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In ihrem ebenso witzigen wie klugen Roman "Was Schildkröten im Schilde führen" erzählt Maria Keim humorvoll und zugleich berührend von Freundschaft und Familie, von Verlust und Neuanfang – und von einer umweltaktivistischen Schildkröte. Eben mal die Welt retten? Dafür hat Marlin eigentlich gar keine Zeit. Schließlich steht sie kurz vor dem Abitur, muss den Haushalt schmeißen und sorgt sich um ihre schusselige Oma und ihren überarbeiteten Vater. Doch ihre Prioritäten ändern sich, als sie vor dem Kölner Dom zufällig auf eine Schildkröte trifft, ein kleines Reptil mit großer Klappe und noch größeren Plänen: Sie will den Klimawandel umkehren, die Umweltverschmutzung aufhalten und den Menschen, der all das verursacht, endlich aufrütteln. Und mit Marlin fängt sie an. Denn wenn es darum geht, die Welt zu retten, ist "Vielleicht morgen" einfach nicht genug!
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Veröffentlichungsjahr: 2021
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Die Zitate auf den Seiten 70–71 stammen aus: Mick Inkpen, »Der kleine Garnix«, Brunnen-Verlag, Gießen, 1999
© Piper Verlag GmbH, München 2021
Redaktion: Martina Vogl
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Coverabbildung: Afishka/Shutterstock.com
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Cover & Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Danksagung
Vor dem mächtigen Kölner Dom steht eine Schildkröte mit einem Schild. Nicht ein Schild im Sinne von Schildpanzer, sondern ein pappiges Pappplakat, das an einem Ast wackelt. Darunter das Tier, das gerade mal so groß ist wie meine Hand.
Ich steige von meinem knallroten Fahrrad ab und schiebe es näher heran. Der Wind hier oben zerrt an der Schildreklame – oder eher Schildkrötenreklame:
WECHSELWARMES KRIECHTIER SUCHT EINSIGARTIGE WOHNGEMEINSCHAFT MIT MÖGLICHST K(L)EINEM ÖKOLOGISCHEN FUSSABDRUCK!
PS: Nieder mit der Kohle!
»Schreibt man einzigartig nicht mit ›z‹?«, frage ich niemand Bestimmten.
»Laut Duden schon«, antwortet jemand. »Aber wenn alle einzigartig schreiben, dann wäre es ja nicht mehr einsigartig.«
Ich betrachte die Schildkröte. Auf ihrem Rückenpanzer steht mit roten Buchstaben Rette mich!geschrieben. Ich schaue nach links. Nach rechts. Durch den einsetzenden warmen Nieselregen sichte ich unzählige graue Gestalten, die unter Schirmen durch die Gegend huschen.
Da ertönt wieder die Stimme. »Das ist ähnlich wie beim Palindrom.«
Die winzigen schwarzen Glupschaugen des Reptils sehen zu mir herauf. Ich blinzele.
Das Tier blinzelt ebenfalls.
Meine Stirn runzelt sich.
Die Schildkröte bewegt ihren Mund. »Warum ist das Wort Palindrom kein Palindrom?«
Ich schaue erneut vorsichtig nach rechts und nach links. Dann hinauf zu den zwei Domspitzen, hinter mich zum Hauptbahnhof und zum Schluss wieder zu der Schildkröte hinunter. »Was für ein Syndrom?«
»Risotto, Sir?«, fragt die Schildkröte, die auf einem DIN-A4-Karton hockt wie auf einem Podest.
»Was?«
»Nette retten.«
»Hä?«
»Vitaler Nebel mit Sinn ist im Leben relativ.«
»Bist du jetzt kaputt?«, frage ich verwirrt.
»Frechheit!«, erwidert die Schildkröte entrüstet. »Man fragt doch nicht einfach Leute, ob sie kaputt sind!«
»Ich meine, ist deine Sprechanlage jetzt kaputt?«
»Ich habe ein paar Palindrome aufgezählt – das sind Worte oder Sätze, die von vorne wie von hinten gleich sind. So wie Ehe. Otto. Madam. Lagertonnennotregal. Aber vor allem Ehe.«
»Hm.« Ich tippe Palindrom in mein Handy ein. »Ah. Du meinst so was wie: Eine Hure ruhe nie.«
Empört sieht das Tier zu mir empor. »Das ist nicht jugendfrei!«
Ich grinse. »Oder«, lese ich weiter, »An Omar liegt geil Ramona.«
»Ist deine Sprachkläranlage jetzt kaputt?«, äfft sie mich nach und räuspert sich dann. »Verzeihung, aber würdest du bitte zur Seite treten? Mein Plakat soll noch für andere Passanten lesbar sein. Ich hätte heute Abend nämlich gerne ein warmes Bett.«
Der Nieselregen hat sich derweil verdichtet, und auf der Domplatte fällt niemandem die kleine Schildkröte auf.
Ich beuge mich hinunter und strecke meine Hände nach ihr aus.
»Hey!«, ruft sie. »Privateigentum!« Sie schnappt nach mir.
Ich greife vorsichtig unter ihren Panzer, hebe sie hoch, drehe sie langsam um, schaue nach Anzeichen von Elektronik, drehe sie wieder zurück und setze sie wieder ab. Keine Kabel oder Lautsprecher zu sehen.
»Das ist entwürdigend!« Sie kneift ihre Augen zusammen. »Wie würdest du es finden, wenn dich jemand umdreht und dir unter den Rock schaut?«
»Deshalb trage ich keinen«, antworte ich gelassen.
Die Schildkröte blickt zu der gläsernen Eingangshalle des Hauptbahnhofs hinüber. Sie sieht verloren aus. Der Wind versucht, das Schild vom Ast zu reißen, welcher an dem Karton, auf dem sie steht, befestigt ist.
Der Regen wird stärker, und ich ziehe meine Häkelmütze tiefer ins Gesicht. »Da kommt ein Gewitter.«
Die Schildkröte schaut immer noch an mir vorbei. »Ja, und morgen scheint die Sonne wieder glühend heiß. Wunderbares Thema, das Wetter. Ihr Menschen verschwendet einen erstaunlich großen Teil eurer Zeit damit, über etwas zu sprechen, das ihr nicht beeinflussen könnt. Vielen Dank, aber ich bin gerade nicht in der Stimmung, über dieses Thema zu diskutieren.«
»Ich meine nur, es regnet, und du brauchst ein Dach über dem Kopf.«
»Ich bin eine Schildkröte. Regen macht mir nichts aus.«
»Du bist aber keine Meeresschildkröte«, halte ich dagegen und deute auf ihre kurzen Beine.
»Nur weil ich eine Landschildkröte bin, heißt das nicht, dass ich nicht schwimmen kann. Menschen haben auch keine Flossen. Trotzdem können sie schwimmen.«
»Hm.« Der Regen peitscht mir ins Gesicht. Das kleine Pappplakat saugt die dicken Tropfen besser auf als jeder Schwamm. Auch die Schrift auf dem Rücken der Schildkröte löst sich auf und rinnt an der Seite des Panzers hinab wie Blutstropfen. »Deine Farbe geht ab.«
»Mist.« Ein fetter Regentropfen zerspringt auf ihrer Stirn. Schnell zieht sie den Kopf ein.
»Du musst ja nicht gleich bei mir wohnen«, sage ich gedehnt. »Wir könnten ein bisschen chillen, bis das Wetter besser wird, und dann schreibe ich dir was mit Nagellack auf den Rücken – der hält besser. Deal?«
»Abgemacht«, hallt es aus ihrem Panzer.
Ich strecke ihr meine offene Handfläche hin, damit sie daraufklettern kann.
Es dauert lange. Sehr lange.
Die blonden Haare unter meiner selbst gehäkelten Mütze sind schon nass. Aber ich will nicht wieder unhöflich sein.
Als sie sich endlich auf meiner Handfläche niedergelassen hat, überlege ich, wie ich bei dem Wind mit einer Schildkröte in der Hand Fahrrad fahren soll.
»Möchtest du in meine Brusttasche?«
Sie nickt.
Ich stecke sie in die Brusttasche meiner dunkelblauen Latzhose. Sie passt perfekt hinein. Mit ihrem faltigen Hals lugt sie über den fransigen Rand hinaus.
Ich öffne neugierig den Karton, auf dem die Schildkröte stand. Ein Tuch verdeckt die Gegenstände darin.
»Hey«, ruft die Schildkröte alarmiert. »Privateigentum!«
»Was hast du denn da drin?«
»Bist du taub? Privateigentum!«
»Okay.« Ich verstaue die Box und das Schild in meinem Fahrradkorb. »Ist da vielleicht deine Sprechanlage versteckt?«
»Du und deine Sprechanlagen. Klinge ich etwa wie die begriffsstutzige Siri von deinem Handy?«
»Nö. Ich habe nur noch nie eine sprechende Schildkröte gesehen.«
»Nur weil du noch nie eine gesehen hast, heißt das nicht, dass es sie nicht gibt.«
»Stimmt schon«, antworte ich. »Aber in der Wissenschaft ist das doch so: Etwas wird so lange angenommen, bis es widerlegt wird.« Ich steige auf mein Fahrrad. »Und du wärst ja dann ein Beweis. Beziehungsweise ein Widerleg.«
»Fahr endlich los. Ich bin schon ganz glitschig vom Regen.«
Ich stoße mich vom Boden ab und trete kräftig in die Pedale. »Ich heiße übrigens Marlin«, rufe ich gegen den Wind an.
»Sehr erfreut«, gibt sie zurück.
»Hast du auch einen Namen?«
»So etwas Primitives brauche ich nicht.«
»Dann kann ich dir ja einen geben.«
»Wag es nicht, mich zu anthropomorphisieren!«
»Dich zu was?«
»Mich zu vermenschlichen. Indem du mir beispielsweise einen Namen gibst.«
»Was ist so schlimm daran, einen Namen zu haben? Balthasar wäre doch ein schöner Name. Oder Trita. Mathilde? Fritz? Barbara? Gwendolin? Oder vielleicht Dennis?«
Die Schildkröte sieht lange zu meinem Kinn hoch. »Ich bin eine Schildkröte. Und damit basta.«
Der Regen hört pünktlich zwei Sekunden vor Papas Haus auf, nachdem ich mich eine halbe Stunde auf dem Fahrrad abgestrampelt habe. Das frei stehende, zweieinhalbgeschossige Gebäude, in dem ich schon immer wohne, ist gelb gestrichen, mit blauen Fenstern und einem roten Dach. Die Sonne lacht uns spöttisch ins Gesicht, als ich mein Fahrrad die Einfahrt zur Garage hochschiebe. Ich gehe unter dem Vordach am Garagentor entlang, dessen tannengrüne Farbe langsam abblättert, um die Adern aus Rost durchscheinen zu lassen.
Gerade, als ich anfange, mich zu freuen, dass der Regen vorbei ist, landet ein kirschgroßer Wassertropfen mitten auf meiner Nase. Mein Vater ignoriert die verstopfte Regenrinne seit Ewigkeiten.
Ich lehne mein Rad an die Hauswand und laufe durch den Garten zur Terrasse. Ich lege mich in meinen Liegestuhl und tropfe eine Weile vor mich hin.
Währenddessen klettert die trockene Schildkröte aus der Brusttasche und sagt: »Wie gut, dass es geregnet hat – dieser Sommer ist wieder mal viel zu trocken.«
Ich überlege kurz, ob ich meine Mütze über ihr auswringen soll.
Das Reptil tapst auf meinen Bauch und sieht sich von dort aus den Garten an. Neben Omas buntem Imperium aus kleinen Gemüsebeeten steht ein knotiger Baum mit einem Baumhaus und einer Schaukel in der Mitte einer weitläufigen Wiese, die an einen dichten Wald angrenzt.
»Warum suchst du eigentlich ein Zuhause, wenn du dein Haus quasi immer dabeihast?« Ich tippe gegen ihren Panzer.
»Das hat seine Gründe«, sagt sie schnell. »Besitzt du ein Terrarium?«
»Ähm, ich glaube nicht. Aber man kann die öfter mal auf dem Flohmarkt kaufen.« Ich könnte meine Oma mal dorthin mitnehmen, so wie sie mich früher immer mitgenommen hat.
»Ein Terrarium verbraucht viel zu viel Energie.« Die Schildkröte betrachtet mein kleines Baumhaus. Papa und ich haben es vor vielen Jahren zusammengezimmert, kurz nach der Trennung meiner Mutter von uns. Mein Refugium sieht inzwischen aus, als wäre es in die knorrigen Stämme des Baumes hineingewachsen, die es wie eine Hand umfangen. »Wo hätte ich deiner Meinung nach wohnen sollen, wenn ich bei dir hätte wohnen wollen gewollt?«
Ich denke kurz nach. »Du meinst, wenn du bei mir hättest wohnen wollen.«
»Sehe ich aus wie ein Muttersprachler von lächerlichen menschlichen Dialekten?«
»Was ist denn deine Muttersprache? Gibt es Schildkrötisch?«
Sie mustert mich ein paar Sekunden mit ihren schwarzen Murmelaugen. »Haha. Witzig. Nein, gibt es nicht. Es gibt ja auch kein Menschlich.«
Ich lehne meinen Kopf zurück und genieße die Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht.
»Zurück zum Terrarium«, plappert sie munter weiter. »Diese Konstruktionen sind eng. Keiner mag es, eingesperrt zu sein, und vier Wände aus Glas sind auch nicht gerade beruhigend. Außerdem: Keine Schildkröte will dabei beobachtet werden, wie sie den Fisch fangen geht. Also, du willst mich doch nicht in so einer Glashölle einsperren?«
Ich runzle die Stirn. »Den Fisch? Im Terrarium?«
Die Schildkröte hebt ihre nicht vorhandenen Augenbrauen. »Butter stampfen. Den Dolch schärfen. Du verstehst schon.«
Meine Stirn legt sich nur noch mehr in Falten.
»Mit der Palme wedeln? Die Perle putzen?«
Schildkröten machen echt komische Sachen. »Nein, ich will dich nicht einsperren.«
Sie wirkt sichtlich erleichtert. »Wo könnte ich denn wohnen?«
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich in meinem Baumhaus.«
Die Schildkröte ist sprachlos. Als ich nichts weiter ausführe, gibt sie ein ersticktes Lachen von sich. »Kennst du Albert Einstein?«
»Nicht persönlich.«
»Kennst du seinen Spruch: ›Jeder ist ein Genie. Aber wenn du eine Schildkröte danach beurteilst, ob sie auf einen Baum klettern kann, wird sie ihr ganzes Leben glauben, sie sei dumm.‹«
»Ähm … ging es dabei nicht um einen Fisch?«
»Das ist – wie so vieles – falsch überliefert.«
»Hast du dafür einen Beweis?«, frage ich.
»Ja! Albert hat den Spruch zu mir persönlich gesagt.«
»Ach was!«, tue ich erstaunt und zitiere dann meinen Philosophielehrer: »Ich habe auch letztens Sokrates auf der Straße getroffen. Und als er mich gefragt hat, wo der Supermarkt ist, habe ich geantwortet: ›Ich weiß nicht.‹ Er rastete total aus und meinte: ›Das ist es! Du weißt, dass du es nicht weißt! Ich weiß es auch nicht! Wir wissen alle nix! Das macht uns schlau!‹« Das sagt mein Lehrer oft, wenn wir total ahnungslos in der Klasse sitzen.
Die Schildkröte räuspert sich und sieht – diesmal eindeutig zweifelnd – zu meinem Baumhaus hinüber. »Ich wollte nur fragen, wie ich da hochkommen soll. Habe ich Flügel?«
»Ich habe doch auch keine Flügel. Ich komm trotzdem hoch.«
»Ja, weil du ein Affe bist. Ich bin ein Reptil. Ganz bodenständig. Wie soll ich einen Baum hochkommen?«
»Über die Treppe?« Ich deute auf die gewundenen Stufen, die um den Stamm herumlaufen.
»Mit einer …«
»Du hast Höhenangst.«
»Nein!«, sagt sie in einer Tonlage, die gut zu meiner Badeente passen würde.
»Na dann. Ich habe mal ein Katapult gebaut. Das könntest du auch ausprobieren.«
Als ich unsere Outdoor-Fritteuse anmache, erinnere ich mich, dass ich eigentlich abnehmen will. Seit heute Morgen schon. Egal. Morgen ist dann wirklich der Tag. Versprochen.
»Was hast du vor?« Die Schildkröte sonnt sich in dem späten Licht. Sie sitzt auf dem Gartentisch auf unserer Terrasse und beäugt skeptisch das mobile Frittiergerät, das neben ihr steht. Darin brutzelt und spritzt es. Die schwüle Sommerluft wird geschwängert von dem Geruch nach heißem Fett.
Ich schüttele den Karton, den ich aus der Tiefkühltruhe mitgebracht habe. Ein paar Brocken Eis lösen sich ab. »Chicken Nuggets.«
»Ah.« Die Schildkröte sieht weg. »Ich hatte mal eine beste Freundin, weißt du?«
»Nö. Ich habe dich heute erst kennengelernt.«
»Meine beste Freundin, das war ein Huhn. Ein radikales Huhn. Mal links, mal rechts. Unwichtig für so einen Vogel, der keinen vernünftigen Orientierungssinn hat.«
»Willst du mir damit etwa sagen, dass ich keine Chicken Nuggets essen soll?«
Sie ignoriert meine Frage. »Das Huhn ist aus der Bodenhaltung geflohen. Sechsundzwanzig Hühner pro Quadratmeter. Lebenserwartung sieben Wochen. Sie bekam nicht nur ungesundes Essen, es wurde auch noch jede Menge Medizin beigemischt. Ihr Schnabel wurde …«
Ich seufze so laut, dass die Schildkröte verstummt. »Na gut. Dann esse ich halt keine Nuggets.« Ich gehe durch die Glastür in die Küche zum Kühlschrank und nehme eine andere Box aus dem Gefrierfach heraus. Meine nackten Füße tapsen zurück nach draußen über das warme, dunkle Holz unserer Terrasse, das noch feucht ist vom Regen. Dort öffne ich die Packung Fischstäbchen.
»Ernsthaft?«, fragt die Schildkröte. »Das könnten meine Nachbarn gewesen sein.«
»Du bist eine Landschildkröte.«
»Landschildkröten leben auch am Wasser. Einmal kannte ich einen Seelachs, der …«
»Was isst du eigentlich?«, unterbreche ich sie, um mir Geschichten über das Meeresmassensterben zu ersparen. Die Fischstäbchenverpackung ist eh leer. Papa oder Oma. Fifty-fifty. Entweder hat mein Vater nach einem wieder mal zu stressigen Arbeitstag den leeren Karton ins Kühlfach statt in den Papierkorb geschmissen. Oder Oma hat die gefrorenen Stäbchen wie Eis gelutscht. Vielleicht hat sie die auch an unsere Katze verfüttert.
»Salat«, sagt die Schildkröte. »Oder am liebsten Mangold. Hast du Mangold?«
»Ja, baut meine Oma hier im Garten an.« Ich deute auf die Mischbeete neben der Wiese. In der fruchtbaren Erde wuchert das Gemüse nur so vor sich hin. Verschiedene Tomatenpflanzen tragen rote und goldene Früchte. Je bunter die Ernte, desto verrückter meine Oma. »Nicht mehr regional, sondern schon lokal, ist das nicht cool?«
Sie schweigt, während ihr Blick über Romanasalat, Schwarzkohl und rote Bete schweift.
»Also«, sage ich, »bist du vegan?«
Die Schildkröte zieht den Kopf ein. »Ich bin ganz und gar nicht vegan. Das Panzerknacken ist zudem ziemlich mühselig. Und schmecken tu ich nicht mal mit ordentlich Salz und Pfeffer.«
»Sicher? In China oder so seid ihr doch ein super Leckerbissen.«
Aus dem Gehäuse dringt kein Laut hervor. Dann sagt sie leise: »Ich bin weder schmackhaft, noch besitzt mein Panzer Wunderheilkräfte.«
Da ich merke, dass das Tier sich wirklich zu ängstigen scheint, hebe ich beschwichtigend die Hände. »Sorry, war nur ein Witz. Ich würde dich nie essen.« Es sieht immer noch verkrampft aus. »Ehrenwort. Was ich eigentlich fragen wollte: Bist du Veganer?«
»Immer diese Bezeichnungen: Veganismus, Paleoismus, Fruganismus.« Mit jedem Wort kommt der Kopf ein Stückchen weiter hervor. »Low-Carbismus, Rohkostismus …«
»Dann mache ich uns einen Salat«, sage ich schnell.
»Flexitarismus, Bananaananasismus, Pseudokannibalismus …«
»Einen großen Salat.« Ich schalte unauffällig die Fritteuse aus und hoffe, dass die Schildkröte jetzt nicht anfängt, über meine Energiebilanz zu reden.
Ich, mittlerweile wieder trocken, habe den Tisch gedeckt und serviere uns Salat in einer Glasschüssel.
Papa ist auch schon von der Arbeit zurück. Er hat sich gleich gestresst mit seinem Laptop an den Esstisch im Wohnzimmer gesetzt. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ihm einen Teller Salat hinzustellen und wieder zurück zu dem Panzertier auf die Terrasse zu gehen.
Wenn eine Schildkröte Salat kaut, sieht es einerseits sehr genüsslich aus, andererseits frage ich mich, ob sie sich gleich ihr Kiefergelenk ausrenkt. Oder wie viele Kiefergelenke sie eigentlich hat. »Isst du eigentlich noch was anderes außer Salat?«
»Kaum.«
»Aha! Dann bist du also ein … Salatist!«
Unbeeindruckt kaut sie weiter.
»Die wahre Ernährungsweise ist ganz am Anfang der Nahrungskette geschrieben!«, sage ich und unterzeichne alles mit theatralischen Gesten. »Zeigt Nächstenliebe, brecht das Salatblatt.«
»Iss einfach, Marlin.«
»Nicht das Essen so kochen, dass es zu uns passt, sondern uns ändern, sodass wir zum Essen passen.«
Ihr Blick bleibt unverändert kühl. »Dein Salat wird gleich kalt.«
Ich stelle mich auf den wackeligen Gartenstuhl. »Keine Akzeptanz von Gewalt gegen Tofu und Getreide! Esst für etwas! Da habt ihr euren Salat!«
Da das Reptil weiter kommentarlos Salatblätter ab-reißt, verliere ich den Spaß an der Sache und lasse mich wieder auf meinen Stuhl hinuntergleiten. »Wie hat das Huhn es eigentlich geschafft, aus dem Knast auszubrechen?«, frage ich stattdessen.
»Mit radikalen Mitteln natürlich«, antwortet die Schildkröte, als wären radikale Mittel so geläufig wie die Milch im morgendlichen Kaffee.
»Du meinst, so mit Stickstoffmonoxid?«
»NO! Eher mit Gewalt.« Sie untersucht eingehend die diversen Blättersorten auf ihrem Teller.
»Oha.« Schweigen. Einen Augenblick beobachte ich, wie das Abendlicht die feuchten Grashalme vergoldet. »Wieso war das Huhn eigentlich deine beste Freundin? Zumal sie ja so linksrechtsradikal war, quasi geradeausradikal.«
Die Schildkröte schluckt ihren Bissen hinunter. »Hat Freundschaft wirklich etwas mit politischen Einstellungen zu tun?«
Ich weiß nicht recht, was ich darauf antworten soll, da ich wenig mit anderen zu tun habe. Im Übrigen hört sich dieser Satz aus dem Mund der Schildkröte recht komisch an. Sie hat immerhin auf der Fahrradfahrt alle Autos als Klimasünder beschimpft. Ziemlich zwecklos, zumal die Menschen hinter den Glasscheiben sie gar nicht gehört haben. »Hm. Man sagt ja: Gleich und gleich gesellt sich gern«, sage ich. »Aber ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wie die meisten Menschen in meinem Umfeld politisch eingestellt sind.« Ich überlege, wonach ich mir Freunde aussuchen würde. Hauptsache, nett und nicht nervig, vermutlich.
Die Schildkröte versucht erfolglos, Zitronenlimonade aus einem Glas zu trinken, das ungefähr zweimal so hoch ist wie sie selbst. Meinen Vorschlag, zwei Plastikstrohhalme so zusammenzustecken, dass sie besser herankommt, hat sie heftig abgelehnt. »Das Huhn hatte richtig Eier! Und man hat sie ihm weggenommen. Ein Großteil davon landete letztendlich im Müll. Außerdem ist sein ökologischer Fußabdruck praktisch gleich null, weil es, seit es in Freiheit lebt, jeden Morgen Blumen sät, um das ganze CO2e auszugleichen, das bei seiner Aufzucht entstanden ist.«
»Alter Falter, du suchst dir deine Freunde also nach ihrem ökologischen Fußabdruck aus?« Ich frage mich kurz, wie groß mein eigener ökologischer Fußabdruck wohl ist. Da habe ich, ehrlich gesagt, noch nie drüber nachgedacht, aber ich bin ja auch keine Umweltaktivistin.
»Das möchte ich nicht vollkommen bestreiten, nein.«
Ich lache. »Das heißt, dein allerbester Freund wäre dann ein Mehlwurm, oder was?«
»Ich habe mich schon mit deinem Baum hier angefreundet.« Sie nickt dem Baum mit Baumhaus zu, der unsere Wiese dominiert, während sich alle anderen Bäume mit respektvollem Abstand im angrenzenden Wald tummeln. »Er hat sogar eine negative Bilanz. Bäume sind wie Staubsauger: Sie saugen den Kohlenstoff aus dem CO2 und befreien das O2 – setzen also reinen Sauerstoff frei.«
»Okay«, sage ich, »aber …«
»Bäume sind wie Klimaanlagen: Sie kühlen Städte, indem sie Wasser verdunsten.«
»Aber mit einem Baum kann man sich doch gar nicht richtig unterhalten.«
Der Baum schweigt zustimmend.
Die Schildkröte schaut vielsagend seine Rinde an und raunt dann in seine Richtung: »Es war zu ahnen, dass das von einem Menschen kommt.«
»Wieso?«, frage ich und stecke mir eine Gabel Salat in den Mund.
Das Reptil mustert mich. »So, wie ihr mit Bäumen umgeht. Sie abholzt. Häuser in sie reinbaut. Sie verbrennt und euch vor Kaminfeuern genüsslich ausstreckt.«
Ich schlucke. »Irgendwie müssen wir uns warm halten. Nicht jeder ist so ein tolles wechselwarmes Kriechtier wie du. Ich würde keinen Tag in einem Kühlfach überleben. Du hingegen kannst dort überwintern.«
»Das ist genauso wie mit den Tieren«, übergeht sie meinen Kommentar. »Sie sprechen nicht, also haben sie nichts zu sagen. Man kann sie einsperren, züchten, mit ihnen experimentieren! Ihr seid alle Speziesisten[1]!«
»Chill mal«, sage ich und nehme mir einen weiteren Bissen Salat. »Ich zum Beispiel bin immer nett zu Tieren.«
»Du wolltest gerade klein geschredderte, in Dinosaurierform gepresste Hühnchen in deine Fritteuse werfen. Das nennst du netten Umgang mit Tieren?« Sie schüttelt heftig den Kopf. »Eure jahrtausendalte Ethik ist von extremem Anthropozentrismus durchwirkt!«
Ich seufze und frage diesmal nach: »Was für ein Anthrozentdingsbums?«
»Anthropozentrismus bedeutet, dass eure ethischen Modelle den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Alles andere scheint keine Rolle zu spielen: Tiere, Pflanzen, Pilze, Bakterien, Einhörner – alles unwichtig.«
»Okay.« So richtig verstanden habe ich das nicht wirklich. Stattdessen frage ich: »Und warum kannst du jetzt sprechen?«
»Ich habe mich entschlossen, das Schweigen zu brechen. Ihr Menschen scheint immer erst dann zu handeln, wenn Handeln zu spät ist. Die Erde brennt bereits. Da spielt es keine Rolle mehr, wer Schildkröte und wer Mensch ist. Ich muss diesen Super-GAU verhindern.«
»Bin stolz auf dich, Schildi.«
»Nenn mich nicht Schildi. Das ist entwürdigend.«
Als die Sonne hinter dem Wald untergeht, kehrt eine angenehme Kühle ein.
Die Schildkröte schluckt nach ihrem schier endlosen Kauen endlich ihr letztes Stück Salat hinunter und rülpst ausgiebig. »Gibt es hier jeden Tag so ein Festmahl?«, fragt sie dann.
Ich sehe von meinem Liegestuhl auf und schmunzle. »Bestimmt! Wir haben ja jede Menge Mangold im Beet.«
Von der Schildkröte auf dem Tisch sind im dunklen Zwielicht nur noch ihre Umrisse zu erkennen. Sie erklärt mir, dass sie sich nach dieser ausgiebigen Völlerei nicht mehr dazu in der Lage fühle, heute noch nach einem anderen Zuhause zu suchen.
Ist wohl doch nicht so übel hier, wie du anfangs dachtest, freue ich mich insgeheim.
»Könntest du den ollen Baumschuppen für mich herrichten? Ich bin zwar hart gepanzert, aber ich liebe weiche Schlafplätze.«
Ich lächle ihr zu. »Mal sehen, was sich machen lässt.«
Im Keller finde ich einen Schuhkarton. Kombiniert mit einem alten Nadelkissen von mir und einem frisch gewaschenen Geschirrtuch, kommt die Box meiner Vorstellung von einem Bett für Kriechtiere ziemlich nahe. Ich setze die Schildkröte hinein und balanciere sie dann zusammen mit einem Schälchen Wasser die Stufen um den Stamm nach oben.
Ich taste nach dem Schalter für die Lichterketten, die kreuz und quer im ganzen Baumhaus hängen, damit ich hier nachts etwas sehen kann. Sie sind solarbetrieben, wohlgemerkt. Ich klicke auf den Schalter. »Tadaa!« Ein warmer Lichtschein aus zahlreichen hellgrünen Lampions und bernsteinfarbenen Glühbirnen erfüllt den kleinen Innenraum.
Da Papa neben seinem berufsbedingten Drang, Leben zu retten, auch handwerklich talentiert ist, sieht unser Baumhaus sehr solide aus. Der einzige Nachteil ist, dass höchstens Zwerge darin aufrecht stehen können. Er hat wohl nicht damit gerechnet, dass ich mal groß werde.
Eine Ecke ist vollgestopft mit gemütlichen Decken und Kissen, die ich selbst gehäkelt habe. Es fliegen auch ein paar Häkelanleitungen und benutztes Geschirr herum. Windspiele aus Treibholz vom Rhein baumeln über dem schmalen Balkon. Das Geländer ist aus Ästen geflochten, die Papa und ich in der Natur gefunden haben.
Ich setze die Schildkröte vor dem Fenster mit Aussicht auf den finsteren Wald ab, der am Rande unseres Grundstücks anfängt. Daneben rücke ich die Wasserschale zurecht.