie einen Surfer auf der Welle vorstellen. Er muss die bewegenden Fragen finden, die die Leser interessieren. Er muss sich im richtigen Moment in Position bringen, um die Welle zu nutzen. Dann muss er sie rechtzeitig verlassen, um für die nächste bereit zu sein. In den 225 Jahren, seit Bartholomä Herder das erste Buch verlegte, konnte der Verlag Herder auf großartigen Wellen reiten, wurde aber auch von gefährlichen Strudeln in die Tiefe gezogen. Fast jede Verlegergeneration erlebte große Erfolge und Durchbrüche, die das Herz höherschlagen ließen, aber auch Momente, in denen die Verleger fürchten mussten, dass für die Zukunft des Hauses aller Tage Abend sei. Als der Verlag unter Hermann Herder sen. 1912 mit Stolz auf das Erreichte und in Freude auf das Kommende in das neue Verlagshaus in der Hermann-Herder-Straße einzog, erwartete wohl niemand, dass viele der Kollegen schon bald einem grausamen Krieg zum Opfer fallen würden und das Verlagshaus zum Kriegslazarett umfunktioniert werden würde.

Jede Zeit ist im Wandel. Jede Zeit prägt ihre Menschen. Als wir vor bald einem Vierteljahrhundert 200 Jahre Herder – 200 Jahre Zukunft feierten, verlegten wir zum Jubiläum Was kommt. Was geht. Was bleibt., herausgegeben vom damaligen Programmchef des ZDF, Markus Schächter. Damals reichten die Beiträge von A wie Altwerden (Kardinal König) bis Z wie Zuhause (Michel Friedmann). Das Buch lieferte einen lesenswerten Blick auf seine Zeit. Genau das beabsichtige ich auch mit diesem Band. Mit dieser Ausgabe von Was kommt. Was geht. Was bleibt. legt der Verlag Herder einen Band vor, der ebenfalls die Prägung unserer Zeit wiedergibt. Der eidgenössische Bundespräsident Alain Berset behandelt »Jubiläum«, der österreichische Bundespräsident van der Bellen »Künstliche Intelligenz« und Bundespräsident a. D. Joachim Gauck »Toleranz«. Mit ihnen schreiben Frauen und Männer aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, aus Luxemburg, Frankreich, Polen, Tschechien, Mexiko und den USA zu Themen, die uns heute bewegen.

Markus Schächter erklärte damals: »Vollständigkeit oder Ausgewogenheit waren nicht beabsichtigt. Wohl aber der Blick auf Begriffe, in denen sich spiegelt, was Menschen von heute interessiert und bewegt.« Das gilt auch für diesen Band.

So habe ich nun die Ehre, Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, eine gute Lektüre zu wünschen. Ich tue das mit der Bitte an Sie, dem Engagement unseres Hauses, unseren Autorinnen und Autoren und unseren Veröffentlichungen auch weiterhin Ihre Aufmerksamkeit zu schenken, damit wir noch lange »mit guten Schriften ins Leben eingreifen können«, so wie unser Gründer Bartholomä Herder es 1798 begonnen hat.

Absage

Jürgen Habermas (*am 18. Juni 1929 in Düsseldorf) ist einer der weltweit einflussreichsten Philosophen und Soziologen der Gegenwart. Er lehrte unter anderem an den Universitäten Heidelberg und Frankfurt am Main sowie der University of California in Berkeley und war Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg. Jürgen Habermas erhielt zahlreiche Ehrendoktorwürden und Preise, darunter den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (2001) und den Kyoto-Preis (2004). Sein gemeinsam mit Joseph Ratzinger verfasstes Buch Dialektik der Säkularisierung erschien zuerst 2005 im Verlag Herder.

Älterwerden

Sky du Mont

Wie es der Zufall will, werde ich auch dieses Jahr wieder Geburtstag haben. Einen runden sogar. Dafür kann ich nichts. Es hat sich einfach so ergeben. Man staunt: So alt bin ich schon? Es fühlt sich gar nicht so an. Eigentlich sind es immer noch und immer wieder die gleichen Grundbedürfnisse, die das Dasein prägen: Wir sind glücklich und haben Sorgen, wir suchen Nähe und Erfolg, wir wollen geliebt werden und fragen uns nach dem Sinn des Lebens …

Ein interessanter Punkt: Macht es einen Unterschied, ob man kurz oder lang auf dieser Welt ist? Ist ein Leben sinnvoller, wenn es lange dauert? Bei mancher Festrede möchte man es meinen, da werden die Honoratioren mit Anerkennung überhäuft. Nur wofür? Dass sie eine Menge anderer Menschen überlebt haben? Das scheint mir, für sich genommen, nicht besonders sinnstiftend. Dass sie einer mutmaßlichen höheren Macht mit jedem Lebensjahrzehnt beträchtlich näher rücken? Nun ja, man weiß ja nicht, wohin es einen im Jenseits verschlägt. Nein, ich nehme an, Alter ist kein Wert an sich, und es gibt dem Leben auch keinen tieferen Sinn. Trotzdem haftet ihm etwas Besonderes an.

Natürlich: Alte Menschen haben vieles erlebt und vieles erlitten, sie haben viele Erfahrungen gemacht und vieles durchgestanden, sie haben viel geleistet und viel gesehen. Triumphe und Tragödien häufen sich im Laufe eines langen Lebens, Siege und Niederlagen, Zeiten des Glücks und Zeiten des Unglücks. Wenn ich es mir so überlege, dann staune ich. Denn auch wenn ich mich gar nicht so alt fühle, habe ich doch unglaublich viel erlebt. Und überlebt! Lange Koteletten zum Beispiel und Schlaghosen, Tankstellen mit Bedienung, Schallplatten, den VW Käfer, Faxgeräte und neuerdings sogar Telegramme. Alles weg. Mich dagegen gibt es noch. Und ich bin ja gerade erst 75 Jahre alt. Was wird noch an mir vorbeiziehen? Wenn ich es mir so überlege, bin ich viel zu neugierig auf diese Welt und was sie so an Neuerungen für uns hat, als dass ich mich alt fühlen möchte. Von mir aus dürfen gern noch ein paar Jahrzehnte hinzukommen. Und ein paar mehr.

Der Verlag Herder hat ja inzwischen sogar 225-Jähriges! Gut, das werde ich nach Menschenermessen nicht schaffen. Aber schon beachtlich, was in der Zeit alles passiert ist. Die Französische Revolution war noch in vollem Gange, als der Verlag gegründet wurde, Beethoven noch am Leben, es gab kein Deutschland und kein Italien, die USA steckten in den Kinderschuhen. Riesenreiche wie die Österreichisch-Ungarische Monarchie starben, Riesenreiche wie die Sowjetunion entstanden – und zerfielen ebenfalls, Weltkriege erschütterten den Planeten. Gandhi, die Beatles und Mickymaus machten die Welt zu einem besseren, cooleren und bunteren Ort. Und inmitten all dieser unglaublichen Ereignisse und Entwicklungen segelt das Schiff dieses Verlags durch Zeit und Raum, dass man neidvoll anerkennen muss: Wäre ich kein Mensch geworden, ich wäre gerne als Verlag gegründet worden.

Mein Gründungmythos liegt weit weniger lang zurück, aber ich mag ihn, weil er meiner ist. Es ist ein großes Geschenk, wenn man vieles miterleben darf, was auf Erden geschieht. Und vielleicht gibt das Alter dem Leben keinen besonderen Sinn, aber die Erlebnisse, die wir haben, und die Erkenntnisse, die sie uns ­bescheren, lassen uns dem Sinn des Lebens ein klein wenig näher kommen – zumindest dem Sinn des Älterwerdens. Also, ich möchte sehr gern noch einiges mehr davon mitnehmen, wohin auch immer. Älterwerden lohnt sich, finde ich.

Sky du Mont (* 20. Mai 1947 in Buenos Aires) hat schon viel von der Welt gesehen: Er wuchs in München, der Schweiz und London auf, ist als Schauspieler in zahlreichen nationalen und internationalen Filmen zu sehen, die ihn bis nach Hollywood geführt haben. Er hat mehrere Drehbücher und Romane verfasst. Der Bestseller Ungeschönt. Alt werden war auch schon mal schlimmer, der 2022 im Verlag Herder erschienen ist, ist sein bisher persönlichstes Werk.

Angst

Katharina Domschke

Im Jahre 1798 verlegte Bartholomä Herder das erste »Herder-Buch«. In Friedrich Schillers Musen-Almanach für das Jahr 1798 veröffentlichtem Gedicht Prometheus von August Wilhelm Schlegel ist zu lesen: »Die Furcht beherrscht des Menschen irre Tritte.« Im selben Jahr 1798 komponierte Joseph Haydn seine Missa in angustiis (»Messe in der ängstlichen Bedrängnis«), schlug Benjamin Rush, der Vater der amerikanischen Psychiatrie, eine erste Klassifikation verschiedener Formen der Phobie vor und veröffentlichte Friedrich Schiller seine Bürgschaft, in der Damon nach Hause eilt »mit sorgender Seele«, ihn die »Angst treibt« und seinen »eilenden Fuß beflügelt«, ihn »der Sorge Qualen jagen«. 150 Jahre und zwei Weltkriege später, im Jahr 1948, wurde W. H. Audens Werk Age of Anxiety mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet, im Jahr darauf komponierte Leonard Bernstein seine gleichnamige 2. Symphonie. Heutzutage, 225 Jahre nach dem ersten »Herder-Buch«, beherrschen Ängste im Rahmen der Coronapandemie und des Ukrainekriegs sowie die »Eco-Anxiety«, die Angst vor dem Klimawandel, die Menschheit.

»Was kommt. Was geht. Was bleibt.« – die Angst, etymologisch abgeleitet von »angustia« (lat.: die Enge, die Bedrängnis, die Beklemmung), und ihre engen Verwandten, die Furcht, die Sorge und der Schrecken (lat.: timor, metus, pavor; griech: phobos), sind Basisemotionen des Menschen, ein mit Werner Bergengruen »menschlicher Urzustand«, der bleibt. Eine metaanalytische Auswertung von 131 europäischen Studien zeigt in der Tat im Zeitraum von 1964 bis 2015 ein gleichbleibendes Angstniveau. Und auch in der seit 30 Jahren jährlich durchgeführten Umfrage der R+V Versicherung zu den Ängsten der Deutschen blieb der sogenannte Angstindex – der Durchschnitt aller abgefragten Ängste – seit 1992 im Schnitt stabil. Was kommt und was geht, sind die Themen der Angst: Während im Jahr 1992 in der Deutschlandumfrage der R+V Versicherung die Angst vor schwerer Erkrankung, Pflegebedürftigkeit im Alter, Spannungen durch Zuzug von Ausländern, Straftaten, eigener Arbeitslosigkeit, sinkendem Lebensstandard und Vereinsamung im Alter im Fokus stand, sorgten sich die Deutschen im Jahr 2022 um steigende Lebenshaltungskosten, unbezahlbares Wohnen, eine schlechtere Wirtschaftslage, Steuererhöhungen oder Leistungskürzungen durch Corona, Kosten für Steuerzahler durch die EU-Schuldenkrise, Naturkatastrophen und Wetterextreme sowie die weltweit zunehmende Macht autoritärer Herrscher. »Tempora mutantur et timormutatur in illis«, wenn man so will. Das heißt, von Zeit zu Zeit mag die Angst ihr Gesicht und ihre Objekte verändern, mal mag sie stärker, mal weniger ausgeprägt sein in der Geschichte der Menschheit, in verschiedenen Kulturen und im individuellen Menschenleben. Grundsätzlich aber gehört die Angst zum normalen Menschsein dazu – genau wie Freude, Überraschung, Wut, Ekel, Trauer und Verachtung, die weiteren Basisemotionen des Menschen.

Angst ist das Alarmsystem, das Quellen der Bedrohung erkennt, uns vor Gefahren warnt und den Körper in die Lage versetzt, die »Fight«-, »Flight«- oder »Freeze«-Reaktion zu initiieren – je nachdem, was in der jeweiligen Situation opportun erscheint, um das Überleben zu sichern. In den Worten Schopenhauers in seinen Parerga und Paralipomena: »Ein gewisses Maß an Furchtsamkeit ist zum Bestand der Welt notwendig.« Die Angst vor Diktaturen, Verfolgung, Krieg und Genozid, die Angst vor Naturkatastrophen, Krankheiten, Leiden und Tod sind reale und die Menschheit seit jeher begleitende Ängste. Angst ist ein Signal des moralischen Gewissens, wie es die verheiratete Irene während einer Affäre mit dem Pianisten Eduard in Stefan Zweigs Novelle Angst erfährt. Angst dient als Werkzeug, um »Flügel zu verleihen«, um aufzurütteln und auf Missstände aufmerksam zu machen – man denke an die Auffassung des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard von Angst als der »unendlichen Möglichkeit des Könnens, die den Motor menschlicher Entwicklung bildet« oder an Greta Thunberg, die mit Blick auf die Klimakrise fordert: »I want you to panic!« Angst wurde aber auch in allen Zeitaltern als Macht- und Herrschaftsinstrument eingesetzt und missbraucht, frei zitiert aus Machiavellis Il Principe: »Die Menschen werden hauptsächlich von zwei Haupttrieben beherrscht: von Liebe und Furcht. Es beherrscht sie also gleichermaßen derjenige, der ihre Liebe gewinnt, wie der, der ihnen Furcht einflößt; ja, meistens findet sogar der, der ihnen Furcht einflößt, mehr Folgsamkeit und Gehorsam als der, der ihnen Liebe entgegenbringt.« Angst dient schließlich der Unterhaltung: Geisterbahnen, Bungee-Jumping oder ganze Horrorlandschaften wie »Traumatica – Festival of Fear« im Europa-Park Rust spielen mit der Angst, dem Nervenkitzel, dem »Thrill«, dem von Michael Balint geprägten Begriff der »Angstlust«, also dem Faszinosum der Angst, einer »Mischung von Furcht, Wonne und zuversichtlicher Hoffnung angesichts einer äußeren Gefahr«.

Die Angst kann aber auch lähmen und quälen. Angst kann – wie Ingeborg Bachmann in ihrem Buch Der Fall Franza schildert – ein »Überfall« und »Terror« werden, ein »massiver Angriff auf das Leben«. In diesem Fall spricht man von Angsterkrankungen, das heißt einer Panikstörung, einer generalisierten Angststörung, einer sozialen Phobie, einer Agoraphobie, einer spezifischen Phobie, einer Trennungsangststörung oder einem ­selektiven Mutismus. Angsterkrankungen stellen mit einer Zwölf-Monats-Prävalenz von 14 Prozent und damit 61,5 Millionen Betroffenen die häufigsten psychischen Erkrankungen in Europa dar und schränken die Betroffenen in ihrem alltäglichen, persönlichen und beruflichen Leben dramatisch ein.

Im Umgang mit der Angst haben sich allgemeine Maßnahmen wie Stressreduktion, Achtsamkeits- und Entspannungsübungen, Yoga, Meditation, Sport sowie positive menschliche Begegnungen und Bindungen bewährt. Auch der Glaube kann gemäß Jesaia 41,10 »Fürchte dich nicht, ich bin bei dir« oder Johann Sebastian Bachs gleichnamiger Motette (BWV 228) bei der Überwindung von Ängsten helfen. Die Therapie von Angsterkrankungen setzt sich laut den aktuellen S3-Leitlinien zur Behandlung von Angststörungen aus psychotherapeutischen und pharmakologischen Elementen zusammen. Dabei kommen vor allem die kognitive Verhaltenstherapie mit Expositionsübungen sowie gut verträgliche und nicht abhängigkeitserzeugende Antidepressiva wie Serotonin-/Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer zum Einsatz.

»Was kommt. Was geht. Was bleibt.« – die Angst, sie bleibt als »Urzustand des Menschen«, sie mag kommen in Situationen der Bedrohung oder in übersteigerter Form als Angsterkrankung. Sie kann aber auch gehen, indem wir ihr in Achtsamkeit, in interpersoneller Beziehung, im Glauben oder mit professioneller Hilfe entgegentreten. Das ist dann letztlich Mut. Mut ist mit Mark Twain nicht die Abwesenheit von Angst, sondern der Widerstand gegen die Angst, die Beherrschung der Angst. Und auch in Schillers Bürgschaft lesen wir neben aller Angst und Sorge: »Da fasst er sich Mut«, in August Wilhelm Schlegels Prometheus beherrscht die Furcht zwar »des Menschen irre Tritte«, doch »dann treibt ihn auch des freyen Muthes Feuer«. In anderen Worten mit dem Titel eines der vom Verlag Herder zum Thema Angst herausgegebenen Bücher: Mut ist … Kaffeetrinken mit der Angst.

Katharina Domschke (* 1978 in Erlangen) ist Professorin an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg und Ärztliche Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Freiburg. Sie ist eine international führende Expertin auf dem Gebiet der Diagnostik, Therapie und Prävention von Angsterkrankungen sowie deren neurobiologischen Grundlagen und hat das Buch Angst in der Kunst - Ikonographie einer Grundemotion veröffentlicht.

Antisemitismus

Ruth Weiss

Mein Glückwunsch zum Verlagsjubiläum einer Zeit des Aufbruchs, der die Welt bis heute revolutioniert und Juden Hoffnung gab. Ich hoffe, dass der Verlag in seinen nächsten 225 Jahren die weiteren notwendigen Aufbrüche publizistisch erfolgreich begleitet – zu einer friedlichen Weltordnung, zur Überwindung der Dominanz in Afrika, zur Bewahrung der gefährdeten Schöpfung und zur Toleranz zwischen den Religionen.

Die Parole der Französischen Revolution »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« und der Anspruch auf umfassende, unteilbare und universale Menschenrechte wurden Grundsteine der Demokratie. Aber autokratische Herrscher und Menschenrechtsverstöße blieben. Dazu kam der nationalistische Chauvinismus. Der jahrhundertelange religiös motivierte Antijudaismus mutierte zum Antisemitismus. Erfolgreiche Judenemanzipation führte zu Konkurrenzangst und Neid. Der Vorwurf blieb: angeblich jüdische »Eigenschaften« wie Machtsucht, Reichtum, Verantwortung für Bolschewismus und ungebremsten Kapitalismus.

Dies traf selbst meine unwichtige Familie: 1492 Vertreibung aus Spanien. Die Aufklärung erlaubte den Zugang zu bislang verbotenen deutschen Städten, sodass ein Bruder meines Vaters zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der nahen Stadt deren größtes Warenhaus gründete und mein Vater eine Stadterziehung erhielt. Die 1871 im Kaiserreich gewährten Bürgerrechte wurden in den 1930er Jahren, während des »Dritten Reichs«, zurückgenommen, die Teilnahme der Juden nicht nur am wirtschaftlichen Leben eingeschränkt. Meine Kleinfamilie emigrierte deshalb nach Südafrika. Die Vernichtung eines Drittels des Weltjudentums führte zum UN-Beschluss der Teilung Palästinas und der Gründung Israels.

Nach 1945 war der Antisemitismus erst versteckt, heute steht er wieder mitten in der politischen Arena. Angriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen nehmen zu. Absurde Vorwürfe grassieren gegen die Rothschilds und George Soros; Juden seien schuldig an der Migration in die USA, um Weiße zu einer Minderheit zu machen.

Hass kennt keine Logik. Antisemitismus bleibt anscheinend ewig. Dem Jubiläumsbuch widme ich deswegen Auszüge aus Band 3 meiner fiktiven Löw-Familiensaga vom Mittelalter bis heute. Darin erlebt das Familienmitglied Orpa die Zeit der Französischen Revolution und Napoleons I. mit Hoffnungen, die bald vergingen.

Neue Zeiten

Am 7. September 1791 befand sich Orpa Löw in Paris. In der Kühle des beginnenden Herbstes stand sie inmitten kreischender Frauen und aufgebrachter Männer vor der Nationalversammlung.

Durch die offenen Türen konnte sie sehen, wie im Saal die Menschen zusammengedrängt standen, und erhaschte Fetzen der Debatte. Sie vernahm leidenschaftliche Plädoyers, die abwechselnd über gierige Judenwucherer schimpften, dann wieder wurden die jüdischen Werte gepriesen, die das Christentum geprägt und dadurch die Menschheit bereichert hätten. 

Immer mehr Menschen drängten auf den Platz. Der Druck verstärkte sich, sodass noch einige Zuschauer in den Saal gelassen wurden und Orpa sich unversehens in der hintersten Reihe des Zuschauerraums wiederfand.

Später wusste sie nicht mehr, wie lange sie dort gestanden hatte. Sie wusste nur, dass die Mehrheit für den Gesetzesvorschlag gestimmt hatte, hörte den plötzlichen Jubel, sah, wie Kopfbedeckungen und Papiere in die Luft geschleudert wurden und wie einem bärtigen alten Mann mit grauen Schläfenlocken die Tränen über das zerfurchte Gesicht rannen.

1797 reiste Orpa ins Rheinland. Am 11. September erreichte sie Bonn. Unwissentlich hatte sie einen guten Tag für ihre Ankunft ausgesucht. Als sich die Kutsche dem Tor des Ghettos näherte, musste diese anhalten, denn dort hatte sich eine große Menschenmenge eingefunden. Junge Männer schwangen Äxte gegen das Tor, andere rissen mit den bloßen Händen Backsteine aus der Mauer. Orpa sprang aus der Kutsche, keiner beachtete sie. Gespannt bejubelten die Ghettobewohner ihre symbolische Befreiung.

Schon vier Tage später musste Orpa feststellen, dass zwar die Ghettomauer durchbrochen war, die Vorurteile aber weiter bestanden. Sie wollte einen Spaziergang am Rheinufer unternehmen, aber sie kam nicht weiter als bis zum offenen Tor. Dort sah sie eine Gruppe mehrerer Frauen, die dabei waren, die Steine, die noch dort aufgeschichtet waren, beiseitezuräumen. 

Orpa blieb stehen, grüßte und rief: »Die Steine – sie sind Wegweiser zur Zukunft!« Die Antwort war Gelächter. Die jüngste der Frauen sagte spöttisch: »Nebbich!« Orpa kniff die Augen zusammen. Nebbich – unwichtig? »Warum nebbich?« »Weil sich nichts geändert hat. Keiner in der Stadt hat eine freie Wohnung. Nicht für uns! Nicht mal mein Tate hat es geschafft, er wollte für Jonas und mich ein Haus kaufen. Aber – es blieb bei dem Wunsch.« Orpa war enttäuscht. Die Zukunft musste also noch etwas warten. Die Zeit, in der Juden sich wirklich frei bewegen konnten, die war noch nicht gekommen.

Orpa hatte sich auch öfter mit dem Rabbiner unterhalten. Sie lernte den frommen Mann mit dem krummen Rücken und dem scharfen Verstand schätzen, auch wenn sie nicht immer seine Meinung teilte. Vor allem nicht seine Meinung über Voltaire. »Er und die anderen Aufklärer haben eine neue Art der Ablehnung unseres Volkes erfunden«, sagte er zu Orpa. »Jetzt sind wir nicht mehr Jesusmörder, sondern ein ›subversives Element in der Gesellschaft‹.« Der Rabbiner meinte, Voltaire habe viel Einfluss, andere redeten nach, was er gesagt oder geschrieben hatte, auch in deutschen Ländern. Die Worte klangen Orpa lange in den Ohren: »Voltaires sogenannte Vorbehalte gegen Juden kommen nun zu den alten wirtschaftlichen Vorwürfen hinzu. Juden sind Betrüger, Diebe und Wucherer. Das ist einfach nicht auszulöschen.« Sie diskutierten lange, bis sie sich einigten, sich nicht einigen zu können. Orpa glaubte, der Rabbi sei nicht gewohnt, mit einer Frau zu debattieren.

Als sich Napoleon mit seiner Armee auf der Expedition in Ägypten befand und die Festung Akkon belagerte, erschien eine erstaunliche Meldung in einer Pariser Zeitung: Napoleon habe eine Proklamation erlassen, in der er die Juden in Asien und Afrika aufrief, unter seinem Banner Jerusalem zurückzuerobern! Eine schwindelerregende Vorstellung, wie Orpa fand. Aber irgendwie passend für den kleinen General. Es schien, als ob er Juden ein gesegnetes neues Jahrhundert versprach.

Der Wiener Kongress

Der 65-jährige Bankier Abel Löw lud Orpa im Jahr 1814 ein, in seine Heimatstadt Wien zu kommen, wo die europäischen Mächte nach der Verbannung Napoleons auf Elba einen Kongress planten. Orpa sollte während des Kongresses in seinem Hause die Gastgeberin sein. Er brauchte eine Frau mit Flair und Verstand für die politischen Ereignisse. Orpa blühte unter der Verantwortung auf.

Im September 1814 hatten die Verhandlungen der starken Vier begonnen, also der Engländer, Österreicher, Preußen und Russen. Nach der Unterzeichnung eines Abkommens zwischen diesen Mächten wurden andere europäische Staaten nach Wien eingeladen, um die Landkarte Europas und die Zukunft des Kontinents neu zu gestalten. Ab Mai 1814, dem Monat, in dem Napoleon nach Elba verbannt wurde, spielte Wien den großzügigen Gastgeber für die Herrscher Europas und deren Gefolge. Es war, als ob die dreiundzwanzig Jahre Krieg nun in wenigen Monaten vergessen gemacht werden sollten durch Prunk, Spaß und laute Lebenslust.

Das Bankhaus hatte Informanten auf Elba, die Abel meldeten, Napoleon plane, die Insel zu verlassen, um die Franzosen zum Widerstand gegen die Alliierten aufzurufen. Die Nachricht hatte Abel, wie die meisten vertraulichen Mitteilungen, durch Brieftaubenpost erreicht. Die wichtigste Zentralstelle des Informationsdienstes der Bank befand sich auf dem Dach des Palais Löw unter Aufsicht eines ehemaligen Soldaten, der sich auf Zucht und Abrichtung von Tauben verstand.

Abel Löw berief sofort eine Sitzung der in Wien anwesenden Familienangehörigen ein, alle Mitglieder des Aufsichtsrats ihrer Bank. Abel wusste, dass er als guter Österreicher Fürst Klemens von Metternich, der den Kaiser auf dem Kongress vertrat, über die Mitteilung aus Elba benachrichtigen musste. Der Fürst würde sich bei einem prunkvollen Maskenball einer englischen Herzogin einfinden. 

Als Abel das erwähnte, räusperte sich Maurice Lowe von der Londoner Filiale, auch Orpa hatte sofort gespannt auf den jungen Engländer geblickt. Abel zog fragend seine Augenbrauen hoch.

»Maurice wird heute Abend auf diesem Empfang sein!«, sagte Orpa. 

Wenige Stunden später machte sich Maurice auf den Weg zum Haus der Herzogin. Maurice war aufgeregt, weil er sich wie ein eleganter Adliger verkleiden durfte. Er mischte sich unter die bunt gekleideten Gäste, um einen Kunden der Bank, Sir Guy Montford, zu suchen, der im Dienst des Herzogs von Wellington stand. Er hatte ihm eine Einladung zum Ball der Herzogin zukommen lassen. Auf einem Maskenball war jeder gleich, hatte er leichthin gesagt, und beide wussten, was er meinte: Juden sind mit Maske nicht zu erkennen. 

Maurice erspähte das Kostüm eines arabischen Scheichs unter den Tänzern und folgte ihm. Sir Guy hatte ihm verraten, dass er sich als Araber verkleiden würde. Als er Maurice bemerkte, fragte er ärgerlich, was er wolle. »Entschuldigen Sie – Sir – mein Herr –, aber es ist wichtig. Eine Mitteilung für den Herzog! Sie darf auch dem Fürsten Metternich nicht vorenthalten bleiben. Napoleon, gnädigster Herr. Er wird in zwei Tagen Elba verlassen. Er hat eine Verschwörung zustande gebracht.«

»Unmöglich!« Entgeistert blickte Sir Guy Maurice an.

Maurice verbeugte sich. »Die Mitteilung kommt aus einer glaubhaften Quelle. Napoleon will eine Armee aufstellen und nach Paris marschieren.« »Danke, Maurice, ich werde zum Herzog gehen. Er ist hier.«

Am 1. März landete Napoleon auf dem Festland.

Abel Löw konnte England und Österreich Kredite zu günstigen Zinsen verschaffen. 

Doch der Antisemitismus blieb.

Ruth Weiss (* 1924 in Fürth) wanderte 1936 mit ihrer Familie nach Südafrika aus, wo sie später als Journalistin arbeitete. Ihre Arbeit führte sie nach London und Salisbury im damaligen Rhodesien. 1975 kehrte sie nach Deutschland zurück und arbeitete als Chef vom Dienst der Afrika-Redaktion der Deutschen Welle. Danach lebte sie freiberuflich in London und kehrte später nach Afrika zurück, wo sie das Zimbabwe Mass Media Trust leitete und Seminare zur Situation im südlichen Afrika abhielt. Heute lebt sie bei ihrem Sohn in Dänemark und schreibt hauptsächlich Romane, darunter auch Schullektüren.

Apostel

Johanna Rahner

Leben in der Fremde

In der späten Moderne ist der Raum für Gott eng geworden. Gott als Lückenbüßer ist heute zu Recht überflüssig geworden. Auch für Glaubende gilt es, in der Welt zu leben, »etsi deus non daretur« (Dietrich Bonhoeffer). Denn auch sie haben den Zweifel im Gepäck – so der Freiburger Theologe Magnus Striet. Die heute deutlich werdende Fremdheits- und damit zugleich Freiheitserfahrung des Glaubens ist eine unaufhebbare. Der Glaube an einen personalen Gott, der den Menschen als Partner und Du gegenübertritt, der als Herr der Geschichte geglaubt und als Hoffnung jenseits dieses Lebens erwartet wird, scheint der Moderne abhandengekommen zu sein. Christliche Zukunftshoffnung grenzt für manche unserer Zeitgenossen daher eher an ewige Langeweile, und der Glaube an einen in Geschichte erfahrbaren und in meinem Leben handelnden Gott hat sich im Feuer der neuzeitlichen Religionskritik, insbesondere in der Theodizeeproblematik, in Asche verwandelt, in der man vergeblich die Glut des Glaubens sucht.

Von Säulenheiligen und Sonderwelten

All das verunsichert, und schnell sind hier Lösungsversuche bei der Hand, die die mit dieser Situation verbundenen Herausforderungen und Gefährdungen durch eine neue Absicherung, durch die Reinszenierung der Kirche als Gegenwelt oder Sonderwelt zu entschärfen versuchen. Gegen die verwirrende und verführerische Vielfalt der Meinungen, die als Verfallserscheinungen wahrgenommen werden, ist für manche Katholikinnen und Katholiken daher am besten am verbindlichen Zeugnis für die Wahrheit (oder dem, was man dafür hält: vom Pillenverbot bis zum Zölibat) als Orientierungsangebot festzuhalten und so der drohenden Konturenlosigkeit des Katholischen, ja einem Indifferentismus zu begegnen. Daher muss alles, was diese Zeichenfunktion verdunkelt oder auch nur den Anschein erweckt, die notwendige Eindeutigkeit zu verunklaren, abgelegt werden. Das »Gespräch« mit dieser Welt vollzieht sich allenfalls im aggressiven Rückruf zur Wahrheit, die an zentraler Stelle den Widerspruch zu einer Kultur der Unwahrheit notwendig macht (identitätsstiftende Andersartigkeit). Diese Option wird heute für manche Kreise gar zur Grundsignatur des Christlichen hochstilisiert: Das entscheidend Christliche ist das unterscheidend Christliche. Gegen die »Anbiederung an den Zeitgeist« und die drohende Selbstsäkularisierung des Glaubens werden exklusive Identitätsmarker des Gläubigseins stilisiert und metaphysisch aufgeladen. Allesamt spiegeln sie so etwas wie die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies des Sakralen, der Anderwelt.

Wüstenerfahrungen

Wer aber die Welt nur unter der Perspektive von Mission und (Neu-)Evangelisation wahrnimmt – Motto: Wir haben es schon, die anderen suchen noch –, hat tatsächlich die eigentliche Herausforderung, die diese »Revolution« der Berufung zur Freiheit und damit Freigelassenheit für Glaube heute bedeutet, noch nicht wirklich verstanden. Denn die Sehnsucht der Menschen nach Gott, so noch einmal Magnus Striet, ist nicht einfach verschwunden. Sondern die Frage nach Gott wird auch »in der Gegenwartskultur (…) mit Nachdruck gestellt, aber: nicht mehr ungebrochen, nicht mehr ohne Irritation durch die Abgründigkeit der Welt«. Für den Glauben heute gilt das, was Matthias Dobrinski zum 31.10.2017 in der Süddeutschen Zeitung schrieb, um Luthers reformatorischen Grundimpuls und sein theologisches Anliegen Menschen von heute zu erschließen: »Weniger als eine Bindfadenbreite trennt dieses durch keine innerweltliche Rationalität gerechtfertigte Vertrauen (des Glaubens) vom Nein zu Gott angesichts dieser unfassbaren Zumutung des Glaubens.« Recht hat er!

Um Gottes willen heimatlos

Denn von einem menschgewordenen Gott zu sprechen, bedeutet zunächst einmal: Abgründigkeit. Es ist das innerste Kernbekenntnis des Christentums selbst, das diese Richtung vorgibt: Die »Fleischwerdung« Gottes reicht bis in die Abgründe der ausgelieferten, durch die menschliche Gewalt zerstörten Nacktheit des gekreuzigten Körpers Christi, des fleischgewordenen Wortes, hinein. Die Erhabenheit Gottes lässt sich auf diese Erniedrigung ein und schafft dadurch und darin Heil. Ein anderes Medium der Nähe Gottes kennt das Christentum nicht. Daher stehen alle adäquaten wirkungsgeschichtlichen Bezugnahmen, alle angemessenen Repräsentationsversuche unter der Signatur des Kreuzes, des Zeichens der Ohnmacht und des Sich-zerbrechen-Lassens, des Ikonoklasmus. »Einem Glauben, einer Kirche, einem Christus ohne Wunden kann ich keinen Glauben schenken«, schreibt Tomas Halik. Die konkrete Gestalt der Inkarnation als Wesensoffenbarung der Liebe Gottes ist eben nicht machtvoll, nicht schön, sie ist Provokation; sie ist Störung des Gewohnten; ein Geschwür in der Landschaft des Schönen (Gottfried Bachl); eben: ein Skandalon. Erfolg war nie ein Name Gottes (Martin Buber).

Spurenlese

Daher irritiert das Narrativ von der »Einwohnung« Gottes in die kreatürliche Leiblichkeit und drängt zugleich zu immer neuen Konkretionen. Richtungsweisend und hilfreich sind jene vielfältigen Aktualisierungsversuche der uns so trauten und in unser kulturelles Gedächtnis eingegangenen Schlüsselszene des Stalls in Bethlehem. Hier wird das »elend, nackt und bloß« in immer wieder neue Kontexte und Lebenswelten hinein»ver-ortet« – die Heilige Familie als Migrantenfamilie, der Stall der Herberge auf den Müllhalden dieser Welt bis hin zum Bild des ertrunkenen Flüchtlingskindes am Strand, nackt und bloß. Man sucht nach je neuen Ausdrucksformen für den provozierenden Gehalt des Bekenntnisses zur Menschwerdung Gottes und tut das, indem die Abgründigkeit und die Endlichkeit menschlicher Existenz, die Fragen nach Sünde, Schuld, Ungerechtigkeit, Leid und Tod in den Blick genommen, inszeniert werden. Und zwar so inszeniert werden, dass die im Inkarnationsbekenntnis gründende Fraglichkeit, aber auch die Sehnsucht nach Vollendung in einer noch unvollendeten Welt offengelegt werden; dass die Hoffnung auf Frieden in einer friedlosen Zeit und der Glaube an Gerechtigkeit auch angesichts erfahrener Ungerechtigkeit quasi als »Leerstelle« benannt werden. Diese Suchbewegungen werden als Orte identifiziert, an denen der Mensch heute noch die Sehnsucht nach Heil, nach Gnade spürt, weil er die eigene Heil- und Gnadenlosigkeit wie die Geschundenheit der Welt als eine Herausforderung erfährt, auf die er allein keine Antwort weiß bzw. sie sich nicht (mehr) zutraut. All das sind veränderte Ereignisorte des Glaubens.

Verschüttete Wasseradern und Wünschelruten

Dieser Glaube spielt sich heute bewusst oder unbewusst gerade auch jenseits einer immer bedenklicher gewordenen, ekklesiologischen Verschlüsselung, ja Vereinnahmung ab. Johann Baptist Metz spricht hier im Anschluss an Karl Rahner anschaulich von einer ›natürlichen Gotteskompetenz‹ eines jeden Menschen: »Es geht (…) sozusagen um das Menschenrecht der Gottesbegabung des Menschen, auch des sogenannten modernen Menschen (…).« Sie fordert heute in Gestalt der »Fremdprophetie« einer unaufgebbaren Sehnsucht nach authentischem Menschsein all diejenigen, die von Gott reden wollen, zu einer Antwort heraus. Daher ist die Rede von Gott nicht in die Tabuzone des Heiligen und Erhabenen zu verbannen, sondern auch der säkularen Welt ist zuzutrauen, nicht nur zu Gott zu suchen, sondern auch »Gottes fähig«, ja »Gott trächtig« zu sein.

Apostolisch zu sein, gleicht daher heute einem Wünschelrutengang, denn heute kann man nicht von Gott sprechen, ohne auch in die Abgründe der Nichterfahrbarkeit Gottes, seines Fehlens und Vermissens hineinzuführen. Die Rede vom Zweifel an der Existenz Gottes, die Ablehnung, das Hadern, die ungelösten Fragen – all das gehört unaufgebbar zur Gottesrede heute dazu. Das ist sicher der biblischen Gottesrede viel näher als ein allzu genaues Bescheidwissen, das ebenso katechismussicher wie verblüffungsresistent und damit erschütterungsfrei auftritt. Indes wusste das schon Romano Guardini, als er angesichts der Situation des 20. Jahrhunderts schrieb: »Vielleicht ist Gott unserer frostigen Zeit näher als dem Barock mit der Pracht seiner Kirchen, dem Mittelalter mit der Fülle seiner Symbole, dem frühen Christentum mit seinem jungen Todesmut; nur empfinden wir es nicht. Er aber erwartet, daß wir nicht sagen: ›Wir fühlen keine Nähe, also ist kein Gott‹ – sondern daß wir ihm durch die Ferne hin die Treue halten.«

Johanna Rahner (* 21. Dezember 1962 in Baden-Baden) studierte Katholische Theologie und Biologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, wo sie auch promoviert wurde. Ihre Forschungsschwerpunkte sind unter anderem biblische Hermeneutik, ökumenische Theologie, das Verhältnis von Religion und Gesellschaft sowie der Dialog der Weltreligionen. Seit 2014 ist sie Professorin für Dogmatik, Dogmengeschichte und Ökumenische Theologie an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Sie ist eine der Beiträgerinnen in dem 2023 von Konrad Hilpert und Jochen Sautermeister herausgegebenen Band Kirchliche Sexualmoral vor dem Abgrund?

Arbeit

Lars P. Feld

Geht den Deutschen die Arbeit aus? So oder so ähnlich lauten Schlagzeilen, mit denen die Sorgen um Auswirkungen des technischen Fortschritts auf den Arbeitsmarkt transportiert werden. Seit Gerhart Hauptmanns Theaterstück Die Weber irrlichtert diese Sorge durch die deutschen Debatten. In der heutigen Diskussion dominiert als Schreckgespenst des technischen Fortschritts die künstliche Intelligenz (KI). Roboter würden uns die Jobs wegnehmen, und zeigt nicht gerade ChatGPT, wie verzichtbar bestimmte Tätigkeiten sind?

Empirisch findet sich dafür bisher wenig Evidenz. Arbeitsmarktforscher gehen davon aus, dass die künstliche Intelligenz Routinetätigkeiten in Wirtschaft und Verwaltung ersetzen wird, dass dies aber nicht zu nennenswerten Jobverlusten führen dürfte. Es findet ein Strukturwandel in den jeweiligen Beschäftigungsverhältnissen statt. Gesamtwirtschaftlich zeigt sich zudem für Deutschland, dass die in der Vergangenheit zu beobachtende Robotisierung und Automatisierung einerseits zu einer höheren Beschäftigung und andererseits zu einer höheren Wertschöpfung geführt haben, sodass sich keine signifikanten Effekte auf die Produktivitätsentwicklung mehr feststellen lassen.

Im Übrigen gilt Ähnliches für die Effekte der Globalisierung auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Allenfalls wird dieser Befund für andere Länder, etwa für die USA, relativiert, wo die Integration Chinas in die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung zusammen mit der Robotisierung zu Arbeitsplatzverlusten geführt hat. Hinzu kommt für Deutschland, dass die regionale Verteilung der Auswirkungen der Globalisierung und des technischen Fortschritts auf den Arbeitsmarkt asymmetrisch ist: Manche Regionen sind negativ, andere positiv betroffen. Die Regionalpolitik und die Arbeitsmarktpolitik haben in Deutschland die daraus resultierenden Probleme jedoch so abgemildert, dass gesamtwirtschaftlich eine Erfolgsgeschichte entsteht.

Geht den Deutschen die Arbeit aus? Das hat eine bedeutsame Weiterung. Ab dem Jahr 2025 gehen die geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegszeit in den wohlverdienten Ruhestand. Die demografische Entwicklung führt dazu, dass der Wirtschaft zunehmend Arbeitskräfte fehlen. Die mit dem sogenannten Pillenknick einsetzenden geburtenschwachen Jahrgänge haben wiederum geburtenschwache Jahrgänge produziert, sodass der demografische Übergang bis ins Jahr 2080 anhalten wird. Die regelmäßig zu vernehmenden Klagen über heutigen Arbeitskräftemangel werden ab 2025 erst richtig laut werden.

Die demografischen Faktoren, die diese Entwicklung abwenden könnten, insbesondere Migration oder eine höhere Fertilitätsrate, dürften unzureichend sein. Um die Effekte der Alterung zu kompensieren, müsste der Wanderungssaldo jährlich von den in den Bevölkerungsvorausberechnungen angenommenen 200 000 Personen auf rund eine Million Zuwanderer steigen. Wenn man bedenkt, dass durchschnittlich etwa 700 000 Menschen das Land brutto verlassen, wird das Ausmaß der erforderlichen jährlichen Bruttozuwanderung deutlich: Mehr als eineinhalb Millionen Menschen müssten jährlich ins Land kommen. Die demografische Entwicklung hält vor allem Probleme für die Finanzierung der Sozialversicherungen bereit. Soll die Zuwanderung günstige Finanzierungseffekte für die Sozialversicherungen haben, müssten die Zugewanderten die Durchschnittsproduktivität der Einheimischen mitbringen. Dies zeigt beispielhaft, dass solche Gedankenspiele wenig realistisch sind. Ähnliches gilt für die Fertilitätsraten.

Den Deutschen geht also nicht die Arbeit aus, vielmehr gehen der deutschen Wirtschaft die Arbeitskräfte aus. Bei aller Milderung durch die Zuwanderung lässt sich dies nur dadurch lösen, dass die Deutschen mehr arbeiten, vor allem durch eine Erhöhung der Lebensarbeitszeit, die durch ein höheres Renteneintrittsalter angestoßen würde. Vielleicht müssen Wirtschaft und Verwaltung aber doch stärker auf die KI hoffen und die Automatisierung von Tätigkeiten forcieren, wenn die Bereitschaft zur Mehrarbeit so gering ausgeprägt ist, wie sich das in einer Vielzahl politischer Diskussionen abzeichnet.

Lars P. Feld (* 9. August 1966 in Saarbrücken) ist seit 2010 Universitätsprofessor für Volkswirtschaftslehre an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und Direktor des Walter Eucken Instituts. Er war von 2011 bis 2021 Mitglied sowie im abschließenden Jahr Vorsitzender der sogenannten Wirtschaftsweisen. Seit Februar 2022 ist er persönlicher Beauftragter des Bundesministers der Finanzen für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung.

Aufstieg

Ana-Maria Trăsnea

Jung, migrantisch, Frau: Das sind Faktoren, die den Lebensweg durchaus erschweren können. Deutschland ist kein perfektes Land. Doch es ist eine der besten liberalen Demokratien weltweit. Es ist ein vielfältiges modernes Land, das aus seinen düsteren Fehlern des 20. Jahrhunderts gelernt hat und heute für Freiheit, Menschenrechte, Verantwortung und Demokratie mit klarer Haltung steht. Aufstieg durch Bildung ist in unserem Land nicht nur ein sozialdemokratisches Versprechen, sondern tatsächlich möglich.

So war es auch mir möglich, die erste Akademikerin in der Familie zu werden. Berlin wurde für mich zur Stadt der Freiheit und der Chancen. Diese unfertige Stadt bietet genügend Raum, um ein Teil von ihr zu werden. Natürlich braucht es auf dem Weg in die Erwachsenenwelt jene Menschen, die an einen glauben. Es braucht den Zugang zu Bildung. Es braucht die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, die Erfahrung, dass ich als Mensch für diese Gesellschaft wichtig bin, einen Beitrag leiste und gesehen werde.

Aber das war nicht immer so. Berlin befand sich – besonders im 20. Jahrhundert – im Brennpunkt der Auseinandersetzungen um die Demokratie: als Zentrum der NS-Herrschaft, als historischer Schauplatz zur Zeit des Kalten Kriegs, in der sich mitten durch die Stadt die Grenze zwischen dem demokratischen Westen und dem kommunistischen Osten zog. Bildungschancen ergo Aufstiegschancen wurden systemisch nach staatlichen Ideologien verteilt. Die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ist allerdings eine andere als die des Vorgängerjahrhunderts.

Heute leben in Berlin Menschen aus über 190 Nationen – was für ein Schatz für uns. Sie geben unserer Stadt ihr Gesicht und prägen jeden Tag unseren städtischen Multikulturalismus. Es ist ein Mosaik aus ambitionierten Menschen, kreativen Köpfen und freigeistigen Macherinnen und Machern. Und sie sind damit auch Ausdruck des Wandels, den Deutschland durchlebt hat. Des Wandels hin zu einer offenen, freien und vielfältigen Gesellschaft. Einer Gesellschaft, die sich von Stereotypen und engen Gesellschaftsbildern immer mehr befreit hat. Das ist großartig und zeigt die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft. Nur in einer freien, solidarischen, sozial gerechten Welt können Menschen ihr Potenzial ausschöpfen.

Diese neu gewonnene Freiheit bringt nicht nur eine Verantwortung für das eigene Handeln mit sich, nämlich die Zukunft in die eigenen Händen zu nehmen, sondern auch eine Mitverantwortung für die Gemeinschaft. Eine solidarische, sozial gerechte Gesellschaft lebt von Menschen, die sich um die anderen kümmern und nicht wegschauen. Jede vierte Person in Berlin engagiert sich. Das gibt dieser Metropole ein solidarisches Gesicht. Auch für mich war es das Ehrenamt, das mich als migrantisches Kind aufgefangen und mir Hoffnung gegeben hat. Herausforderungen wie etwa Sprachbarrieren, Fremdenfeindlichkeit oder mangelndem sozialem Kapital zu begegnen, gelang mir maßgeblich durch das Netzwerk der Solidarität im freiwilligen Engagement, gelang durch politische Bildung und Demokratiearbeit. Einmal mehr lernte ich in meinem Leben: Wenn du willst, kannst du Berge versetzen. Das trieb mich wie ein inneres Feuer an. Ich entdeckte mich neu, überwand Grenzen und lernte das Fliegen.

Ich lernte, dass die Stimme junger Menschen etwas wert ist und dass es sich lohnt, sich einzubringen. Ich engagierte mich, um die Welt ein Stück besser zu machen. Deshalb war ich zuerst stellvertretende Schulsprecherin und habe mich an meiner Schule gegen Rassismus engagiert. Ich bin mehreren ehrenamtlichen Organisationen beigetreten. Mit Anfang 20 wurde ich in die Bezirksverordnetenversammlung von Treptow-Köpenick gewählt und konnte die Entwicklung meines Bezirks mitgestalten. Mit 27 Jahren wurde ich die jüngste Bevollmächtigte des Landes Berlin beim Bund und Staatssekretärin für Engagement- und Demokratieförderung und für Internationales. Heute bin ich mit 29 Jahren das jüngste Mitglied des Deutschen Bundestags aus Berlin. Wenn ich zurückdenke, dann stelle ich fest: Mir fehlten zwar oft die Vorbilder, in denen ich mich wiedererkennen konnte oder die mir einen Weg des Aufstiegs zeigten. Jenes innere Feuer gab mir jedoch die Kraft, mutig meinen eigenen Weg zu gehen und ein Stück weit anderen Hoffnung zu geben.

Berlin ist zu einer Stätte der Hoffnung für zahlreiche Geflüchtete geworden, die ein neues Leben beginnen müssen. Gerade in dieser durch Kriege gekennzeichneten Zeit wird uns bewusst, wie schnell vormals offene Grenzen wieder verbarrikadiert werden können, wie schnell Verbindungen abreißen, Feindbilder heraufbeschworen werden und das Prinzip der Humanität durch die Logik des Kriegs immer mehr zerstört wird. Gerade Menschen auf der Flucht wurden in ihren Träumen vom Aufstieg aufgehalten, aus dem Leben gerissen und müssen mit radikalen Umbrüchen umgehen. Doch Aufstieg kann auch über Umwege erreicht werden. Und wo wäre Neuanfang möglich, wenn nicht in Berlin?

Wir erleben nämlich auch an vielen anderen Stellen, dass Empathie und Solidarität dazu fähig sind, Berge zu versetzen. Dass von dem Wunsch nach Mitmenschlichkeit und Hilfe eine enorme Kraft ausgeht.

Dennoch: Gerade in Zeiten des Wandels braucht unsere Gesellschaft das Grundvertrauen, dass wir Herausforderungen gemeinsam meistern können. Viele Bürgerinnen und Bürger haben in den letzten Jahren durch die Pandemie, durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine, durch steigende Energiepreise sowie die Inflation massive Verunsicherungen erlebt. Die Sorgen um ein Leben in Würde sind gewachsen und inzwischen weit verbreitet. Das ist nicht von heute auf morgen gekommen, sondern ein schleichender Prozess gewesen. Studien zeigen, dass junge Menschen immer pessimistischer in die Zukunft blicken. Themen wie Klimawandel oder Armut spielen eine entscheidende Rolle in den Lebenswelten der jungen Generation. Kann Deutschland ihnen gegenüber das Aufstiegsversprechen noch einhalten?

Es wird eine demokratische Kraftanstrengung vonnöten sein, um eine lebenswerte Welt gestalten zu können. Aufstieg für die Jüngeren bedeutet zugleich, dem Generationenvertrag in unserem Land gerecht zu werden. Bei all den katastrophalen Nachrichten, die uns derzeit aus der Welt erreichen, ist es unsere Pflicht als Politikerinnen und Politiker, Kräfte zu mobilisieren, um Perspektiven aufzuzeigen, wie es weitergehen kann, wie es besser wird. Vorhandene Ressourcen in den Blick zu nehmen, Anknüpfungspunkte zu finden, um voranzukommen.

Ana-Maria Trăsnea (* 15. März 1994 in Piatra Neamț) ist Mitglied der SPD und seit 2023 Mitglied des Deutschen Bundestags. Von 2021 bis 2023 war sie Bevollmächtigte des Landes Berlin beim Bund und Staatssekretärin in der Berliner Senatskanzlei. Trăsnea kam 2007 aus Rumänien nach Deutschland und engagierte sich in verschiedenen Bildungs- und politischen Projekten.

Auto(mobil)

Walter Kohl

Der Mensch sehnt sich nach Freiheit. Im Mittelalter hieß es: »Stadtluft macht frei.« Mit diesem Versprechen begannen die Städte rasant zu wachsen, und mit der Zeit entwickelten sich immer ausgeprägtere bürgerliche Strukturen mit ihrem neuen Selbstbewusstsein, eine Kampfansage an die bisherigen feudalen Strukturen des Geburtsadels im ländlichen Bereich. Doch Stadtluft machte nicht nur frei, sie machte auch über Jahrhunderte krank. Hunderttausende starben an Krankheiten wie Pest, Cholera und Tuberkulose. Lange wurden diese Epidemien als Strafe Gottes verstanden, erst mit der Zeit wurden ihre irdischen Wurzeln klarer. Nicht die Krankheiten an sich waren das Problem, sondern bestimmte Rahmenbedingungen, die das Stadtleben mit vielen Menschen auf engem Raum mit sich brachte. All diese Krankheiten basieren auf Erregern, die in einem Milieu mangelnder Hygiene aufblühen. Diese Erkenntnis war mühsam, brauchte lange. Und schließlich die Überraschung: In einer Stadt mit sauberem Wasser, funktionierender Abfallentsorgung und guter Luft haben die Erreger von Pest & Co. keine Chance.

Doch was tun?

Die Lösung lag nicht in den Krankheiten, sondern in der Bekämpfung der Folgen städtischer Verdichtung. Kurzum, das Konzept Stadt musste neu gedacht werden. Beispiel gute Luft: Baron Haussmann tat dies im Paris des 19. Jahrhunderts mit seinem Konzept der Stadtbe- und -entlüftung durch die großen Boulevards. Ähnliches geschah in Berlin mit dem Abriss der alten, verschachtelten, stinkenden innerstädtischen Viertel und der Entwicklung eines bisherigen Reitweges »Unter den Linden« zu einer 60 Meter breiten Prachtstraße, die entlang der vorherrschenden Ost-West-Windrichtung zu einem Entlüftungskanal wurde.

Beispiel sauberes Wasser: London entschloss sich Mitte des 19. Jahrhunderts, bei einer Einwohnerzahl von rund 2,5 Millionen Menschen, nach mehreren schrecklichen Choleraepidemien mit jeweils mehr als 10 000 Toten und aufgrund einer Kindersterblichkeit von über 50 Prozent, endlich zu handeln. 1858 waren die Zustände nicht länger zu ertragen. Ein außergewöhnlich heißer Sommer und die Praxis des blinden Einleitens aller Abwässer der Metropole in die Themse führten zu unerträglichen Zuständen, die unter dem Begriff des »Big Stink« in die Geschichte eingingen. Die Antwort war der Bau eines Kanalisationssystems von rund 21 000 Kilometern unter den Straßen und Gebäuden der Stadt, ein Mammutprojekt mit gigantischen Kosten. Zusammen mit dem Bau der U-Bahn, der legendären Londoner Underground, wurde die Stadt so neu gedacht und erweitert. Nur dank dieses gewaltigen Entwicklungssprungs konnte London langfristig überleben, blieb lebenswert und kann sich bis heute als eine der führenden Metropolen weltweit behaupten.

Was war passiert?

In der Sprache der Wirtschaftswissenschaften führte der Bevölkerungszuwachs zu steigenden Externalitäten, zu ungeklärtem Umgang mit den Abfällen, dem Dreck, der nun einmal durch die enorme Ballung von Menschen auf engstem Raum entsteht. Und die Antwort lag in neuem, anderem Denken, in der Schaffung einer städtischen Infrastruktur, wie man sie bis dato nicht kannte bzw. vergessen hatte, denn die antiken römischen Lösungen waren nicht mehr präsent.

In vielerlei Weise stehen wir bezüglich unseres Umgangs mit dem Auto(mobil) und seinen Externalitäten wie CO2-Emissionen, Feinstaub, Flächenverbrauch und Lärmbelästigung an einer ähnlichen Stelle wie die Stadtplaner und Entscheider im London, Berlin oder Paris des 19. Jahrhunderts. Wie mit dem Auto in Zukunft umgehen? Wollen wir automobil bleiben und, wenn ja, in welcher Form? Oder anders gefragt: Was kommt, was geht, was bleibt in Bezug auf das Auto(mobil)?

Automobilität, also die unabhängige, eigenbestimmte Freiheit, sich von A nach B zu einem Zeitpunkt der eigenen Wahl zu bewegen, ist ein großes Versprechen, eine große Chance, ein wichtiger wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Faktor. Auto(mobilität) berührt den Kern einer menschlichen Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung. Daher sind wir gut beraten, ideologiefrei und sorgfältig überlegt damit umzugehen.

Dabei sollten wir selbstkritisch in den Spiegel schauen. Haben wir das Auto und die damit verbundene Mobilität zu lange und zu sehr vergöttert? Haben wir unsere Städte zu lange nach den Bedürfnissen des Autos und zu wenig nach den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet? Darf eine Maschine, die das Auto nun einmal ist, solche Umweltschäden, Externalitäten verursachen? Sind wir an unserem automobilen »Big Stink«-Moment angekommen?

Die Erkenntnisse der Klimaforschung wie der letzte IPCC-Bericht geben klare Antworten: So kann es nicht weitergehen, insbesondere wenn wir nicht in eine Klimakatastrophe mit unabsehbaren politischen, sozialen, wirtschaftlichen und möglicherweise auch militärischen Folgen hineinschlittern wollen.

Die Frage lautet daher nicht: Ist das Auto gut oder schlecht? Genau wie die Frage im London des »Big Stink« nicht lautete: Ist London gut oder schlecht? Die Frage lautet: Wie gestalten wir Automobilität zukünftig, und wie kann eine andere Art, ein anderes Verständnis vom Auto zu einer Lösung beitragen?

Hier gibt es viele Ansätze, aber noch keine endgültigen Lösungen und Antworten. Klar ist, der Treibstoff für künftige Autogenerationen muss aus regenerativen Quellen kommen und emissionsfrei sein. Autos müssen zukünftig so konstruiert werden, dass ein Maximum an Recycling und Kreislaufwirtschaft gewährleistet wird, um wertvolle Ressourcen zu schonen und ein Ende der Wegwerfmentalität einzuläuten.

Integrierte Mobilitätskonzepte müssen her. Hier kann die Digitalisierung wichtige Hilfen anbieten, um verschiedene Mobilitätsformen wie Bahn, Flugzeug, Auto, ÖPNV und Fahrrad zu verbinden. Braucht jeder wirklich ein Auto, insbesondere wenn das Fahrzeug zu weit über 90 Prozent der Zeit still auf einem Parkplatz steht?

Kurzum: Wenn wir automobil bleiben wollen, was sehr wünschenswert ist, dann müssen wir die Automobilität und das Automobil neu denken und umsetzen, so wie unsere Vorgänger die Stadt einst neu denken und umsetzen mussten.

Können wir das? Ja, wenn wir wollen und wenn wir kurzsichtiges, auf billigen Eigennutz fokussiertes Lobbyistentum wie aktuell insbesondere durch deutsche Automobilkonzerne vorgeführt, überwinden und den Mut zu neuen Wegen haben und diese auch beschreiten. So wie sie damals in London unglaubliche 21 000 Kilometer Kanalisation verlegt haben, so sind wir heute aufgerufen, das Auto und unsere Automobilität radikal neu zu denken und konsequent umzusetzen. Ein zentraler erster Schritt ist dabei, dass wir uns aus der sprichwörtlichen Couch bequemer und eingefahrener Gewohnheiten erheben und in neuen Dimensionen denken.

Schon Albert Einstein wusste: »Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.«

Was bleibt also? Der Wunsch, vielleicht sogar die Notwendigkeit, sicher aber die Sehnsucht nach Automobilität, nach persönlicher Freiheit, nach automobiler Selbstbestimmung. Genauso bleibt aber auch die Notwendigkeit, angesichts der Probleme die eigene Bequemlichkeit zu überwinden und neuen Konzepten Raum und Chancen zu geben. Wir sind gefordert, denn ein »Weiter so« kann nicht die Antwort für das zukünftige Auto oder die Automobilität sein.

Was geht? Die Erkenntnis, dass die automobilen Antworten der 1960er oder 1980er Jahre nicht zukunftsfähig sind. Das Auto darf unser Leben nicht beherrschen, es ist kein Fetischobjekt, es ist ein zu optimierendes Transportmittel. Die Externalitäten unserer heutigen Automobilität müssen zunächst anerkannt und dann massiv reduziert werden. Das Auto der Zukunft muss »sauberer« sein und sich den Bedürfnissen der Menschen unterordnen.

Was kommt? Hoffentlich bald der nächste Entwicklungsschritt, der dann auch enorme neue Potenziale freisetzen wird. Und für diesen Schritt braucht es Mut, Weitsicht und Entschiedenheit in der Umsetzung.

Können wir das? Ja!

Haben wir die Kraft und den Willen dazu? Hoffentlich.

Wann fangen wir an? Eigentlich gestern, denn unseren »Big Stink«-Moment haben wir doch schon, oder?

Walter Kohl (* 16. Juli 1963 in Mannheim). Nach dem Studium der Volkswirtschaft und Geschichte und einer Karriere in der Privatwirtschaft wurde er als Autor und Coach bekannt und veröffentlichte mehrere Bücher mit dem Schwerpunkt Lebensgestaltung. Kohl engagiert sich in verschiedenen Stiftungen im Bereich Suizidprävention. Sein jüngstes Buch bei Herder: Welche Zukunft wollen wir? Mein Plädoyer für eine Politik von morgen.

Barmherzigkeit

Mouhanad Khorchide

Religionen sind heute stark in der Defensive. Sie verlieren immer mehr an Attraktivität und, damit verbunden, an Anhängern. Auch der Islam ist davon betroffen, obwohl Muslime in Deutschland noch stärker an ihre Religion gebunden zu sein scheinen als zum Beispiel Christen. Die Hauptherausforderung in diesem Zusammenhang besteht in der Frage nach dem Lebensbezug von Religion. Menschen fragen vermehrt nach der Rolle von Religion in ihrem Leben: Für welche konkreten Probleme bieten Religionen welche Antworten? Man kann die Frage auch provokanter formulieren: Was würde unsere Gesellschaft heute verlieren, würden wir auf Religionen verzichten? Es gibt darauf keine allgemeingültigen Antworten. Sie hängen von den Vertretern der Religionen selbst und deren Verständnis von ihren Religionen ab. Religionen sind eben nicht vom Himmel gefallen, sie sind vielmehr ein Ergebnis historisch gewachsener Prozesse. Dabei spielten sie nicht nur eine passive Rolle als Objekte des Wandels gesellschaftlicher Entwicklungen, sondern auch als Subjekte, die die Geschichte mitgesteuert und verändert haben. Heute scheinen Religionen diese Rolle als Mitgestalter der Gesellschaft nicht mehr wahrzunehmen. Dies lässt sich am Beispiel des Religionsunterrichts verdeutlichen. Religionslehrkräfte gestalten den Unterricht kaum mehr im Sinne eines bekenntnisgebundenen Religionsunterrichts, der junge Menschen befähigen soll, sich in religiös relevanten Fragen zu positionieren. Ihr Argument lautet: »Junge Menschen haben heute kaum mehr Bezug zur Religion, daher müssen wir den Unterricht entsprechend dieser Tatsache gestalten und weniger von Transzendenz und Transzendenzerfahrungen und deren Rolle im Leben der Menschen reden, sondern von allgemeinen ethischen Themen.« Wir haben es also immer mehr mit einem Religionsunterricht ohne Gott, ohne Transzendenzbezug, zu tun.

Auch der Islam übernimmt immer stärker die Rolle eines Stifters kollektiver Identität, um Musliminnen und Muslimen in einer nichtislamischen »Mehrheitsgesellschaft« eine imaginierte kollektive Gemeinschaft zu bieten. Imaginiert deshalb, weil diese Gemeinschaft in der realen sozialen Welt nirgends anzutreffen ist. Muslime sind in Deutschland entlang mehrerer Kategorien sehr heterogen: ethnisch, national, sozial, politisch, religiös (die Bandbreite reicht von Fundamentalisten bis Liberalen) oder konfessionell (Sunniten, Schiiten, Ahmadeyya …). Durch die voranschreitende Einschränkung des Islams auf die identitätsstiftende Ebene entwickelt er sich immer mehr zu einer identitätspolitischen Kategorie. Dabei geraten Fragen nach Gott, nach Gotteserfahrung, nach Spiritualität, nach einem an Transzendenz gebundenen Sinn im Leben in den Hintergrund beziehungsweise verlieren völlig an Relevanz.