WasserFälle -  - E-Book

WasserFälle E-Book

0,0

Beschreibung

Ob an den lauschigen Ufern von Rhein und Main oder am Langener Waldsee, im Schiersteiner Hafen oder an der verträumten Wisper: Im friedlichsten Gewässer plätschert das Blut, Untaten führen in abgründige Tiefen. Die mit allen Wassern gewaschenen Autorinnen und Autoren von Dostojewskis Erben - allesamt in RheinMain zu Hause - lassen ihre Fantasie fließen und spüren den Quellen des Verbrechens in spannenden, humorigen und skurrilen Kurzkrimis nach.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 150

Veröffentlichungsjahr: 2022

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

VORWORT

Volksfeststimmung wie vor knapp 60 Jahren mit Würstchenbuden und Glühweinständen auf dem zugefrorenen Rhein. So lebhaft und fröhlich wünschen sich Dostojewskis Erben auch das literarische Leben. Mit Krimi-Spektakeln, Roulette-Lesungen und Literatur-Festivals, auf denen von der Bestsellerautorin bis zum Lokalmatadoren jede und jeder sein Publikum findet. Wo ein zugewandtes Publikum lustvoll die Vielfalt der hiesigen Autor:innenlandschaft erkundet und selbst die Kolleg:innen von der »Ebsch Seit« aus Mainz freundliche Aufnahme finden.

Doch so wie einst der Rhein, gefror das literarische Leben über Nacht. Corona-Lockdown mit abgesagten Lesungen, verschobenen Buchprojekten und Autor:innen ohne Perspektive. Das Gegenteil von Volksfeststimmung. Intern hielten wir uns mit Outdoor-Sommertreffen am Fluss über Wasser. Doch es war uns wichtig, auch nach außen zu zeigen: Dostojewskis Erben sind von der Flut der Viren nicht davongespült worden. Stattdessen entstand die Idee einer gemeinsamen Anthologie. Mit dem übergreifenden Thema »Wasser«, denn Wasser bedeutet Leben, in unserem Fall literarisches Leben. Auch wenn es sich in den 29 Geschichten dieses Buches oft als tödliches Element erweist.

Allen alten und neuen Freund:innen von Dostojewskis Erben wünschen wir eine spannende, oft auch heitere, aber auf jeden Fall kurzweilige Lektüre.

Belinda Vogt & Thorsten Weiß

INHALTSVERZEICHNIS

AM RHEIN

DIE MIT DER ZEIT GEHEN

von Karsten Eichner

TOTGESCHWIEGEN BEI RHEINKILOMETER 530

von Leila Emami

DIE STILLE AM RETTENDEN UFER

von Jürgen Heimbach

LIEBESTRAUM

von Ulrike Keding

DIE DINOSAURIER DÜRFEN NICHT AN BORD

von Richard Lifka

KOPFSACHE

von Alexander Pfeiffer

KOMMISSAR KRÜGER ERMITTELT TIEFE WASSER

von Anaïd Rahim

KOMMISSAR KRÜGER ERMITTELT DER GOLDENE TUKAN

von Anaïd Rahim

AM MAIN

MAIN ALLEIN

von Oliver Baier

DIE MACHT DER ANGST

von Susanne Kronenberg

EIN STILLER TOD

von Thorsten Weiß

AM FLUSS

DIE RUHESTÖRUNG

von Arri Dillinger

WILDWEIBCHENS LEY

von Ute Schusterreiter

AM BACH

KURZE ABHANDLUNG ÜBER DEN FISCHBESTAND IM RENATURIERTEN KLINGENBACH ZU WIESBADENBRECKENHEIM

von Nellie Elliot

DER SPAZIERGANG

von Franziska Franke

DAS BRUNI-COLLIER

von Martin Franz

QUELLENSTEUER

von Stefanie Tettenborn

SCHWARZER PETER

von Fenna Williams

AM TEICH

ES GESCHAH 1931

von Bernd Köstering

PETRI HEIL

von Susanne Kronenberg

GLITZERN IM SONNENLICHT

von Marga Rodmann

VERDÄCHTIGE WARE

von Petra Spielberg

DIE WÜRDE DES MENSCHEN

von Thorsten Weiß

AM SEE

FENSTER ZUM SEE

von Oliver Baier

ES GESCHAH 1982

von Bernd Köstering

ZURÜCK AUF LOS

von Peter Luyendyk

AUF ABWEGEN

von Petra Spielberg

BLUTROTE KLIPPEN

von Dietmar Thate

TRAUMSTRAND

von Belinda Vogt

DIE AUTORINNEN UND AUTOREN

ÜBER DOSTOJEWSKIS ERBEN

AM RHEIN

DIE MIT DER ZEIT GEHEN

von Karsten Eichner

»Basta!« Krachend schlug die Faust von Don Alfredo auf die weiße Tischdecke, sodass die Rotweingläser im Hinterzimmer der Pizzeria »Isola di Capri« wackelten.

»Finito mit den Verhandlungen. Jetzt reicht es mir. Ein für alle Mal. Diese Türken-Mafia wird jeden Tag frecher. Wir müssen endlich tabula rasa machen und die Bande im Hafen versenken, bevor die uns alle zu Döner verarbeiten.«

»Aber Don Alfredo!« Guido, der Consigliere des Kulturvereins »Amici del Porto«, der »Freunde des Hafens«, hob beschwichtigend die Hände, während die drei anderen Vorstandsmitglieder betreten auf den Boden starrten. »Wir müssen mit der Zeit gehen. Vielleicht wäre es wirklich der geeignete Moment, unsere Pizzeria mit Gewinn an den ›Freundschaftsverein Bodrum-Schierstein‹ zu verkaufen und in andere Geschäftsfelder zu investieren. Zum Beispiel in diese moderne große Hanf-Plantage hinter Taunusstein …«

»Basta!« Noch erregter als zuvor schlug Don Alfredo mit der Faust auf den Tisch. »Damit die hier in unserer Pizzeria eine Shisha-Bar aufmachen, direkt neben ihrer stinkenden Dönerbude? Nein! Niemals verkaufe ich denen unser schönes ›Capri‹. Nicht, solange ich der Capo der ›Amici del Porto‹ bin. Wir haben die beste Pizza von Wiesbaden! 1A Bestlage am Schiersteiner Hafen, Terrasse mit direktem Zugang zur Promenade und zum Rhein! Jeden Abend die Schickeria aus dem halben Rhein-Main-Gebiet zu Gast. Und jede Woche ein Motorboot aus Holland mit dem besten Kokain aus Amsterdam, direkt vor die Haustür. Eine Goldgrube! Ha, und das willst du alles aufgeben? Nur wegen der frechen Konkurrenz? Pura follia!«

»Don Alfredo, regen Sie sich nicht auf, denken Sie an Ihr schwaches Herz. Ich habe es doch nicht so gemeint, es war nur so eine spontane Idee.« Guido winkte Carlo, dem Oberkellner. »Noch eine Flasche Barolo, velocemente.« Carlo verschwand lautlos und beeilte sich, das Gewünschte herbeizuschaffen.

Don Alfredo war mittlerweile kraftlos in seinen Bastsessel zurückgesunken.

Melancholisch schaute er durch die Scheiben des Hinterzimmers, die einen Panoramablick auf die spiegelnde Wasserfläche des Schiersteiner Hafens boten. Sein Lokal befand sich in der Tat in einer 1A Lage, einer der schönsten in Wiesbaden. Und einer der lukrativsten. Don Alfredo musste unwillkürlich lächeln, wenn er an die Entwicklung in den letzten 50 Jahren dachte. Als kleiner Pizzabäcker hatte er damals angefangen. Und mittlerweile war er zum mächtigen Capo aufgestiegen, vor dessen Macht viele Lokalpolitiker zitterten – und auch allen Grund dazu hatten.

So lange, bis die türkische Konkurrenz ins Geschäft eingestiegen war. Rasch und rascher hatte der »Freundschaftsverein Bodrum-Schierstein« in der Landeshauptstadt Fuß gefasst, schließlich sogar seinen Döner-Imbiss direkt neben die Pizzeria »Isola di Capri« gesetzt.

Don Alfredo seufzte dramatisch. »Was haben wir nicht alles für den Stadtteil hier getan?«, fragte er in die Runde und nahm einen Schluck Barolo, den Carlo ihm mittlerweile kredenzt hatte. »Am Hafenfest jeden Sommer kostenlose gelati für die bambini spendiert. Familienpizza für alle. Und eine Kiste Brunello di Montalcino pro Monat für den Oberbürgermeister, natürlich frei Haus.«

Die Umsitzenden lächelten wissend.

»Und was machen diese Leute aus Bodrum?«, knurrte Don Alfredo und verschüttete vor Aufregung ein wenig von dem kostbaren Barolo auf die weiße Tischdecke. »Kostenlose Döner to go für alle. Freie Shisha-Abende für die Jugend. Gratis-Testfahrten im tiefergelegten AMG-Mercedes über die A66. Und für den Oberbürgermeister zwei Kisten türkischen Süßwein und zwei Flaschen Raki pro Monat. Ich könnte weinen …«

»Nicht aufregen, Don Alfredo«, beschwichtigte ihn der Consigliere. »Ihr dürft Euch über diese Emporkömmlinge nicht ärgern.«

»Ich habe mich schon genug aufgeregt«, blaffte Don Alfredo. »Viel zu lange. Ich weiß nur eine Lösung. Wir machen sie alle kalt, die ganze Bande. Und versenken sie im Schiersteiner Hafen, wie üblich. Der gute alte Betonklotz an den Füßen.«

»Aber da gibt es ein kleines Problem«, wandte der Consigliere ein und starrte betrübt in sein Weinglas.

»Problem? Was für ein Problem denn?« Don Alfredo genehmigte sich einen weiteren großen Schluck. Er fühlte sich auf einmal furchtbar müde.

»Es ist so«, stotterte Guido. »Wir haben praktisch keine freien Plätze mehr im Hafen. In den letzten Jahren mussten wir so viele Feinde der ›Amici del Porto‹ dort beseitigen, jetzt ist alles belegt.«

»Und was ist mit der Hafeneinfahrt?« Don Alfredo winkte Carlo herbei, der flugs eine weitere Flasche Barolo brachte. Er schenkte elegant nach, bevor er sich diskret zurückzog.

»Hm, die Strömung ist dort recht stark, aber es könnte gehen«, sinnierte Guido und gähnte herzzerreißend, hielt sich dabei aber wenigstens die Hand vor den Mund. »Doppelte Betongewichte an den Füßen, das sollte für eine Weile halten. Aber es gibt leider noch ein weiteres Problem …«

Don Alfredo traten fast die Augen aus den Höhlen, und er fasste sich theatralisch mit beiden Händen an den Kopf, der eine entfernte Ähnlichkeit mit Marlon Brando aufwies. Ihn schwindelte, als Guido fortfuhr: »Der ›Freundschaftsverein Bodrum-Schierstein‹ will angeblich eine Viertelmillion Euro spenden, um den Hafen ausbaggern zu lassen. Das giftige Schwermetall im Schlamm hat uns bekanntlich bisher vor allen Nachforschungen bewahrt. Keiner hat seit Jahrzehnten gewagt, da zu baggern. Aber wenn die erst einmal anfangen, im Grund zu wühlen, und unsere ganzen Leichen dabei ans Tageslicht kommen …«

»Basta«, rief Don Alfredo erneut, doch nun mit merklich belegter Stimme. »Das müssen wir verhindern, prestissimo.« Mit waidwunden Augen sah er in die Runde – und blickte auf einmal in schlafende Gesichter. Der gesamte Vorstand der »Amici del Porto« war wie auf Kommando friedlich eingenickt. Selbst Guido war urplötzlich nach hinten gesunken und schnarchte röchelnd.

»Was um alles in der Welt ...?«, fragte Don Alfredo, doch weiter kam er nicht – schon kippte er bewusstlos vornüber auf den Tisch. Carlo, der leise wieder eingetreten war, fing elegant die halb leer getrunkene Flasche auf, eilte damit in die Küche und goss den Rest des Barolo mitsamt dem verräterischen Schlafmittel in die Spüle.

Die Zeit der »Amici del Porto« neigte sich unweigerlich dem Ende zu. Schon bald würden sie sich alle am Ufergrund der Hafeneinfahrt befinden, mit reichlich türkischem Beton an den Füßen. Baggern würde an der Stelle garantiert niemand. Und hier, in der bisherigen Pizzeria »Isola di Capri«, würden demnächst die Shisha-Pfeifen blubbern, ganz wie an der Hafenpromenade von Bodrum. Er, Carlo, wäre dann Geschäftsführer dieser neuen Goldgrube, kein einfacher Oberkellner mehr. So jedenfalls hatte es ihm Cem, sein Freund seit Grundschultagen an der Schiersteiner Hafenschule, fest versprochen. Zufrieden griff er in die Seitentasche seiner weißen Jacke und fingerte nach dem dicken Geldscheinbündel mit Euros, Dollars und türkischer Lira, das sich seit kurzem darin befand. Es war ein gutes Gefühl.

Guido hat irgendwie schon Recht gehabt, dachte Carlo lächelnd, und ein böses Wortspiel kam ihm in den Sinn: »Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit.«

TOTGESCHWIEGEN BEI RHEINKILOMETER 530

von Leila Emami

Nicht einmal fünf Sekunden dauert Hollys Handy-Video. Ihr kindliches Gesicht im Schein einer Taschenlampe: kajalschwarze Tränenstreifen auf weichen Wangen, bebend ungeschminkte Lippen. Schaukelnd im Hintergrund: Lichter einer Stadt, eine hell angestrahlte Kirche in der Nacht.

Hollys abertausende Follower von New York über Frankfurt, Moskau bis nach Seoul schauen ratlos auf ihre Bildschirme: Wo ist sie?

Die Handykamera verrutscht in ihrer Hand: Wellen, Wasser, gelber Leib eines Schlauchbootes.

Was soll das? Sie haben sie wie gewohnt angeklickt, um ihr zuzuschauen, wie sie sich auf ihrem Bett räkelt, wie sie mädchenhaft spricht, aber dennoch gekonnt die Sehnsüchte ihrer Beobachter befriedigt. Macht sie jetzt einen auf Psycho-Porn, oder wie?

Die Kamera führt Holly nun nah an ihr Gesicht. Ihre goldige Stimme: panisch, ihre Worte kaum zu verstehen, ein vorbeidonnernder Zug ... »Hel ... I ... ca... no ...« Holly hebt das Handy an ihre Lippen ... plötzlich ein gleißendes, alles überstrahlendes Licht ... dann wird es schwarz und still.

Pauls Herz rast. Holly! Sie ist ganz in seiner Nähe. Die beleuchtete Kirche im Hintergrund ist eindeutig die Rochuskapelle in Bingen am Rhein, die er in diesem Augenblick aus seinem Schlafzimmerfenster sieht. Soll das ein Witz sein? Seit zwei Jahren folgt er Holly auf dieser Porno-Plattform, hat noch nie ein Video von ihr verpasst, dachte aber immer, sie säße irgendwo weit weg, auf irgendeiner Insel vor ihrer Webcam. Nein, eigentlich dachte er nicht, er wollte, dass sie kein reales Mädchen ist, sondern eine wie Lara Croft, Prinzessin Leia oder Alice im Wunderland. Paul steht auf, schenkt sich einen Whisky ein. Nun ist sie plötzlich in seinem Leben aufgetaucht. Als Selbstmörderin auf dem Rhein? Ernsthaft? Sicher war das nur eine Inszenierung. Genauso wie sie so tut, als sei sie ein Teenager, der nie älter wird. Aber natürlich ist sie eine erwachsene Frau, die weiß, wie man viel Kohle mit den Leidenschaften seiner Schaulustigen macht. Oder ist sie vielleicht doch noch ein Teenie? Gar ein Kind? Paul leert sein Glas auf ex.

Da klingelt sein Handy.

Eine Stunde später steht Paul am Rheinufer. Der Notruf eines holländischen Frachtschiffers ist eingegangen. Der Kapitän gibt an, in seinem Scheinwerferlicht dicht vor dem Bug ein Schlauchboot mit einer Person auf dem Rhein gesichtet zu haben. Höhe Rochuskapelle bei Rheinkilometer 530. Er befürchte, sie überfahren zu haben. Ist völlig aufgelöst.

Einsatzkräfte suchen bis in die Morgenstunden: keine Spur, nirgends. Wahrscheinlich war da gar nichts ... ein Trugbild. Außer dem Frachter-Kapitän hat niemand etwas gesehen, es sind weder Vermisstenanzeigen noch Zeugenaussagen eingegangen.

Paul, der frischgebackene Kommissar, schaut zu – und schweigt. Es will ihm einfach nicht über die Lippen, was er am Abend auf seinem Bildschirm gesehen hat. Noch nicht. Erst will er herausfinden, wer Holly ist. Oder war?

Er eilt nach Hause, loggt sich gleich auf der Plattform ein, klickt und klickt, scrollt und sucht. Hollys Videos sind alle verschwunden, sogar in den Suchmaschinen. Auch die drei Videos, für die er extra bezahlt und die er auf seine Festplatte heruntergeladen hat, sind weg. Da hat sich doch jemand Zugriff auf seinen Rechner verschafft! Er schnappt sein Handy, wählt eilends die Nummer seines Kollegen aus der IT-Forensik. Nach dem ersten Freizeichen unterbricht er die Verbindung. Was, wenn Holly wirklich noch minderjährig ist? Dann würde er sich mit der Untersuchung seines Laptops selbst ausliefern, und das zu Beginn seiner Karriere.

Am nächsten, übernächsten Tag immer noch keine Spur, keine Vermisstenanzeige, keine Nachricht von einer im Rhein ertrunkenen Person oder eines führerlosen Bootes. Auch wird das Vorkommnis bei den Kollegen – männlich oder weiblich – mit keinem Wort erwähnt. Drängendere Aufgaben türmen sich auf den Schreibtischen. Oder aber, so denkt Paul, es treiben sich einige der Kollegen auch auf dieser Plattform herum und schweigen.

Wochen, Monate, Jahre vergehen.

Die Erinnerung an Holly verblasst und verschwindet ganz hinter neuen Kicks und Hypes. Sogar diese eine Plattform gibt es nicht mehr: zu viele Kids, ein zu heißes Eisen, plötzlich von weltweiten Bezahlsystemen ausgeschlossen, abgeschaltet, trockengelegt. Dafür sprießen andere Plattformen aus dem Boden mit Mädchen, die Holly verdammt ähnlich sehen.

Dieser Sommer ist der heißeste, den Paul je erlebt hat. Der Asphalt auf der Straße schmilzt, Farben und Formen verdampfen, Bäume und Tiere verdursten. Nun sind es die Kids, die rund um die Welt ihre Stimme erheben.

Paul macht sich einen Whisky on the rocks, lässt die Eiswürfel im Glas klirren und seinen Laptop hochfahren. Zeit für ein paar ablenkende Stunden.

Da klingelt sein Handy.

Auf dem ausgetrockneten Flussbett des Rheins haben sich hunderte jugendliche Demonstranten versammelt. Zwei Jungs sind an der Fassade des Mäuseturms, der vor kurzem noch mitten im reißenden Strom stand, emporgeklettert und haben sich an den Zinnen der schmalen Festung festgekettet. Polizeihubschrauber kreisen. Paul und seine Kollegen kämpfen sich durch die fest zusammenstehenden Kids zum Mäuseturm durch: Gerangel und Gemenge, Tumult und Gekreische.

Nur ein paar Meter weiter, da wo der Rhein einst mit tosenden Wellen seine Bahnen zog, liegt ausgebleicht in der Sonne der zerfetzte Leib eines Schlauchbootes, fest um die Ankerkette einer Boje gewickelt, die jetzt auf dem Kiesbett liegt und schweigt ... bei Rheinkilometer 530!

Im Rhein ertrinken jährlich hunderte Personen. Einige von ihnen werden niemals gefunden.

Bis heute – im Jahre 2022 – ist es nicht gelungen, Kinder und Jugendliche vor Pornoplattformen zu schützen.

DIE STILLE AM RETTENDEN UFER

von Jürgen Heimbach

22. März 1945

Der Balken krachte direkt vor ihm auf den losen Untergrund. Herrmann-Karl Bender sprang erschrocken zurück, stolperte über ein Mauerstück, verlor das Gleichgewicht und stürzte. Die dunkelbraune Aktentasche in seiner Linken ließ er dabei nicht los. Er wischte sich mit einer fahrigen Handbewegung den Staub aus dem Gesicht und rollte sich stöhnend zur Seite. In dieser Bewegung fiel sein Blick auf das Revers seines Jacketts, an dem schief das goldene Parteiabzeichen hing. Hastig riss er es ab und schob es in seine Jacketttasche. Mühsam richtete er sich auf.

Mitleidlos sah ihm dabei ein zehn- oder elfjähriger Junge zu, dessen rechte Gesichtshälfte durch Brandwunden zu einer Fratze entstellt war, bis eine Frau erschien, ihn am Kragen packte und mit sich fortzog.

Der Donner eines Geschützes ließ Bender zusammenfahren. Sie mussten schon auf dem Kästrich sein, mutmaßte er, umklammerte die Aktentasche und lief los, vorbei an den ausgebombten Häusern. Gestern waren die Amerikaner in Hechtsheim eingerückt, hatte es geheißen, heute würden sie in die Stadt einmarschieren, waren sicher nicht mehr weit weg. Er musste zum Rhein, ans andere Ufer. Es war noch früh am Morgen, die wenigen Menschen, die in den Trümmern ausharrten, hielten sich versteckt. Sie fürchteten die Hundertfünfzigprozentigen, die jeden, der den Anschein machte, nicht bis zum Endsieg kämpfen zu wollen, erschossen oder erhängten. Keine zwei Tage war es her, dass in Hechtsheim drei Männer, die an der Schule des Ortes weiße Betttücher aufgehängt hatten, noch am gleichen Abend hingerichtet worden waren.

An dem Tag, an dem der Mainzer Oberbürgermeister Ritter die städtischen Dienststellenleiter zum wiederholten Mal auf die unverbrüchliche Treue auf den Führer eingeschworen hatte, bevor er sich selbst ans rechte Rheinufer absetzte. Bender hätte mitgekonnt, aber er musste an seine Zukunft denken … Die Ironie dieses Gedankens war ihm entgangen.

Die letzten Tage war es trocken geblieben, und jetzt ließ jeder Schritt den allgegenwärtigen Staub aufwirbeln. Maschinengewehrfeuer deutete auf Widerstand hin, der ihm Zeit verschaffte.

»Sieh an, der Bender!«

Ein Mann um die Fünfzig, ausgezehrt, den dunkelblauen, zu weiten Anzug von einer feinen Staubschicht bedeckt, war aus dem Eingang eines eingestürzten Hauses vor ihn getreten.

Büttner! Bender fluchte in sich hinein. Wieso war der jetzt hier? Der sollte doch …

»Wohin denn, Bender? Keine Freunde mehr, die dich beschützen? Keine Partei, die ihre Hand über dich hält?«

Büttners Lachen hatte einen hämischen Unterton. Erst jetzt bemerkte Bender das Messer in dessen Hand. Wieder erscholl eine Maschinengewehrsalve.

»Die Amis, Bender! Fürchtest du sie? Wenn die erfahren … du wirst einer der ersten sein, den die aufknüpfen, … wenn ich …«

Bender antwortete nicht. Er musste an Büttner vorbei.

»Was ist denn in der Tasche da? Zeig mal her! Vielleicht kommen wir ja ins Geschäft …«

»Ich soll dir vertrauen, Büttner?«, erwiderte Bender mit dünner Stimme, die nicht zu seiner massigen Figur passte. Er starrte auf das Messer.

»Was bleibt dir übrig? Also …« Büttner streckte seine freie Hand aus. Die Bewegung wirkte ungelenk.

Er hatte Benders Blick bemerkt. »Gestapo«, zischte er.

Zwei kurz aufeinanderfolgende Geschützkracher ließen beide Männer zusammenfahren und Büttner einen Schritt zurücktreten, genau unter einen fallenden Stein, der sich aus dem Restmauerwerk des Hauses gelöst hatte und ihm den Schädel zertrümmerte.

Bender konnte es sich nicht verkneifen, dem Toten einen Tritt zu verpassen.