Waschen. Föhnen. Morden - André Gebel - E-Book

Waschen. Föhnen. Morden E-Book

André Gebel

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Beschreibung

Ein Gentleman-Auftragskiller in einem verschlafenen Nest am Niederrhein – ein origineller Kriminalroman mit viel schwarzem Humor für Fans von »Achtsam morden«  »Er schloss zum ersten Mal die Ladentür auf und schaute dabei auf die Buchstaben an der Tür, um sie aus allen Winkeln zu betrachten. Am Ende gönnte er sich gar ein Lächeln und war mit sich und seinem Werk zufrieden. In goldenen Buchstaben stand auf der Ladenfront: Kopernikus Mahler, ›Tötungsdelikte aller Art‹«  Ein geheimnisvoller Fremder bezieht das ehemalige Friseuranwesen der Dorfgemeinde Rebeck und überrascht mit einem grotesk erscheinenden Angebot. »Tötungsdelikte aller Art« schreibt er eines Abends an die Vitrine seines Ladens und meint es bitterernst mit der Geschäftsidee. Während die Jugend das für eine lässig vorgetäuschte Sache hält und in ihm einen Starfriseur vermutet, zeigen die Erwachsenen, nach anfänglicher Skepsis, Interesse an dem Angebot. Die ersten Mordaufträge scheinen zunächst zufällig platziert, doch sie folgen einem geheimen Plan, der Stück um Stück das Rätsel der Gemeinde Rebeck löst …  »Als Fan von »Achtsam morden« habe ich mich sehr auf das Buch gefreut und wurde beim Lesen auch nicht enttäuscht. Die Geschichte ist skurril und haarsträubend und deshalb kommt der Humor auch nicht zu kurz« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Ein absolutes Wohlfühlbuch, ideal für den Urlaub. Es ist witzig, sprachlich elegant und originell, geistreich, kurzweilig und zum Lachen und ein Krimi, toll.« ((Leserstimme auf Netgalley))

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© Piper Verlag GmbH, München 2022

Redaktion: Julia Feldbaum

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Alexa Kim »A&K Buchcover«

Covermotiv: shutswis/depositphotos.com; PNGTree

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Zitat

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Intermezzo 1:Das Tagebuch des Georg Schneider

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Intermezzo 2:Das Tagebuch des Georg Schneider

Kapitel 36

Kapitel 37

Intermezzo 3:Das Tagebuch des Georg Schneider

Kapitel 38

Kapitel 39

Epilog

Nachwort

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für die glorreichen Sieben

»Das Leben ist selten gerecht. Manchmal muss man die Seiten von Gut zu Böse wechseln, um es ins Lot zu bringen.«

Dr. Gabriel

Kapitel 1

Nur noch wenige Kilometer trennten ihn von seinem Ziel. Ein letztes durchgestrichenes Ortsschild und eine sich windende Allee aus mächtigen Kastanienbäumen strahlte ihm durch die Windschutzscheibe eindrucksvoll entgegen. Eigentlich war es die Gelegenheit, jetzt ordentlich aufs Gas zu treten, doch er hatte es nicht eilig. Sein olivgrüner Ranch Rodler Geländewagen schnurrte wie ein vollgestopftes Kätzchen und verlieh ihm ein Gefühl von Souveränität.

Endlich fand er eine verlassene Feldwegeinbuchtung, um den Ausblick über die Wiesen und Felder in Stille genießen zu können. Wie schön es hier doch war. Er öffnete den Kofferraum und holte einen kleinen Rucksack heraus – sein einziges Gepäckstück, wobei das nicht ganz richtig war, da ein Umzugswagen bereits alles andere ans Ziel geliefert hatte. Die Thermoskanne mit Kaffee und eine eingepackte Mohnschnecke fielen ihm direkt in die Hände. Er liebte es, wenn die Dinge übersichtlich arrangiert waren, denn diese Leidenschaft brachte sein Beruf nun mal so mit sich.

Langsam, nahezu genießerisch, schenkte er sich einen Schluck heißen Kaffees ein und atmete dreimal kräftig durch. Das machte er so, seit er denken konnte, zumindest immer, wenn es darum ging, ein Kapitel seines Lebens abzuschließen.

Vorbei! Vor ihm lag so etwas wie ein Neuanfang.

Er öffnete die Tüte und löste die klebrige Mohnschnecke von ihrem Papier. Mohnschnecken waren seine einzige Schwäche, wenn man bedachte, wie sachlich abgeklärt und unemotional er sonst durchs Leben ging. Dabei musste er selbst ein wenig schmunzeln. Nicht, dass ihm die Sucht nach kulinarischen Gelüsten doch noch einmal zum Verhängnis wurde.

Er stellte die Kanne auf der knisternden Motorhaube ab und ging ein Stück den Feldweg hinunter. Links stand das Korn bereit zur Ernte, rechts lagen die Zuckerrüben aufgrund der Trockenheit fast blank auf dem Boden. Ein Anblick wie vor hundert Jahren, eine Idylle, wie geschaffen für sein neues Domizil. Er stopfte den letzten Bissen in sich hinein, knüllte das Papier zu einer Kugel und warf es arglos ins Feld. Es war an der Zeit anzukommen, um etwas Neues zu beginnen.

Zurück in seinem Wagen machte er sich schleunigst auf den Weg zu seinem Ziel und erreichte nur wenig später die Gemeinde Rebeck im Kreis Heisenberg.

Die Dorfstraße führte ihn durch die kleine Siedlung, die von ihren Seitenarmen mit Straßen, Häusern und Laternen kümmerlich gespeist wurde und ihm das Gemeindeleben wie im Zeitraffer vor Augen führte. Da gab es einen kleinen Lebensmittelmarkt, vor dem ein Fahrrad abgesperrt war – mit zwei angeleinten Hunden, die lautstark nach dem Halter bellten. Draußen standen ein paar Erika in Töpfen, dazu Blumenerde, akkurat gestapelt. Nur wenig später passierte er ein sogenanntes Imbissrestaurant, das, noch verwaist und abgedunkelt, punktuell bis dauerhaft geschlossen schien, genauso wie der Backsteinbau der Schule für die Klassen eins bis vier. Es folgte ein mit Zeichentrickplakaten zugeklebter Kiosk, der Lottolose als präsentes Lockmittel zum Einsatz brachte, sowie eine Bäckerei, die ebenfalls um diese Zeit bereits geschlossen hatte. Am Straßenende residierte herrschaftlich die Feuerwehr, deren rotes Löschmobil, das Unglück anmahnend, durch die imposante Glasfront leuchtete. Direkt daneben eine Plastikbude des lokalen Sportvereins, der die Spiele nach wie vor auf Ascheböden absolvieren musste.

Es ist perfekt, dachte er sich nicht zum ersten Mal und steuerte den Ranch Rodler über seine neue Kieseinfahrt. Angestrahlt vom intensiven Schein der Nachmittagssonne glänzte ihm ein Eigenheimensemble mit einer kleinen Ladenfläche erwartungsfroh entgegen. Friseur stand über der Vitrine, während jegliche Sicht ins Innere von Seiten der Lokalzeitung verdeckt wurde. Zu achtzig Prozent Reklame.

Kapitel 2

Den Hausschlüssel hatte er bereits in den Händen, seitdem er die Feldwegeinbuchtung verlassen hatte. Auch so eine Angewohnheit, die ihm nun die Zeit ersparte, intensiv danach zu suchen.

Zum ersten Mal öffnete er die Tür zu seinem neuen Zuhause; alle bisherigen Termine mit dem Makler hatten telefonisch stattgefunden. Dieser hatte ihm stets Fotos in einer E-Mail senden wollen, doch er hatte es obsolet gefunden, hatte er die meisten Anschaffungen im Leben doch aus dem Bauch heraus entschieden. Das Angebot für dieses Haus war äußerst attraktiv gewesen, ganz so, als hätte man gezielt nach ihm gesucht, um eine Lücke in der hiesigen Gemeinde adäquat zu schließen. Anscheinend war man durch eine Empfehlung auf ihn aufmerksam geworden und hatte sein Gewerbe bereits angemeldet, was ihn sehr freute, da er hier die größten Hemmnisse vermutet hatte.

Er hatte für den Start nicht nur ein Umfeld mit genügend Potenzial gefunden, sondern auch ein Eigenheim, das beruflich wie privat als Einheit funktionierte. Zudem hatte man ihm versprochen, gelegentlich Gefallen einzufordern, was ganz im Sinne seines Schaffens war.

Das Schloss funktionierte tadellos, was er als gutes Zeichen wertete, auch wenn der erste Anblick durch eine Pyramide von Kartons verstellt war.

Faule Bande, dachte er sich. Hatten einfach alles nach den ersten Metern aufgestapelt, um sich beizeiten aus dem Staub machen zu können. Er hatte den Namen der Umzugsfirma, Heisenberg Rapid, aus dem Telefonbuch der Gemeinde rausgesucht, das er sich vom Bürgermeisteramt hatte zuschicken lassen. Und dieses arglos abgestellte Durcheinander war nun der Dank für sein Vertrauen. Mieser Service, der ein Nachspiel haben würde. Dennoch schien die Lieferung im vollen Umfang da zu sein, wie er sich selbst überzeugen konnte. Sieben gut gefüllte Boxen, deren Klebebänder einen gänzlich unversehrten Eindruck machten. Dann die Waschmaschine und der nagelneue Mahagonischreibtisch, der sein Hab und Gut ergänzte. Dabei war er sich lange gar nicht sicher gewesen, ob derlei offensichtliches Prestige nicht zu viel des Guten wäre, doch er hatte sich nun mal in dieses Möbelstück verliebt.

Erst jetzt bemerkte er, dass der Rucksack noch immer über seiner Schulter hing und die Haustür etwas offen stand. Fast befürchtete er, dass die Nachbarn gleich hereinspazieren würden, doch es war nur eine Katze, die durch den Spalt in seine Richtung stierte. Sie öffnete die Augen, kniff sie dann beruhigt zusammen, ganz so, als würde sie in ihm einen Komplizen sehen.

»Ich habe noch nichts. Vielleicht morgen«, sagte er mehr zu sich selbst als zu seinem schwarzfelligen Gast.

Die Katze schien es trotzdem zu verstehen und tapste sogleich davon. Mit einer schnellen Bewegung knallte er die Haustür zu und machte sich alsbald an die Verteilung der Kartons, die er bis auf einen ungeöffnet stehen ließ. Auf diesem einen lag sein ganzes Augenmerk, bildete er doch die Geschäftsgrundlage für die nächsten Tage, Wochen oder Monate. Je nachdem, wie seine Idee so angenommen werden würde.

Er versuchte zunächst, die Kartonage mit den Händen aufzureißen, doch die Sorgfalt der Verpackung machte ihm das Leben schwer. In seiner neuen Küche, die er vom Vorbesitzer unentgeltlich hatte übernehmen dürfen, fand sich wundersamerweise eine gut geschärfte Schere. Der ehemalige Friseur dieser Gemeinde war anscheinend derart froh ob des Verkaufs gewesen, dass er glatt sein Handwerkszeug vergessen hatte. Persönlich hatten sie sich nie getroffen, waren doch stets ein Makler und ein ominöser Auftraggeber Ansprechpartner für die Transaktion gewesen.

Euphorisiert von seinem Fundstück machte er sich nun an dem Karton zu schaffen und hatte wenig später eine schwarze Kiste freigelegt. Natürlich barg es ein gewisses Risiko, derlei Kostbarkeit mit Heisenberg Rapid zu transportieren. Zumal er mit dem Ranch Rodler die längere, aber landschaftlich schönere Route über die Landstraße gewählt hatte und damit später angekommen war als sein Gepäck. Aber er hatte sein neues Leben nun mal so normal wie möglich und so vorsichtig wie eben nötig angehen wollen. Und schließlich hatte er den Schlüssel für das Schloss der Kiste ja in seinem Sommersakko eingenäht. Was weniger eine Sicherheitsvorkehrung war als die Angst davor, ihn zu verlieren. Vorerst konnte der Schlüssel allerdings an seinem angestammten Platz bleiben, schließlich war sein neues Standbein noch nicht einmal eröffnet. Doch er wollte damit nicht zu lange warten, denn bekanntlich braucht es seine Zeit, bis ein neuer Service prosperierte. Noch heute würde er den alten Laden ganz nach seinen Wünschen optimieren, um ab morgen schon für die Kunden da sein zu können. Zunächst einmal musste er die Kiste aus dem Sichtfeld seiner neuen Nachbarn bringen, denn noch so einen Fehler wie mit der offen stehenden Haustür sollte er sich besser nicht erlauben. Schließlich basierte sein Geschäft auf Diskretion und Professionalität. Er schob die Unachtsamkeit auf die Euphorie des Neubeginns und krempelte die Ärmel seines Hemdes weit nach oben, galt es doch nun, die Kiste in den Keller zu bugsieren, wo auch immer der sich befand.

Zum ersten Mal inspizierte er die neuen Räumlichkeiten und war begeistert wie ein kleines Kind. Bisher hatte er meist in möblierten Appartements gewohnt, die Fremde für ihn eingerichtet hatten. Meist mit strapazierfähigem Inventar, das den Gepflogenheiten seiner wechselnden Belegschaft Tag und Nacht Tribut zollte. Vielleicht hatte dieses anonyme Leben ja dazu geführt, dass er bisher wenig von Belang sein Eigen nennen konnte. Selbst die Kiste war nur eine Ansammlung von Dingen, die zur Ausübung seines Berufs nun mal vonnöten waren. Dennoch war er stolz auf seine Werkzeugkollektion, steckten in jedem kleinen Utensil doch allerhand Erinnerungen.

Endlich fand er im Übergang zum Wohnbereich die Tür, die augenscheinlich in den Keller führte. Eine schwach erhellte Treppe wand sich hinab ins dunkle Spinnennetz, was ihn spontan an einen dieser Gruselfilme denken ließ. Bei näherer Betrachtung handelte es sich jedoch um altes Segelgarn, das von der Decke hing und mit Seesternen und Krebsen dekoriert war. Eine freigelegte Glühbirne schenkte im Kellerraum Licht und strahlte ihren Kegel auf eine imposante Kellerbar, die ihm sein Vorbesitzer als Bonus einfach hinterlassen hatte. Drei Hocker mit ausgefranztem Fellbezug standen aufgereiht davor, der Rest war, bis auf herausstehende Nägel leer gefegt wie das geschrubbte Deck einer Fregatte. Der Duft von längst vergangenen Feiern hing noch träge in der Luft, säuerlich wie alter Wein und muffig-süß wie der Schweiß von tanzenden Gestalten. Ein wenig Neid auf Zeiten, die er nie hatte erleben dürfen, ließ ihn innehalten, doch der Moment verging, wie er das immer tat, und in bewährter Sachlichkeit und Ruhe ging er nun die Kiste holen und stellte sie auf die Theke. Im hinteren Bereich des Souterrains war ein zweiter Keller eingerichtet, der mit einem grün gebleichten Öltank ausgestattet war. Eine Mauer aus Ziegelsteinen schützte den Tank, während ein Schacht am Boden wie ein schwarzes Loch nach Opfern gierte. Ein Schutzgitter war nirgends auszumachen, was in Anbetracht geplanter Taten durchaus seinen Vorteil hatte.

Nachdem er die restlichen Kartons im Wohnbereich zumindest in Augenschein genommen hatte, entschied er sich für ein Erfrischungsbad, um für die nächsten Schritte fit zu sein.

Er wollte das Geschäftslokal noch zur Eröffnung vorbereiten und hatte über Luftballons und kulinarische Köstlichkeiten nachgedacht. Am Ende war er sich dann nicht mehr sicher gewesen, wie die Nachbarschaft wohl auf sein Treiben reagieren würde. Solch ein Fest außer der Reihe könnte man auch später noch organisieren, wichtig war jetzt erst einmal, die Zeitungsseiten von der Fensterfront zu kratzen. Dadurch, dass der Laden eingerückt zur Straße lag, ließ es sich in Ruhe werkeln, ohne ins Visier der potenziellen Kundschaft zu gelangen. Er wollte dieser seligen Gemeinde den Effekt der Überraschung keineswegs verderben, selbst wenn seine Sorge unbegründet schien, da an einem Montagnachmittag in Rebeck sprichwörtlich der Hund begraben war. Das sollte sich jedoch bald ändern – so waren zumindest Plan und Hoffnung.

Am Anfang noch recht zögerlich und akkurat, später dann mit Energie in den Fingern, riss er alte Fetzen von dem milchig angestaubten Glas, bis er eine Seite mit Geburten und Beerdigungen in den Händen hatte. Leben und Tod hielten sich ungefähr die Waage, was ein exzellentes Zeichen für die Fruchtbarkeit in der Gemeinde war. Nichts war schlimmer als ein Ort, der langsam starb. Er nickte sich selbst zu und fühlte sich erneut darin bekräftigt, hier aufs richtige Pferd gesetzt zu haben. In Rebeck könnte er gar alt und sesshaft werden, und das hatte er bisher nicht oft gedacht in seinem Leben.

Die Scheibe war nun freigelegt, was ihm das Dilemma nur zu deutlich offenbarte, schließlich besaß er nichts, um eine solche Fläche attraktiv zu dekorieren. Ihm fiel spontan nicht wirklich etwas ein, waren seine Dienste doch kaum mit Accessoires zu untermauern. Sein Angebot war sehr speziell, das musste er schon zugeben. Er schritt abermals in den Keller hinunter, schnitt das alte Fischernetz an seinen Enden ab und brachte es nur wenig später als Diskretionsvorhang im Ladenfenster an. Schließlich wollte er den Kunden ein Gefühl von Anonymität auch beim Gespräch signalisieren. Was jetzt noch fehlte, war der Schriftzug an der Scheibe, für die er extra Großbuchstaben hatte produzieren lassen. Das konnte jedoch warten, bis es dunkel wurde. Er wollte vorher noch ein Gefühl für den hiesigen Menschenschlag bekommen, denn ohne Konversation und auch Empfehlung ließ sich heutzutage kein Geschäft mehr machen. Natürlich hatte er auch klassische Reklame ins Kalkül gezogen, doch war das bei dem Angebot vielleicht der falsche Weg, um Kunden anzulocken. Vielmehr galt es nun, den Dialog zu suchen, um aus den Geschichten dieser Menschen einen Hebel für den ersten Auftrag zu erlangen.

Wenig später war er schließlich dann so weit für seinen ersten Auftritt, der ihn zu der einzig nennenswerten Lokalität in der Gemeinde mit dem Namen Siggi’s Frittenbude führte.

Allein der Anblick dieser ungeputzten Fensterfläche erfüllte ihn mit Ehrfurcht und Respekt. Es würde gar nicht mal so einfach für ihn sein, in diese Welt hinabzutauchen, auch wenn der Einsatz vorgetäuschter Empathie ein Schlüsselfaktor fürs Erfolgserlebnis war. Er zauderte und schaute sich verstohlen um, bis jetzt war ihm noch niemand hier in diesem Nest begegnet. Doch in der Bude brannte Licht, und hin und wieder ertönte sogar eine dumpfe Stimme. Er hatte sich ein wenig chic gemacht und setzte auf die Klasse seines braunen Samtsakkos, das von einer abgesteppten Weste unterfüttert wurde. Die Haare hatte er gekonnt mit etwas Schaum zu einem Seitenscheitel gekämmt, was ihn stets ein wenig jünger machte, als er eigentlich schon war. Dazu setzte er auf eine Brille, kreisrund und aus Titan, die ihn zu einem seriösen Partner werden ließ, dem man gut und gern etwas anvertrauen konnte. Ein Banker, ja vielleicht der Herr von der Versicherung, genau so wollte er von seinem Umfeld wahrgenommen werden, waren es doch meist die spießigen, unscheinbaren Typen, die man in der Not um Hilfe bat.

Die Tür zu diesem Plastikrestaurant ging, ohne abzubremsen, auf, sodass er sie ganz ungeplant an die Fassade donnerte. Die ganze Bude geriet dabei ins Wanken und brachte ihm sogleich die Bühne, auf der er zu bestehen hatte.

»Hast du dich verfahren?«, schnarchte ihn ein rothaariger Riese mit lichtem Haarwuchs an und zog dabei den triefenden Frittierkorb aus dem oft gebrauchten Fett. Die einzigen zwei Gäste saßen vis-à-vis in einer Nische und starrten ihn mit Ablehnung und Neugier gleichermaßen an.

»Verfahren? Ganz im Gegenteil, ich wollte Ihrem Restaurant einen Besuch abstatten«, gab er sich ganz zielbewusst und weltoffen.

»Bist du vom Finanzamt?«, kam es misstrauisch vom Fritten-Chef.

»O nein. Wo denken Sie nur hin, guter Mann. Ich verspürte Appetit und wollte meinem Hunger keine Blöße geben. Sie müssen der Herr Sigmund sein?«, signalisierte er Entwarnung.

Nach kurzer Stille folgte schallendes Gelächter, das sogar die Gäste in der Nische motivierte. »Sigmund nannte mich nicht mal meine Mutter. Siggi steht draußen dran, und Siggi steht auch drinnen hier am Tresen«, kam die Antwort angespitzt wie ein Karateschlag.

»Wunderbar. Dann also, Herr Siggi. Was haben Sie denn Schönes auf Ihrer Speisekarte? Was isst man eigentlich hier in der Region?«, versuchte er, sich gleich mal anzupassen.

Der Fritten-Chef kam aus dem Schmunzeln nicht heraus und freute sich auf das perfekte Opfer, um es gleich mal zu veralbern. »Ich bin bekannt für allerfeinste Küche und serviere meinen Gästen in der Regel ein Menü aus mindestens drei Gängen. Wir sind ein exklusives Haus. Da bist du mit deinem abgesteppten Blazer fast ein bisschen lässig unterwegs.«

Die Gäste lachten heiter auf und prosteten dem Muntermacher zu. So gut hatten sie sich schon lange nicht mehr unterhalten gefühlt. Der Spruch machte ihn zunächst verlegen und ließ ihn etwas ratlos wirken. Am liebsten wäre er zurück in seinen Laden gegangen und hätte den Hunger einfach ignoriert. Doch als Geschäftsmann war man Kämpfer ersten Ranges, was auch diesem Siggi augenscheinlich im Blut lag.

»Drei Gänge klingen ausgezeichnet. Ich entscheide mich für das Menü«, ließ er sich auf dieses Festmahl ein.

»Das will ich hören, mein Freund. Heute wirst du mal so richtig verwöhnt«, wollte der Siggi jetzt auch liefern.

Sichtlich stolz über den Erfolg beim Erstkontakt, nahm er sich einen Plastikstuhl von einem Stapel und setzte sich zu den zwei Gästen, deren gute Laune augenblicklich abzuebben schien. Er stellte sich mit Namen vor und nutzte das entstandene Schweigen, um sich in der Frittenbude etwas umzusehen. Im Zentrum allen Schaffens stand eine Glasvitrine, die, gefüllt mit schrumpeligen Würsten und bis zur Unkenntlichkeit panierten Schnitzeln, dem Besucher einiges fürs Auge zumutete. Dazu gab es eine große Schüssel Kraut, drapiert mit Peperoni, sowie einen welkenden Salat, dem die Luft in der Vitrine ordentlich zu schaffen machte. Direkt dahinter dampften die Fritteusen, als wären es Geysire, deren Ausbruch nicht zu kontrollieren war. Über allem prangte, als Stolz in dieser Stube, ein Kalender, der mit leicht verhüllten Damen schon den nächsten Monat opulent in Szene setzte. Dann ein kleiner Farbfernseher und dazu ein Wandregal mit allerlei Pokalen. Vielleicht ja eine Würdigung von diesem Restaurantführer mit Namen GaulMiau?

Erst bei näherer Betrachtung erkannte er den Ball samt einem Fußballspieler, was den Imbiss wohl zu einer Ruhmeshalle für den hiesigen Sportverein machte. Der Rest der Fläche gehörte ganz allein den Gästen, denen drei Tische zur Verfügung standen und nach Bedarf ein Stapel voller Plastikstühle. Trotz der sparsamen Gestaltung war es diesem Siggi in der Tat gelungen, Behaglichkeit und Wohlbefinden hier zu etablieren.

Langsam stieg ihm der Geruch der Mahlzeit in die Nase, der durchs permanente Heben eines Frittensiebs noch an Stärke zulegte. Der Siggi präsentierte sich dabei als Gastwirt ersten Ranges und kam gleich mit dem ersten Gang, der aus einer abgemischten Menge aus Kraut- und Blattsalat bestand, an seinen Tisch. Eine Peperoni diente dabei als Kirsche auf der Torte und thronte recht erhaben über dem Entree.

Es wurde für ihn langsam Zeit, sich wieder um die anderen zwei Gäste zu kümmern, die seit ihrer Dreisamkeit in Stille und Enthaltsamkeit verfallen waren.

»Das sieht aber gut aus«, quittierte er zunächst einmal das Werk von diesem Siggi, um sogleich die Tischnachbarn zu involvieren: »Kommen Sie oft in dieses Restaurant?«

Es entstand zunächst ein Vakuum an Zuversicht, wer denn nun in welcher Form auf diese Frage antworten durfte. Schließlich meinte der Ältere der beiden, dass ein »Hin und wieder« nicht zu viel von ihnen offenbarte. Ein wenig wortkarg in der Tat, doch ein Anfang war auch hier gemacht, um ein wenig Feuer nachzulegen.

»Das kann ich gut verstehen. Der erste Gang … Ich muss schon sagen, da steht ein Meister hinter der Vitrine.« Mit diesem ausgesprochenen Lob in seinen Worten schaute er zum Fritten-Chef hinüber, der etwas gedankenlos durch die Monate im Wandkalender blätterte. Anscheinend hatte er sich in eine der Damen verguckt.

»Leben Sie schon lange hier?«, versuchte er, an den Erfolg der ersten Antwort anzuknüpfen.

Der Ältere nickte leicht frustriert, der Jüngere schluckte seine Worte mit einem Bier herunter.

»Es ist wirklich wunderschön hier. Diese Weite. Die Felder, die Wiesen, das sich verfärbende Laub. Ich bin heute erst angekommen und wohne am Ortseingang … im ehemaligen Friseursalon«, gab er etwas von sich preis und löste damit die Mundpartie des Älteren.

»Beim Georg sind Sie eingezogen? Ich hätte nicht gedacht, dass die Spelunke jemals jemand kauft. Der konnte Haare schneiden, wie ich Flöte spielen kann.«

Er respondierte mit einem lauten Lachen, das weder aufgeblasen lang noch viel zu kurz war, um gleich überhört zu werden. Schließlich schätzten es die Leute in der Regel sehr, wenn ihr Humor als hohe Form der Unterhaltung angesehen wurde. Doch der Ältere in dieser Runde war damit längst noch nicht am Haken.

Es wurde Zeit nachzulegen. »Sie sehen sich erstaunlich ähnlich. Besteht hier ein Verwandtschaftsgrad, vielleicht sogar in erster Linie?«, wurde er nun sehr persönlich.

Wieder ergriff der Ältere das Wort mit einem Schmunzeln. »Ich bin der Günther, und der Kleine da, das ist mein Sohn, der Peter.« Während er die anschließende Pause nutzte, um den Sud des Krautsalats zu schlürfen, geriet der Ältere ins Plaudern. »Willkommen in unserer Gemeinde. Einen Friseur können wir sicher wieder gut gebrauchen«, erklang es herzlich.

Die Aussage war meilenweit entfernt vom eigentlichen Zweck seines Geschäfts. »Nun ja. Das Haareschneiden ist ganz sicher nichts für mich«, nahm er den Wind schnell aus den Segeln und hoffte, die Fragerunde damit zu beenden.

»Was wollen Sie ansonsten hier in diesem Kaff?«, ging es jedoch unvermindert weiter.

»Ich möchte das Ladenlokal für etwas gänzlich Neues nutzen«, zeigte er dem Günther seine Vision auf.

»Was soll das sein?«, kam es wie das Schnappen eines Goldfischs.

»Hm, wie soll ich es beschreiben? Es ist so etwas wie ein Dienst für die Gemeinde. Mehr möchte ich an dieser Stelle nicht verraten, denn morgen ist der große Tag der Eröffnung«, blieb er weiter nebulös und blies gleich zur Attacke. »Leben Sie mit Ihrem Sohn hier ganz allein?«

»Ob ich mit meinem Sohn allein lebe? Was ist denn das für eine Frage?«, zeigte sich der Günther gleich ertappt.

»Entschuldigen Sie, falls das zu persönlich war. Ich wollte mich lediglich höflichst nach der potenziellen Frau Gemahlin erkundigen«, ruderte er in sichere Gewässer.

»Meine Frau und meine Tochter Rosi sitzen auf der Couch und schauen das Letzt-Top-Motel. Das ist nichts für uns, da machen wir lieber einen Männerabend«, gab der Günther die Erklärung ab und strahlte seinen Jungen an.

Just in dem Moment servierte der Fritten-Chef das Hauptgericht, das aus einer dieser Wabbelwürste sowie einer Schale goldig-gelber Pommes frites bestand.

Er griff sogleich zur Plastikgabel und probierte ein kleines Stück der schrumpeligen Wurst. Kaum zu glauben, aber dieses Festmahl war dem Siggi gut gelungen und exakt nach seinem Gusto. »Jetzt muss ich Ihnen aber mal ein Kompliment machen, Herr Siggi. Das ist eine hervorragende Wurst. Man schmeckt die Herkunft aus den Stallungen in der Region.«

»Die Wurst? Die kommt aus Holland, mein Freund«, stellte der Siggi nüchtern klar und knipste aufs TV-Gerät, das zunächst mal tonlos vor sich hin flimmerte.

Vater und Sohn wollten die Gelegenheit nutzen, um sich zu verabschieden, was ihn zu der nächsten Frage motivierte. »Wie würden Sie das Verhältnis zu Ihrer Gattin denn beschreiben?«, bohrte er offensichtlich in einer nicht verheilten Wunde.

»Wie ich das Verhältnis zu meiner Gattin beschreiben würde?«, dehnte der Günther das Wort Gattin in die Länge, als wäre es schon ziemlich eingestaubt.

»Nun ja, ich wundere mich halt nur, warum sich die Frau Gemahlin mit der Tochter im Letzt-Top-Motel vergnügt, während Sie sich beide hier verköstigen lassen.«

»Jetzt hören Sie mir mal zu. Stecken Sie Ihre Nase nicht in meine Angelegenheiten, sonst werden Sie hier ganz schnell jede Menge Ärger bekommen. Wir mögen so Leute nicht, die überall herumschnüffeln. Haben Sie verstanden?«, blaffte ihn der Günther an und gab seinem Sohn damit das Zeichen, endlich aufzubrechen.

Der Peter wirkte daraufhin ein wenig eingeschüchtert, fügte sich aber wortlos dem Befehl.

Er hatte es wohl ein wenig übertrieben, und so ermahnte er sich selbst, künftig sensibler mit den neuen Nachbarn umzugehen. Als könnte dieser Siggi glatt Gedanken lesen, stieß er ein »Na, da hast du wohl ins Schwarze getroffen« in den aufsteigenden Dampf seiner Fritteuse.

»Wirklich? Das lag außerhalb meiner Absicht«, sagte er, sich keiner Schuld bewusst.

»Das kannst du ja nicht wissen. Da läuft seit einiger Zeit wohl nicht mehr viel … zwischen ihm und seiner Alten. Annemie mit zwei N. Sie war einst mal ein ordentlicher Feger, wenn du verstehst, was ich meine«, sagte der Siggi kennerhaft lächelnd.

Er machte sich eine geistige Notiz und musste wegen der Bemerkung spontan auf den Wandkalender schauen, um ein Gefühl dafür zu kriegen, was der Herr Siggi wohl unter einem Feger so verstand.

»Sie macht dieses Yoga und verrenkt sich vor dem Internet, damit es andere anschauen und gleich nachmachen können«, schob der Siggi hastig hinterher, als hätte er es ausprobiert.

»Mir war dieser grüne Gnom mit seinem Lichtschwert immer schon suspekt«, ordnete er die Dinge einfach neu. Trotzdem würde ein Besuch bei dieser Annemie mit zwei N durchaus einmal Sinn ergeben, denn vielleicht ließe sich daraus ja ein Geschäft ableiten.

Mit einem unterdrückten Rülpser beendete er das Hauptgericht, griff energisch in die Sakkotasche und legte dem Fritten-Chef einen Zwanziger auf die Vitrine.

»Das war wirklich ausgezeichnet, Herr Siggi«, bedankte er sich frohen Mutes und meinte es auch so.

»Moment, mein Freund. Drei Gänge sind drei Gänge. Da fehlt doch noch der Nachtisch«, bestand der Siggi auf Vertragserfüllung.

»Puh«, kreiste er sogleich mit beiden Händen über seinem nicht vorhandenen Bauch. Doch der Siggi kannte kein Erbarmen und drückte ihm zum Schluss ein Eis am Stiel in die Hand.

»Magnus«, las er klar und deutlich vor. »Das klingt fürwahr nach einem königlichen Abschluss. Ich werde es mir unterwegs gern schmecken lassen.«

Der Fritten-Chef lachte amüsiert und legte das Wechselgeld auf die Vitrine, doch er schüttelte großzügig den Kopf: »Das Restgeld ist für Sie. Es war perfekt und äußerst hilfreich.«

»Hilfreich? Wieso hilfreich?«, fragte der Siggi hinterher, doch die Antwort blieb er dem verdutzten Fritten-Chef für immer schuldig. Viel zu eilig hatte er es nun, dem eigenen Laden seinen letzten Schliff zu geben.

Auch wenn ihn der Fußweg durch die Knotenpunkte der Gemeinde führte, kam ihm keine Menschenseele in die Quere. Hin und wieder registrierte er einen Schatten hinter den Gardinen, doch es war zu wenig, um daraus ein Inspizieren abzuleiten. Er aß das Eis in großen Bissen und warf die Folie arglos in den ungepflegten Garten eines Hauses.

Sein neues Heim wirkte in der Tat noch unbewohnt, als er es zum zweiten Mal betrat, doch dafür würde er zunächst nicht seine Zeit vergeuden. Dennoch ärgerte es ihn nun, dass er Heisenberg Rapid nicht noch den schweren Schreibtisch ins Geschäft hatte tragen lassen. Nicht einfach, diesen Klotz nun aus dem Wohnhaus in Richtung Laden zu bugsieren, zumal der Durchgang kurvenreich und in der Breite eng und kantig war. Aber es musste nun mal sein, um einen adäquaten Rahmen fürs Verkaufsgespräch zu bieten.

Gegen 21.15 Uhr saß er dann erschöpft und glücklich auf der glanzpolierten Platte und knipste zum ersten Mal die Lampe seines Ladens an. Ein greller Blitz zuckte durchs Geschäftslokal und ließ die Birne augenblicklich schwarz werden. Das hätte er sich denken können, schließlich waren jene Schalter schon seit Monaten nicht mehr bedient worden. Zur Hilfe kam ihm schließlich eine Straßenlaterne, sodass er mit Leidenschaft und Präzision die produzierten Buchstaben auf die Fensterfläche kleben konnte. Ein Neonschild war zunächst der Plan gewesen, um auch den Blick der Lauf- und Fahrtkundschaft aufs Angebot zu lenken. Doch Leuchtkraft zog oft auch die falschen Leute an, sodass er in der Reduktion den Gral für die Geschäftseröffnung sah. Er schloss zum ersten Mal die Ladentür auf und schritt gemächlich durch den Kies. Erhaben sah er auf sein Werk und betrachtete es aus allen Winkeln, denn schließlich würden seine Kunden ähnlich kritisch auf die Scheibe starren. Am Ende gönnte er sich gar ein Lächeln und war mit sich und seiner Arbeit hochzufrieden.

In goldenen Buchstaben stand auf der Ladenfront: Kopernikus Mahler, Tötungsdelikte aller Art.

Kapitel 3

Erst als es an der Tür klopfte, merkte er, dass er auf seinem Schreibtischstuhl eingeschlafen war. Kein Zeichen von Bequemlichkeit, sondern vielmehr der Tatsache geschuldet, dass er weder ein Bett noch eine Matratze besaß.

Er schoss wie ein Katapult nach oben und war sofort bei einhundert Prozent. Ein Kunde, es musste ein Kunde sein. Hastig suchte er nach dem Atemspray, das als Standard seine Sakko-Kollektion ergänzte, wurde jedoch nicht sofort fündig. Dennoch wollte er den ersten Interessenten ungern warten lassen und eilte sogleich zur Ladentür, um die Leere vor dem Haus zu inhalieren. Es war niemand da, lediglich ein Stein lag auf dem Boden, der sich aufgrund von Farbe und Beschaffenheit vom Rest des Kiesbettes deutlich abhob. Doch vielleicht hatte sich dieser Irrläufer beim gestrigen Heimweg unter seinen Schuhen einfach nur verhakt.

Er maß dem Umstand keine tiefere Bedeutung bei, auch wenn es kein so gutes Zeichen war, am ersten Tag gleich zu verschlafen. Von daher galt es nun, den Schwung des anfänglichen Schocks in positive Energie zu verwandeln und den Appetit am frühen Morgen mit etwas Essbarem zu stillen.

Johannes Hafer, Bäckermeister stand auf einer eingerahmten Urkunde direkt neben den Öffnungszeiten, die ausschließlich dem Vormittag gewidmet waren.

»Ich bin kein Konditor, das sage ich Ihnen sofort«, erklärte der Bäckermeister den Umstand der beschränkten Öffnung. »Also für Kuchen und Torten müssen Sie nach Heisenberg fahren. Nur dass wir uns nicht missverstehen«, ergänzte er hastig, um keine neuen Kunden anzuziehen.

Kopernikus ließ sich davon jedoch nicht vergraulen und bestellte den Vorrat für eine ganze Woche.

»Fünfzehn Brötchen? Das ist eine ganze Menge. Da kann ich zumachen. Wie wäre es erst einmal mit fünf? Sie haben meine Brötchen ja noch nicht einmal probiert. Sind Sie auf der Durchreise nach Heisenberg?«, wollte der gestresste Bäckermeister den Schaden erst einmal begrenzen.

»Nein. Ich vertraue Ihrem Handwerk«, erklärte Kopernikus voller Zuversicht und deutete auf die Urkunde in der Vitrine.

»Die Prüfung ist schon lange her. Ich habe mich seitdem auf Bodenständiges spezialisiert«, versuchte der Bäckermeister, die Bestellung weiterhin zu reduzieren, traf dabei jedoch auf taube Ohren.

Derweil ging die Ladentür schon wieder auf, und eine Frau so um die vierzig kam herein und presste ein »Guten Morgen« in die Bäckerstube. Ihr enger Rock aus Python-Imitat bewies ein straffes Training um die Lenden, das Schlabbertop kaschierte einen kleinen Bauchansatz. Ihr Bubikopf zeugte von energischem Gemüt und passte so gar nicht zum Charakter dieser bodenständigen Gemeinde.

»Guten Morgen, Frau Prybitzka«, begrüßte der Bäckermeister seine Kundin und schien erleichtert, vertrauten Augenschmaus zu konsumieren.

»Wie immer zwei Brötchen und einen Weckmann?«, fragte er gar höflich nochmals nach.

»Heute nicht«, erwiderte die Prybitzka, »denn der Bruder meines Mannes ist mit seiner Frau und den Kindern zu Besuch. Bitte packen Sie mir zehn Brötchen und sechs Weckmänner in die Tüte, um auch alle satt zu kriegen. Aber ich möchte mich nicht vordrängeln«, musterte sie den unbekannten Kunden und schien ein wenig stolz darauf, solch eine Großbestellung aufzugeben.

Doch der Bäckermeister Hafer sah sich in Anbetracht der prahlerischen Nachfrage in seiner eingeplanten Produktion bedroht. »Zehn Brötchen hier und fünfzehn dort. Wie soll ich das machen? Es kommen ja noch Stammkunden«, lautete die Botschaft an den Neuen.

Kopernikus überlegte kurz, wie er hier schlichten könnte, um den frisch erglühten Draht zum Bäckermeister Hafer weiterhin auf Temperatur zu halten. Verzicht erschien in Anbetracht der Lage als solide Strategie, und so reduzierte er seine Bestellung, was die Prybitzka zum Tauschgebot ermutigte.

»Auf keinen Fall. Ich war eindeutig nach Ihnen hier und kann stattdessen Landbrot nehmen«, gab sie sich devot und suchte nach dem Kompromiss.

»Mahler. Kopernikus Mahler«, lautete darauf die deplatzierte Antwort im Rahmen der Verhandlungen.

»Ich bin die Urzula. Sind Sie neu in unserem Dorf?«, fragte die Prybitzka ganz aufgekratzt, während der Bäckermeister Hafer von der großen gleich zur kleinen Tüte griff.

»In der Tat. Ich bin gestern angekommen und habe den alten Friseursalon bezogen«, kam die Antwort blumig und charmant.

»Ich hätte nicht gedacht, dass Sie Friseur sind. Ab wann soll der alte Laden denn wieder öffnen?«, fragte die Prybitzka nicht ohne eigenes Interesse.

»O nein. Friseur, das wäre wirklich nichts für mich. Genau wie das versierte Flötenspiel«, nahm er die zuvor gelernte Phrase in seinen Sprachgebrauch gleich auf.

Doch die Prybitzka hing ihm an der Leine und preschte gleich schon wieder vor. »Jetzt tun Sie mal nicht so geheimnisvoll. Was treibt Sie denn ansonsten hier in die Gemeinde?«

»Ich bin so etwas wie ein Dienstleister für Dinge, für die sich die Menschen oft zu schade sind«, legte er ihr die Spur zu seinem Angebot.

»Aha. Ein Mann fürs Grobe«, sagte die Prybitzka grinsend und brachte ihn kurz in Verlegenheit.

»Sozusagen.«

Hafer nutzte derweil die kurze Pause, um die Probleme der Bestellstrecke neu zu ordnen. »Wer möchte denn nun was?«

Kopernikus: »Vier Brötchen.«

Die Prybitzka: »Zwei Brötchen und alle noch verfügbaren Weckmänner.«

Ein Seufzer der Erleichterung beim Bäckermeister und ein Abschied, der viel Hoffnung machte. »Also gut, Herr Mahler. Ich werde Sie die Tage mal besuchen. Erledigungen, für die es echte Kerle braucht … Da habe ich Bedarf.« Dazu noch ein Augenzwinkern, und verschwunden war die Prybitzka, die der Siggi sicherlich als Feger tituliert hätte.

Das Frühstück nahm er aus Ermangelung an Sitzgelegenheiten auf dem Schreibtisch seines Ladens ein und war mit sich und auch dem Backwerk allerhöchst zufrieden.

Die ersten Stunden zogen sich wie Knetmasse, da er dauernd das Gefühl hatte, etwas unternehmen zu müssen, auch wenn seine Dienste rein auf Nachfrage getrimmt waren. Abwechslung versprach da erst ein Mann in Uniform, der mit einem alten Fahrrad den Kiesweg aufs Geschäft zurollte und mit forscher Klopfeinlage für die erste Unterbrechung sorgte. Kopernikus öffnete ganz aufgeregt die Tür und wollte seinen Gast erfreut begrüßen, um erst mal frische Luft zu atmen.

»Guten Morgen. Ich bin Ihr Briefträger. Ich bin ganz überrascht, dass hier überhaupt mal wieder jemand drin ist. Ich habe nur gesehen, dass da so komische Gardinen hängen und …«, er las im Stillen den aufgeklebten Schriftzug durch, »… hahaha. Das ist ja witzig. So was kann das Dorf ganz gut gebrauchen. Aber Sie sind wahrscheinlich auch Friseur, habe ich recht? Auf jeden Fall wünsche ich Ihnen viel Erfolg. Post habe ich noch keine, aber gut, wen wundert das? Heutzutage werden ja nur noch Mails oder WasgehtAb-Nachrichten verschickt. Alles digital. Nur Haareschneiden geht noch nicht mit dem Computer, was? Ich kann Ihnen nur raten, sich von den ganzen Animositäten hier im Ort zu distanzieren. Falls Sie verstehen, was ich meine. Gerade als Friseur bekommt man ja so einiges zu hören, was? Das hat den alten Georg flachgelegt. Entschuldigen Sie den Ausdruck. Angeblich ist ihm die ein oder andere Geschichte hier zu Ohren gekommen. Aber gut, ich habe das auch nur so gehört. Egal, viel Erfolg auf jeden Fall mit dem Friseursalon!« Mit den letzten Worten seiner Rede drehte sich der Postzusteller um die eigene Achse und griff zum Lenker seines eingerosteten Drahtesels.

Der Nachmittag verlief in ausgeprägter Ruhe, und er beschloss, die temporäre Flaute zum Erkundungsgang durchs eigene Zuhause zu nutzen. Sichtlich stolz stand er zum ersten Mal in seinem Garten und verschwand bis zu den Knien im Gras, das seit Langem keine Pflege mehr erhalten hatte. Mit etwas Mühe erspähte er einen künstlich angelegten Teich, der vom Klimawandel schwer getroffen war. In der Dürre des oval geformten Beckens lagen noch die Gräten zweier Fische, die wahrscheinlich einst diesem Georg gehört hatten. Drumherum klebte eine rostig-braune Masse, die den Blutverlust der beiden Wassertiere deutlich überkompensierte und nach Säuberung verlangte. Dieser Teil der neuen Heimat würde Pflege nötig haben, die sein Können und Geschick bei Weitem überstieg, sodass er überlegte, dafür einen Helfer einzustellen. Denn wer weiß, vielleicht ließe sich in diesem Garten perspektivisch noch die eine oder andere Leiche gut vergraben. Gleich morgen früh würde er eine handschriftliche Notiz an seine Ladentür kleben, um offensiv nach Unterstützung zu suchen.

Das Innere des Hauses war flächenmäßig nicht sehr groß, doch mehr als annehmbar für seinen Lebensstil. Nach der kleinen Diele, die den Laden vom Wohngebäude trennte, gelangte man sogleich ins Essgemach, das ohne abgrenzende Wände die Küche und das Wohnzimmer zu einem stimmigen Ensemble integrierte. Überall lag blauer Teppichboden, der immer da hell ausgeblichen war, wo der Georg einst ein Möbelstück platziert hatte. Doch Kopernikus war sofort verliebt in diesen Boden, schaffte er doch ein Wohlfühlklima, ohne viel zu arrangieren. Das mit den Möbeln würde sich schon irgendwie ergeben, selbst wenn er nun die Gegenstände nach den hellen Mustern im Teppichboden auszuwählen hatte. Sein ganzer Stolz im ersten Stock galt einem gelben Badezimmer, das in tadellosem Zustand war. Was man vom Schlafraum nicht direkt behaupten konnte, da die weißen Spuren auf dem Boden einem Schauplatz des Verbrechens mitten in der Renovierung glichen. Komplettiert wurde die Etage von einem kleinen Gästezimmer und der Treppe ganz hinauf nach oben, wo ein ausgebauter Dachstuhl mit vielen Schrägen ein Gefühl von Ruhe und Entschleunigung versprach. Diesen Raum würde er am häufigsten benötigen, schließlich bedeutete selbstständiges Schaffen auch lange Nächte mit geringem Schlafkonsum. Umso besser, wenn man eine derartige Oase jetzt sein Eigen nennen konnte.

Kapitel 4

Er hörte ihr Geschnatter bereits aus der Ferne auf ihn zukommen. Gefolgt von einem quietschenden Geräusch, das jedem ausgesprochenen Satz eine Fanfare hinterherjagte. Plötzlich wurde es ganz still, und er hatte das Gefühl, dass sich die erste Kundschaft vor dem Laden eingefunden hatte. Er eilte schnellen Schrittes bis hinauf ins Gästezimmer, um aus der Vogelperspektive das Geschehen in der Gänze zu bewachen. Sein Instinkt schien gut in Schuss, im Gegensatz zu den zwei Damen, die auf den mangelhaft geölten Rollatoren entsetzt vor seinem Eingang standen. Die grazile Eminenz zur Rechten schüttelte dabei stetig ihren Kopf, als kämpfte sie mit einem exzessiven Zuckerschock, während die linke Dame tief gebeugt den Moment für eine Auszeit nutzte.

»Das ist ja unglaublich«, prustete die Rechte aufgeregt drauflos und kniff dabei die Augenbrauen eng zusammen. »Mord und Totschlag aller Art und das in unserer friedlichen Gemeinde. Nach alledem, was mit dem Georg hier passiert ist.«

Er kombinierte eins und eins und schloss auf einen nicht ganz freiwilligen Abgang seines ehrenwerten Vorgängers. Hoffentlich kein Wettbewerber im Revier, der ihm einen Strich durch die Rechnung machen würde.

Lange ließ sich jedoch nicht darüber grübeln, denn die Rechte polterte gleich wieder los: »Ich bin sprachlos. Das müssen wir unbedingt dem Herrn Maximilian erzählen. Erna, was sagst denn du dazu?«

Diese Frage ging an die Linke, die die Botschaft am Lokal billigend zur Kenntnis nahm.

»Ist mal was anderes«, brummte Erna teilnahmslos zurück in Richtung Rechte.

»Ist mal was anderes? Ist das dein Ernst? Hier bietet jemand Tod und auch Verderben, und du sagst ›Ist mal was anderes‹? Also, Erna, du bist zynisch und senil geworden. Und auch gebrechlich. Du kannst ja kaum noch …«

»Na was?«, raunte die Erna.

»Rollen«, brachte die Rechte diesen Satz dann doch zu Ende und streckte dabei demonstrativ die Brust nach vorn.

»Aber du kannst rollen?«, fragte die Erna gleich nach.

»Also, eigentlich habe ich dieses Teil ja gar nicht nötig. Ich fahre den Rollator nur aus Mitgefühl zu dir. Damit du nicht so allein durch die Gegend streifen musst. Das ist ein reiner Freundschaftsdienst.«

»Hör doch auf, Ilse. Du kommst ja ohne deinen Limboghini nicht mal mehr auf die Toilette«, wies die Erna sie zurecht.

»Ha«, suchte die Ilse aufgeregt nach Worten. »Ich habe immerhin noch Sex.«

Zur Demonstration ihrer körperlichen Verfassung löste sie den Griff an ihrem Rollwagen.

»Du hast Sex. Haha«, meinte die Erna und lachte trocken auf. »Mit wem soll der denn stattgefunden haben? Mit dem strammen Max etwa? Der hat sicher jüngere Kaliber vor der Flinte, so, wie der nach Rosenwasser riecht.«

»Der Herr Maximilian ist ein echter Kavalier und …«, holte die Ilse aus, um es dann nicht zu beenden.

Er ärgerte sich ein wenig, dass die Übertragung bis in den ersten Stock so miserabel war, berührte sein rechtes Ohr doch bereits die Scheibe und wurde langsam taub.

»Wenn es dich so stört, dann klingle doch und geige diesem Herrn da deine Meinung. Aber das traut sich unsere feine Dame nicht«, ging die Erna inhaltlich den Schritt zurück und knüpfte am Anfang allen Übels an.

»Im Gegensatz du dir weiß ich mich zu artikulieren. Ich habe einst in feinsten Kreisen verkehrt«, sagte die Ilse.

»Verkehr ist wohl dein großes Ding«, bohrte die Erna nochmals in die Wunde.

»Das hättest du dir sparen sollen«, zeigte sich die Ilse daraufhin schockiert und stolz zugleich. »Ich bleibe dabei, es heute noch zu dritt zu diskutieren. Für mich ist das ein klarer Fall für unsere Polizei.«

»Warum denn nur so kompliziert? Geh doch einfach rein! Der Laden hat ja schließlich eine Tür«, schnarchte die Erna wieder los und löste ihre Rollen, was am Gästezimmerfenster Schweißausbrüche produzierte. So hatte er sich den Erstkontakt beileibe nicht gewünscht, auch wenn er bisher nicht eingeschritten war. Die Ilse kam ihm dabei ungewollt zur Hilfe und schnitt mit ihrem Limboghini das Gefährt der forschen Erna, bis es rumste.

»Wir gehen da auf keinen Fall hinein. Am Ende bringt der Kerl uns beide um«, erklärte sie die übertriebene Attacke und verwies erneut aufs abendliche Treffen mit besagtem Maximilian.

»Meinetwegen«, knickte die zerknirschte Erna schließlich ein und schaute neugierig hinauf zum Haus, wo ein Schatten ungelenk zu Boden plumpste.

Kopernikus hockte auf dem Teppich des Gästezimmers und fühlte das Rasen seines Pulses, der ihm eine Ruhepause abverlangte. Adrenalinschübe wie diese waren der sprichwörtliche Tod für seine Dienste, was es nicht zu tolerieren galt. Während er noch fleißig Trommelschläge an der Halsschlagader zählte, hörte er das Quietschen der zwei Rollatoren, die spröde von der Einfahrt auf die Straße rollten.

Natürlich war er sich im Klaren darüber, dass sein Dienst am Menschen nicht nach jedermanns Geschmack war, zumal er sich im Schriftzug klar und deutlich ausgesprochen hatte. Viele Menschen müssen erst ein wenig in sich gehen, um die Tat an sich und das Gefühl danach ernsthaft in Betracht zu ziehen. Andererseits wäre er viele Jahre nicht so intensiv gebucht worden, wenn nicht durchaus ein Grundbedarf bestehen würde.

 

Er hatte sich gerade von diesem ersten Spuk erholt, als ihn ein Geräusch erneut in den Alarmzustand versetzte. Ihm fiel mit Schrecken ein, dass die Verandatür wahrscheinlich offen stand, da er blitzartig den Aussichtsort im Gästezimmer eingenommen hatte. Sollte sich das etwa rächen? Waren die beiden Damen nun zurückgekehrt, um Spuren der Verwüstung in den schönen Teppichboden hineinzufahren?

Kopernikus schlich sich lautlos in die Küche, nur um einen wiederkehrenden Gast auf seiner Küchentheke auszumachen. Der Kater blickte ihn vorwurfsvoll an, und Kopernikus musste leider eingestehen, dass er immer noch nicht lieferfähig war. Er versuchte es mit einem halben Brötchen und erntete krude Ignoranz. Zweimal »Miau«, und weg war der Verbündete im Geiste. Diesem ausgewachsenen Jäger musste man mit anderen Opfergaben beikommen, das war ihm nun plötzlich klar. Er blickte unvermittelt auf die Uhr und war ganz überrascht, da der Nachmittag sich bereits dem Ende zuneigte und einen dunkelgelben Sonnenball durch seine Fensterscheiben schickte. Das schrie nach einem Abstecher zur Frittenbude, auf den er sich schon heimlich freute.

 

Er griff zum sommerlichen Leinenhemd, um auf den Straßen Rebecks mediterrane Leichtigkeit zu demonstrieren. Selbst sein nachlässiger Gang erinnerte entfernt an das Flanieren in den Altstadtgassen von Palermo, ganz so, als gäbe es hier edle Modeläden, Restaurants und Souvenirgeschäfte. Angelockt durch das vulgäre Fluchen aus der Ferne landete er, ganz ohne es zu wollen, am belebten Sportplatz, auf dem ein Fußballspiel angebrochen war. Ungelenke Akteure in kunterbunten Trikots stolperten träge über einen Ascheplatz, ohne ein System erkennbar umzusetzen. Obwohl er mit dem Spiel an sich nichts anzufangen wusste, merkte er recht schnell, dass das dargebotene Niveau nicht dem entsprach, was ansonsten im TV so angeboten wurde. Die Stimmung war recht aufgeheizt, die Sprüche unterhalb der Gürtellinie. Das Publikum verteilte sich dabei in kleine Gruppen, die entlang der kreideweißen Außenlinie lautstark auf die Spieler schimpften. Eine Anzeigetafel war offensichtlich nicht vorhanden, sodass er seinen Einstieg bei einer Männerrunde mit der Frage nach dem Spielstand suchte.

»Einen wunderschönen guten Frühabend … Mein Name ist Mahler, Kopernikus Mahler. Hätten Sie vielleicht den aktuellen Stand für mich?«

Die Eröffnung verlor sich ohne Reaktion und trotzte einem dickbäuchigen Schnauzbart nur ein »Der kann ja wirklich gar nix« ab. Er brauchte etwas Zeit, um zu verstehen, dass sich die kräftige Verbalattacke auf einen Spieler fokussierte, der ohne Einwirkung vom Gegner fulminant am Tor vorbeigeschossen hatte. Leider fehlte ihm der Fachjargon, um mit einem Phrasenkonter meisterhaft zu retournieren, sodass er diesen Unmut nochmals aufnahm, um sich ins Gespräch zu zwingen.

»Das war eine ausgezeichnete Möglichkeit, um ein Tor zu schießen. Mit ein wenig mehr Fortune hätte es fast funktioniert.«

Die Reaktion blieb unterkühlt, kein Blick zurück in seine Richtung. Es half nichts, er musste weitermachen und baute sich ganz selbstverständlich neben dem vergrätzten Schnauzbart auf. Nur wenig später kam bereits, wonach er suchte, und es gab einen Handelfmeter.

»Der kann ja gar nichts. Was für ein Tunichtgut. Hängt ihn auf. Zerstückelt ihn. Hackt ihm seine Hände ab …«

Erst auf dem Höhepunkt der Strafmaßüberlegungen bemerkte Kopernikus die ungeteilte Geistesgegenwart der Männerrunde, die ihn anstarrte, als hätte sie der Blitz getroffen.

»Was bist du denn für ein Vogel?«, fragte der Schnauzbart sichtlich echauffiert. Seine drei Gesellen waren gefühlt im gleichen Alter und nutzten diesen milden Abend, um die opulente Kriegsbemalung an den Oberarmen exzessiv zur Schau zu stellen.

»Wie ich bereits erwähnte, mein Name ist …« Weiter kam er nicht, denn der Schnauzbart presste ein eindeutiges »Verzieh dich!« zwischen seinen gelben Zähnen hervor und gab den Kriegern das Kommando, sich dem Spielgeschehen zuzuwenden. Doch die Männerrunde war ein wenig hin- und hergerissen zwischen den Aktivitäten auf dem Platz und dem Neuankömmling in ihrer Mitte.