Wenn Schildkröten den Schild durchbrechen - Maria Keim - E-Book

Wenn Schildkröten den Schild durchbrechen E-Book

Maria Keim

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Beschreibung

Der Kampf der Schildkröte geht weiter – aber diesmal wird es persönlich. Wer aufsteht, kann sich wi(e)dersetzen! »Erik fragt: ›Wie klingt die Stimme der Schildkröte?‹›Wie ein schlechtes Gewissen‹, antworte ich.« Der kleinste Panzer der Welt ist zurück.Grün. Streitlustig. Und unsterblich verliebt.Neben ihren Protesten für Umweltschutz, Arterhalt und Tierwohl hat die Schildkröte deswegen einen besonders riskanten Coup geplant, um ihre große Liebe aus dem Berliner Zoo zu retten – doch dafür braucht sie dringend Hilfe.Marlin eilt direkt zu ihr in die Hauptstadt. Aber dort zeigt die Freundschaft der beiden plötzlich Risse.Und dann fängt auch noch Marlins eigenes Herz an, Funken zu sprühen. Die packende Fortsetzung, ganz nach dem Motto: Nur wer aufsteht, kann sich wi(e)dersetzen! »Auch die Fortsetzung der Geschichte von Schildi, der Schildkröte, und Ihrer treuen Begleiterin Marlin so richtig ans Herz.Dieses Buch ist auch ein perfektes Geschenk und bringt einem die aktuellen Themen nahe.« ((Leserstimme auf Netgalley)) 

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© Piper Verlag GmbH, München 2022

Redaktion: Birgit FörsterMitarbeit am Text: Jan F. Hilgers

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Afishka/Shutterstock.com

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für Dich,

das „D“ großgeschrieben.

Dieses Buch wurde verfasst,

als unsere Geschichte ihren Lauf nahm,

und wir haben uns in einer seltsamen Phase unseres Lebens getroffen.

Kapitel 2

Auf dem Weg zum Bahnhof kommt mir wieder in den Sinn, dass man Schildkröten zum Überwintern ins Eisfach steckt. Vielleicht hat sie sich ja extra einfrieren lassen, als Statement gegen Meeresfrüchte aus der Tiefkühltruhe oder so einen Ulk.

Ich werfe einen Blick über die Schulter. Die unerschrockenen Protestgestalten verschwimmen bereits hinter dem Regen aus Eiswasser. Vielleicht hätte ich den stummen Protest des Fremden mehr respektieren und schriftlich mit ihm plaudern sollen, so von Schildkrötenpersonal zu Schildkrötenpersonal.

Die Schildkröte hat mich sicherlich nicht hergebeten, damit ich mit ihrem Panzer rede wie Hamlet mit dem Totenschädel.

Klimaneutral sein oder Nichtsein – das ist hier die Frage.

Ich muss sie irgendwie auftauen, um endlich zu erfahren, warum sie mich hierherzitiert hat.

Rasch eile ich die Stufen zur nächsten U-Bahn-Station hinab, sozusagen unter Tage. Die Lampen flackern. In den Stollen der Haltestelle begebe ich mich auf den Bahnsteig zwischen gefühlt tausend Menschen. Es riecht nach Feuchtigkeit an kalten Wänden, gammeligem Gummi und einem Hauch von Pipi.

Ich rufe mir die Anweisungen von Onkel Otto in Erinnerung, die ich auf dem Weg hierher wie ein Mantra vor mich hin gemurmelt habe. U6 Richtung Neu-Tegel. Oder heißt das Neu-Flegel? Und war das nicht doch die U8?

»Wie genau wollt ihr eigentlich die Massentierhaltung abschaffen?«, frage ich in meine Brusttasche, um mich nicht in meinen Gedanken zu verstolpern. Das Eis auf der Schildkröte taut langsam, aber stetig ab wie die Gletscher und suppt durch den Jeansstoff und meinen Pulli. »Igitt.« Ich verziehe das Gesicht. »Bitte sag mir, dass das nur Tauwasser ist.«

Auf ihrem Panzer lässt sich ein eleganter Schriftzug erahnen, vermutlich aus blauem Nagellack. Ich blinzele und sehe genauer hin Für Marlin, steht da wie auf einem Weihnachtsgeschenk, sogar mit Herzchen. Gerade fühlt es sich wirklich wie ein Geschenk an, das Schuppentier wieder an mir zu tragen. »Warum hast du dir ausgerechnet den kältesten Ort von ganz Berlin als Treffpunkt ausgesucht? Was spricht denn gegen ein chilliges Café, wo ich einen schönen Kakao schlürfe und du ein nettes Fair-Trade-Tee-Bad nimmst? Dann hätte ich sogar Oma mitbringen können, die freut sich schon auf dich.« Ich merke, dass es hier in diesem Tunnel gerade ziemlich eng wird zwischen den Leuten. Einige glotzen mich kurz an und sehen dann schnell wieder weg.

»He, Schildi. Mach, dass du auftaust.« Ich ziehe mein Handy aus der Tasche, um so zu tun, als würde ich telefonieren.

Ein warmer Wind weht wie der Atem eines Drachen aus dem tiefschwarzen U-Bahn-Schacht über den Bahnsteig und bläst mir meinen Pony aus der Stirn. Der Boden fängt an zu vibrieren. Ein Fauchen durchdringt den Tunnel. Die Menschen rücken noch dichter zusammen und drängen sich näher an die Schienen. Zwei Lichter glühen in der Schwärze auf und nähern sich. Ratternd schält sich der gelbgoldene Körper der Bahn aus dem Tunnel und bleibt vor uns stehen. Türen gehen surrend auf. Aus der Kehle der Bahn strömt uns ihr Odem entgegen, und sie verschlingt die Menge. Wir werden mit hineingerissen. Beschützend lege ich meine Hände eng gegen die Brust, als Panzerschutz sozusagen.

Ich stolpere in einen älteren Herrn hinein, entschuldige mich und lehne mich gegen eine Glasscheibe, um nicht umzufallen. Türen gehen zu, die Bahn rumort kurz und rauscht dann los. Die üble Geruchsemulsion aus menschlichen Ausdünstungen und nasser Kleidung vermischt sich mit dem Duft nach Mandarinen, fettigen Reibekuchen, Glühwein und Schneematsch.

In meiner Jacke wird es warm und feucht wie in einer Sauna, so als hätte man darin einen heißen Ofen aufgegossen.

Es wird stockdunkel, als wir in den Tunnel fahren, nur unterbrochen durch kurze Lichtblitze, als versuche jemand, uns alle zu hypnotisieren.

»Das ist entwürdigend!«, hallt ein entrüsteter Ruf durch das verstopfte Gefährt.

Es wird wieder hell, und der Zug bremst ab, so als hätte er den Schrei gehört.

Eiszapfen knirschen. Die Schildkröte schiebt ganz langsam und steif den Kopf aus meinem Schal.

Ich begegne dem flackernden Blick der schwarzen Murmelaugen.

Nach einem Moment sagt sie kleinlaut: »Ich glaube, mir wird schlecht.«

»Du bist auch ganz grün im Gesicht.« Ich lächele.

Sie antwortet nicht darauf.

Die Türen gehen auf. Die Menschenmasse bewegt sich. Ich muss mich an der Stange festhalten, um nicht mit dem Strom hinausgekotzt zu werden.

Neben uns kämpft sich ein Mann in die Bahn, der in einer riesigen Plastiktüte die neuste Spielkonsole schleppt. Er brüllt aus voller Kehle: »Reinrücken!«

Die Schildkröte schließt erschöpft die Augen. Sie scheint mit sich zu kämpfen. Die Türen gehen wieder zu, es rattert und rumpelt. »An was für einen grauenhaften Ort hast du mich denn hier verschleppt?«

»Man nennt es die Untergrundbahn.«

»Untergrund? Da hättest du auch gleich in die Hölle hinabsteigen können. Dort ist es noch wärmer.«

»Ich hätte dich ja gerne woanders aufgetaut«, entgegne ich, »aber warum hat dein großer Freund dich ausgerechnet nach Neu-Alaska gebracht?«

»Weil ich Erik darum gebeten habe.«

»Er hätte dich trotzdem zu einem wärmeren Ort bringen oder zumindest einen solarbetriebenen Heizlüfter mitnehmen können.«

»Erik tut immer genau das, worum ich ihn bitte. Er passt gut auf mich auf.«

»Jemand, der gut auf dich aufpassen kann, bewahrt dich auch vor deinen eigenen Dummheiten.«

»Für tiergerechte Haltung zu protestieren ist nicht dumm.« Sie schaut sich suchend um. »Wo ist Erik eigentlich?«

»Keine Ahnung, vermutlich noch am Brandenburger Tor.«

»Eigentlich wollte ich euch miteinander bekannt machen.«

Ich neige skeptisch den Kopf. »Du, so als Eiskugel? War dein Gehirn schon eingefroren, als du dir das überlegt hast? Außerdem wollte er sowieso nicht mit mir reden.«

Statt etwas zu sagen, gibt das Reptil ein paar sehr dramatische Atemzüge von sich.

»Komm, jetzt stell dich nicht so an.« Irgendwo dudelt ein Handy Lost Christmas.

»Ich habe Klaustrophobie, Marlin. Hast du das etwa vergessen?«

»Klaus wer?«

»Das ist der Fachbegriff für das, was ihr umgangssprachlich Platzangst nennt, du Erbsenhirn.«

»Hab dich auch vermisst.« Ich versuche, es mir an der Stange gemütlich zu machen und nicht auf den Cockerspaniel zu treten, der mit eingezogenem Schwanz zu mir hochsieht. »Angst vorm Platzen. Kannst du überhaupt platzen? Der Panzer müsste doch ordentlich Gegendruck bieten, so rein physikalisch und so. Oder meinst du die Angst vor Plätzen?«

»Nein …«, sie würgt kurz, »…ich meine nicht die Angst vor großen, öffentlichen Plätzen, die Agoraphobie, sondern die Angst vor engen Räumen, die ihr Menschen missverständlicherweise Platzangst nennt. Und das hier ist noch ein großer Raum, verglichen mit dem der armen Schweine in der Massentierhaltung.«

Ich zucke mit den Schultern. »Können wir denn was gegen deine Platzangst tun? Ich habe extra ein Wochenticket gekauft, damit wir, so viel wir wollen, durch Berlin fahren können. Es ist sogar ein Umweltticket, damit es besser klingt. Selbst mit Schülerrabatt hat es stolze sechsunddreißig Euro gekostet. Deswegen müssen wir das jetzt auch voll ausnutzen.«

Ihre Augen blitzen auf. »Dann lass uns mal rechnen«, verkündet sie der ganzen Bahnbesatzung.

Da Mathe sie von ihrem Klaus abzulenken scheint, gönne ich es ihr – auch wenn ich gerade eher nicht an Mathe denken will. Lieber würde ich endlich erfahren, warum zur Kröte sie mich nach Berlin beordert hat.

»Sechsunddreißig Euro pro Woche sind eintausendachthundertzweiundsiebzig Euro im Jahr.« Sie räuspert sich. »Und ohne Schülerrabatt wäre das noch kostspieliger. Überteuert, unpünktlich, überfüllt. Zum Großteil auch noch technisch marode – da bekommt das Wort ›bahnbrechend‹ einen ganz neuen Touch. Kein Wunder, dass alle mit dem Auto fahren.«

»Es gibt auch Jahrestickets«, merke ich an. »Die sind etwas günstiger.«

»Aber trotzdem noch zu teuer.«

Ein Dude mit dicken Kopfhörern auf den Ohren nickt stumm vor sich hin.

»Stimmt wohl«, sage ich, »und für sechsunddreißig Euro hätte ich auch locker nach Mallorca fliegen können.« Ich versuche, von Nasenatmung auf Mundatmung umzustellen, damit ich nicht die volle Ladung Schwitzwasser des sportlichen Kerls riechen muss, der sich neben mir an der Stange festhält.

»Nach Mallorca! Weißt du, wie viel CO2 dabei produziert wird?« Die Schildkröte schnaubt. Dann wirft sie einen hoheitlichen Blick über die Mitreisenden in der Bahn. »Stellen wir alle uns einen winzigen Moment lang eine Stadt vor, in der öffentlicher Personennahverkehr vollständig kostenlos und absolut pünktlich ist. Es gäbe weniger Anreize, mit den Spritfressern durch die Großstadt zu düsen und Tonnen von CO2 in die Luft zu pusten.« Dabei macht sie ein Gesicht, als würde sie gleich eine Träne der Rührung verdrücken. »Man könnte in den Städten wieder atmen.«

»Schildi«, murmele ich. »Schau dich doch mal um. Was meinst du, wie voll es wäre, wenn jetzt auch noch die ganzen Autofahrer mitfahren würden? Da kriegt man doch erst recht keine Luft mehr. Erinnerst du dich etwa nicht mehr an das Neun-Euro-Ticket?«

»Nenn mich nicht Schildi«, sagt Schildi. »Das ist entwürdigend!« Sie scheint innerlich zu kochen, sodass jetzt vermutlich die letzten Eisklumpen in ihrem Körper schmelzen. »Das würde hier doch keinen Unterschied mehr machen! Wir sind eh schon Sardinen in der Büchse! Außerdem habt ihr noch vierzig Zentimeter Luft über euren Köpfen, da ist noch Platz.«

»Warum sollen wir mit dieser ekligen Büchse fahren, wenn wir stattdessen in klimatisierten, gut riechenden Autos durch die Gegend driften können? Und außerdem: Hast du nicht gerade was von Raumangst gesagt?«

»Du hast das Problem erkannt, Marlin. Autofahren ist schlichtweg viel zu attraktiv im Vergleich zum Bahnfahren!« Sie atmet heftig. »Und du hast leicht reden, dich über die Bedingungen hier zu beschweren. Weißt du, wie eng es bei den Hühnern in der Bodenhaltung ist? Wenn ich mir vorstelle …«

»Puh«, mache ich und hebe beschwichtigend die Hände. »Ganz ruhig.«

»Ganz ruhig, also wirklich. Und warum sind Flüge billiger als Bahntickets?! Am CO2-Ausstoß gemessen geht die Rechnung doch überhaupt nicht auf. Kurzstreckenflüge sind nur was für Insekten!«

Ich habe das Gefühl, dass sie gerade mehrere Fässer gleichzeitig öffnet und wir langsam in dem steigenden Flüssigkeitsspiegel ertrinken. »Am besten machst du dir darüber jetzt keine Gedanken.« Vielleicht war sie so lange eingefroren, dass jetzt alles gleichzeitig aus ihr rausmuss.

»Mir keine Gedanken machen? Im Ernst? Wie lange kennen wir uns?«

So langsam frage ich mich, ob der Panzer tatsächlich genug Gegendruck bietet. »Lange. Und das, obwohl wir uns auf dein Alter bezogen noch nicht so lange kennen.« Ich versuche, wie eine Yogalehrerin zu klingen. »Konzentrier dich erst einmal auf deine Atmung. Einatmen. Ausatmen.«

Die Schildkröte atmet stockend, als hätte sie noch ein paar Eiskristalle in der Lunge.

»Brauchst du eine Tüte?«

Mit einem Seufzer legt das Tier seinen Kopf auf dem Rand meiner Latzhose ab. »Geht schon. Außerdem ist es viel zu riskant, hier in der Bahn zu kiffen.«

»Nächster Halt: Wedding«, knattert es aus den Lautsprechern. Unser Halt. Ich wende mich Richtung Tür und stocke. Eine ganze Armee von Fahrgästen trennt uns noch von der Tür.

»Pinguinkacke«, fluche ich. Zuerst versuche ich, mir flink-elegant einen Weg durch die Bahn zu bahnen. Da niemand auch nur einen Nanometer ausweicht, nutze ich mit immer mehr Nachdruck meine Ellbogen. Der Zug hält an. Ich bin immer noch zu weit vom Ausgang entfernt.

Die Schildkröte ruft mit volltönender Stimme: »Lassen Sie uns durch! Sie ist Arzt!« Und als die Menschenwogen sich vor mir teilen, schiebt sie leise hinterher: »-tochter.«

Kapitel 3

Ich schaffe es im letzten Moment auf den rutschigen Bahnsteig.

Aussteigen. Aufatmen. »Ich will mein Fahrrad.« Zurück im Freien schockgefrieren die Schweißtropfen auf meiner Haut zu klitzekleinen Gletschern. Gänsehaut bildet sich auf meinem ganzen Körper.

Die Beinchen der Schildkröte wandern zurück in ihren Panzer. Während wir am nächsten Gleis auf die Straßenbahn warten, umfasse ich ihren Körper, um ihr durch die Handschuhe hindurch etwas Wärme zu spenden.

In den Häusern jenseits des Bahnhofs blinken bunte Lichterketten in den mit Kunstschnee besprühten Fenstern.

Das Reptil scheint das auch zu bemerken und blinzelt, als würde es seinen Augen nicht trauen. »Ist heute schon Weihnachten?«

»Ne. Erst übermorgen. Wie lange hat dein Erik dich denn eingefroren?«

»Offenbar lange. Zu lange.«

»Auf Menschenleben oder auf Schildkrötenleben bezogen?«

»Ah. Da hat jemand die Relativität der Zeit verstanden.«

Oje. Das klingt nach Schule. Schule bedeutet Abitur. Nicht jetzt!, mahne ich mich selbst. Schnell an was Schönes denken!

»Du siehst aus, als hätte der Geist der zukünftigen Weihnacht dir deinen Grabstein gezeigt«, dringt die Stimme der Schildkröte durch meine Gedanken.

»Genau«, nuschele ich. »Ich habe auch gerade erkannt, dass ich bald sterben werde.«

Die Schildkröte gähnt. »Oha, wow. Dass die Klimakrise nicht vor den Menschen haltmacht, habe ich dir bestimmt schon tausendmal erklärt. Du bist nicht gerade im Besitz deiner vollen kognitiven Leistung, oder?«

»Eben«, sage ich. »Bei meiner bevorstehenden Matheklausur wird mir das zum tödlichen Verhängnis.«

Die Schildkröte kichert. »Und auf deinem Grabstein steht: ›Damit hat sie nicht gerechnet‹.« Als sie meinem ernsten Blick begegnet, zieht sie ihren Kopf entschuldigend ein Stück zurück. »Es ist doch nur eine Matheklausur.«

»Sagt ausgerechnet das Reptil, das Angst vor einer pupsigen U-Bahn hat.«

»Eine U-Bahn ist unberechenbar mit ihren unbeherrschbaren Unbekannten. Die Aufgaben einer Matheklausur dagegen sind lösbar.«

»Ey. Hast du dich schon mal gefragt, wie viele halbe Roboter in den sechzig Grad heißen Sandkasten passen, wenn du sieben Toaster mit drei dicken Ochsenfröschen multiplizierst?«

»Da habe ich in der Tat noch nie drüber nachgedacht«, pflichtet sie mir bei. »Aber abgesehen davon ist die Bewältigung einer Matheklausur einfach: Du setzt dich hin, lernst, übst, schreibst die Klausur, fertig.«

Ich seufze. »Du meinst, das ist das Problem.«

»Es gibt zwei Arten von Menschen«, deklamiert die Schildkröte, »die einen sehen die Lösung, die anderen das Problem.«

»Du klingst, als hättest du zu lange in einer Dose mit Glückskeksen gepennt«, sage ich. »Und es gibt definitiv mehr als zwei Arten von Menschen.«

»Also, wenn du die Natur fragst, dann gibt es nur eine Art Mensch, und der …« Ein durchfahrender Zug übertönt den Rest ihres Satzes.

Vor meinen Augen formen sich obskure mathematische Zeichen, die ihre Krallen wetzen und damit auf mich zeigen.

»Marlin.« Die Schildkröte sieht einfühlsam zu mir hoch. »Wenn du dir von vornherein sagst, dass du etwas nicht kannst, dann hast du schon verloren. Unterschätz niemals die Macht der Hoffnung und des Glaubens daran, scheinbar Unvorstellbares zu schaffen. Nur der Versuch, etwas Unmögliches zu ermöglichen, macht es gerade erst möglich. Ob es nun eine ›pupsige‹ Matheklausur ist oder die Rettung der Erde.«

»Du bist ein Mathegenie«, murre ich. »Für dich ist es einfach, dir vorzustellen, das Abitur zu bestehen.«

»Ja, und weißt du, das Gute ist«, sie klopft mir gegen das Brustbein, »dass ich dir mathematisch beweisen kann, dass du deine Klausuren bestehen wirst.«

Ich runzele skeptisch die Stirn. »Klingt nach einer Unwahrscheinlichkeitsrechnung.«

»Wenn du visionär bist und dir etwas erträumst, dann kannst du dich von der Angewohnheit befreien, weiterzumachen wie gehabt und dabei zwangsläufig im Kreis zu laufen. Du schaffst das. Sogar ich glaube an dich.« Von dem wechselwarmen Tier geht eine ungewohnte Wärme aus.

Die Horrorhypotenusen kriechen wieder in ihre Löcher zurück.

»Es ist gut, dich wiederzuhaben, Schildi«, sage ich leise.

Unsere Bahn fährt ein. Der Waggon, der vor uns hält, ist in ganzer Höhe und vom Anfang bis zum Ende mit Graffiti in Schwarz und Silber besprüht. Teer und Chrom. Es scheinen Buchstaben zu sein, aber ich stehe zu dicht an der Bahn, um sie lesen zu können. Ich mache einen Schritt zurück und schieße schnell ein Handyfoto, das möglichst viel davon erfasst. Tim wird das gefallen.

S-lebt, kommentiere ich, als ich ihm das Bild bei WasLos schicke. Guck dir diesen krassen End to end an.

Niiice! Aber das ist kein end2end, antwortet er sofort. Das ist ein Wholecar.

Die Schildkröte kneift die Augen zusammen, als ein Mann sich neben uns drängt, der wie die meisten Menschen hier mit Plastiktüten voller Weihnachtseinkäufe behängt ist. In diesen Plastiktüten sind in plastikhaltiges Geschenkpapier eingepackte Gegenstände, die wiederum in einer Plastikverpackung stecken und vermutlich noch selbst aus Plastik bestehen.

Das Reptil wendet sich in einem sachlichen Ton an den Mann. »Hallo«, sagt es förmlich. »Hätten Sie einen Augenblick Zeit, um über die Umwelt zu sprechen?«

Der Mann schaut mich irritiert an und macht dann rasch ein paar Schritte in die andere Richtung, um in das nächste Abteil einzusteigen.

»Hey!« Die Schildkröte trötet ihm hinterher. »Finden Sie es ethisch korrekt, die Umwelt zu verschmutzen? Umweltliebe ist auch Nächstenliebe!«

Ohne Umschweife stecke ich meinen behandschuhten Finger in ihren Mund. Durch den Stoff kann sie mich nicht beißen, und ich grinse triumphierend. Ihr Blick könnte ganz Berlin in Brand setzen.

Ich folge einer Gruppe Kindergartenkinder mit niedlichen Nikolausmützen in die Bahn. Die Betreuerin trottet groggy hinter ihnen her. Auf ihrer halbherzig aufgesetzten Mütze prangen rote Plastikherzen, die mit ihrem Blinken alles aufzuhellen scheinen außer ihr hastig geschminktes Gesicht.

Ich gehe den Weihnachtswichteln hinterher und nehme meinen Finger wieder aus dem Mund des Reptils, um mich an einer Gummischlaufe festzuhalten.

Die Schildkröte schnappt dramatisch nach Luft. »Wie kannst du nur!« Dann scheint sie zu merken, dass wir wieder Bahn fahren. Sie wird noch grüner im Gesicht. Missmutig legt sie ihren Kopf auf meiner Jeanstasche ab und lugt zu den Kindern hinunter, die sich um uns scharen.

Eines von ihnen zeigt mit seinem schokoladenverschmierten Finger auf die Schildkröte.

»Ih!«, quietscht das Reptil. »Mach das weg!«

»Was weg?«, frage ich.

»Na, das Kind!«

»Man kann doch Kinder nicht einfach wegmachen.« Denkpause. »Na ja, außer vor der vierzehnten Woche. Oder man ist die Klimakrise und raubt ihnen gleich allen die Zukunft.«

»Schön wär’s«, brummt die Betreuerin und wischt sich den Pony aus der Stirn.

»Uah!« Die Schildkröte erschaudert. »Es will meinen sorgsam gepflegten Panzer mit seinen matschigen Patschhänden betatschen!«

Ich löse meine Hand von der Gummischlaufe und gehe ein paar Schritte tiefer in die Untiefen der Bahn hinein.

»Puh«, atmet das Kriechtier erleichtert aus, als ich den kleinen Engelchen den Rücken zudrehe. »Das war knapp. Ich konnte in seinen Augen sehen, dass es mich mopsen und direkt in den Mund stecken wollte.«

»Respekt«, sage ich. »Dein Erik hat dich zu einer piekfeinen Diva gemacht. Mit cleanem Panzer lebt man ganzer, oder was? Brauchst du noch ein Krönchen?«

Natürlich hört die Schildkröte mir nicht zu. Stattdessen fragt sie, offenbar aus einer tiefen Resignation heraus: »Warum tut ihr Menschen das?«

»Was denn?«, frage ich obligatorisch.

»Teuren Müll auf den letzten Drücker kaufen, den ihr wiederum hundertfach in Plastikmüll einpackt. Geschenke, Geschenke, Geschenke. Aufreißen, auspacken, wegschmeißen. Egal, ob ihr die Person mögt oder die Person das Geschenk. Hauptsache, Geschenke.«

Ich schmolle. »Aber ich mag Geschenke!«

»Ihr nennt es doch das ›Fest der Liebe‹. Wieso feiert ihr es dann als ›Fest des Kommerzes‹? Warum zeigt ihr mit Geld und Besitz, dass ihr jemanden gerne habt?«

»Eigentlich zeigen ja nur das Christkind oder der Weihnachtsmann, dass sie uns gerne haben. Und für die ist es bestimmt einfacher, Geschenke zu kaufen, als für jedes brave Kind auf der Welt eins zu basteln«, teile ich ihr meine Weihnachtsweisheit mit.

»Muss ich dich jetzt darüber aufklären, dass der Herr aus der Colawerbung zu opulent gebaut ist für den Schornstein? Komm, biete mir eine fundiertere Erklärung.«

»Hm«, überlege ich weiter, »Geld verdient man durch Arbeit, und in Arbeit steckt Lebenszeit. Also schenkt man damit seine Zeit. Und Zeit ist ja wertvoll, denke ich mal.«

»Und warum geht ihr dann arbeiten?« Das Reptil schaut mein Spiegelbild im zerkratzten Bahnfenster an. »Ihr könntet ja auch einfach Zeit schenken. Zudem hättet ihr dann weniger Müll.« Sie zwinkert mir zu. »Und das Beste ist: Ihr müsstet weniger arbeiten und könntet mehr Zeit miteinander verbringen!«

Die Bahn hält nach einer Weile in Westend. Diesmal stehe ich nah genug am Ausgang, um grazil aus der Bahn zu hüpfen. Fast knicke ich mit den Stiefeln auf dem vereisten Bahnsteig um. Ich erkenne den Bahnhof wieder, hier stand ich nämlich heute Morgen schon mit Oma, als wir aus Köln angereist sind.

Während die Schildkröte etwas von »Immerhin gehen manche noch selbst einkaufen, die meisten bestellen im Internet« faselt, gilt der Großteil meiner Konzentration den rutschigen Stufen vor uns. Die Dunkelheit macht es nicht gerade einfacher.

»… und was steckt hinter diesen Klicks? Billige Arbeitskräfte, die unter zweifelhaften Bedingungen arbeiten. Des einen Freud ist des anderen Leid? Wahre Nächstenliebe!«

Keuchend erreiche ich die oberste Stufe und halte vor einer wild befahrenen Hauptstraße inne. In kurzen Etappen kämpfe ich mich hinüber auf die andere Straßenseite. Wir kommen an einem Krankenhaus vorbei. Dahinter begrenzt eine Hecke eine Landschaft aus kargen Schrebergärten.

Die Schildkröte beginnt, ein Weihnachtslied zu trällern:

Advent, Advent, die Erde brennt.

Erst Nord, dann Süd, dann Ost, dann West,

Schon sommert es zum Weihnachtsfest.

Und wenn dein eigen Häuslein brennt,

Dann hast du deine Chance verpennt!

Es klingt gar nicht mal so schlecht. Zumindest für ein Tier, das eigentlich keine Stimmbänder hat.

Wir nähern uns dem Kleingartenverein Kolonie Westend. Schotterwege führen in eine Siedlung aus ungewöhnlich kleinen Wohnhäusern hinein, die im Vergleich zu den bedrohlichen Wohnblöcken auf der anderen Straßenseite mickrig wirken. Nachdem ich einen der Pfade ein paar Schritte hinaufgestiefelt bin, verklingt der dröhnende Verkehrslärm hinter uns. Nur noch der Gesang der Schildkröte erfüllt die frostige Nachtluft.

»Warum hast du mich jetzt eigentlich hergebeten?«, unterbreche ich sie. »Warum bin ich hier?«

Das Reptil räuspert sich, seine Stimme scheint ausgedient zu haben. »Erzähle ich dir, wenn mein Hirn wieder richtig aufgetaut ist.«

Ich runzele die Stirn. Gerade wirkte ihr Gehirn noch aufgewärmt und geölt wie die Motoren der Maschinen, die sie so verachtet.

Irgendwas stimmt da nicht.

Kapitel 4

Ich bleibe vor einem weißen Häuschen stehen. Die mit Spitzengardinen verhangenen Fenster werden von traditionellen Schwibbögen erhellt, und der zugeschneite Garten ist von einem niedrigen Holzzaun umgeben. Ich gehe den freigeschaufelten Weg zur Haustür und klingele.

Ein kleiner, aber rüstiger alter Mann mit Pusteblumenhaar öffnet uns die Tür. »Dank Gott, du bist wohlauf! Wo warst du denn so lange?«, fragt er. »Es ist drei viertel acht! Wir haben uns schon Sorgen gemacht.«

Ich trete hinein ins überheizte Haus. Am Gesichtsausdruck der Schildkröte erkenne ich, dass ihr wegen dieser Klimasünde sehr wüste Schimpfworte durch den Kopf gehen. Mahnend deute ich mit meinem behandschuhten Finger auf ihren Mund.

Sie schluckt und hält höflich ihre Schnappe.

»Ich kenn mich in Berlin noch nicht so gut aus«, entschuldige ich mich. »Auf dem Weg zum Brandenburger Tor hin habe ich mich irgendwie verfahren.«

Mit seinen wässrigen braunen Augen betrachtet Onkel Otto meine himmelblaue Winterjacke. »Du musst gefroren haben.«

Ich lege das Protestplakat der Schildkröte im Flur ab und entknote meinen roten Schal. »Nee. Ich war die meiste Zeit in der U-Bahn, und da ist man eh wie eine Sardine in der Büchse.«

Die Decken dieses Hauses reichen gerade mal bis knapp über den Bommel meiner Mütze. Papa müsste schildkrötenmäßig den Kopf einziehen, wenn er hier reinpassen wollte. In diesem Haus werden wir alle zu Kriechtieren.

In der Küche brodelt es schon in den Töpfen. Mitten im Raum ist ein quadratisches Loch im Boden eingelassen, das zu einer unterirdischen Speisekammer führt, die stets kühl ist, weil sie eben unter der Erde liegt.

»Wow«, raunt die Schildkröte, »so einen umweltfreundlichen Kühlschrank habe ich ja seit der Erfindung des Kühlschranks nicht mehr gesehen!«

Die Falltür ist offen, und Onkel Otto klettert die kurze, knarzende Leiter hinab, sodass nur noch sein Kopf hervorschaut. Er ist erstaunlich agil für sein Alter. »Hast du denn nicht die U6 genommen?«

»Doch! Genau die!«

Onkel Otto verschränkt die Arme, und ich befürchte, dass er von der Leiter herunterfällt. »Wo bist du denn rausgekommen?«

»Öh, beim alten Flegel?«

»Alt-Tegel? Dann hast du die U6 in die falsche Richtung genommen.«

»Dürfte ich einmal hier durch?« Meine Oma steht plötzlich hinter uns und drängt sich zwischen mir und dem Türrahmen hindurch in die Küche. »Es gibt ein Hochzeitsessen zu kochen!«

»Oh.« In letzter Zeit glaubt meine Oma immer regelmäßiger, dass sie eine Hochzeit vorbereiten muss. »Wer heiratet denn diesmal?«

»Mein Lieblingsbruder Otto heiratet endlich seine Charlotte«, schwärmt sie, und als sie mich ansieht, streift ein Ausdruck des Erkennens über ihr Gesicht. »Sverre!«, begrüßt sie mich freudestrahlend mit dem Namen meines Vaters. »Wie gut, dass du zum Helfen gekommen bist.«

»Huhu«, erwidere ich mit einem traurigen Lächeln.

»Schwesterherz, nimmst du mal bitte?«, fragt Onkel Otto meine Oma.

Sie beugt sich zu ihm hinunter und nimmt ein Einmachglas entgegen, das sie dann öffnet, um am Inhalt zu schnuppern und ihren Finger hineinzustecken, den sie prompt ableckt. »Hm, da fehlt noch ein bisschen Salz. Sverre, mein Kleiner, hast du den Salzstreuer gesehen?«

Die Schildkröte zieht alarmiert den Kopf ein.

»Hinter dir im Gewürzschrank, glaube ich.« Ich schirme die Schildkröte mit meiner Hand vor Omas Blicken ab.

Diese schaut mich jetzt an, als hätte ich ihr erzählt, die Erde sei flach und würde von einer Schildkröte galaktischer Größe getragen. »Aha.«

Onkel Otto klettert aus dem Loch heraus, schließt die Falltür und kann gerade noch verhindern, dass meine Oma die Einmachgläser in die Spüle statt in die Töpfe entleert.

»Vorsicht mit der Linsensuppe, Schwesterherz. Die magst du doch so gerne.«

Meine Oma lächelt genügsam. Sie schnappt sich einen Holzlöffel und beginnt, die Suppe auf der Kochplatte zu erwärmen. Ich kenne ihren Dusel jetzt schon lange genug, um einschätzen zu können, ob ich Oma die Küche überlassen kann.

Auch Onkel Otto kann das einschätzen, obwohl er sie schon eine Weile nicht mehr gesehen hat. »Komm, du hast sicher Durst.« Er führt mich in das kleine Esszimmer, wo der Tisch schon gedeckt ist. »Letztes Mal, als ihr uns besucht habt, konnte ich mich noch ganz normal mit ihr unterhalten«, murmelt er betrübt und gießt mir frische Limonade in ein Glas.

»Was heißt für Sie denn normal?«, fragt die Schildkröte meinen Onkel interessiert, als ich sie zwischen den Suppentellern absetze. »Für mich ist Marlins Oma normal. Ich kenne sie nicht anders. Wenn sie jetzt Small Talk über das Wetter führen würde, dann würde ich sie für verrückt erklären.«

Onkel Otto starrt mit geöffnetem Mund auf das Reptil. »Ach du grüne Neune. Du hast ja wirklich eine sprechende Schildkröte abgeholt.«

Ich verschränke die Arme und zwinkere ihm zu. »Habe ich dir doch gesagt.«

»Was es heutzutage alles gibt! Heute sprechende Schildkröten, morgen fliegende Omnibusse.«

»Meinst du einen Air-bus?«

Es scheppert laut durch das ganze Haus. Erschrocken springen wir auf. »Ist alles in Ordnung?«, ruft Onkel Otto. Da er keine Antwort erhält, hastet er zurück in die Küche. »Jemine, hast du mir einen Schrecken eingejagt«, tönt es kurz darauf erleichtert, sodass ich mich langsam wieder auf den beigefarben gepolsterten Holzstuhl zurücksinken lasse.

Nach einer Weile schaue ich die Schildkröte an. »So«, ich klopfe gegen ihren Panzer, »jetzt aber raus mit der Sprache!«

Das Reptil zuckt zusammen. »Mit … mit welcher Sprache?«, stottert es. »Hebräisch? Altitalienisch? Latein?«

»Was hast du flüchtiges Kriechtier in den letzten Monaten getrieben? Hast du den Reichstag gestürmt? Oder gegen eine global agierende Klimasünder-Mafia ermittelt?«

Das Tier atmet auf. »Das nicht. Aber ich bin tagtäglich losgezogen, um ein Netzwerk von Umweltaktivistinnen und -aktivisten aufzubauen, Unterschriften zu sammeln und Demonstrationen zu organisieren. Kurzum: Das, was ich immer mache. Professionell die Welt retten.«

»Wo hast du überhaupt gewohnt?«

»Wir Schildkröten brauchen keine Immobilien. Wir sind nämlich die Definition von häuslicher Mobilität.«

»Du willst mir doch nicht erzählen, dass du mit deinem dünnen Gehäuse da draußen in der Grabeskälte gewohnt hast.«

»Na gut«, lenkt sie ein. »Vielleicht habe ich mir wieder eine nette Wohngemeinschaft gesucht.«

»Ach«, mache ich, »für wen hast du denn noch Platz in deinem winzigen Gehäuse gefunden? Für Flöhe, Mehlwürmer und Mikroorganismen?«

Sie starrt mich an. »Ich habe zusammen mit meinem Panzer in einer Wohnung gelebt, Erbsenhirn.«

»In einer Reptilien-WG?« Ich mache große Augen. »Schlange, Krokodil und Co? Alle zusammen in einem Haus mit großer Glaskuppel und Heizlampen? Na, ich hoffe der Umwelt zuliebe, dass ihr Ökostrom bezogen habt.«

Sie reckt ihre Nasenlöcher hoch. »Ich habe mir ein bescheidenes Etablissement unter einer höchst eigentümlichen Menschenart beschafft. Sie sind nachtaktiv, Orangensaft vom Discounter ist konzentrierter als sie, und die meiste Zeit fachsimpeln sie über Dinge, die so abstrakt sind wie ein Picasso, während ihre Zimmerkakteen verdursten. Ach ja, arm sind sie auch noch.«

»Studenten?«, mutmaße ich.

»Diese Bezeichnung ist bereits obsolet«, besserwissert die Schildkröte, »heutzutage nennt man sie ›die Studierenden‹.«

»Krasse Kresse. Und dein Erik wohnt dort auch?«

»Exakt.«

»Und? Hast du mit diesen Studierenden schon einen Wald gerettet?«

»Frag besser nicht.« Sie seufzt frustriert. »Weil sie den ganzen Tag schlafen, kriegen sie nichts auf die Kette. Sie hören nicht einen von ihren drei Weckern. Und dann diskutieren sie bis spät in die Nacht hinein. Eigenartiges Volk.«

»Du bist auch eigenartig und diskutierst lange. Vielleicht musst du einfach mal ein bisschen länger schlafen.«

Schildi verdreht die Augen.

Ich grinse. »Und was ist mit deiner Süßen?«

»Welcher Süßen?« Ihre Stimme wird schlagartig ein paar Tonlagen höher.

»Riesenschildkröte? Üppig-gewölbter-Panzer? Weise, allwissend, modischer Faltenwurf?«

»Ich weiß nicht, von wem du redest.«

»Quatsch mit Soße! Von deiner Shelly natürlich.«

»Ach, Shelly«, sagt sie betont gleichgültig.

»Ja, Shelly. Hast du sie schon im Berliner Zoo besucht?«

Die Schildkröte ist auf einmal höchst interessiert an den filigranen Weihnachtsfiguren aus dem Erzgebirge, die fein säuberlich zu einem Dorf und einer Krippe auf der Fensterbank aufgestellt wurden.

So langsam dämmert es mir. »Sie ist der Grund, warum ich in Köln alles stehen und liegen lassen sollte, um sofort nach Berlin zu kommen?«

»Ich brauche Unterstützung im radikalen Kampf gegen die Ungerechtigkeit, die den Tieren auf diesem Planeten angetan wird«, sagt sie mit leiser Stimme.

»Bla, bla, bla, radikaler Kampf, das kannst du auch allein.« Ich tätschle sie am Panzer. »Du bist unglücklich verliebt. Du brauchst einen Wingman.« Ich nicke, mir selbst zustimmend. »Das kriegen wir hin. Ich habe ein paar Ideen, wie man Riesenschildkröten rumkriegt. Wie wäre es mit: Was für ein hübsches Haus du hast! Kommst du noch mit in meinen Panzer auf einen grünen Tee?«

»Ich habe nicht vor, sie aufzureißen.«

»Sondern? Sie aufknacken?« Ich klopfe ihr aufs Gehäuse, ungefähr dort, wo ich ihre Schulter vermute. »So hätte ich dich nicht eingeschätzt, du altes Haus. Wie nennt man das bei euch lahmen Lebewesen? One-Year-Stand?«

Die Schildkröte zuckt nicht einmal mit ihrer nicht vorhandenen Wimper.

»Slowie?«

»Ich werde sie befreien.« Sie sieht zu mir hoch. »Mit ein klein wenig Unterstützung.«

Ich kann mir ein Prusten nicht verkneifen. »Ein klein wenig?«

»Du, Marlin. Du bist auserwählt, um mit mir meine große Liebe aus dem Griff der Grausamkeit deiner Spezies zu befreien.«

»Und warum ausgerechnet ich? Warum kann dir nicht deine Gefolgschaft aus Berlin dabei helfen? Dein Erik zum Beispiel? Der ist stärker als ich.«

»Du hast damals meinen Liebesbrief an Shelly abgeschickt. Jetzt hast du den Salat. Nun musst du das mit mir bis zum Ende durchziehen.«

»Ich habe nur eins und eins zusammengezählt. Deswegen muss ich jetzt ganz bestimmt nicht meine Rechtschaffenheit für deine tragische Liebesfantasie opfern.«

Die Schildkröte zerknittert ihr Gesicht.

»Und außerdem: Woher willst du überhaupt wissen, ob Shelly dort rauswill? Vielleicht fühlt sie sich ja wohl in ihrem Gehege.«

Ihre Falten vertiefen sich. »Erinnerst du dich noch, was ich damals über Terrarien gesagt habe? Kein Reptil bei klarem Verstand will in so einer Glashölle eingesperrt sein. Hallo, Privatsphäre? Ihr Menschen habt wohl nicht auf dem Schirm, wie wichtig die ist. Ihr merkt ja nicht einmal, dass eure Privatsphäre als Währung scheinbar kostenloser Angebote fungiert – und gebt sie einfach freiwillig her.«

Ich hebe meine Augenbrauen. »Also, bevor wir irgendwelche Anstalten machen, deine Schildmaid zu befreien, sollten wir sie erst einmal fragen, ob sie das überhaupt will.«

»In Märchen fragt auch niemand die Prinzessin, ob sie gerettet werden will.«

»Das hier ist kein Märchen, Schildi.« Ich kratze mich am Hinterkopf. »Zudem fragt auch niemand die Prinzessin, ob sie den Prinzen überhaupt mag. Wie wäre es, wenn du Shelly erst mal deine Liebe gestehen würdest, um herauszufinden, ob sie ähnlich fühlt? Damit könntest du uns einen Haufen Ärger ersparen.«

»Mit dieser heroischen Rettung beweise ich ihr meine Liebe. Taten zählen mehr als Worte.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob sie das checkt«, sage ich. »Taten können manchmal nicht so gut sprechen wie Worte. Hör zu. Wir machen Folgendes.«

In dem Moment trägt Onkel Otto einen Topf herein und stellt ihn auf den Tisch. Der ganze Raum beginnt, köstlich nach Ottos selbst gemachter Superspezial-Linsensuppe zu riechen. Mein Magen knurrt. Während meine Verwandten sich zu uns an den Tisch gesellen, beuge ich mich verschwörerisch zu der Schildkröte hinunter und flüstere: »Wir kundschaften zuerst den Zoo aus und schätzen die Lage ab. Dabei besuchen wir Shelly, und du gestehst ihr deine Liebe. Dann schauen wir weiter.«

Aus der Nähe betrachtet kann ich richtig erkennen, wie das Gehirn der Schildkröte unter den grünen Falten arbeitet. »Aber …«

»Kein ›Aber‹. Nach Weihnachten geht es los.«