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"Wasserstand und Tauchtiefe" ist ein moderner Heimatroman aus der Endmoräne, ein Brandenburg-Opus, in dessen Mittelpunkt ein Vater-Sohn-Konflikt steht. Bizarre Geiselnahme, die sich über Monate hinzieht und von der Krankenkasse bezahlt wird. Mark Labidzke führt ein recht einseitiges Zwiegespräch mit seinem Vater, der nach mehreren Schlaganfällen sein Sprachvermögen verloren hat, nun muss er ihm endlich zuhören. Der einstige SED-Funktionär und Bürgermeister ist auf Pflege angewiesen und der Erzähler auf die Rente des Vaters. Zwei Männer - ein Konto.
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Seitenzahl: 264
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Karsten Krampitz
Wasserstand und Tauchtiefe
Hans Fritz Beckmann
Doch zu dir:
Dein Urologe ist unzufrieden. Nicht doch.
Alle vier Wochen muss er ran, der Herr Doktor. Hausbesuch. Muss deinen Katheter austauschen. – Nicht wundern, Vater. Den Suprapubischen haben sie dir im Krankenhaus an die Bauchdecke gelegt. Ich bin einverstanden gewesen, habe dafür unterschrieben. Und nur deshalb rasieren Agnieszka und ich dir immer die Bauchhaare. Will gar nicht daran denken: Wenn mir das früher jemand erzählt hätte, dass ich meinem Vater mal den Bauch glattrasiere – jeden dritten Tag!
Ja doch, die Haare stören. Müssen weg. Ist besser für die Haut, der Pflaster wegen, mit denen wir den Schlauch festmachen. So entsteht beim Abreißen keine wunde Stelle, und wunde Stellen hast du genug. Sieht nicht gut aus bei dir, wirklich.
Wie du immer daliegst in deinem Bett. »Liegen« kann man das nicht nennen, ein Körperbrei ohne Muskeln, einfach auf die Matratze gekippt. Deine Augen flackern, ohne dass sie irgendwas suchen oder irgendwo hinschauen. Und sobald die Augen Ruhe geben, fängt das Kinn an zu zittern. Manchmal auch gleichzeitig. Und überall sieht man wunde Stellen, gerade im Leistenbereich. Morgens drücke ich dir immer die Beine auseinander, sodass Agnieszka dich dort waschen kann. Dann willst du ja noch abgetrocknet werden.
Am Anfang war mir das noch unangenehm. Ja doch, es gibt einfach Dinge, die will man nicht sehen, die will man nicht erfahren, von keinem anderen, nicht von sich selbst – und schon gar nicht vom eigenen Vater. Aber der Mensch gewöhnt sich an alles, manchmal sogar an das Ungewöhnliche; Ekel ist nur ein Mangel an Gewohnheit.
Mein Bester, dich zu waschen, ist jedes Mal ein Kraftakt. Festhalten muss ich dich, denn du kannst ja nicht stillhalten. Agnieszka hat schon angeboten, dasssiedie Beine übernimmt und ich den Lappen. Besser nicht, habe ich gesagt. Und wieder drehte sich alles, alles nur um dich. Ach, Vater.
Gedreht werden soll auch der Schlauch, jeden Tag ein wenig. Sonst, sagt Sprinzel, unser Herr Doktor, wächst das Ding an der Bauchdecke fest, und das wollen wir nicht. Nein, das wollen wir nicht.
Er meint auch, wir müssten deine Sitzfähigkeit erhalten, selbst wenn du, wonach es derzeit aussehe, einen neuen Dekubitus bekämest, diesmal am Steiß. Für solche Fälle gebe es bestimmte Kissen, so eines wolle er uns besorgen. Sagt er. Doktor Sprinzel fürchtet außerdem, dass schon bald deine zweite Niere ausfällt. Dann müssten wir zur Dialyse. Das wäre dann die Katastrophe, sagt er. Aber er sagt auch – und jetzt kommt’s! –, das wäre nicht der Worst Case.
Denn einen solchen hatten wir ja schon, angeblich. Nun, auch auf die Gefahr, mich der Redundanz hinzugeben, sage ich es gerne noch einmal: Wenn der besagte Vorfall, justamente Anlass hausärztlicher Erregung und Verdächtigung (und zwar haltloser, selbstredend!), wenn diese eine Episode am Ende deiner Tage, ich meine: ganz am Ende, das Schlimmste gewesen sein wird, wasdirzugestoßen ist, dann, mein Lieber, hattest du ein schönes Leben! Und dafür wollen wir schon heute dankbar sein.
Wir alle machen Fehler. Und doch leben wir in einer Zeit, in der Patienten oder deren Angehörige die Ärzte verklagen – nicht umgekehrt. Nein wirklich! Sprinzel gehen ein wenig die Nuancen aus. Keiner weiß, was passieren wird – mit uns, der Welt und meinem Altvorderen. Aber wir wissen, was passiertistneulich, früher, dazumal. Und noch einmal zum Mitschreiben: Ein Unfall war das – und keine Gewalt.
Darauf er: Dicker, wir müssen reden. Und ich: Worüber denn? Wir reden die ganze Zeit. Und er: Du weißt, was ich meine. Als dein Freund sage ich dir, du bist überfordert. Ich verstehe dich sogar, bist auch nur ein Mensch; in einem schwachen Moment bist du … hast du … – Sprinzel!, sage ich! – Hey, ich sage doch nicht, dass du es mit Vorsatz getan hast. Aber verstehe mich doch bitte, vom Gesetz her bin ich zur Meldung verpflichtet.
Er soll ruhig alles melden. Wen interessiert’s?
Verstehe einer die Aufregung. Es geht dir gut, Vater. Oder siehst du das anders? So ganz ohne Gedächtnis fühlt man sich wie neugeboren, und das Leben ist schön.
Jeden Morgen gegen sechs stellt dir Agnieszka die Pumpe an. Frühstück via Magensonde – Nutrison Multi Fibre, je nach Bedarf mit Ballaststoffen oder ohne, zweihundert Milliliter pro Stunde. Und während du nun die erste Mahlzeit einnimmst, hält deine Krankenschwester noch ein kleines Nickerchen …
Das hätte es früher nicht gegeben. Was? Nicht bei dir, Vater. Dass aus dem Kreise deiner subalternen Zuträger – all der vielen fleißigen Referenten, Assistenten und wissenschaftlichen Mitarbeiter –, dass da jemand die Traute gehabt hätte, sich ein Stündchen aufs Ohr zu hauen, während der Arbeitszeit! Nur: Bei Agnieszka liegen die Dinge anders, liegst du anders. Hast ihr den Schlaf geraubt, hast sie die ganze Nacht lang beschäftigt. Die Arme! Dauernd muss sie dich wenden, alle zwei Stunden. Oder willst du dich noch mehr wund liegen? Wie hast du immer gesagt: Alles eine Frage der Haltung. – Und Agnieszka kümmert sich um deine.
Solange sie noch ein bisschen Ruhe findet, messe ich dir den Blutdruck.
Guten Morgen!, rufe ich immer in den Raum und sollte mich vorstellen. Eigentlich. Ich sollte dir sagen, wer ich bin, und auch, wer du bist.
In letzter Zeit aber haben wir die Etikette gelockert. Erst einmal öffne ich das Fenster. Und dann sehe ich schon, wie du staunst: Was denn? Wo denn? Wer denn? Ich??? Vor Schreck flackern deine Augen. Stoßlüftung! Achtung, wird kalt! Entschuldige. Ich achte aber immer darauf, dass du richtig zugedeckt bist; hast ja ein dickes Federbett. Entspann dich. Ist nur kalte Luft. Ich weiß ja: Nicht zu lange die Fenster öffnen! – Um Gotteswillen, am Ende fliegt dir noch die Seele raus. Man sagt doch, wenn jemand gestorben ist, soll man die Fenster weit aufreißen. Im Umkehrschluss heißt das, wir beide müssen vorsichtig sein. Womöglich handelt es sich bei dem Fenster-Seele-Verhältnis um eine Wechselbeziehung, eine dialektische, von existentieller Natur. Wenn die Lebenskerze so gut wie heruntergebrannt ist, reicht ein bisschen Zugluft und schon heißt es: Cheerio! Goodbye! Und: Gute Reise! Und deine Seele freut sich über die Starterlaubnis.
Besser also, ich schließe das Fenster gleich wieder. Ist aber auch wirklich kalt draußen. Aber abgesehen davon: Wir sind aufgeklärt, glauben nicht an solchen Humbug.
Danach lege ich dir die Gummimanschette um den Oberarm. Immer der gleiche Arm, der linke, und immer die gleiche Zeit, neun Uhr, man will ja vergleichen können. – Alles in Ordnung. Oder auch nicht. Normal halt.
Sobald sich die Zimmertemperatur ein wenig stabilisiert hat, werfe ich einen Blick auf deine Wunden, schaue nach, ob alles verheilt. Und sollte irgendwas akut erscheinen oder riechen, lasse ich es deine Krankenschwester wissen. Umgehend. Sobald sie aufgestanden ist. Nur keine Hektik. Wir müssen Ruhe bewahren, ihre Ruhe.
Vorerst stelle ich dir das Radio an – Schlagermusik, Sport, Nachrichten, die Wasserstandsmeldungen, eben alles, was du früher gern gehört hast.
Aber was hörst du wirklich? Und: Was denkst du? Bist du denn noch mehr als eine Hülle? – Kein Leib, nur noch Körper. Bist nur noch ein Zitat.
Die Verdächtigungen deines Urologen brauchen uns nicht zu kümmern. Sprinzel kriegt sich wieder ein; ich kenne ihn gar nicht anders. Die Frage, wie lange das mit uns beiden gut geht, stellt sich nicht. Ergo muss ich ihm nicht antworten. Die paar Wochen, die schaffen wir auch noch.
Allerdings lass mich eines klarstellen: Bislang habe ich mich mit vielem abgefunden, aber wir beide, wir werden uns gar nicht erst aneinander gewöhnen. Mitte vierzig bin ich und wohne von heute auf morgen in einer WG mit Leuten, die mir fremd sind und fremd bleiben; mit einer Polin und einem – bitte entschuldige! – hilflosen Alten.
Bist schmal geworden, Vater, und bleich im Gesicht. Dein übergroßes Stirnbein lässt den Blick aber immer noch wie früher aussehen, als hättest du ein Dach über den Augen, einen Baldachin, unter dem deine Augen so merkwürdig zittern.
Agnieszka schläft meist in den Vormittag hinein. Zeit, die wir für uns haben. Und ganz ehrlich, unser Verhältnis war nie so gut wie jetzt. Wir beide haben noch nie so viel geredet miteinander wie in den letzten Wochen. Oder besser: ich mit dir. Ich führe ständig Selbstgespräche mit meinem Vater.
Und sonst? Der Kühlschrank ist immer gefüllt, die Rechnungen sind bezahlt. Es geht uns gut – solange nur deine Organe funktionieren. Das nenne ich Lebensqualität! Agnieszka räumt sogar auf. Zimmer, Küche, selbst im Bad ist alles in Ordnung, in perfekter Ordnung. Alles riecht gut. Immer frische Handtücher, Waschbecken und Spiegel – alles sauber! Und was ich schon lange nicht mehr hatte, aber das nur nebenbei, auf der Konsole: zwei Zahnbürsten. Allerdings in getrennten Bechern. Und nicht zu vergessen, die Gebissdose. Wofür brauchst du denn noch Zähne?
Tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber außer Nutrison hast du in den letzten Jahren nichts in den Magen bekommen. Wie war doch gleich das spanische Sprichwort? »Schlimm ist es zu lieben, ohne geliebt zu werden. Noch schlimmer ist es aber, scheißen zu müssen, ohne gegessen zu haben.« – Ein Elend aber auch.
Deine Passionszeit reicht weit zurück, deine wahre Leidensgeschichte aber hat erst vor gut sechs Wochen begonnen …
Silvester wie im Autokino. Zehn, zwölf Rollstühle standen bei euch im Halbkreis, die Bremsen angezogen. Darin deine Heimgenossen; alte Leute mit dünnen Haaren und dünnen Ärmchen starrten an die Wand, von der ihnen die Stimme im Flachbildschirm die große Show versprach: Ein bisschen Spaß muss sein! Prost und guten Rutsch!
Ah, der Herr Labitzke!, rief en passant die Lernschwester, war sehr in Eile. Keine Ahnung, wen von uns beiden sie gemeint hatte. Aber das war auch nicht so wichtig, ich spreche gerne für uns beide.
Forscher in Amerika wollen übrigens herausgefunden haben, dass es beim Altwerden drei Phasen gibt:
Phase 1: Wenn man es selber merkt.
Phase 2: Wenn es auch die anderen merken. Und zum Schluss:
Phase 3: Wenn es nur noch die anderen merken.
Aber das muss dich nicht interessieren; Atmung und Stoffwechsel sind in bester Ordnung. Außerdem bist du glücklich, dafür sorgen schon die Pillen. Glücklich ist, wer vergisst. Und du kannst wirklich von Glück reden, hast keinen Kummer, keine Schmerzen.
Ich sehe immer noch die alte Dame, wie sie am Silvesterabend mit dem Rollator gegen die Wand stieß. Ganz langsam. Und noch einmal. Und noch einmal. Auf einmal blickte sie hoch. Starrte mich an, als erwartete sie von mir, dass ich ihr die Tür aufhielte. Ich dachte nur: Was denn für eine Tür? Eine Wand ist dort, nichts weiter.
Mit der Serviette wischte ich dir den Speichel von den Bartstoppeln, fragte dich, ob du wieder zurück auf dein Zimmer wolltest. Doch dein Puls war ruhig. Also gut, dachte ich, dann bleiben wir.
Geblieben ist auch die Dame mit ihrem Rollator, mit dem sie wie in Zeitlupe gegen die Wand stieß, so als würde die sich gleich öffnen wie eine Glastür im Kaufhaus. Ein Pfleger nahm sich ihrer an: Kommen Sie, ich helfe Ihnen!
Gegen Mitternacht habe ich dich an die Fensterfront geschoben.
Feuerwerk! Und so bunt! Vater, wer weiß, wie oft wir beide noch Silvester feiern. Zusammen. Und wie oft du noch der Anlass sein wirst, den ich vor mir herschiebe, um etwa mit der bezaubernden Lernschwester ins Gespräch zu kommen …
Herzchen, Ihnen ein frohes und vor allem nichtbehindertes neues Jahr! – Ihnen auch, Herr Labitzke! Ihnen auch!
In den Wochen darauf ging bald nichts mehr. Das Pflegepersonal hat sich schon nicht um die Leute gekümmert, die noch klingeln und sagen konnten, wo sie der Schuh drückte. Oder derSchlauch.
Ganze Nächte hast du auf dem Harnausgang gelegen, dem neuen Schlauch. Miriam hat dann die Wunde entdeckt – erst gerochen, dann gesehen. Dabei hatte deine Tochter nur nachschauen wollen, ob sie dir wieder die Billigwindeln angelegt hatten. Und dann das! Ein blutender Striemen an deinem Becken, zehn Zentimeter oder elf. Die Wunde reichte tief ins Fleisch. Durch den Kot war alles noch schlimmer geworden. Das war keine Wunde mehr, das war ein Geschwür – ein Dekubitus. Nur wussten wir damals nicht, was das ist, ein Dekubitus. Hast ausgesehen, an der einen Stelle (und so gerochen), als wärst du schon zwei Monate tot. Oder auch länger. Warst am Verwesen, dein Hintern war ein Stück Leiche.
Die Schichtleiterin, so jovial und resolut wie immer, konnte sich das nicht erklären, verwies Miriam an den Arzt, der an dem Tag aber sehr beschäftigt war. Und auch all die Krankenschwestern hatten keinen Schimmer, wussten nicht, wie und warum die Frühschicht und all die Heerscharen von Praktikanten weder Wunde noch Gestank an dir bemerkt hatten.
Als die Heimleiterin dann Tage später zur Sprechstunde lud, war für uns schon alles gesagt.
Die Dame hat es dennoch versucht: Vertrauen, meinte sie, Vertrauen sei in ihrem Beruf von immenser Bedeutung. Und weiter: Ich denke, ich spreche im Namen aller, die sich hier im Hause engagieren, ohne Vertrauen ist alles, ist unser Engagement für den Nächsten, für den Menschen an sich, ohne Wert und ohne Sinn, ohne Vertrauen ist alle Mühe umsonst. Ja doch, eine solche Wunde passiere hin und wieder, Menschen machten Fehler, und wir alle seien nur Menschen …
Die Zeit verging. Wie hypnotisiert starrte ich auf den Füllfederhalter meiner Schwester. Der lag vor ihr auf dem Tisch. Keine Goldfeder, kein Montblanc, aber doch eine Art multifunktionales Schreibgerät.
Bevor wir ins Büro getreten waren, hatte Miriam mich beiseite genommen, hatte mir im Flüsterton zärtlich ihren Willen aufgezwungen (kennst sie ja), hatte erklärt, wenn ich gleich wissen wolle, was sie denke und vorhabe, möge ich auf den Füller achten, ob dieser waagerecht oder senkrecht vor ihr läge. (Mit solchen Codes and Signs kommuniziert sie in der Firma bei Verhandlungen mit Geschäftspartnern, ihre Sekretärin weiß dann immer Bescheid.) Also Obacht! Läge der Stift senkrecht vor ihr, hieße dies für mich: Lass die Frau reden. In der Waagerechten: Jetzt reden wir! Und sobald meine Schwester ihr Schreibgerät vom Tisch nehmen würde, wäre dies das Zeichen: Los, gehen wir! Hat keinen Sinn.
Und so kam es. Schon nach drei, vier Minuten sollte Miriam das Ding drehen. Die Heimleiterin referierte noch, als meine Schwester ihr ins Wort fiel: Hören Sie, für 4.500 Euro im Monat hat so etwas nicht zu passieren! Für das Geld einfach herumliegen, kann unser Vater auch zu Hause. – Ja, aber die Ergotherapeutin macht so großartige Fortschritte. – Unser Vater ist Selbstzahler. Kein Sozialamt und keine Innung geben da was hinzu. Rente, Pflegegeld und Witwergeld behalten alles Sie! Was wir für das Geld von Ihnen erwartet haben, meine Liebe, war, dass Sie unseren Vater unversehrt lassen!
Dass du kein Einzelzimmer hättest, sei’s drum. Dass sie dich hinter unserem Rücken duzten, bitteschön. Dass das Personal nicht jeden Tag Zeit habe, dich anzuziehen und in den Rollstuhl zu setzen, dich wenigstens ans geöffnete Fenster zu schieben, geschweige denn, mit dir den Park aufzusuchen, wenn es das Wetter erlaubt, all das ginge in Ordnung.
Aber, sagte Miriam und nahm erst ihren Kalender und dann den Stift vom Tisch der Heimleiterin, einen Dekubitus für 4.500 Euro, den kriegen wir woanders günstiger!
Frierst du? Wie viele Sachen willst du noch anziehen? Pullover, Mantel, Schal; reicht die Decke nicht?
Alle dachten, der Winter fällt dieses Jahr aus; wir haben Ende Februar. Wäre nicht das erste Mal, dass der Herbst bis in den April reicht. Seit gestern aber ist alles weiß. Bäume, Dächer und Gärten – alles. Über dem Barnim, der Endmoräne, über allem liegt Schnee, knöcheltief. Aber die Wege sind befahrbar. Komm …
Neuschnee knirscht unter Stiefeln und Rädern. Eine Ruhe liegt über dem Ort, wunderbar. Weiter hinten ist Kinderlärm zu hören. Keine Ahnung, zu wem die Kinder gehören. Drei Bengels werfen Schneebälle auf Autos, die der Glätte wegen im Schritttempo fahren müssen.
Wer weiß, wie lange der Schnee liegen bleibt. Alles geht vorbei. Und der Schnee von gestern wird der Regen von morgen sein.
Heute aber denkt hier niemand an morgen. Niemand hetzt. Ich schon gar nicht. Mein Bester! Lehn dich zurück – darin haben wir beide Übung: Ich schiebe dich durch den Ort, und wir halten es wie die Philosophen in den Arkaden, beim Umherwandeln sinnieren wir, suchen den Sinn des Lebens.
Woher kommen wir? Wohin gehen wir?
Aber nichtso. Vater, wie du wieder dasitzt! Erst müssen wir deinen Körper zurechtrücken. Hängst im Rollstuhl wie hingeschüttet. Ein Glück, dass Arm- und Rückenlehnen den Körper zusammenhalten. Und dann erst dein Kopf! Das schwere Haupt auf dünnem Hals. Und wie bleich du bist. Siehst nicht gut aus. – Aber man erkennt dich. Das große Stirnbein lässt deinen Blick wie früher aussehen, als hättest du ein Dach über den Augen.
Deine Augen flackern. Haste Angst? Musste nicht. Wovor denn? Ich passe auf. Dir wird nichts passieren. Nichts, was dir nicht schon passiert ist. Mein Lieber, wir gehen spazieren. Eine Stunde, nicht länger.
Am Kanal unten ist es am schönsten. Eine Luft haben wir dort, herrlich. Eine Luft, die noch nie geatmet wurde. Am Ufer zanken sich die Enten um die Brotstücke, die man ihnen hinwirft.
Nicht so die Kormorane. Die schauen auf uns herab wie im Sommer, in ihrer typischen Arroganz. Die scheißen auf Deutschland. Die gehören gar nicht hierher. Die Kormorane sind vom Winter überrascht worden. Hätten längst in den Süden ziehen müssen.
Eine Dame kommt uns entgegen, lächelt mich an, als müsste ich sie kennen. Ein paar Schritte noch. Nicht schon wieder. Bitte nicht.
Da ist ja der Herr Labitzke! Und wie er sich freut, der Herr Labitzke! Ach, der Herr Labitzke, wie schön!
Kennst du die Frau?
Sie greift und drückt und hätschelt deine Hand. – Wie geht es Ihnen, Herr Labitzke? – Sie schaut mich an und fragt: Kann er uns hören? Ohne meine Antwort abzuwarten, spricht sie wieder zu dir: Da freut er sich, der Herr Labitzke! Da freut er sich! Junger Mann, Sie werden Ihrem Vater immer ähnlicher. Er hat früher viel von Ihnen erzählt, von Ihnen und Ihrer Schwester Miriam. Sie beide können von Glück reden, einen solchen Vater zu haben. – Oh, ja. Herrgott, ich platze vor Glück.
An Tagen wie diesen ähnelt Schehrsdorf solchen Vorortsiedlungen in Amerika, in denen es nur Häuserreihen gibt und Vorgärten, aber kaum Spaziergänger. Doch schon ein paar Straßenzüge weiter haben wir die Bronx: Die Werkhallen stehen seit Langem leer. An den Fassaden sieht man Graffitis; kaum ein Fenster, das noch Glas im Rahmen hat. Die Steine zum Einwerfen wurden aus dem Schotter gerissen. Zu dumm nur, dass hier inzwischen wieder mehr Autos fahren – zum Parkplatz neben dem Haupttor, wo jetzt ein Discountmarkt steht und gleich daneben ein Baumarkt. Hier spricht der Preis! 20 Prozent auf alles – außer Tiernahrung. Wegen der Nähe zur Autobahnabfahrt soll noch ein Möbelhaus her.
Aber das und alles andere braucht uns nicht zu kümmern, denn du bist ja bald wieder im Heim. Miriam hat deinen Namen bereits auf eine Liste setzen lassen, bei einer Pflegeheimkette in der Uckermark. Die Gegend wird dir gefallen: viel Wald und ein paar herrliche Seen – unser beider WG mit Agnieszka wird dann vorbei sein, eine Erinnerung, die du schon jetzt vergessen hast. Und sollte wider Erwarten unsere Heimsuchung länger dauern, Vater, wir haben Zeit.
Und du weißt doch: Die Zeit heilt alle Wunden. Wir haben Zeit und deine Rente. Zwei Männer, ein Konto – das schweißt zusammen. Aber das meine ich nicht, wenn ich sage, wir haben Zeit.
Ichhabe Zeit. Ich spiele nicht mehr mit beim Stuhltanz, bei der Reise nach Jerusalem. Selbst wenn alle Kinder fröhlich im gleichen Tempo im Kreis laufen, will sagen: Selbst wenn alle Kinder die gleichen Fähigkeiten besitzen, wenn sie alle erfolgreich studiert haben, zig Praktika vorweisen können, attraktiv und engagiert sind, es gibt nie genug Stühle – aber offenbar immer genug Idioten. Und ich? Ich laufe nicht mehr mit. So einfach ist das. Ich laufe nicht mehr mit. Punkt. Ich bin draußen.
Was ist denn los? Zitterst ja richtig. Ist dir wirklich kalt? Bist du müde? Ein Stück noch, ja?
Der Eisenbahner ist geschlossen und im Brandenburger Hof sind die Bierpreise ins nahezu Unermessliche gestiegen – ein Großes vom Hahn für dreifünfzig!
Zu deiner Zeit hätte es das nicht gegeben. Bier und Brot waren immer billig. Die wunderbaren Jahre waren das.
Heute suchen viele die Tankstelle auf, hinter der Abfahrt zur A10. Warum auch nicht? Der Laden ist gar nicht so übel, und außerdem barrierefrei; ich kann dich mitnehmen! Hier gibt es so gut wie alles zu erstehen – Bockwurst, Bier, Buletten, jetzt im Winter sogar Grog, nur leider eben zuerstehen. Mit Stühlen haben sie es nicht so, aber es tanzt auch keiner im Kreis.
Das Publikum an den Stehtischen ist überschaubar: Arbeitslose, die früher mal gearbeitet haben, manche auch länger; Arbeitslose, die noch nie gearbeitet haben; und zum späten Nachmittag dann Arbeitslose, die leider arbeiten müssen, für ein paar Euro vom Amt. Und dann noch wir beide, Vater.
Hier an der Tankstelle erfahren wir die letzten Nachrichten aus Schehrsdorf – wie im Radio früher nach dem Wetterbericht die Wasserstände und Tauchtiefen. Die haben auch keinen interessiert, wurden aber gesendet. – Das war so ein geflügeltes Wort: Hey Kollege, hat man gesagt, dein Gerede interessiert mich wie die Wasserstandsmeldung!
Der sprichwörtliche Pegel wird dann auch gerne überschritten. Und alle glotzen sie, wenn ich dich in den Verkaufsraum schiebe: der Bürgermeister!
Guten Tag, Herr Labitzke!, sagt die Frau an der Kasse. Wie geht es Ihnen? Und dem Herrn Sohn? – Bestens, sage ich. Uns geht es gut. Und kaum habe ich ein Bier gekauft, die haben sogar Astra, höre ich es von den billigen Plätzen: Hey, du musst noch fahren! – Ach ja? Muss ich das?
Sisyphos hatte noch einen Felsbrocken hochzurollen, wieder und wieder; ich dagegen habe nur deinen Rollstuhl zu schieben. Wobei ich dich nicht als Strafe empfinde, eher als Prüfung. Eine Prüfung, die wir beide bestehen werden. Die paar Wochen werden wir schon durchhalten und für den Erhalt deiner Körperfunktionen sorgen. Auf dein Gewicht werden wir achten, deinen Kreislauf und deine Kleidung.
Nicht doch! Ich bin nicht schizophren, ich habe ja keine gespaltene Persönlichkeit, ich habe einefusionierte. Ich bin gleichzeitig ich und du. Ergo: Ich bin wir. Und ohne Mütze und Schal verlassen wir zwei nie das Haus. Egal, ob Rotz oder Spucke, was auch immer dir, lieber Vater, oder uns, im Gesicht klebt und hängt, wir wischen es ab.
Und wenn die unzähligen Jammergeschichten – die ostdeutschen – mich langweilen, trennen wir uns für einen Moment. Dann suche ich die Toilette auf und gebe mich den nasalen Freuden hin. Ich lasse es kurz schneien. An dem Punkt bin ich wie du, Vater, linientreu, absolut. Und schon sieht die Welt besser aus. Oder sie fühlt sich besser an.
Für gewisse Fragen verlange ich in Zukunft fünf Euro: Kann er uns hören? Und: Kann er uns sehen?
Der eine am Tisch (ein Albert?) sagt, er sei früher dein Fahrer gewesen. Aber ich müsste ihn doch noch kennen?
Solche Ansagen hören wir öfter. Du ahnst gar nicht, wie viele Leute sich deiner erinnern. Wenn wir unterwegs sind, sprechen dich manche sogar direkt an, beugen sich zu dir herunter: Wie? Geht? Es? Ihnen?
Andere werden laut, als wärst du schwerhörig: Wieee? Geeheeet? Es Ihnen????!
Und eine Frage kommt ganz bestimmt: Geht es ihm gut?
Ich sage dann immer, dass du anwesend seiest, im Rollstuhl direkt vor ihnen sitzest, sie also gefälligst nicht in der dritten Person über dich reden sollten. Und außerdem: Was heißt schon gut gehen?
Es geht dir nicht schlecht. Du frierst nicht, und du hast keine Schmerzen. Die Forschung ist da heute schon sehr weit. Und ich achte darauf, dass die Ärzte dir keinen Mist andrehen. Kannst mir glauben, Vater, ich gebe dir keine Medikamente, die ich nicht selbst auch nehme.
Noch ’n Astra, ja? Danke schön, meine Liebe! Herzlichen Dank!
Was gibt’s?, sage ich zu den Jungs am Tisch. Wir haben Winter? Nicht zu fassen. Winter im Februar, was es nicht gibt!
Unsere Ex-Proletarier greifen das Thema auf: Hey, am Kanal unten herrscht eine Unruhe! Und ich: Haubentaucher und Kormorane sind von der Kälte überrascht worden, hatten sich wohl gedacht: Warum sollen wir in den Süden? Wir bleiben hier. – Darauf die anderen: Das sind Schmarotzer. Oh, die Zugvögel! – Prost, sage ich. Aber ich sage auch: Die Haubentaucher gingen ja noch, die wären friedlich. Die Haubentaucher wären auch bereit, sich am Ufer integrieren zu lassen. Aber der Kormoran! Dieser schwarzgefiederte Sonderling! Plündert unsere Gewässer im Sturzflug! – Allgemeines Nicken in der Runde als Zeichen der Zustimmung. – Oh, diese Kormorane! Wir haben kaum genug Fressen für unsere einheimischen Vögel! – Kriminelle Kormorane raus! – Noch ’n Bier? – Na, eins noch. Aber dann ist auch genug, ich muss noch schieben.
Ich hab es immer noch drauf, gelernt ist gelernt:
Es geht durch die Nacht, die Nacht ist kalt,
Der Fahrer bremst, sie halten im Wald.
Zehn Mann geheimer Staatspolizei.
Vier Kommunisten sitzen dabei,
John Schehr und Genossen …
Als du noch Bürgermeister warst, durften diese Zeilen in keinem Schaukasten fehlen, bei keinem Pioniernachmittag und bei keiner Jugendweihe. Als wir, meine Schulklasse und damit auch ich, mit vierzehn feierlich in die Reihen der Erwachsenen aufgenommen wurden, hat man uns auf John Schehr eingeschworen. Leben, arbeiten und kämpfen sollten wir – für John Schehr und Genossen!
Und dennoch lebten schon damals in Schehrsdorf Menschen, die meinten, er habe nie existiert. In der Tat: Auch ich kenne keine Bücher, keine Schriften von John Schehr. Nie habe ich eine Tonaufnahme von John Schehr gehört oder ihn, den berühmten Arbeiterführer, in etwaigen Dokumentarfilmen bewundern dürfen. Sein Leben und Kampf wurde uns Kindern allein durch Fotos bezeugt, durch Berichte der Lehrer, die ihn aber auch nicht gekannt, ihn nie persönlich getroffen hatten.
Manchmal standen beim Fahnenappell vorne zwei alte Männer, Veteranen des Widerstands, die vorgaben, mit John Schehr gekämpft und gelitten zu haben. Aber das konnte jeder behaupten. Die Leute im Ort sagten: Mag sein, dass da irgendwann mal ein Arbeiter den Namen John Schehr trug – in jeder Legende steckt ja ein Körnchen Wahrheit, und manchmal auch im Auge, das man dann besser nicht zu sehr reiben sollte.
Wie war das denn mit der Wahrheit? In der Schule wollten sie immer das Gleiche hören: John Schehr: Wie er wurde, was er war. Kurzes Leben, langer Tod. Leicht auswendig zu lernen.
John Schehr hatte den großen Lenin nicht gekannt, ihn aber studiert. Und er war Teddy Thälmanns treuester Kampfgefährte.
Damals waren wir noch Thälmannpioniere, und Teddys Freunde waren unsere Freunde. In der siebten, achten Klasse aber ließ die Freundschaft nach, hat die Legende gelangweilt. Die Langeweile ging so weit, dass wir bei den obligatorischen Lippenbekenntnissen die Lippen nur noch bewegt haben! Wenn etwa am 1. Mai auf dem Platz vor dem Rathaus die offizielle Hymne gespielt wurde, »Auferstanden aus Ruinen«, haben wir in Gedanken jenes Loblied gesungen, das seit langer Zeit keinen Text mehr hatte, außer in Schehrsdorf.
Goodbye Johnny, goodbye Johnny!
Warst mein bester Freund.
Eines Tages, eines Tages
Sind wir wieder vereint!
Hinter Musik marschiert es sich am besten.
Weil die Faschisten und Kriegstreiber John Schehr ermordet hatten, mussten die Pläne erfüllt werden! Meine Hand für mein Produkt! Planerfüllung ist Arbeiterehre! Mit jeder Arbeitsstunde, jedem Gramm Material einen höheren Nutzeffekt! Mein Arbeitsplatz: Kampfplatz für den Frieden! Und deshalb wählen wir die Kandidaten der Nationalen Front! Heraus ihr Massen! Mit dem Volk für das Volk! Und vor allem: Für John Schehr!
Heute sehen die Plakate im Ort ein wenig anders aus, eine Nationale Front gibt es aber immer noch beziehungsweise schon wieder, wenn auch nicht mit 99 Prozent der Stimmen. Aber wer weiß, was noch kommt. Gott sei Dank nicht in den nächsten Jahren, die Kommunalwahl ist gerade vorbei. Jetzt müssen hier nur noch die Nazi-Plakate weg.
Schehrsdorf, die Stadt, die keine ist, sieht auf der Landkarte aus, als hätte sich der Kreis Märkisch-Oderland einen Dorn eingetreten; einen Dorn am Rand der Endmoräne. Unser schönes Schehrsdorf ist in die Jahre gekommen – ein halbes Jahrhundert! Dieses Jahr irgendwann werden sie das Spektakel begehen, die ganz große Festivität mit Rummelplatz und Feierstunde. In ein paar Monaten soll es so weit sein: der fünfzigste Geburtstag!
Im Bezirk Frankfurt (Oder) gegründet, ist unser Ort sogar älter als das Bundesland Brandenburg. Früher war Schehrsdorf das größte Dorf der Deutschen Demokratischen Republik. Allerdings: Von einem »Dorf« war nie die Rede. Und jetzt fehlt auch noch die DDR.
Deine alten Freunde und Genossen sind ebenfalls weg – verzogen, verstorben, wer weiß? Wir beide aber, lieber Vater, wir sind hier; hier und jetzt.
Und jetzt im Schnee sieht manches aus wie früher. Nimm nur die alte Problemzone, die Straße vom Bahnhof zum Kanal – heute asphaltiert, in den Achtzigern noch gepflastert –, sie schaut aus wie damals, als die Winter noch richtig kalt waren und lang. Ein paar Meter noch, und dann sehen wir, wie die Zeit vergangen ist. Von Weitem grüßt der gläserne Neubau, das Christliche Gebetszentrum Schehrsdorf. Und auch hier ist alles eingeschneit, alles weiß. Und alles kalt.
Zu deiner Erinnerung: Im Ort hatten wir nie eine Kirche, jedenfalls keine richtige. Eine kleine Schar von Protestanten hat sich jahrelang in einer Baracke der Meditation hingegeben, bei uns in der Platanenallee, dort, wo dann später eine schwedische Holzkirche hingestellt wurde (ein Geschenk der Ökumenischen Nothilfe). – Die meisten Menschen in Schehrsdorf aber haben Gott nicht gebraucht.
Und daran hat sich auch nichts geändert, nur dass heute auf dem alten Werksgelände dieses neue Haus steht, mit riesigen Fensterfassaden, geradezu futuristisch, ein Kirchenraumschiff mit metaphysischem Airport. Das Bodenpersonal wirst du noch früh genug kennenlernen, die selbsternannten Jesus-People. Die wohnen alle nicht in Schehrsdorf, die beten hier nur, kommen sonntags zum Gottesdienst her. Wie Gespenster. Man sieht sie, und man hört sie, jede Begegnung aber wird gemieden. Die interessieren keinen. Andere Leute haben einen Schrebergarten vor der Stadt – die hier leisten sich ein Gebetszentrum. Auch gut. Zur Erholung am Wochenende arbeiten sie im Weinberg des Herrn. Das Bauland hier war wohl sehr günstig. Dann noch die Nähe zur A10, in einer halben Stunde sind sie wieder in Berlin und manche von ihnen auch gleich im Flieger.
Denen geht’s wie uns: Die Jesus-People haben alle zu viel Zeit. So ähnlich schreiben sie es auch auf ihre Zettel, die sie immer am Bahnhof verteilen. Irgendwas mit: Wir haben Zeit. Unsere Lebenserwartung ist länger, reicht bis in den Himmel. Hosianna! – Die Jüngeren von denen sehen aus wie eine Mischung aus Punk und Mickey-Mouse, werfen einem dauernd Flyer in den Briefkasten – eine Einladung zum »Jesus-Abhängabend« oder zu »Schöpfung vor 6.000 Jahren«, einem Vortrag mit Fragezeichen.
Wie wär’s? Gehen wir dort mal hin, Genosse Labitzke?
Anfrage an Radio Eriwan: Kann man eigentlich beides zugleich sein, Kommunist und Christ? Antwort: Im Prinzip ja, aber warum sich das Leben doppelt schwer machen?
Und weiter geht’s, ich schiebe. Das Haus mit den Schmierereien am Bahnübergang, siehst du das? Aus dem Kino haben sie jetzt eine Spielhalle gemacht. Hat sich nicht mehr gerechnet, Blockbuster vorzuführen für zehn, zwölf Mann am Abend – wenn denn so viele gekommen sind.
In den Achtzigern hatten wir hier unseren Proberaum. Unsere Band Atrocity Exhibition – mit FDJ-Lizenz: Mittelstufe, nicht zu verwechseln mit Mittelmaß. Mittelstufe hat nicht jeder geschafft, da bin ich heute noch stolz drauf.
Wie alt werden wir gewesen sein? Siebzehn, achtzehn. Irgendwo habe ich noch eine Kiste rumliegen mit Demokassetten. Garagen-Rock aus dem Kinokeller: düster, laut, humorlos und mit englischen Texten oder solchen, die englisch klingen, also mit Satzfetzen, die jeder kannte: Here you are!; Be strong!; Going through the streets. Und nicht zu vergessen: Love will tear us apart. Das Ganze mit ordentlich yeah, yeah, yeah und Stromgitarre drauf. That’s Rock ’n’ Roll! Wobei der Bass viel wichtiger war. Schade, dass ich keinen Rekorder mehr besitze, kein Tapedeck.