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In diesem Roman geht es um den Kampf eines Teenagers mit Trisomie 21, um seinen Traumberuf und um eine Karrierefrau in einem Strudel aus Anerkennung, Erfolg, Zweifel, Verlust und Liebe. Emil und Nora sind sich ähnlicher, als sie glauben, obwohl sie kaum unterschiedlicher sein könnten. Nora ist eine erfolgreiche Frau und arbeitet als Teamleiterin im Projektmanagement eines Schiffsbauunternehmens. Nun soll sie die Büroleitung einer Zweigstelle in Hamburg übernehmen. Sie ist geschieden und ihre beiden Kinder sind vor Kurzem ausgezogen. Da passt das Angebot ihres Chefs sehr gut. Sie gibt alles, um ihrem Chef zu beweisen, dass er die richtige Entscheidung getroffen hat. Nora kennt Emil seit seiner Geburt. Er liebt das Kochen und zeichnet leidenschaftlich gerne. Emil ist ein Teenager mit Trisomie 21, der einfach nur frei und selbstbestimmt entscheiden möchte, was er für einen Beruf erlernen will. Doch seine Eltern machen ihm einen Strich durch die Rechnung. Als Emil beginnt, sich gegen seine Eltern zu wehren, wird Nora in einen Konflikt verwickelt, der sie immer wieder zu Stephan führt, einem Rechtsanwalt von der wunderschönen Ostseeinsel Rügen, der Emil bei seinem Kampf unterstützt. Schon bald knistert es gewaltig zwischen Nora und Stephan. Doch Nora wehrt sich gegen ihre Gefühle für ihn. Sie will sich voll und ganz auf ihre Karriere konzentrieren. Zudem fragt sie sich, was Stephan für ein Geheimnis verbirgt. Denn seine Abneigung gegen Gewässer und sein aufopferungsvoller Einsatz für Emil kommen ihr langsam doch etwas seltsam vor.
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Seitenzahl: 468
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Zum Buch:
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich erwähnen, dass die Ereignisse um Emil zwar von einer wahren Geschichte inspiriert, jedoch nicht alle im Buch beschriebenen Geschehnisse auch tatsächlich so passiert sind.
Nora lebt in einem hübschen Reihenendhaus in Koblenz. Sie ist eine erfolgreiche Frau, die nach ihrer Scheidung und dem Auszug ihrer beiden Töchter neu anfangen will. Beruflich läuft es für sie gerade sehr gut.
Der Sohn ihrer Nachbarn, den sie seit seiner Geburt vor fünfzehn Jahren kennt, liegt ihr sehr am Herzen. Er hat Trisomie 21. Von seiner Mutter wird Emil sehr eingeengt und kontrolliert, weil sie große Angst hat, dass er sich irgendwo verletzen könnte. Nebenan bei Nora findet Emil das Verständnis für seine Wünsche und Ziele, das ihm bei seinen Eltern fehlt. Doch dann übernimmt Nora die Leitung des Hamburger Büros der Firma, in der sie arbeitet, zieht nach Hamburg und opfert fortan fast ihr gesamtes Privatleben für Ihren Job. Lediglich ihre beste Freundin Hannah holt Nora ab und zu aus ihrem Hamsterrad. So lernt Nora auch Stephan Horner kennen. Einen Anwalt von der wunderschönen Ostseeinsel Rügen. Obwohl Nora Stephan zwar sehr sympathisch und auch attraktiv findet, verbietet sie es sich, auch nur darüber nachzudenken, ihn in ihr Leben zu lassen. Sie will sich voll und ganz auf ihre Karriere konzentrieren.
Emil vermisst Nora sehr. Mit ihr konnte er immer offen über seinen großen Traum sprechen, Koch zu werden. Seine Eltern sind aber dagegen. Sie meinen, dass jemand mit Trisomie 21 nicht Koch werden kann. Deswegen hat Emil immer wieder Streit mit seinen Eltern. Dann beginnt Emil, sich gegen seine Eltern zu wehren und ausgerechnet Stephan Horner unterstützt ihn dabei.
Über das Buch
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Epilog
Die Sonne scheint an diesem herrlich warmen Samstagmorgen und der LKW ist schon fertig beladen.
„So, Frau Petersen. Das war es.“, sagt der große, schlanke, blonde Mann von der Umzugsfirma, während er die hinteren Türen des LKWs zuwirft und verriegelt.
„Wir machen uns jetzt auf den Weg. Ist in Hamburg jemand, der uns die Tür zu Ihrer Wohnung öffnet?“, fragt er.
„Ja. Ihr werdet schon erwartet. Ich mache mich aber auch gleich auf den Weg.“, antworte ich fröhlich.
„Sehr gut. Dann bis nachher.“, erwidert er und steigt lächelnd hinter das Steuer des 4,5-Tonners.
Langsam setzt sich der LKW in Bewegung und schleicht regelrecht die schmale Straße hoch. Ich stehe an der Straße und schaue dem LKW noch einen Moment lang nach. Jetzt gibt es wirklich kein Zurück mehr. Es ist Mitte März und in zwei Wochen trete ich meine neue Stelle als Büroleiterin an.
Als mein Chef mich vor drei Monaten fragte, ob ich Interesse hätte, das neue Büro in Hamburg zu leiten, hatte ich zunächst gezögert. Ich konnte mir nicht vorstellen, meine Kinder und mein Haus in Koblenz zu verlassen.
Vor fünfzehn Jahren bin ich mit meinem Ex-Mann Peer und unseren beiden Töchtern Jana und Lisa in das Reihenendhaus, in einem kleinen Ort am Rande von Koblenz, eingezogen. Vor etwas mehr als fünf Jahren ist Peer aus unserem Haus ausgezogen und seit vier Jahren sind wir nun geschieden. Ich habe Peer damals ausgezahlt, damit mir das Haus ganz alleine gehört. Nun habe ich es an eine nette Familie mit zwei kleinen Kindern vermietet.
„Nora! Warte!“, höre ich jemanden hinter mir rufen und drehe mich um. Es ist Emil, der Nachbarsjunge. Seine Eltern Laura und Matthias sind damals kurz nach uns in das Haus direkt nebenan eingezogen. Ein paar Tage später kam Emil zur Welt. Schon während der Schwangerschaft haben Laura und Matthias erfahren, dass Emil Trisomie 21 (auch das Down-Syndrom genannt) hat. Laura erzählte mir damals, dass sie und Matthias schon überlegt hatten, ob sie Emil wirklich behalten sollten. Nicht, weil sie ihn nicht lieben, sondern gerade weil sie ihn so sehr lieben. Sie fragten sich, ob sie Emil wirklich die bestmögliche Unterstützung bieten können. Sie bekamen damals das Angebot, Emil in eine Pflegefamilie zu geben, die sich mit solchen Kindern sehr gut auskennt. Laura und Matthias hatten auch Kontakt mit einer dieser Pflegefamilien aufgenommen. Ihr Besuch dort hat sie sehr beeindruckt und letzten Endes haben sie sich danach entschieden, Emil zu behalten. Bis heute haben sie aber den Kontakt zu dieser Pflegefamilie gehalten und immer sehr gute Tipps von ihnen bekommen.
Bevor ich Emil und seine Eltern kennen lernte, dachte ich auch immer, dass ein Kind mit dieser Erkrankung nur in professionellen Einrichtungen eine echte Chance auf ein gutes Leben in unserer Gesellschaft hat. Ich gebe sehr gerne zu, dass ich mich da getäuscht habe.
Emil ist nun 15 Jahre alt und macht im nächsten Jahr seinen Schulabschluss an einer integrativen Gesamtschule. Klar. Es gibt unterschiedliche Ausprägungen der Krankheit, aber Emil hatte wirklich eine ganze Menge Handikaps und es ist Laura, Matthias und einigen tollen Organisationen zu verdanken, dass Emil ein ziemlich wissbegieriger, aufgeschlossener Teenager geworden ist. Ihn werde ich auch sehr vermissen. Ich habe ihn aufwachsen sehen und habe seine Fortschritte und auch seine Niederlagen miterlebt.
Emil war immer gerne bei uns, hat mit Jana und Lisa gespielt und er liebte es, mit uns zu kochen. Jana, Lisa, Emil und ich haben uns immer wieder neue Rezepte ausgedacht, haben zusammen dafür eingekauft und anschließend gemeinsam gekocht. Letzteres fand Emils Mutter Laura nie so toll und so verbot sie mir, Emil an den Herd zu lassen und ihm scharfe oder spitze Gegenstände in die Hand zu geben. Ich merkte aber schnell, dass Emil sehr geschickt war. Als er zum hundertsten Mal bettelte, ob er eine Paprika schneiden darf, habe ich es gewagt und ihm ein Messer in die Hand gegeben. Nervös ließ ich meinen Blick nicht von seinen Händen und schaute zu, wie Emil langsam und vorsichtig die Paprika in perfekte, kleine Würfelchen schnitt. Nach und nach traute ich ihm immer mehr zu, was wir Laura und Matthias aber nie verrieten. Emil hatte Angst, dass ihn seine Eltern nicht mehr zu uns lassen, wenn sie es wüssten. Sie hatten ihm damals auch eine Zeit lang verboten, in das Jugendzentrum bei uns im Ort zu gehen, nur weil ein Betreuer ihm dort beim Handwerkskurs eine Laubsäge in die Hand gab. Emil hatte sich beim Werken einen Kratzer zugezogen, diesen kleinen Kratzer aber damals sehr dramatisiert. Ich erinnere mich noch sehr gut an diesen Tag.
Laura und ich wollten gerade zusammen einkaufen fahren, als der Anruf aus dem Jugendzentrum kam und man Laura erklärte, dass Emil sich verletzt hat und abgeholt werden möchte. Wir sind also sofort zum Jugendzentrum gefahren. Ich musste Laura regelrecht von dem Betreuer wegzerren. Sie war außer sich vor Wut und hat den Betreuer damals ganz schön zusammengefaltet. Ihre Vorwürfe waren übertrieben, aber ihre Angst um Emil war so groß, dass sie scheinbar die Kontrolle über ihre sonst so guten Manieren verloren hatte. Von da an durfte er erstmal nicht mehr ins Jugendzentrum. Emil bettelte täglich seine Mutter an, wieder hingehen zu dürfen, und auch mich flehte Emil damals an, mit seiner Mutter zu reden, was ich dann auch tat. Tatsächlich hatte Laura ein Einsehen. Der “unvorsichtige“ Betreuer musste ihr aber versprechen, dass er Emil keine scharfen Gegenstände mehr in die Hand geben wird und ganz besonders intensiv auf ihn achtgibt. Ich weiß noch, wie glücklich Emil damals war.
In dem Jugendzentrum gibt es Kinder von sechs bis achtzehn Jahren mit unterschiedlichen Nationalitäten. Die meisten sind vollkommen gesund, andere haben leichte, körperliche Behinderungen und manche haben wie Emil Trisomie 21. Alle gehen dort sehr respektvoll miteinander um und Emil tut der Kontakt mit den anderen Kindern sehr gut. Neben seiner Leidenschaft zum Kochen liebt er es, zu zeichnen. Man braucht ihm nur ein Blatt Papier und einen Bleistift in die Hand zu drücken und schon versinkt er in seiner Fantasiewelt. Mit den Jahren perfektionierte er seine Technik und mittlerweile zeichnet er tolle Bilder.
Emil kommt auf den Bürgersteig und läuft auf mich zu. Er bleibt kurz vor mir stehen und starrt mich an.
„Du darfst noch nicht fahren! Du musst dich noch verabschieden!“, schimpft er. Ich schmunzle.
„Aber natürlich Emil. Ich wollte gerade zu euch rüberkommen.“, antworte ich. Emil lächelt kurz. Laura und Matthias kommen aus dem Haus und winken zu uns rüber. Emil nimmt meine Hand und zieht mich zu seinen Eltern.
„Nun ist es also so weit?“, fragt Laura und schaut mich traurig an. Matthias legt tröstend seinen rechten Arm um sie.
„Ja. Der LKW ist schon unterwegs und ich fahre jetzt auch los. In zwei Wochen bin ich aber nochmal hier und übergebe den Mietern die Schlüssel. Ich hoffe, ihr versteht euch gut mit ihnen.“
„Das hoffe ich auch. Komm doch danach noch mal bei uns vorbei, bevor du wieder nach Hamburg fährst.“, bittet Laure mich lächelnd.
„Sehr gerne.“, antworte ich. Wir verabschieden uns alle mit einer kurzen Umarmung. Dann steige ich in meinen weißen Mazda CX5 und fahre los.
Es ist sehr viel Verkehr auf den Straßen und so komme ich erst am späten Nachmittag an meiner neuen Wohnung an. Sie liegt am Stadtrand von Hamburg, nur zehn Gehminuten von Hannahs Blumenladen entfernt.
Hannah ist meine beste Freundin, seit ich mit elf Jahren mit meinen Eltern nach Koblenz gezogen bin. Wir haben immer alles zusammengemacht und waren unzertrennlich. Erst als ich Peer kennen lernte, sahen Hannah und ich uns nicht mehr so oft. Als sie dann das Haus und den dazugehörigen Blumenladen von ihrer Großmutter aus Hamburg erbte und dorthin zog, sahen wir uns noch weniger. Hannah hatte bisher leider immer sehr großes Pech mit den Männern, und so ist sie bis heute unverheiratet und kinderlos.
„Da bist du ja endlich!“, ruft Hannah und kommt auf mein Auto zugelaufen, das ich gerade links neben dem LKW geparkt habe. Ich steige aus und wir begrüßen uns mit einer festen Umarmung.
„Hallo Hannah.“
„Du kommst genau richtig, Nora. Die starken Jungs hier sind fast fertig.“, sagt Hannah, packt meine linke Hand und zieht mich in meine neue Wohnung. Sie liegt im Erdgeschoss eines Drei-Parteienhauses in einer ruhigen Sackgasse. Vom Flur aus kommt man in einen riesigen Raum mit einer bodentiefen Fensterfront, die über die gesamte Breite des Raumes geht. In der Mitte der Fensterfront ist eine breite Schiebetür, die auf die Terrasse und zu dem kleinen Garten führt. Rechts im Raum, wo jetzt noch jede Menge Kisten, die Vitrinen, Kommoden und das Sofa stehen, kommt der Wohnbereich hin und links ist eine lange Küchenzeile mit einer Kochinsel davor. Mein langer Esstisch aus hellem Holz steht links, direkt vor der Fensterfront. Vom Wohnbereich geht es rechts in einen weiteren kleinen Flur, durch den man links zum großen Schlafzimmer gelangt und gerade aus geht es in ein geräumiges Badezimmer mit einer ebenerdigen Dusche.
„So, Frau Petersen. Wir sind fertig.“, sagt einer der Männer des Umzugsunternehmens. Seine beiden Kollegen stehen lächelnd, aber auch ein wenig erschöpft hinter ihm. Nachdem wir gemeinsam die Möbel geprüft haben, unterzeichne ich das Protokoll.
„Sollten Sie doch noch Schäden finden, oder wenn in den Kisten etwas zu Bruch gegangen sein sollte, dann melden Sie sich einfach nochmal.“, sagt der junge Mann und reicht mir die Kopie des Protokolls.
„Prima! Vielen Dank.“, antworte ich und hole mein Portemonnaie aus meiner Handtasche. Ich gebe allen drei ein sattes Trinkgeld. Dann verabschieden wir uns.
„Du bist ja großzügig.“, sagt Hannah mit hochgezogenen Augenbrauen. Ich nicke kurz grinsend und dann legen wir los mit dem Auspacken. Mit Hannahs Hilfe ist schnell alles ausgepackt und steht an seinem Platz.
„Geschafft!“, sage ich und schaue mich stolz im Wohnbereich um. Hannah lächelt mich zufrieden an.
„Hunger?“, fragt sie schließlich.
„Oh ja!“, antworte ich sofort. Hannah lacht kurz.
„Prima. Ich habe heute Vormittag schon mal eine vegetarische Bolognese-Soße gemacht. Wir brauchen also nur noch Spaghetti zu kochen. Dann lass uns jetzt zu mir gehen.“, sagt Hannah und macht sich auf den Weg zur Wohnungstür.
Erschöpft schlendern wir die Straße hoch. Hannah wohnt direkt über ihrem Blumenladen, der ja nur knappe zehn Gehminuten von meiner neuen Wohnung entfernt liegt.
Hannahs Wohnung ist sehr groß und modern eingerichtet, mit einer riesigen Dachterrasse.
Nach dem Essen gehe ich alleine wieder zurück in meine Wohnung, mache überall die Rollläden runter, gehe Zähneputzen und schlüpfe in meinen Pyjama.
Völlig erledigt falle ich ins Bett und schlafe auch sofort ein.
Ich öffne die Augen und mein Herz rast, als ob ich einen Alptraum hatte. Ich kann mich aber nicht daran erinnern, etwas Schlechtes geträumt zu haben. Ich stehe auf, lasse die Rollläden im Schlafzimmer hoch und gehe unter die Dusche. Nach meinem ersten Kaffee fühle ich mich schon etwas besser.
In den ersten zwei Wochen hier in Hamburg hat Hannah mir die Gegend gezeigt und mir ein paar nette Leute vorgestellt. Heute ist Freitag und ich fahre gerade runter nach Koblenz, um den Mietern meines Hauses die Schlüssel zu übergeben.
Als ich vor dem Haus ankomme, werde ich von der Familie bereits erwartet.
„Hallo Frau Petersen!“, ruft Jennifer Lorenz, während ich gerade aussteige. Ihr Mann Lucas winkt mir freundlich zu. Ihre beiden 5-jährigen Zwillinge Lena und Laurin spielen vor der Garage fangen.
„Hallo Familie Lorenz.“, sage ich lächelnd und gehe auf sie zu. Wir reichen uns alle freundlich die Hände und gehen dann gemeinsam ins Haus.
Nachdem wir alle Räume besichtigt haben und das Übergabeprotokoll unterzeichnet ist, übergebe ich den Schlüssel und verabschiede mich. Es ist schon ein seltsames Gefühl, mein Haus, in dem ich fünfzehn Jahre so glücklich war, an fremde Leute zu übergeben.
„Nora!“, ruft Emil und kommt auf mich zu gelaufen. Er nimmt mich in den Arm und drückt mich kurz, aber dafür ziemlich fest.
„Hallo Emil. Schön dich zu sehen.“, antworte ich und erwidere seine Umarmung. Emil grinst breit, packt meine linke Hand und zerrt mich zu Laura, die vor ihrer Haustür steht und zu uns rüberlächelt.
„Schön, dass du da bist, Nora.“, sagt Laura und wir umarmen uns kurz. Gemeinsam gehen wir ins Haus.
„Ich habe mit Mama deinen Lieblingskuchen gebacken.“, sagt Emil, während er mich von hinten zum Esstisch im Wohnzimmer schiebt. Mitten auf dem Esstisch steht ein köstlich duftender, frischer Apfelstreuselkuchen. Mir läuft sofort das Wasser im Mund zusammen.
Der Kuchen ist wirklich sehr lecker. Nachdem wir alle aufgegessen haben, bringe ich Emil gemeinsam mit Laura zum Jugendzentrum, das nur etwa zwanzig Gehminuten entfernt liegt.
„Können wir morgen wieder zusammen kochen? Ich habe mir wieder ein Rezept ausgedacht.“, fragt Emil mich plötzlich.
„Tut mir leid, Emil. Aber das geht leider nicht.“, antworte ich.
„Warum denn nicht?“, fragt Emil mürrisch. Bevor ich antworten kann, mischt sich Laura ein.
„Das geht nicht, weil Nora doch jetzt in Hamburg wohnt und das ist ganz weit weg von hier.“, erklärt Laura.
„Das finde ich blöd.“, sagt Emil traurig und öffnet die Tür zum Jugendzentrum. Laura und ich verabschieden uns kurz von Emil und machen uns auf den Rückweg. Laura wirkt sehr nachdenklich.
„Ist alles in Ordnung, Laura?“, frage ich sie schließlich.
„Ja. Im Grunde schon. Ich mache mir nur Sorgen um Emil.“; antwortet sie.
„Wieso? Hast du Angst, dass man ihm wieder eine Laubsäge in die Hand drückt?“, frage ich mit einem leichten Lachen in der Stimme. Laura schmunzelt zu mir rüber.
„Nein. Das ist geklärt.“, antwortet sie schnell.
„Emil ist doch nun bald mit der Schule fertig und wir überlegen, was er für eine Ausbildung machen könnte, bei der es keine Verletzungsgefahr für ihn gibt.“, erklärt Laura.
„Nun. Das ist sicher nicht leicht. Aber was möchte Emil denn für eine Ausbildung machen?“, frage ich.
„Ach, Emil. Der will Koch werden, was natürlich völlig unmöglich ist.“, antwortet sie energisch.
„Warum ist das unmöglich?“, frage ich, obwohl ich schon ahne, warum Laura das nicht möchte.
„Wie soll das denn gehen? Er müsste mit sehr scharfen Messern arbeiten und am Herd stehen. Das traue ich ihm einfach nicht zu.“, antwortet sie besorgt.
„Hast du ihm denn überhaupt schon mal etwas in der Küche schneiden lassen?“, frage ich sie.
„Natürlich nicht!“, antwortet Laura und schüttelt verständnislos den Kopf.
„Matthias und ich müssen einen Beruf finden, wo er sich nicht verletzen kann. Das ist tatsächlich nicht so einfach. Aber wir werden es ihm auf keinen Fall erlauben, eine Ausbildung zum Koch zu machen.“, sagt Laura streng. -Oh, man. Der arme Junge.- Lauras Angst um Emil löst sogar bei mir Beklemmungen aus. Wie mag es erst für Emil sein?
Wir sind mittlerweile wieder vorm Haus angekommen und ich öffne die Fahrertür meines Wagens.
„Ich wünsche euch viel Erfolg und hoffe, dass ihr das Richtige für Emil findet.“
„Danke, Nora. Dann komm jetzt erstmal gut nach Hause und bis bald.“, sagt Laura, während wir uns zum Abschied umarmen. Ich steige ins Auto und mache mich auf den Rückweg. Emil tut mir echt leid. Ich weiß, dass er mit Messern sehr vorsichtig umgeht. -Hätte ich es Laura sagen sollen?- Nein. Sie hätte sicher wissen wollen, woher ich das denn weiß. Aber das darf ich ja nicht verraten. Vielleicht hat Laura aber auch recht und die Ausbildung zum Koch ist nichts für Emil. Wir haben nur an den Wochenenden zusammen gekocht und Emil hat das Gemüse schneiden dürfen. Ich habe ihn zwar auch an den Herd gelassen, aber als Koch jeden Tag am Herd zu stehen und alle Zutaten zu schneiden, ist etwas ganz anderes.
Als ich zuhause ankomme, steht Hannah bereits vor meiner Haustür. Wir sind zum Abendessen verabredet und ich bin tatsächlich schon spät dran.
„Tut mir leid, Hannah. Wir können sofort los.“
„Ich dachte schon, du hättest unsere Verabredung vergessen.“, antwortet Hannah schmunzelnd. Ich hole schnell meine Handtasche vom Beifahrersitz und wir gehen direkt los ins Restaurant um die Ecke.
Wir sitzen an einem Tisch am Fenster, mit Blick in einen kleinen mediterranen Garten, und warten auf unsere Pizzen.
„Ach du schreck! Da ist Janis!“, sagt Hannah plötzlich und wird sofort rot. Sie schaut zum Eingang und lächelt dem Mann, der gerade ins Restaurant kommt, verlegen zu. Ich drehe mich um und schaue auch zum Eingang. Ein großer, sportlicher Mann mit krausen, blonden Haaren, in einem dunkelblauen Anzug und weißem Hemd, kommt breit grinsend auf uns zu.
„Hallo Hannah! Schön dich zu sehen.“, sagt er, als er an unserem Tisch ankommt.
„Hallo Janis. Darf ich dir meine Freundin Nora vorstellen? Sie ist vor zwei Wochen erst hierhergezogen. Nora. Das ist Janis. Ihm gehört das Hotel, oben am Waldrand.“
„Sehr erfreut, dich kennenzulernen, Nora.“, sagt Janis höflich und streckt mir seine rechte Hand entgegen.
„Freut mich auch, dich kennenzulernen, Janis.“, antworte ich und ergreife seine Hand. Mit einem festen Händedruck lächelt er mich freundlich an.
„Dann wünsche ich den Damen nun erstmal noch einen schönen Abend. Wir sehen uns ja morgen, Hannah, oder bringt Stellan die Blumen ins Hotel?“, fragt Janis.
„Nein. Stellan hat noch Urlaub. Ich komme morgen raus.“, antwortet Hannah kurz.
„Sehr schön. Also bis morgen.“, sagt Janis noch kurz und geht weiter durch den Gastraum zu einem Tisch, an dem bereits drei Männer sitzen, die alle sofort aufstehen und Janis freudig begrüßen. Auch diese Männer sind recht groß. Einer von ihnen ist sogar sehr groß. Mindestens 1,90 Meter, wenn nicht sogar mehr.
„Nett, dieser Janis.“, sage ich schmunzelnd. Hannah grinst verlegen.
„Ja. Sehr nett. Er hat vor zwei Jahren das Hotel vom alten Justus übernommen. Ich beliefere das Hotel schon seit sechs Jahren mit Blumen und Pflanzen für drinnen und draußen.“, erzählt Hannah.
„Und läuft da etwas zwischen euch?“, frage ich grinsend.
„Ich glaube, er flirtet hin und wieder mit mir. Mehr lief aber bisher nicht.“ Ich lächle nur und proste ihr mit meinem Weinglas zu.
„Die drei Männer bei ihm am Tisch sind übrigens seine Brüder, Sören, Jonas und Stephan.“, erzählt Hannah.
„Wow! Vier Söhne. Die armen Eltern.“, antworte ich.
„Ja. Und die Jungs sind vom Alter her alle nur knappe drei Jahre auseinander. Janis ist der Vorletzte und Stephan ist der Jüngste. Stephan ist genauso alt wie du, Nora. Die Mutter der Jungs ist kurz nach der Geburt von Stephan gestorben und ihr Vater, Stove, musste die Jungs erstmal ganz alleine durchbringen. Als Stephan zwei Jahre alt war, hat Stove sich dann aber doch eine Nanny mit ins Haus geholt, die die Jungs versorgte und ihm den Haushalt machte“. Ich schaue mitleidig rüber zu den vier Brüdern. Ihr Vater und diese Nanny scheinen einen guten Job gemacht zu haben. Alle vier sind gut gekleidet und scheinen sich auch sehr gut miteinander zu verstehen, was bei Geschwistern ja nicht immer der Fall ist. Ich zum Beispiel habe mit meinen beiden Schwestern seit vielen Jahren kaum Kontakt. Ich bin die Jüngste von uns dreien. Meine älteste Schwester hat vor vielen Jahren mit ihrem Mann einen Reiterhof gekauft. Die Arbeit dort lässt ihr kaum Zeit für die Familie. Meine andere Schwester ist nur zwei Jahre älter als ich. Sie hat sich vor zehn Jahren dazu entschieden, nach Schweden auszuwandern. Seitdem habe ich sie auch nicht mehr gesehen.
„Stove feiert morgen seinen achtzigsten Geburtstag bei Janis im Hotel und ich liefere morgen früh die Blumen für die Dekoration.“, erklärt Hannah.
„Hättest du morgen vielleicht Zeit, mir kurz zu helfen?“, fragt Hannah schließlich. Natürlich sage ich sofort zu. Hannah hat mich sehr bei der Wohnungssuche unterstützt und mir geholfen, mich hier zurechtzufinden. Da ist es doch selbstverständlich, dass ich ihr nun auch mal helfe.
Das Essen war sehr köstlich und Hannah hatte noch eine Menge lustige Anekdoten zu erzählen. Plötzlich klingelt mein Handy. Es ist Laura. Ich frage mich zunächst, was sie nach zweiundzwanzig Uhr noch von mir möchte, gehe dann aber zügig ran.
„Hallo Laura. Ist alles okay?“
„Nora! Gut, dass ich dich erreiche. Ist Emil bei dir?“, fragt Laura aufgeregt.
„Nein. Was ist denn passiert.“, frage ich besorgt.
„Ach. Wir haben uns gestritten. Du kennst ihn ja. Er war aber diesmal so uneinsichtig und ist weggelaufen. Wir haben ihn schon überall gesucht.“, erzählt Laura.
„Und jetzt glaubst du, er könnte sich auf den Weg zu mir nach Hamburg gemacht haben?“, frage ich ungläubig.
„Ja. Nein. Ach, ich weiß doch auch nicht. Eigentlich traue ich es ihm nicht zu, sich alleine in den richtigen Zug zu setzen. Aber er ist doch schon immer zu dir gerannt, wenn er sich von mir mal wieder ungerecht behandelt gefühlt hat.“, sagt Laura mit einem spöttischen Unterton.
„Ich bin total verzweifelt. Matthias telefoniert gerade mit der Polizei.“
„Okay. Ich bin im Moment nicht zuhause. Mache mich aber jetzt auf den Weg. Sollte er bei mir vor der Tür stehen, melde ich mich sofort bei dir.“, verspreche ich Laura, bevor wir uns verabschieden und auflegen.
„Emil ist abgehauen?“, fragt Hannah überrascht.
„Ja. Und ehrlich gesagt wundert es mich auch nicht.
Laura traut dem Jungen überhaupt nichts zu und behandelt ihn wie ein unmündiges Kleinkind. Sie hat ständig Angst um ihn und verbietet ihm alles, wobei er sich eventuell verletzen könnte.“
„Oh, man. Der arme Junge.“, sagt Hannah mitleidig.
„Das kannst du laut sagen. Wollen wir dann jetzt gehen? Laura meint, dass er vielleicht zu mir gefahren ist.“
„Natürlich.“, sagt Hannah sofort und winkt den Kellner zu uns. Wir bezahlen schnell und gehen erstmal zu mir nach Hause. Von Emil ist aber weit und breit nichts zu sehen. Hannah verabschiedet sich und macht sich auf den Heimweg. Ich beziehe schon mal eine Bettdecke und ein Kissen, falls Emil doch bei mir auftaucht. Denn anders als Laura traue ich Emil auf jeden Fall zu, die passende Bahnverbindung zu mir rauszusuchen. Dann klingelt mein Handy. Es ist wieder Laura.
„Hey Laura. Gibt es etwas Neues?“, frage ich sofort.
„Ja. Die Polizei hat Emil am Kölner Hauptbahnhof gefunden. Er wollte tatsächlich zu dir. Sie bringen ihn gerade nach Hause.“
„Na Gott sei Dank.“, antworte ich erleichtert.
„Ja. Ich glaube, er vermisst dich mehr, als wir dachten. Was hältst du davon, wenn wir dich nächsten Samstag besuchen kommen?“, fragt sie schließlich.
„Sehr gerne, Laura. Das ist eine tolle Idee.“, antworte ich.
„Sehr schön. Dann jetzt erstmal gute Nacht. Bis nächste Woche, Nora.“
„Euch auch eine gute Nacht und liebe Grüße an Emil. Bis nächste Woche.“, antworte ich und wir legen auf. Ich packe das frischbezogene Bettzeug also erstmal wieder in den Schrank im Schlafzimmer. Erschöpft falle ich in mein Bett.
Pünktlich um neun Uhr morgens komme ich an Hannahs Blumenladen an. Direkt vor dem Eingang steht ihr weißer VW-Sprinter. Die Türen hinten sind offen und es stehen auch schon ein paar Blumenkörbchen im Wagen.
„Guten Morgen, Nora!“, höre ich Hannah, die gerade mit einer Kiste voll mit weißen und gelben Tulpen auf den Wagen zukommt.
„Guten Morgen, Hannah.“
Hannah stellt die Kiste in den Sprinter und wir umarmen uns kurz.
„Ist Emil gestern wieder aufgetaucht?“, fragt Hannah sofort.
„Ja. Er war schon am Kölner Hauptbahnhof und wollte tatsächlich zu mir.“
„Ach, man. Der arme Junge. Er vermisst dich wohl sehr.“, sagt Hannah mitleidig.
„Scheinbar. Aber er kommt mich nächsten Samstag mit Laura besuchen.“, erzähle ich fröhlich.
„Das ist doch prima! Dann müsst ihr unbedingt mal bei mir vorbeikommen. Ich würde mich freue die zwei wiederzusehen. Nun komm aber erstmal mit, Nora. Wir haben noch einiges vor uns.“, sagt Hannah und geht grinsend voraus, zurück in den Blumenladen. Ich lächle kurz und folge ihr.
Wir laden noch weitere Blumenkörbchen, Gestecke in verschiedenen Größen und mehrere Kisten mit Tulpensträußen in den Wagen. Dann machen wir uns auf den Weg zum Hotel.
Nachdem wir unseren Ort verlassen haben, fahren wir an kleineren Waldstücken und Feldern vorbei. Hinter einer großen, bunten Wildblumenwiese biegen wir rechts ab auf eine Allee mit großen, prächtigen Trauerweiden, die direkt zum Hotel hochführt.
Vor uns erscheint ein hübsches kleines Schloss im barocken Stil, mit einer weißen Fassade, weißen Fenstern und Türen und einem Dach aus blassorangenen Ziegeln. Wir fahren auf den großen Hof vor dem Hotel, in dessen Mitte sich ein kleiner Teich mit einem weißen Springbrunnen befindet.
„Schön hier, oder?“, fragt Hannah, während sie rechts an dem Teich vorbeifährt. Rechts neben der breiten, achtstufigen Treppe, die hoch zum Eingang führt, parkt sie schließlich.
„Ja. Wunderschön.“, antworte ich staunend. Hannah lächelt kurz zu mir rüber und steigt dann aus. Kurz darauf kommt auch schon Janis mit zwei Mitarbeitern die Treppe hinunter. Hannah ist schon hinter dem Wagen und macht die Türen auf.
„Hallo Hannah!“, ruft Janis, während er lächelnd zu ihr rübergeht. Noch immer beeindruckt von dem Hotel steige auch ich aus und gehe hinter das Auto. Hannah hat bereits eins von den großen Gestecken in der Hand.
„Wie schön. Du hast noch jemanden mitgebracht.“, sagt Janis freundlich lächelnd, als er mich sieht.
„Ja. Nora habe ich dir doch gestern im Restaurant schon vorgestellt.“, antwortet Hannah grinsend.
„Aber natürlich. Ich erinnere mich. Hallo Nora.“, sagt Janis und wir reichen uns die Hände.
„Hallo, Janis.“, antworte ich schmunzelnd. Dann schnappe ich mir auch eines der großen Gestecke und drücke es einem der Hotelmiterbeiter in die Hand. Er lächelt freundlich und macht sich auf den Weg ins Hotel. Der andere Hotelmitarbeiter nimmt Hannah das Gesteck ab. Janis schnappt sich ebenfalls ein Gesteck und Hannah greift sich eine Kiste mit Tulpen. Ich nehme das letzte große Gesteck aus dem Wagen. Gemeinsam gehen wir die breite Treppe hinauf zum Eingang.
Wir betreten eine breite Lobby. Der Fußboden ist mit glänzenden, großen Fliesen in Schachbrettoptik, in Beige und Cremeweiß, ausgelegt. Rechts stehen mehrere niedrige, runde Tische mit weißen Tischdecken. Um die Tische stehen jeweils drei beigefarbene Sessel mit braunen Holzbeinen und braunen, hölzernen Seitenlehnen. Direkt gegenüber dem Eingang ist die Rezeption, die über die gesamte Länge von etwa fünf Metern mit cremeweißem Marmor verkleidet ist. Die Thekenplatte ist aus dunkelbraunem Holz. Alles ist hochglänzend poliert. In der Lobby verteilt stehen ein paar weiße Säulen, auf denen weiße Kübel mit grünen Pflanzen stehen.
Janis führt uns rechts an der Rezeption vorbei in einen Flur, in dem sich gleich vorne links ein Fahrstuhl befindet. Wir lassen den Fahrstuhl links neben uns liegen und gehen geradeaus, den Flur entlang. Links und rechts an den Wänden stehen in einem Abstand von etwa zwei Metern jeweils fünf weiße, eineinhalb Meter hohe Säulen, auf denen breite Glasvasen stehen. In diese Vasen sollen dann gleich die Tulpensträuße. Wir gehen aber zunächst weiter geradeaus auf eine weiße, deckenhohe Holztür zu, deren florale Schnitzereien mit goldenen Linien umrandet sind. Einer der beiden Hotelmitarbeiter packt den goldenen Türgriff und öffnet beide Flügel der breiten Tür. Mir stockt der Atem, als ich in den festlichen Saal schaue.
In dem Saal stehen zwölf große, runde Tische mit bodentiefen, weißen Tischdecken. In der Mitte von jedem Tisch steht ein etwa halber Meter hoher, silberner Kerzenleuchter mit einer weißen, langen Kerze in der Mitte und vier weiteren Armen darum, in denen ebenfalls weiße, lange Kerzen stecken. Um jeden Tisch stehen zehn Stühle, die in weiße, bodentiefe Hussen gehüllt sind.
An jedem Platz steht ein weißer Teller. Hinter den Tellern stehen drei unterschiedlich hohe Kristallgläser mit langem Stiel und links und rechts neben den Tellern liegt ordentlich aufgereihtes Silberbesteck. Der Raum ist durch die acht breiten Fenster gegenüber der Tür lichtdurchflutet, was dem Raum eine noch größere Strahlkraft verleiht.
Auf jeden Tisch sollen nun zwei von den kleinen Blumenkörbchen mit weißen und gelben Tulpen, den Lieblingsblumen von Janis’ Vater, der ja heute hier seinen achtzigsten Geburtstag feiert.
In allen vier Ecken des Raumes stehen etwa ein Meter hohe weiße Säulen, auf die wir nun jeweils eins von den großen Blumengestecken stellen, die ebenfalls überwiegend aus weißen und gelben Tulpen bestehen.
Janis stellt das letzte Gesteck auf die Säule in der Ecke, rechts neben der Tür.
„Das sieht fantastisch aus mit deinen Blumen, Hannah!“, sagt Janis begeistert.
„Vielen Dank.“, antwortet Hannah verlegen. Ich pflichte Janis bei und zwinkere Hannah kurz zu. Dann gehe ich wieder zum Auto, um ein paar von den kleinen Blumenkörbchen zu holen.
Ich hocke gerade hinten im Laderaum des Transporters, als ein schwarzer Audi-SUV auf den Hof gefahren kommt und etwa drei Meter hinter dem Transporter parkt. Ein großer, sportlicher, schlanker Mann mit dunkelbraunen Haaren steigt auf der Fahrerseite aus und geht eilig an Hannas Transporter vorbei.
Ich frage mich, wo Hannah und die beiden Hotelmitarbeiter bleiben, die ja eigentlich helfen sollen, die Blumen zu verteilen. Ich sehe, dass eines der kleinen Blumenkörbchen während der Fahrt umgefallen ist. Vorsichtig richte ich es wieder auf. Gott sei Dank sind die Blumen in dem weißen Körbchen aber heil geblieben. Nur der Sand ist rausgefallen. Mit den Händen sammle ich den feuchten Sand auf und fülle ihn vorsichtig wieder in das Körbchen. Mit vier kleinen Blumenkörbchen mache ich mich dann wieder auf den Weg in den Festsaal.
„Da bist du ja.“, ruft Janis mir zu. Irritiert schaue ich kurz zu ihm rüber. Links neben ihm steht der Mann aus dem Audi. Er ist wirklich groß. Bestimmt über 1,90 Meter. Er trägt einen dunkelblauen Anzug, ein weißes Hemd, an dem die oberen drei Knöpfe offen sind, einen brauen Gürtel und dunkelbraune, glänzende Schnürschuhe.
„Nora. Ich möchte dir meinen Bruder Stephan vorstellen. Er hat eine kleine Anwaltskanzlei auf Rügen. Stephan, das ist Nora Petersen. Eine liebe Freundin von Hannah.“, stellt Janis uns einander vor. Stephan lächelt mich etwas verkniffen an, als ob ihm diese Situation sehr unangenehm ist.
„Sehr erfreut.“, sagt Stephan aber dennoch höflich und streckt mir seine rechte Hand entgegen, die ich jedoch zunächst nicht ergreifen kann, da ich ja immer noch die vier Blumenkörbchen in den Armen habe. Hannah und Janis nehmen mir hastig die Körbchen ab und ich schüttle mit meinen sandigen Fingern Stephans Hand, der mich in dem Moment erschrocken anstarrt, als er den Sand an seinen Fingern bemerkt. Verlegen schaue ich zu ihm hoch.
„Nun ja. Ich fahre dann jetzt erstmal zum Bahnhof, um Papa abzuholen. Bis gleich, Janis.“, sagt er schließlich, während er ein Taschentuch aus seiner linken Hosentasche zieht und den Sand von seinen Fingern wischt.
„Hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen.“, sagt er noch, nickt mir kurz zu und verlässt eilig den Saal. -Na bei dem habe ich nicht den besten Eindruck hinterlassen-, denke ich mir kurz und schmunzle in mich hinein. Hannah und Janis verteilen die Blumenkörbchen auf den Tischen. Ich drehe mich um und mache mich auf den Weg zurück zu Hannahs Wagen.
„Warte, Nora!“, ruft Hannah mir hinterher. Ich bleibe kurz stehen und drehe mich zu ihr um. Dann gehen wir zusammen zu ihrem Auto.
„Wie findest du Stephan? Er ist doch genau dein Typ, oder?“, fragt Hannah. Ich schaue genervt links zu ihr rüber.
„Sollte das eben etwa ein Verkupplungsversuch von dir und Janis werden? Wenn ja, dann ist er gründlich in die Hose gegangen.“, antworte ich.
„Ach. Das bisschen Sand ist doch halb so wild. Stephan ist wirklich ein netter Kerl und ist auch Single.“, sagt Hannah grinsend.
„Lass es, Hannah. Ich kann das jetzt nicht gebrauchen. Und außerdem stehe ich auch nicht so auf steife Insel-Anwälte.“, antworte ich und hole weitere Blumenkörbchen aus dem Wagen. Hannah schmunzelt nur.
Mit der Hilfe der beiden Hotelmitarbeiter haben wir den Wagen schnell leer. Nachdem wir uns von Janis verabschiedet haben, bringt Hannah mich nach Hause.
„Dann geh mal schnell duschen und komm wieder zu mir. Ich lade dich zum Italiener ein, als Dankeschön für deine Hilfe.“, sagt Hannah, als sie vor meiner Haustür anhält.
„Super! Gerne! Dann bis nachher.“, antworte ich, während ich aus dem Wagen steige. Grinsend braust Hannah mit ihrem BMW Mini davon. Um siebzehn Uhr bin ich wieder bei ihr und wir fahren zum Italiener im Nachbarort. Wir bestellen uns beide eine Spinatpizza mit extra viel Feta.
„Nun sag mal ehrlich, Nora. Willst du dich nicht wenigstens mal mit Stephan treffen?“, fragt Hannah plötzlich.
„Nein.“, antworte ich nur kurz.
„Ich verstehe dich nicht. Stephan ist doch nun wirklich ein lieber, intelligenter und gutaussehender Mann. Oder findest du etwa nicht, dass er verdammt gut aussieht?“
„Doch, Hannah. Er sieht gut aus. Aber ich habe gerade keine Zeit für so etwas. Und außerdem hatte ich vorhin eher das Gefühl, dass er nicht gerade große Lust darauf hat, mich wiederzusehen. Ich passe überhaupt nicht in das Beuteschema von so einem Mann“, antworte ich.
„Blödsinn. Er war nur im Stress, weil er pünktlich am Bahnhof sein wollte, um seinen Vater abzuholen. Janis denkt auch, dass ihr ein hübsches Paar abgeben würdet. Was heißt überhaupt, dass du nicht in sein Beuteschema passt?“
„So gutaussehende Männer stehen doch eher auf diese aufgedonnerten Ladys und sind grundsätzlich gegen ernsthafte, feste und vor allem monogame Beziehungen.“, antworte ich und nehme noch einen Schluck von meinem Rotwein.
„Ach du meine Güte! Nora! Du kannst Stephan doch nicht sofort als Casanova abstempeln, nur weil er gut aussieht!“, schimpft Hannah mit einem belustigten Unterton.
„Doch. Kann ich.“, antworte ich kurz.
„Erzähle du mir lieber mal, wie es denn bei dir und Janis aussieht? Habt ihr denn nun endlich mal ein offizielles Date?“, frage ich grinsend.
„Nein. Nicht wirklich. Aber er hat mich vorhin angerufen und gefragt, ob wir nächstes Wochenende zum Frühlingsfest des Hotels kommen wollen. Das ist immer eine große Veranstaltung mit Livemusik, leckerem Essen und einer Spendenaktion. Dieses Jahr wird für eine Organisation gesammelt, die Menschen mit Behinderung auf ihrem Weg ins Berufsleben unterstützt. Ich dachte mir, dass es doch sicher sehr interessant sein könnte für Emil. Vertreter der Organisation werden am kommenden Samstag auch dort sein.“, erzählt Hannah.
„Ja. Das ist eine super Idee.“, antworte ich begeistert.
„Lieferst du auch für das Frühlingsfest die Blumen?“
„Ja. Auch schon seit sechs Jahren. Zum Fest selbst wurde ich aber bisher noch nicht eingeladen. Ich bin unsicher, ob ich wirklich hingehen soll.“, sagt Hannah plötzlich. Ich schaue sie überrascht an.
„Ich könnte mir vorstellen, dass Janis sich sehr darüber freuen würde, wenn du kommst.“, antworte ich schmunzelnd. Hannah lächelt verlegen.
Nach dem Essen bringt Hannah mich wieder nach Hause.
Den Sonntag verbringe ich damit, mich auf meinen ersten Tag als Büroleiterin vorzubereiten. Bisher habe ich in Koblenz nur die Projekte privater Eigner geplant und betreut. Von Hamburg aus werden nun auch alle Projekte für Werften im In- und Ausland geplant und realisiert. Auch wenn ich sehr nervös bin, freue ich mich riesig auf diese Aufgabe und weiß, dass ich ihr auch gewachsen bin.
Ich fahre auf den Parkplatz neben dem Büro, das in einer Stadtvilla direkt an einer ruhigen Landstraße in einem Hamburger Vorort liegt. Ich gehe ins Haus und werde sofort von meinem Chef empfangen, der heute extra aus Koblenz angereist ist.
„Guten Morgen, Frau Petersen. Sie sind etwas zu früh. Ihr Büro ist noch nicht ganz eingerichtet.“,
„Guten Morgen, Herr Jenneborg. Schön sie zu sehen.“, antworte ich. Ich verstehe mich gut mit meinem Chef und freue mich wirklich, ihn zu sehen.
Der Flur im Erdgeschoss ist schneeweiß und es hängen auch noch keine Bilder an den Wänden. Rechts ist eine weiße, halbrunde Empfangstheke. Links neben der Theke führt eine weiße Marmortreppe nach oben, in die erste Etage. Gerade aus durch den Flur geht es in einen großen Büroraum, in dem mehrere Zeichentische stehen.
„Kommen Sie, Frau Petersen. Ich zeige Ihnen Ihr Büro.“, sagt Herr Jenneborg und geht die weiße Marmortreppe hoch. Ich folge ihm. Oben im Flur ist wieder eine weiße, halbrunde Empfangstheke. Rechts daneben geht es in eine kleine Küche und ganz rechts am Ende des Flures geht es in einen Raum, in dem ein langer, ovaler Konferenztisch steht. Links neben der Empfangstheke geht es in ein großes Büro, aus dem gerade zwei Handwerker herausgeschlendert kommen. Links und geradeaus, gegenüber der Bürotür, befinden sich bodentiefe Fensterfronten. Rechts an der Wand stehen zwei deckenhohe, hellgraue Regale. Etwas mittig im Raum steht ein breiter Schreibtisch aus Glas, hinter dem ein bequemer, hellgrauer Bürosessel steht, mit der Rückenlehne zur Fensterfront.
„Das ist ihr neues Büro, Frau Petersen.“, sagt Herr Jenneborg stolz. Staunend stehe ich mitten im Raum und kann es kaum glauben. In Koblenz hatte ich ein kleines, fünfzehn Quadratmeter großes Büro, das ich mir mit einer Kollegin teilte. Mein Chef und ich erschrecken uns kurz, als es plötzlich in der Küche scheppert. Herr Jenneborg geht voraus in den Flur. Ich folge ihm und gemeinsam gehen wir rüber zur Küche.
„Na das ist ja eine schöne Bescherung.“, sagt Herr Jenneborg genervt und schaut auf den Küchenboden.
In der Küche steht eine junge Frau in einem dunkelblauen Hosenanzug, einer weißen Bluse und schwarzen, schulterlangen, glatten Haaren. Sie steht mit ihren dunkelblauen Pumps in einem kleinen Haufen aus weißen Porzellanscherben und starrt Herrn Jenneborg an.
„Es tut mir schrecklich leid.“, sagt die junge Frau unterwürfig. Sofort tut sie mir leid.
„Das ist nicht so schlimm. Scherben bringen doch bekanntlich Glück. Nicht wahr, Herr Jenneborg?“, sage ich schnell und lächle zu meinem Chef rüber. Er schaut mich zunächst verwundert an, dann lächelt er aber auch.
„Na wie Sie meinen, Frau Petersen. Das ist jedenfalls Ihre persönliche Sekretärin, Jasmin Benedikt.“
„Ich habe eine persönliche Sekretärin?“, frage ich verwundert.
„Aber natürlich. Die werden Sie brauchen. Sie können nun nicht mehr jede Kleinigkeit selber machen. Sie müssen sich auf die wesentlichen und wichtigen Dinge konzentrieren.“, antwortet mein Chef schmunzelnd.
„So. Ich mache mich jetzt auf den Weg in den Urlaub. Meine Frau ist schon am Flughafen. Ich wünsche Ihnen einen guten Start, Frau Petersen und wenn Sie Fragen haben, können Sie mich jederzeit erreichen.“
„Vielen Dank, Herr Jenneborg. Ich hoffe, das wird nicht nötig sein. Ich wünsche Ihnen und Ihrer Frau nun erstmal einen schönen Urlaub.“, antworte ich. Herr Jenneborg winkt kurz und eilt die Treppe hinunter.
„Willkommen in Hamburg, Frau Petersen.“, sagt meine Sekretärin immer noch in einem unterwürfigen Ton.
„Vielen Dank. Kann ich Ihnen helfen, die Scherben aufzusammeln?“, frage ich und bücke mich hinunter.
„Um Gottes Willen, nein!“, ruft sie sofort und hält schützend ihre Hände über den Scherbenhaufen. Verwundert schaue ich sie an und stehe wieder auf.
„Ich mach das schon. Darf ich Ihnen einen Kaffee bringen?“, fragt sie schließlich.
„Ja. Gerne.“, antworte ich noch immer etwas irritiert.
„Wie hätten Sie den Kaffee denn gerne? Schwarz? Mit Milch oder Zucker?“, fragt sie weiter, während sie die Scherben mit einem kleinen Besen zusammenfegt.
„“Schwarz bitte.“ Frau Benedikt nickt kurz und fegt die Scherben hastig auf ein kleines Kehrblech.
„Kommt sofort, Frau Petersen.“
„Vielen Dank.“, antworte ich und gehe langsam in mein Büro. -Mein Büro. Ganz für mich alleine und es ist so groß und hell- Ich bin so glücklich. Zarghaft klopft es an meine Bürotür.
„Ja bitte.“, rufe ich kurz und setze mich auf meinen gemütlichen, großen Bürosessel. Frau Benedikt kommt mit einem Tablett ins Büro und stellt eine Tasse Kaffee und eine Schale mit Keksen auf meinem Schreibtisch ab.
„Vielen Dank.“, sage ich und nehme einen Schluck Kaffee.
„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Frau Petersen?“, fragt sie höflich.
„Nein danke, Frau Benedikt. Ich muss mich selber erstmal zurechtfinden.“, antworte ich. Sie nickt und verlässt mein Büro. Ich richte mich also erstmal in Ruhe ein und nehme mir die ersten Projekte vor.
Wieder klopft es an meiner Bürotür. Ich stehe auf und öffne die Tür. Frau Benedikt schaut mich erschrocken an und ich muss lachen. Sie hat offensichtlich nicht erwartet, dass ich ihr die Tür öffne. Sie schmunzelt kurz verlegen.
„Ich würde jetzt Mittagessen gehen. Möchten Sie mich begleiten? Hier um die Ecke ist ein nettes, kleines Bistro.“, fragt sie immer noch etwas verlegen.
„Sehr gerne.“, antworte ich und hole schnell meine Handtasche. Auf dem Weg zum Bistro erzählt Frau Benedikt von ihrer Familie, ihren Kindern und ihrem Mann, der in Hamburg als Koch arbeitet.
„Gefällt es Ihnen hier in Hamburg, Frau Petersen?“
„Nennen Sie mich doch bitte Nora.“, sage ich zunächst und strecke ihr meine rechte Hand entgegen.
„Sehr gerne. Ich bin Jasmin.“, antwortet sie freudig und ergreift meine Hand.
„Ich wohne in einem Vorort von Hamburg. Von der Stadt selber habe ich noch nichts gesehen.“, antworte ich nun auf Jasmins Frage. Sie nennt mir sofort mehrere Plätze, die ich mir unbedingt anschauen soll, und welche Restaurants ich auf jeden Fall besuchen muss. Dann kommen wir am Bistro an. Wir essen beide einen Wrap mit vegetarischem Geschnetzeltem, einem Sauerrahm und Salat. Es ist sehr köstlich. Jasmin ist wirklich eine sehr offene und hübsche junge Frau. So wie sie von ihren Kindern und ihrem Mann erzählt, scheinen sie eine sehr glückliche Familie zu sein. Das waren Peer, ich und unsere Mädchen auch einmal. Wehmütig denke ich an die schönen Jahre meiner Ehe zurück. Wir waren ein tolles Team. Auch was unsere Kinder anging. Ich weiß bis heute nicht genau, wann und wo Peer und ich uns verloren haben. Durch einen Zufall habe ich von Peers Affäre erfahren. Peers Architekturbüro lief gerade nicht so gut und er machte bei fast jeder Ausschreibung mit. Dort lernte er Isabell kennen, die ebenfalls Architektin war und ein eigenes Büro hatte. Sie beschlossen, sich zusammenzutun und ein gemeinsames Büro zu eröffnen. Ich fand die Idee super. Geteilte Kosten, geteiltes Risiko. Ich merkte nicht, dass aus der Geschäftsbeziehung von Peer und Isabell ziemlich schnell mehr wurde. Eines Abends, kurz vor Weihnachten, habe ich die beiden dann ganz klassisch in flagranti erwischt, als ich Peer vom Büro abholen wollte, damit wir gemeinsam noch ein Weihnachtsgeschenk für seine Eltern besorgen können. Dieses Gefühl in mir werde ich wohl nie vergessen. Erst eine tiefe Leere, dann der Druck und der Schmerz im ganzen Körper, der meine Atmung zu lähmen schien. Die ersten Wochen nach der Trennung waren sehr hart für mich. Unsere Mädchen haben die Nachricht, dass Peer aus dem Haus auszieht und wir uns scheiden lassen, sehr gelassen aufgenommen. Peer und ich haben es ihnen gemeinsam gesagt und mit Tränen und Wutausbrüchen gerechnet. Stattdessen haben beide erzählt, welche Eltern von ihren Klassenkameraden sich auch bereits haben scheiden lassen. Für Jana und Lisa war es also von Anfang an okay.
Im Nachmittag habe ich Ruhe, um mich in die aktuellen Projekte einzuarbeiten.
Jasmin macht um sechzehn Uhr Feierabend und verabschiedet sich fröhlich von mir. Nun bin ich ganz allein in diesem großen Haus. Noch gibt es keine weiteren Mitarbeiter hier. Die Vorstellungsgespräche mit den Bewerbern soll ich selbst übernehmen. Morgen habe ich die ersten Gespräche. Wir brauchen noch ein paar technische Zeichner und eine Sekretärin für den Empfang im Erdgeschoss. Alle weiteren Mitarbeiter, die wir hier noch benötigen, wechseln wie ich aus dem Koblenzer Büro hierher nach Hamburg.
Um achtzehn Uhr mache ich mich dann aber auch auf den Heimweg.
Die erste Arbeitswoche lief gut. Die Bewerbungsgespräche waren alle erfolgreich und so habe ich in nur einer Woche ein komplettes Team zusammengestellt. Es ist Samstag und ich freue mich auf das Wochenende. Laura kommt heute mit Emil zu mir und wir gehen mit Hannah zusammen auf das Frühlingsfest im Waldhotel von Janis. Laura und Emil übernachten in meiner Wohnung und ich schlafe bei Hannah, die mir netterweise ihr Gästezimmer zur Verfügung stellt. Gegen Mittag werden Laura und Emil bei mir sein. Da ich vorher noch einkaufen gehen muss, stehe ich also schnell auf und springe unter die Dusche.
Als ich gerade alle Einkäufe verstaut habe, klingelt es auch schon an meiner Tür. Ich öffne sie und schaue in Emils freudestrahlendes Gesicht.
„Hallo Emil!“
„Nora!“, ruft Emil und umarmt mich fest. Laura steht mit zwei Trolleys hinter ihm. Emil lässt mich los und stürmt an mir vorbei ins Wohnzimmer.
„Hallo Laura. Schön, dass ihr da seid.“
„Hallo Nora. Tut mir leid, dass es später geworden ist. Aber die Straßen waren so voll!“, antwortet Laura.
Ich führe Laura ins Schlafzimmer, wo sie schlafen wird.
„Für Emil habe ich schon frisches Bettzeug auf das Sofa gelegt. Jetzt müssen wir uns aber etwas beeilen. Hannah wartet schon auf uns.“, sage ich lächelnd und verschließe das Fenster im Schlafzimmer, dass noch vom Lüften angekippt war.
Eilig gehen wir zu meinem Wagen. Emil setzt sich hinter meinen Fahrersitz und Laure setzt sich neben ihn, hinter den Beifahrersitz. Zügig fahre ich zu Hannah, die sich auch sehr freut, die beiden wiederzusehen.
Ich parke vor dem Hotel, rechts neben der Treppe zum Haupteingang.
Nachdem wir ausgestiegen sind, folgen wir ein paar weiteren Besuchern über die Wiese links neben dem Gebäude entlang und gehen hinter das Hotel, wo sich ein großer, wunderschöner Park bis zum Waldrand erstreckt. Mehrere kleine Wege aus weißen Kieselsteinen schlängeln sich durch den Park. An den Wegen stehen in größeren Abständen hohe, weiße Laternen im französischen Stil. Auf den Wiesen verteilt stehen ein paar, etwa einen Meter hohe Sockel mit verschiedenen Skulpturen, wie zum Beispiel nackte Oberkörper, Greifvögel und Löwen. Zwischen den Skulpturen sind kleine Buden und Stände mit Kinderspielen aufgebaut. Sogar ein kleines Kinderkettenkarussell steht rechts auf den Platten, neben der mindestens zehn Meter breiten Treppe, die mit acht Stufen auf die riesige Terrasse des Hotels führt. Rechts neben der Treppe ist der Informationsstand der Organisation, die Menschen mit einer Behinderung auf ihrem Weg ins Berufsleben unterstützt.
Wir gehen die breite Treppe hoch auf die Terrasse. Auf der Terrasse sind ein paar weiße Pavillons aufgebaut, unter denen große runde Tische mit weißen Tischdecken stehen. Um jeden Tisch herum stehen acht Stühle.
Links neben den fünf großen Terrassentüren aus Glas, die in den großen Saal des Hotels führen, stehen mehrere rechteckige Pavillons nebeneinander, unter denen ein reichhaltiges Buffet aufgebaut ist. Rechts neben den fünf Terrassentüren steht ein weißer Flügel, an dem ein junger Mann in einer dunkelblauen Anzughose und einem weißen Hemd gerade eine zauberhafte Melodie spielt.
Eine junge, blonde Kellnerin kommt auf uns zu. Sie trägt ein Tablett mit mehreren Gläsern Sekt und Orangensaft. Ihre langen blonden Haare hat sie zu einem strengen, hohen Zopf zusammengebunden.
„Herzlich willkommen im Waldhotel Horner. Darf es ein Glas Sekt oder Orangensaft für Sie sein?“, fragt die junge Kellnerin fröhlich. Ich lächle freundlich zurück und nehme mir ein Glas Sekt vom Tablett. Hannah und Laura greifen ebenfalls nach einem Glas Sekt. Emil nimmt sich brav ein Glas Orangensaft, was Laura mit einem leichten Nicken und einem kaum erkennbaren Lächeln kommentiert.
„Hannah! Da seid ihr ja!“, ruft Janis und kommt freudestrahlend auf uns zu. Ich muss schmunzeln, als ich sehe, wie Hannah ihm zuwinkt und leicht errötet. Hannah stellt Janis, Laura und Emil vor.
Janis reicht Laura freundlich die Hand, die sie irgendwie verlegen ergreift. Scheinbar können nicht viele Frauen seinem Charme widerstehen. Janis sieht wirklich sehr gut aus. Seine leicht krausen Haare wirken zwar immer etwas unordentlich, aber das macht er mit seinen feinen Anzügen, dem stets glattrasierte Gesicht, seinen wachen, strahlend blauen Augen und seinen überaus hervorragenden Manieren wieder wett. Aber mein Typ ist er trotzdem nicht. Mir gefallen die dunkelhaarigen Typen mit Dreitagebart besser. Natürlich kommt es aber in erster Linie darauf an, dass man sich versteht und die meisten Dinge gerne miteinander teilt.
Janis klopft Emil auf die Schulter.
„Hallo Emil. Dann möchte ich dir mal ein paar sehr nette Leute vorstellen.“, sagt Janis und führt Emil zu dem Infostand. Laura schaut ihnen panisch hinterher und möchte den beiden sofort folgen. Schnell packe ich Lauras linken Unterarm.
„Lass ihn, Laura. Hier kann nun wirklich nichts passieren.“, sage ich beruhigend. Sie schaut mich mit einem verkniffenen Lächeln an und ich weiß genau, dass sie mir nicht glaubt. Sie bleibt aber dennoch bei uns stehen. An dem Infostand stehen noch andere Jugendliche und auch ein paar mit Trisomie 21. Emil ist ein sehr aufgeschlossener Typ und scheint sich auch schon sehr gut mit ein paar der anderen Jugendlichen zu verstehen. Emil sieht wirklich glücklich aus.
„Jetzt würde ich mich aber auch gerne mal an diesem Stand informieren.“, sagt Laura plötzlich und geht zügig rüber zu Emil.
„Hannah!“, ruft Janis und winkt sie zu sich. Sofort färbt sich Hannahs sonst so blasses Gesicht in ein helles Rot.
„Entschuldige mich bitte, Nora.“, sagt sie hektisch und eilt zu ihm. Tuschelnd gehen sie durch die mittlere der fünf Terrassentüren ins Hotel. Nun stehe ich ganz alleine hier, mit meinem Glas Sekt in der Hand. Naja. Nicht ganz alleine. Eigentlich ist die Terrasse sogar voller Menschen. Ich hätte nicht gedacht, dass es hier so voll sein würde.
Plötzlich bekomme ich einen heftigen Stoß von links und falle seitlich auf den Terrassenboden. Mit einem lauten Klirren zerbricht mein Sektglas auf den Platten. Noch etwas benommen richte ich meinen Oberkörper auf.
„Oh mein Gott! Das tut mir so leid!“, ruft ein kleiner, dickbäuchiger Mann mit Halbglatze und streckt mir seine Hände entgegen, um mir aufzuhelfen. Erst als ich wieder stehe, bemerke ich, dass scheinbar alle Augen auf dieser Terrasse auf mich gerichtet sind. -Wie peinlich.-, denke ich nur. -Jetzt bin ich sicher hochrot im Gesicht.- Eine Kellnerin und ein Kellner kommen angelaufen und schauen mich erschrocken an.
„Sind Sie verletzt?“, fragt der Kellner, während seine Kollegin die Scherben meines Sektglases auffegt.
„Ich denke nicht.“, antworte ich leise.
„Sind Sie sicher?“, fragt der dickbäuchige Mann mit der Halbglatze. Ich nicke nur kurz.
„Ich habe mich gerade gegen eine Biene gewehrt, die mich einfach nicht in Ruhe lassen wollte. Sie müssen wissen, ich bin allergisch gegen diese Viecher.“, erklärt er hektisch.
„Schon okay. Mir ist ja nichts passiert.“, antworte ich beruhigend und ziehe meine weiße, dünne Strickjacke zurecht. Dann schaue ich noch, ob mein hellblaues Sommerkleid, das mir bis unter die Knie geht, unversehrt ist. -Gott sei Dank. Dem Kleid ist nichts passiert.-, denke ich erleichtert. Nur der Druckknopf meiner rechten, weißen Sandale mit Blockabsatz hat sich oben am Knöchel gelöst. Ich hocke mich kurz hin und drücke ihn zu. Langsam stehe ich wieder auf. Der dickbäuchige Mann, der Kellner und die Kellnerin sind bereits weg und die übrigen Gäste auf der Terrasse haben sich wieder ihren Gesprächspartnern zugewandt.
„Wenn Sie ihn doch verklagen möchten, vertrete ich Sie gerne.“, höre ich plötzlich eine dunkle Männerstimme hinter mir und drehe mich um. Stephan Horner, Janis’ Bruder, steht mit zwei Gläsern Sekt hinter mir. Ich glaube, ein leichtes Grinsen in seinem Gesicht zu erkennen. -Wie unverschämt, dass er seine Schadenfreude scheinbar nicht verbergen kann.- denke ich.
„Sind Sie wirklich in Ordnung?“, fragt er nun doch etwas besorgt und reicht mir das Sektglas aus seiner linken Hand.
„Ja. Mir fehlt nichts“, antworte ich etwas schnippisch, während ich ihm das Glas abnehme.
„Kommen Sie. Gehen wir ein paar Schritte nach dem Schrecken.“ Stephan deutet mit seinem Blick auf die breite Treppe, die in den Park hinunterführt. Ich stehe wohl noch etwas unter Schock, denn anstatt abzulehnen, nicke ich kurz.
Langsam schreiten wir zunächst eine Weile wortlos nebeneinander über die Wege des Parks.
„Ein paar blaue Flecken werden Sie aber sicher davontragen. Der Sturz sah wirklich übel aus.“, unterbricht Stephan unser Schweigen. Sofort wird mein Gesicht heiß und sicher rot. Er hat also alles mitbekommen. Ist das peinlich. Vielleicht ist er nur deshalb so nett. Bei unserer letzten Begegnung wirkte er sehr reserviert und ablehnend.
„Sind Sie deshalb auf einmal so nett?“, frage ich plötzlich und bereue es im selben Moment. Stephan bleibt abrupt stehen. Seine braunen Augen schauen fragend auf mich hinunter. Ich lächle etwas verlegen. Dann formen sich seine Lippen zu einem verschwörerischen Lächeln.
„Soso. Sie sind also der Meinung, dass ich bisher nicht sehr nett zu Ihnen war?“, fragt er.
„Es tut mir leid. Vergessen Sie es einfach.“, sage ich schnell und gehe weiter. Seufzend lässt er sein Kinn in Richtung Brust fallen, hebt den Kopf wieder und folgt mir.
„Ich glaube, Sie haben ein völlig falsches Bild von mir, Nora Petersen.“
„Das kann ich mir kaum vorstellen.“, antworte ich grinsend und wundere mich, dass er sich noch an meinen vollen Namen erinnert. Plötzlich bückt er sich runter, um den Schnürsenkel an seinem rechten, blankgeputzten, braunen Schuh wieder festzuziehen. Ich lächle zu ihm hinunter und gehe langsam ein paar Schritte weiter.
„Warten Sie. Sie bluten ja.“, sagt er und kommt an meine rechte Seite. Besorgt hebt er vorsichtig meinen rechten Arm an. Tatsächlich. An meiner weißen Strickjacke ist in Höhe des Ellenbogens ein Loch in meiner Strickjacke und ein recht großer Blutfleck. Vorsichtig hilft Stephan mir aus der Jacke. Mein Kleid hat leider nur etwas breitere Träger ohne Ärmel. Ohne die Strickjacke ist mir nun doch schon etwas kühl und ich bekomme eine leichte Gänsehaut.
„Ohje. Da haben Sie sich aber doch ganz schön verletzt. Lassen Sie uns reingehen und die Wunde etwas versorgen.“, sagt er mit seiner warmen, dunklen Stimme. Ich nicke wieder nur kurz.
„Sie frieren ja, Frau Petersen.“ Sofort zieht er sein Jackett aus, tritt hinter mich und legt es vorsichtig über meine Schultern. Einen kurzen Moment lässt er seine Hände auf meinen Schultern liegen.
-Der Klassiker. Der gutaussehende, verführerische Mann legt der frierenden Dame sein Jackett um, weil sie friert.- Innerlich verdrehe ich die Augen. Aber tatsächlich tut die Wärme seines vorgewärmten Jacketts ziemlich gut. Langsam gehen wir zurück auf die Terrasse, wo uns Hannah und Janis entgegenkommen. Hannah schaut in Stephans rechte Hand, in der er meine weiße Strickjacke mit dem Blutfleck hat.
„Was ist passiert?“, fragt sie sofort. Auch Janis schaut mich und Stephan abwechselnd fragend an. Bevor ich etwas sagen kann, berichtet Stephan kurz, was passiert ist.
„Wo hast du den Verbandskasten, Janis?“, fragt Stephan nun etwas drängelnd.
„Kommt mit.“, antwortet Janis nur kurz und geht zügig ins Hotel. Hannah, Stephan und ich folgen ihm.
Wir durchqueren den großen Saal mit seinen vielen Kristallkronleuchtern an der Decke und dem hellen, glänzenden Marmorboden. Durch eine hohe, doppelflügelige, weiße Holztür gehen wir in die Lobby, dann links um die Rezeption herum in den Flur, der zu dem Festsaal führt, in dem der Geburtstag von Horner Senior stattfand. Janis schließt die erste Tür rechts im Flur, gegenüber des Fahrstuhles, auf, öffnet sie und bittet uns hinein.
„Das ist unser Erste-Hilfe-Raum. Wir sind hier fast so gut ausgestattet wie ein Rettungswagen.“, sagt Janis stolz und öffnet einen hohen Schrank voll mit Verbandsmitteln.
„Okay. Ihr zwei kommt doch jetzt sicher alleine zurecht, oder?“, fragt Janis grinsend. Stephan nickt nur. Hannah will gerade protestieren, als Janis seinen rechten Arm um ihre Hüfte legt und sie aus dem Zimmer schiebt. Leise schließt er die Tür.
Schweigend setze ich mich auf den Rand der Liege, die links an der Wand steht und schaue zu, wie Stephan im Verbandsschrank gegenüber der Liege herumkramt. Stephan ist wirklich groß und schlank. Seine Muskeln sind durch sein Hemd gut zu erkennen. Er krempelt die Ärmel seines Hemdes bis zu den Ellenbogen hoch. Er trägt eine dunkelblaue Anzughose mit einem braunen Gürtel und braune, glänzende Schnürschuhe. An seinem weißen Hemd sind die ersten drei Knöpfe wieder offen. Mit seinen dunkelbraunen Haaren, den dunkelbraunen Augen und dem Dreitagebart ist er optisch im Grunde genau mein Typ. Aber so verboten gutaussehende Männer sind meist auch sehr von sich eingenommen und oberflächlich.