Wednesday – Romanfassung zur ersten Staffel - Tehlor Kay Mejia - E-Book

Wednesday – Romanfassung zur ersten Staffel E-Book

Tehlor Kay Mejia

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Beschreibung

Kehre mit Wednesday Addams in die heiligen Hallen der Nevermore Academy zurück – in dieser herrlich düsteren Romanfassung der ersten Staffel der Erfolgsserie Wednesday!

»Wednesday« ist ein detektivischer, übernatürlich angehauchter Mysteryroman, der Wednesday Addams' Zeit als Schülerin an der Nevermore Academy nachzeichnet. Begleite sie, während sie versucht, ihre aufkommenden übersinnlichen Fähigkeiten zu meistern, eine ungeheuerliche Mordserie zu vereiteln, die die Stadt in Angst und Schrecken versetzt, und das übernatürliche Geheimnis zu lösen, in das ihre Eltern vor 25 Jahren verwickelt waren – und das alles, während sie sich in ihren neuen und sehr verworrenen Beziehungen an der Nevermore Academy zurechtfinden muss. Erlebe die Spannung und die Intrigen der phänomenalen ersten Staffel in dieser fantastischen Romanfassung noch einmal.

Basierend auf den von Charles Addams geschaffenen Charakteren.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 517

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Wednesday

Die Romanfassung zur ersten Staffel

Aus dem Englischen von Anja Galić und Katarina Ganslandt

Adaptiert von Tehlor Kay Mejia

Basierend auf den Episoden der ersten Staffel von Wednesday

Geschrieben von Alfred Gough & Miles Millar (Episoden 101, 102, 108) Kayla Alpert (Episoden 103, 104) April Blair (Episoden 105, 106) Alfred Gough & Miles Millar und Matt Lambert (Episode 107)

Serie entwickelt von Alfred Gough & Miles Millar

Basierend auf den von Charles Addams geschaffenen Charakteren.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

WEDNESDAY © 2022 – 2025 MGM Television Entertainment Inc. WEDNESDAYis a trademark of Tee & Charles Addams Foundation. Wednesday: A Novelization of Season One © 2024 Metro-Goldwyn-Mayer Studios Inc.

All Rights Reserved.

METRO-GOLDWYN-MAYER is a trademark of Metro-Goldwyn-Mayer Lion Corp. © 2025 Metro-Goldwyn-Mayer Studios Inc. All Rights Reserved.

Erstmals als cbt Taschenbuch August 2025

2025 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag in der

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»Wednesday: A Novelization of Season One« bei Random House Children’s Books, a division of Penguin Random House LLC, New York.

Aus dem Englischen von Anja Galić und Katarina Ganslandt

Lekorat: Stefanie Rahnfeld

Covergestaltung: Geviert GbR, Grafik & Typografie, unter Verwendung des Covermotivs von Marcela Bolívar und des Coverdesigns von Mike Meskin

sh · Herstellung: DiMo

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-33069-9V002

www.cbj-verlag.de

Verfasst am Schreibtisch von Wednesday Addams

Ihr könnt jeden beliebigen Problemschüler fragen, wie toll er oder sie es findet, innerhalb von fünf Jahren zum achten Mal die Schule wechseln zu müssen, und würdet jedes Mal die gleiche Antwort bekommen. Ich bin da keine Ausnahme. Wobei ich anmerken möchte, dass die Gründe für meine Schulverweise ganz bestimmt um einiges origineller waren als die von normalen Schultyrannen (genau wie mein Repertoire an Einschüchterungsmethoden). Fakt ist, dass meine Laune an jenem Herbsttag, an dem wir zur Nevermore Academy – dem ehemaligen Internat meiner Eltern – fuhren, sogar weit unter dem absoluten Nullpunkt war. Ich war der festen Überzeugung, dass jede Schule, die eine so überhebliche und von sich selbst überzeugte Frau wie meine Mutter oder ein so liebeskrank aufeinander fixiertes Paar wie meine Eltern hervorgebracht hat, von mir um jeden Preis gemieden werden sollte.

Aber wie euch alle brillanten Kriminalisten bestätigen werden, ist es wichtig, einen Irrtum eingestehen zu können. Und ich muss zugeben, dass ich mich, was die Nevermore Academy angeht, in Bezug auf so ziemlich alles geirrt hatte. Zu meiner Verteidigung möchte ich sagen, dass ja wohl kaum damit zu rechnen war, dass sich an einer Schule, die vor allem als Auffanglager für lahme Außenseiter und Sonderlinge bekannt ist, ein so dermaßen verzwickter und rätselhafter Fall ereignen würde, dass seine Auflösung selbst mich erstaunte.

Wenn ich die Zeit zurückdrehen und meinem jüngeren, naiveren Ich etwas über das erzählen könnte, was dahintersteckte … würde ich es wahrscheinlich nicht tun. Unvermutet über uns hereinbrechende Todesgefahr gehört schließlich zu den wenigen Dingen, die das Leben spannend machen, und ich weiß, dass die Wednesday von damals es mir übel genommen hätte, wenn ich ihr die Überraschung verdorben hätte.

Also lest die Geschichte lieber von Anfang an, um höchstpersönlich mitzuverfolgen, wie ich, Wednesday Addams, an einem Ort, an dem ich es als Allerletztes vermutet hätte, ein Zuhause und eine Bestimmung gefunden habe. Und keine Sorge, das hier wird bestimmt keine Wohlfühlgeschichte. Bücher, in denen sich nicht mindestens fünf bestialische Morde ereignen, sind meiner Meinung nach so öde, dass sie gar nicht erst geschrieben werden sollten.

Kapitel 1

Ein paar Monate vorher …

Meine Eltern sind auf der Rückbank mir gegenüber damit beschäftigt, sich wieder mal leidenschaftlich zu küssen. Sehr praktisch, dass wir sowieso schon in einem Leichenwagen sitzen, weil ich dieses Schauspiel ganz sicher nicht mehr lange überleben werde. Todesursache: Ekel.

Wobei mir ein tief in der Erde vergrabener Sarg deutlich lieber wäre als der Ort, an dem ich gleich abgeliefert werde. Nevermore Academy. Von frühester Kindheit an habe ich mir geschworen, niemals auch nur einen Fuß in diese Schule zu setzen. Ich lehne alles grundsätzlich ab, was Tränen der Rührung in den Augen meines Vaters hervorruft – einschließlich meiner Mutter, die sich jetzt von seinen Lippen losreißt und ihren herrischen Blick auf mich richtet.

»Darling, wie lange willst du uns noch die kalte Schulter zeigen?«

»Lurch«, sage ich mit gelangweilter Stimme und ohne den Blick vom Fenster abzuwenden, zu unserem riesenhaften Butler, der am Steuer sitzt.

»Bitte erinnern Sie meine Eltern daran, dass ich nicht mehr mit ihnen rede.« Seit unserer Abfahrt heute Morgen habe ich kein Wort mehr mit den beiden gewechselt.

Lurch gibt ein dumpfes Knurren von sich, wie es seine Art ist. Mein Vater ignoriert den warnenden Unterton darin, obwohl er ihn bestimmt auch bemerkt hat. »Ich verspreche dir, meine kleine Giftschlange, du wirst Nevermore lieben. Nicht wahr, Tish?« Er ist unfähig, eine Meinung zu vertreten, die nicht auch von meiner Mutter geteilt wird, was komplett unnatürlich ist und meinen Ekel nur noch verstärkt.

»Aber natürlich«, erwidert meine Mutter. »Nevermore ist die perfekte Schule für sie.«

Meine ohnehin schon extrem angespannten Nerven sind kurz davor, zu zerreißen. Ich hasse abgeschmackte Klischees, aber es gibt bestimmte pubertäre Erfahrungen, die einfach allgemeingültig sind. Jedenfalls macht mich nichts aggressiver, als von meiner Mutter gesagt zu bekommen, was gut für mich ist.

»Ach ja?«, bricht es gegen meinen Willen aus mir heraus. »Und warum? Weil es die perfekte Schule für dich war?«

Sie lächelt nur selbstgefällig, so als wäre ihre Einschätzung der Dinge immer und objektiv richtig. Auf mich wirkt dieses wissende Lächeln wie ein Köder.

Und natürlich beiße ich an. Was mich noch wütender macht – auf sie und auch auf mich selbst.

»Ich habe kein Interesse daran, in deine Fußstapfen zu treten. Ich will weder Kapitänin des Fechtteams werden noch Königin des Dunklen Balls oder Präsidentin der Séance-Gesellschaft«, leiere ich die Liste ihrer Erfolge mit so viel Verachtung wie möglich herunter.

Das überhebliche Lächeln meiner Mutter vertieft sich nur.

»Ich meinte damit, dass du endlich Mitschüler in deinem Alter haben wirst, die dich verstehen«, sagt sie. »Vielleicht findest du ja sogar ein paar Freunde.«

Diesmal bin ich diejenige, die darauf nichts sagt. Meiner Erfahrung nach – und soweit ich weiß, sehen Psychologen das auch so – erfordern Jugendfreundschaften, dass man seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe erklären muss, woran ich noch nie interessiert war. Erst recht nicht, wenn es eine Gruppe ist, der meine Eltern früher mal angehört haben.

Abgesehen davon bezweifle ich stark, dass meine Mutter jemals so etwas wie Freunde hatte. Höchstens so etwas wie eine Gefolgschaft. Speichellecker. Also das, was sie seit meiner Geburt aus mir zu machen versucht.

»Gegen Nevermore verblasst jedes andere Internat. Es ist ein wahrhaft magischer Ort. Dort hab ich deine Mutter kennengelernt.« Mein Vater sieht sie hingerissen an, was mein vernichtendes Urteil über ihn nur bestätigt. »Dort haben wir uns ineinander verliebt.«

Man sollte meinen, ich wäre an seinen schmachtenden Gesichtsausdruck gewöhnt und daran, wie er nach ihrer Hand greift und aufseufzt, als würde der Wagen von dem Kohlendioxidausstoß aus seinem Mund angetrieben und nicht von fossilen Brennstoffen, deren Emission unseren Planeten und alle Lebewesen darauf in alarmierender Geschwindigkeit der totalen Auslöschung entgegentreibt.

Ich weiß, dass es völlig sinnlos ist, meinen Eltern irgendetwas entgegensetzen zu wollen. Selbst perfektestens ausformulierte messerscharfe Einwände prallen wirkungslos an ihnen ab. Stattdessen sehe ich weiter aus dem Fenster und tröste mich mit der Erinnerung an den letzten Moment in meinem Leben, der mir inneren Frieden und Genugtuung geschenkt hat.

Ich bilde mir fast ein, den billigen Linoleumboden der Nancy Reagan Highschool unter den Sohlen meiner Mary Janes quietschen zu hören. Zu sehen, wie ich den Spind öffne, aus dem mir mein jüngerer Bruder entgegenfällt, gefesselt, rot im Gesicht und zutiefst gedemütigt, einen Apfel zwischen die Kiefer gerammt. Als ich ihn am Arm berührte, passierte es. Eine Vision. Ein jähes Aufblitzen von Vergangenem oder Zukünftigem, das die Herrschaft über meine Synapsen übernahm. Das Gefühl ist schwer zu erklären. Wie eine Elektroschocktherapie, nur ohne das befriedigende Nachbrennen.

Die Visionen plagen mich jetzt schon seit einigen Monaten. Aber in diesem Moment sah ich wenigstens etwas, auf das ich reagieren konnte: die Visagen der Bullys, die meinen Bruder gefoltert hatten. Mein Racheplan war schnell gefasst. Allerdings brauchte ich ein paar Tage, um die Piranhas zu organisieren. Der Verkäufer im Fachgeschäft für exotische Tiere stellte sich zunächst stur, aber als ich ihm ein paar Schnappschüsse von ihm und seiner aktuellen Geliebten präsentierte, hatte er plötzlich keinerlei Bedenken mehr, mir die Fische zu verkaufen.

Die Erinnerung an das, was ich sah, als ich während des Wasserpolo-Trainings am Rand des Schwimmbeckens stand, gibt mir die nötige Kraft, um bis zur Einfahrt der Nevermore Academy durchzuhalten: wie sich der spöttische Blick in den Augen der Widerlinge in nackte Panik verwandelte. Wie die stromlinienförmigen, silbrig glitzernden Fische durch das gechlorte Wasser glitten und sich mit instinktiver Zielstrebigkeit umgehend in die Kronjuwelen verbissen.

Ich werde niemals vergessen, wie wunderschön das Rot des Bluts mit dem Blau des Wassers kontrastierte und die Schmerzensschreie durch die Schwimmhalle gellten. Übrigens wirklich eine erstklassige Akustik dort. Besser hätte man es nicht inszenieren können.

Zu meinem Bedauern haben alle überlebt. Das einzig Gute ist, dass die Eltern mich nicht wegen versuchten Mordes angezeigt haben. Schreckliche Vorstellung, dass sonst für den Rest meines Lebens jeder, der sich meine Polizeiakte angesehen hätte, sofort erkannt hätte, dass ich den Job vermasselt hatte.

Kapitel 2

Das Büro der Direktorin von Nevermore verströmt genau die akademische Wichtigtuerei, die ich am allermeisten hasse. Dicke Wälzer in den Regalen, Ledersessel, poliertes Mahagoni und Bronzedekor. Es ist die Art von Raum, in dem sich dumme Menschen intelligent fühlen und intelligente Menschen am liebsten erbrechen möchten.

Ich sitze zwischen meinen Eltern in einem der Ledersessel, während die Schulleiterin mit gequälter Miene in meiner Akte blättert. Ich nehme an, dass sie meine Zeugnisse enthält und wahrscheinlich zusätzlich Warnungen ehemaliger Lehrer und Schulpsychologen.

»Wednesday – was für ein einzigartiger Name«, sagt Direktorin Weems schließlich, weil das wahrscheinlich noch das Harmloseste ist, was man zu meiner Person bemerken kann. »Heißt das, du wurdest an einem Mittwoch geboren?«

»Nein, an einem Freitag, den Dreizehnten«, antworte ich und sehe sie durchdringend an, um ihr zu zeigen, dass das genau das bedeutet, was sie befürchtet.

»Ihr Name«, mischt sich meine Mutter mit beruhigender Stimme ein, »stammt aus einer Zeile meines Lieblingskinderreims. Das Mittwochskind ist voller Leid.«

Das einzige Mal, dass sie wirklich verstanden hat, wer ich bin, denke ich.

»Du hattest ja immer schon eine einzigartige Sicht auf die Welt, Morticia«, sagt die Direktorin. Sie sieht mich an. »Hat deine Mutter dir erzählt, dass wir uns damals ein Zimmer geteilt haben?«

Ach? Auf einmal sehe ich in Ms Larissa Weems nicht mehr nur irgendeine x-beliebige Schulleiterin. Ich versuche, sie mir als junges Mädchen vorzustellen. Ob sie immer schon so spießig und steif war? Jedenfalls kann sie nicht sonderlich beliebt gewesen sein, wenn sie jetzt hier arbeitet. Die Schüler, die zur In-Gruppe gehören, kehren erfahrungsgemäß selten an den Ort ihrer Verbrechen zurück.

Also hat sie wahrscheinlich etwas nachzuholen. Und obwohl sie mit meiner Mutter zusammengewohnt hat, wirkt sie nicht wie eine ihrer ehemaligen Bewunderinnen, was bedeutet, dass sie damals gegen den legendären Morticia-Addams-Charme relativ immun gewesen sein muss. Womöglich kann ich von dieser Frau sogar noch etwas lernen. Nicht dass ich ihr die Genugtuung geben werde, diesen Gedanken auszusprechen.

»Beeindruckend«, sage ich stattdessen kühl.

»Was genau?«, fragt sie höflich.

»Dass Sie es geschafft haben, darüber nicht den Verstand zu verlieren.«

Bilde ich es mir nur ein oder sieht sie mich plötzlich auch mit neu erwachtem Interesse an? Falls ja, ist sie klug genug, den Blick abzuwenden, bevor meine Mutter ihn bemerkt.

»Deine schulische Laufbahn wirft allerdings noch Fragen auf.« Sie vertieft sich wieder in meine Akte. »Acht Schulen innerhalb von fünf Jahren und jeder Aufenthalt endete mit einem … Vorfall.«

»Ich bin eine überzeugte Verfechterin von Selbstjustiz«, erkläre ich.

Statt auf meine Bemerkung einzugehen, sagt sie: »Nevermore nimmt zum Halbjahr normalerweise keine Schüler auf, aber du hast ausgezeichnete Noten, und deine Familie ist schon seit langer Zeit eng mit unserem Internat verbunden. Wir konnten beobachten, dass viele Schüler hier aufleben, nachdem man ihnen an anderen schulischen Einrichtungen nicht wirklich gerecht werden konnte. Ich habe mit dem Vorstand gesprochen, und wir sind bereit, eine Ausnahme zu machen, weil wir hoffen, dass das auch bei dir der Fall sein wird.«

»Die Schule, die mir gerecht werden kann, ist noch nicht gebaut worden«, entgegne ich. »Oder die mich halten kann. Ich kann mir kaum vorstellen, dass das diesmal anders sein wird.«

»Ich glaube, unsere Tochter möchte damit ausdrücken«, mein Vater wirft einen scharfen Blick in meine Richtung, »dass sie diese Chance wirklich sehr zu schätzen weiß.«

»Richtig«, stimmt meine Mutter ihm zu. »Sie wird sich als absolute Musterschülerin erweisen und natürlich regelmäßig an den gerichtlich angeordneten Therapiesitzungen teilnehmen.«

»Ah ja. Das bringt mich zu unserem nächsten Punkt«, sagt Weems. »Viele unserer Schüler und Schülerinnen benötigen psychologische Unterstützung. Wir haben eine ausgezeichnete Jugendtherapeutin in Jericho, bei der Wednesday zweimal pro Woche eine Sitzung bekommen könnte.«

Bei dieser Vorstellung zieht sich mein Magen zusammen. Nach den letzten sieben Schulverweisen konnte ich es noch verhindern, therapeutisch behandelt zu werden, aber diesmal hieß es: entweder Therapie oder Jugendgefängnis. Zu schade, dass das Gericht die Entscheidung meinen Eltern überlassen hat. Ich fand Streifen eigentlich immer schon ziemlich kleidsam.

»Mal sehen, ob Ihre Therapeutin die erste Sitzung überlebt«, sage ich.

Weems zuckt nicht mal mit der Wimper. Offensichtlich braucht es mehr als ein paar markige Sprüche, um sie abzuschrecken. Na schön, dann werde ich mir eben ein bisschen Mühe geben müssen, aber ich liebe Herausforderungen. Ich werde herausfinden, was ihre größte Angst ist, und dieses Wissen anwenden, bevor ich mich aus dem Staub mache. Falls ich dafür vorher noch die nötige Zeit finde.

Direktorin Weems steht auf. Sie ist erstaunlich groß. Viel größer, als ich erwartet hätte. Sie und meine Mutter wirken gegen mich wie Riesinnen, und ich verfluche die Gene meines Vaters, die dafür gesorgt haben, dass ich klein geblieben bin.

»Du wohnst im selben Wohnheim wie deine Mutter«, sagt sie in einem Tonfall, der aus der Höhe, aus der sie jetzt zu mir herabspricht, noch strenger klingt. »Ophelia Hall.«

Meine Mutter holt begeistert Luft und klatscht in die Hände. Ich hasse Ophelia Hall, bevor ich das Zimmer auch nur gesehen habe.

Als wir kurz darauf durch das Schulgebäude gehen und vor einem Zimmer haltmachen, von dem ich annehme, dass es meines ist, wende ich mich an meine Mutter: »Ist Ophelia nicht die, die sich umbringt, nachdem ihre Familie sie in den Wahnsinn getrieben hat?«

Bevor meine Mutter etwas erwidern kann – nicht, dass sie sich dazu herabgelassen hätte –, schaltet sich Weems ein. »So!«, sagt sie mit breitem Lächeln. »Dann stelle ich dir jetzt mal deine Mitbewohnerin vor.«

Mitbewohnerin.

Schon das Wort allein erzeugt Brechreiz bei mir. Wieso hat mir niemand gesagt, dass ich mein Zimmer hier auch noch mit jemandem teilen muss? Ich hatte mir vorgestellt, ein übertrieben düsteres und unheimliches Turmzimmer mit Spitzbogenfenstern zu bewohnen, über dem ein paar Raben kreisen. Ein Zimmer, in dem ich Cello spielen, meinen nächsten großen Roman schreiben und meine Flucht planen könnte.

Ohne Publikum.

»Dann wollen wir mal!« Weems klopft zweimal und öffnet die Tür.

Der Anblick eines dahingemetzelten Mordopfers in einer riesigen Blutlache wäre mir lieber gewesen, eine Kolonie wuselnder Tausendfüßler oder eine Giftgaswolke, deren Einatmen unerträgliche Schmerzen hervorruft, das Nervensystem lahmlegt und zu komplettem Organversagen führt … Alles – alles – wäre besser gewesen als diese Explosion aus Licht und Farbe, die mich kurzzeitig erblinden lässt, als ich das Zimmer betrete.

Jemand – vermutlich meine zukünftige Mitbewohnerin – hat das riesige runde Bleiglasfenster in Form eines Spinnennetzes mit farbiger Transparentfolie beklebt, durch die das Licht des grauen Tages hereinflutet wie ein Regenbogen. Die Wände sind eine einzige bunte Riesencollage aus Bildern, herausgerissen aus der Sorte von Hochglanzmagazinen, die Frauen ein negatives Körpergefühl vermitteln, um ihnen dann pinke Plastikrasierer und widerlich süß duftende Seifen und Deos zu verkaufen. Auf einem der Betten hockt eine Armada von Kuscheltieren.

»Oha«, höre ich meinen Vater hinter mir murmeln. »Das ist ja ganz schön lebhaft.«

Ich will gerade dazu ansetzen, meine Eltern zum mindestens zehnten Mal daran zu erinnern, was für einen massiven Verrat sie an mir begehen, indem sie mich hierherschicken, als aus dem Hintergrund ein junges weibliches Wesen angehüpft kommt. Tanzende blonde Locken, ein breites Lächeln, viele strahlend weiße Zähne. Gähn. Der Inbegriff von Harmlosigkeit.

»Hallöchen, neue Mitbewohnerin!«, ruft sie, und allein diese Begrüßung reicht, um für alle Zeiten in Stein zu meißeln, dass wir nie-nie-niemals Freundinnen werden können. Als hätte es noch eines weiteren Beweises bedurft, breitet diese mir vollkommen Fremde auch noch die Arme aus. Ich weiche unwillkürlich einen Schritt zurück.

»Wednesday«, sagt Weems. »Das ist Enid Sinclair.«

»Umarmungen sind wohl nicht so dein Ding, was?«, sagt Enid. »Verstehe. Ist okay.«

»Bitte entschuldige Wednesday«, sagt meine Mutter mit einem mitleidigen Lächeln, das ausdrückt, dass sie Enid und ihr Regenbogenfenster genauso erbärmlich findet wie ich. »Sie ist allergisch gegen Farben.«

Mit diesem einen Satz stürzt sie mich in ein Dilemma, aus dem ich – egal, wie ich mich entscheide – nicht erhobenen Hauptes entkommen kann. Entweder muss ich mich zwingen, Enid Sinclair zu mögen, oder zugeben, dass meine Mutter und ich tatsächlich einmal einer Meinung sind.

»Oh, wow, du bist allergisch gegen Farben?« Enid sieht mich mit ehrlicher Anteilnahme an. »Wie wirkt sich das denn aus?«

Ich erwidere ihren Blick, ohne zu blinzeln. »Es beginnt mit einem Ausschlag und dann schält sich das Fleisch von meinen Knochen.«

»Nun.« Direktorin Weems tritt mit diplomatischem Lächeln zwischen uns. »Zum Glück konnten wir extra für dich eine spezielle, un-farbige Schuluniform beschaffen. Enid? Wie wäre es, wenn du Wednesday zum Sekretariat begleitest, um dort die Uniform und ihren Stundenplan abzuholen? Danach kannst du ihr das Schulgebäude zeigen, während ich mit ihren Eltern die Anmeldeformalitäten erledige.«

Ihre Stimme bebt, als wäre es das Highlight ihres Tages, zusammen mit meiner Mutter Formulare auszufüllen. Mir schwant, dass ich wahrscheinlich mindestens einen Ritualmord begehen muss, um hier rausgeschmissen zu werden. Andererseits wäre an einem Internat wie der Nevermore Academy vielleicht selbst das noch zu normal.

Ich drehe mich zur Tür und werfe meinen Eltern einen todbringenden Blick zu. Enid hüpft mir fröhlich hinterher. Sie besteht tatsächlich darauf, mich durch das schlossartige Gebäude zu führen, obwohl ich ihr eindeutig zu verstehen gebe, dass das komplett unnötig ist. Mir ist es vollkommen egal, dass diese Schule, die wie eine in Stein gemeißelte Edgar-Allan-Poe-Horrorgeschichte aussieht, 1791 gegründet wurde. Das Einzige, was mich an dieser Zahl interessiert, ist, dass ich vorhabe, mich allerhöchstens genau so viele Minuten hier aufzuhalten.

»Warum willst du von hier weg?«, fragt Enid, als ich sie über dieses Vorhaben informiere. »Es ist toll hier. Viel besser als an jeder normalen Schule.«

»Ich bin gezwungenermaßen da. Meine Eltern«, ich deute auf ein Foto in der Eingangshalle, das meine Mutter in Fechtmontur mit offenen Haaren und siegessicherem Lächeln umringt von ihren Teamkameradinnen zeigt, »wollen, dass ich hier zur Schule gehe. Das ist alles Teil ihres verachtenswerten und absolut offensichtlichen Plans.«

»Was für ein Plan ist das?«, erkundigt sich Enid.

»Dass ich mich irgendwann in eine jüngere Version von ihnen verwandle«, seufze ich. Das schlimmste Schicksal, das ich mir vorstellen kann. Außer vielleicht für den Rest meines Lebens in diesem Regenbogenzimmer wohnen zu müssen.

»Okay«, sagt Enid. »Du … äh … wo wir uns gerade besser kennenlernen … Vielleicht könntest du mir noch eine andere Frage beantworten?«

»Ungern.«

»Es geht das Gerücht um, dass du an deiner letzten Schule einen Schüler umgebracht hast und dass deine Eltern ihre Beziehungen spielen lassen haben, um dich hier reinzubringen, obwohl du eine Gefahr für dich selbst und andere darstellst.«

»Stimmt nicht«, sage ich mit gelangweilter Stimme.

Enid sieht sehr erleichtert aus.

»Es waren zwei Schüler. Aber ich will nicht kleinlich sein.«

Ihre Miene zeigt, dass sie nicht weiß, ob sie lachen oder sich vor mir fürchten soll. Am Ende entscheidet sie sich für ein schwaches Kichern.

Zu ihrem Glück sind wir mittlerweile im Innenhof angekommen, der so eine Art Haupttreffpunkt für die Zöglinge der Nevermore Academy zu sein scheint. Der Anblick der geballten Ansammlung von hormonell überschäumenden Jugendlichen verstört mich so sehr, dass es mir kurzfristig die Sprache verschlägt.

»Okay, wo du die einzelnen Klassenzimmer findest, kannst du ja auf dem Plan nachschauen, von mir kriegst du jetzt die wirklich entscheidenden Informationen. Ich werde dich über Nevermores soziales Gefüge aufklären.«

Enid platzt fast vor Stolz, ihr kostbares Wissen an mich weiterzugeben, aber ich muss sie enttäuschen. »Ich habe ganz sicher nicht vor, mich irgendwelchen klischeehaften, pubertären Stammesgruppen anzuschließen«, erkläre ich.

»Auch gut! Dann sammelst du eben noch ein bisschen Material für deine offensichtlich bodenlos tiefe Verachtung«, sagt sie, was sich fast so anhört, als wäre sie in der Lage, sarkastisch zu sein.

Touché, denke ich und gebe ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie weitersprechen soll, damit ich es wenigstens schnell hinter mir habe.

»Gut. Also: Es gibt hier viele Arten von Außenseitern, aber die vier Hauptcliquen sind die Beißer, die Heuler, die Stoner und die Sirenen.«

Mein nach Systematik hungerndes Gehirn hat die einzelnen Gruppen längst kategorisiert, bevor Enid sie mir zeigt. Die Beißer, wie Vampire hier wohl genannt werden, sitzen an einem Tisch im Schatten und starren mit düsterer Miene auf ihre Smartphones. Ich frage mich, ob so ein Dasein als unsterblicher Schüler an einer Highschool nicht jeden zwangsläufig in den Wahnsinn treiben muss, und nehme mir vor, dem Verdacht bei erster Gelegenheit auf den Grund zu gehen.

»Ein paar von denen sind schon mehrere Jahrzehnte hier«, bestätigt Enid meine Vermutung, bevor sie einer Gruppe an einem anderen Tisch zuwinkt. »Da drüben sitzen die Heuler alias Werwölfe. Meine Crew.« Enid und ihre Leute heulen sich kurz zu und sie fährt für einen Moment ihre Krallen aus.

»Bei Vollmond wird es wahrscheinlich ziemlich laut hier«, bemerke ich.

»Keine Sorge. Ich habe dir vorsorglich Noise-cancelling-Kopfhörer besorgt«, sagt Enid grinsend. »In Pink.«

»Danke, ich verzichte. Und apropos heulen – das da hinten sind wahrscheinlich die Sirenen, oder?«

»Richtig erkannt.« Enid deutet auf eine Gruppe geradezu überirdisch schöner Schüler, die sich rings um den Springbrunnen versammelt haben. »Das Mädchen, um das sich alle scharen, heißt Bianca Barclay und ist so was wie die Königin von Nevermore. Mit der legt man sich besser nicht an. Wobei ihre Krone in letzter Zeit nicht mehr ganz so fest sitzt.« Enid senkt die Stimme. »Gerüchte sagen, dass sie etwas labil ist, nachdem sie und Xavier Thorpe sich zu Beginn des Schuljahrs aus mysteriösen Gründen getrennt haben.«

»Yo, Enid!«, ruft jemand hinter uns. Als ich mich umdrehe, steht da ein schlaksiger Typ mit einer ausgebeulten Strickmütze auf dem Kopf, unter der er irgendetwas zu verbergen scheint.

Ich verstecke mich zwar nicht gerade hinter Enid, aber er scheint mich trotzdem nicht zu bemerken, was mir absolut recht ist.

»Hey, Ajax.« Enid flötet seinen Namen geradezu. Keine Ahnung, was sie an diesem Typen so heiß findet, dass sie ihre Flirtstimme anwenden muss.

Auf mich wirkt er in jeder Beziehung durchschnittlich. Angesichts von Enids überdurchschnittlicher Attraktivität – einer Kombination aus symmetrischen Gesichtszügen, ebenmäßigem Teint und samtweicher Haut, einer stramm sitzenden Schuluniform und der gekonnten Anwendung dekorativer Kosmetikprodukte – würde ich die beiden nicht gerade als offensichtliches Match einstufen.

»Ich hab krasse Informationen über deine neue Mitbewohnerin«, sagt Ajax, der mich noch immer nicht bemerkt hat. »Sie isst Menschenfleisch. Den Schüler, den sie umgebracht hat, hat sie mit Haut und Haaren aufgefressen. Pass lieber auf dich auf.«

Ich seufze leise, weil klar ist, dass ich meinen stillen Beobachterinnenposten jetzt leider aufgeben muss. »Das kann ich so nicht stehen lassen«, sage ich, als Enid einen Schritt zur Seite tritt, um den Blick auf mich freizugeben. »Erst filetiere ich die Körper meiner Opfer und dann werfe ich sie meinem kleinen Haustierzoo zum Fraß vor.« Ich sehe den unscheinbaren Typen so ausdauernd an, bis er den Blick senkt. Gewonnen.

»Äh … Ajax.« Enid unterdrückt ein Kichern. »Das ist meine neue Mitbewohnerin, Wednesday.«

»Whoa«, sagt er. »Du bist ja voll in Schwarz-Weiß … Wie ein lebender Instagram-Filter.«

Ich streiche überragender Intellekt von der Liste der Eigenschaften, die ein Grund dafür sein könnten, dass Enid mit ihm flirtet, womit aber sämtliche Möglichkeiten ausgeschöpft wären.

»Ignorier ihn«, sagt sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Gorgonen sind zwar sehr süß, aber die meiste Zeit ziemlich stoned.«

Der Witz ist gar nicht übel, und Enid freut sich sichtlich, als ich gnädig lächle.

»Die Gerüchte über dich werden aufhören, sobald wir dir ein Social-Media-Profil angelegt haben«, sagt sie. »Im Netz ist praktisch nichts über dich zu finden, deswegen denken sich die Leute allen möglichen Blödsinn aus. Bist du wirklich nicht mal bei Insta?«

»Soziale Medien sind für mich ein seelensaugender Hohlraum bedeutungsloser Bestätigungssucht«, antworte ich trocken.

Enid nickt, weiß aber offensichtlich nicht, was sie darauf sagen soll, worauf ich mich schweigend umdrehe und – ohne sie – zu unserem Zimmer zurückkehre.

Meine Eltern haben angekündigt, noch vor dem Abendessen mit Pugsley nach Hause zurückzufahren, was ich als einzigen Lichtblick an diesem ansonsten unerträglichen Tag werte. Am späten Nachmittag stehen wir in der kreisförmigen Einfahrt der Nevermore, und ich verberge nicht, dass ich ihre Abreise kaum erwarten kann.

»Wie wäre es, wenn ihr Männer euch schon mal in den Wagen setzt?«, schlägt meine Mutter meinem Vater und meinem Bruder vor. »Wednesday und ich müssen noch ein kleines Gespräch von Frau zu Frau führen.«

Weil ich den Abschied nicht unnötig in die Länge ziehen will, beiße ich mir auf die Zunge und erwähne nicht, dass wir so ein Gespräch noch nie geführt haben und mit großer Sicherheit auch niemals führen werden.

Sobald die beiden verschwunden sind, wendet sie sich mir zu und bedenkt mich mit einem ungerührten Blick. »Ich möchte, dass du weißt, dass ich sämtliche Mitglieder unserer Verwandtschaft beauftragt habe, mich umgehend zu kontaktieren, falls du dich ihrer Türschwelle nähern solltest. Du kannst nirgendwohin. Versuch also, aus deinem Aufenthalt hier das Beste zu machen.«

Ich schnaube innerlich. Als käme ich jemals auf die Idee, bei jemandem aus unserer Verwandtschaft Zuflucht zu suchen. »Du unterschätzt mich wieder mal, Mutter. Ich werde schon bald aus diesem Umerziehungslager entkommen und du wirst nie wieder von mir hören.«

Meine Mutter ignoriert diese Ankündigung und greift in ihre kleine Handtasche, die mein Vater normalerweise immer für sie herumträgt. »Hier. Ich habe eine Kleinigkeit für dich.« Sie hält mir eine Kette mit einem silbernen Anhänger hin, der mit schwarzen Edelsteinen besetzt ist. Ein W – oder ein M, je nachdem, wie man ihn hält. Unfassbar hässlich.

»Obsidian«, sagt sie. »Aztekische Priester haben diesen Stein verwendet, um Visionen heraufzubeschwören. Ein Symbol für das, was uns beide verbindet.«

Bei der Erwähnung von Visionen zucke ich innerlich zusammen. Ich weigere mich, meine Reaktion – was auch immer sie bedeutet – als Angst zu identifizieren, bin aber umso entschlossener, mir vor ihr nichts anmerken zu lassen.

»Ich bin nicht wie du, Mutter«, sage ich beherrscht. »Ich werde mich auch niemals verlieben oder Hausfrau sein oder eine Familie gründen.«

Ihre Pupillen weiten sich einen Moment, als wäre es mir tatsächlich gelungen, sie zu verletzen. »Man hat mich gewarnt, dass Kinder in deinem Alter grausam sein können. Ich soll mir das nicht zu Herzen nehmen.«

»Umso besser, dass du gar kein Herz besitzt.«

Meine Mutter lächelt. »Danke, Darling.«

Sie reicht mir eine Henkeltasche mit einer schweren Kristallkugel, verspricht, sich Ende der Woche bei mir zu melden (obwohl ich ihr versichere, dass das unnötig ist), und dann fahren sie endlich davon.

Der Wind zerrt an meinen Haaren, während ich ihrem Wagen hinterherblicke und spüre, wie Erleichterung in mir aufsteigt. Nevermore ist nicht der richtige Ort für mich, das weiß ich genau, aber ohne meine Eltern um mich herum werde ich wenigstens nicht ständig das Gefühl haben, in Schubladen gesteckt zu werden.

Unreifes Kind. Zukünftige Hellseherin. Aufsässige Tochter. Addams. Ich habe fest vor, die mir aufgedrückten Etiketten abzulegen – und zwar schon sehr bald.

Während ich meinen Fluchtfantasien nachhänge, ahne ich nicht, dass nur ein paar Hundert Meter von mir entfernt im Wald gerade ein Mord geschieht, bei dessen Aufklärung ich eine entscheidende Rolle spielen werde. Einzelheiten dazu kommen erst sehr viel später ans Licht. Ich werde weder die Fotos der Körperteile des getöteten Wanderers sehen, die am Tag meiner Ankunft zwischen den Bäumen verstreut gefunden werden, noch etwas über die näheren Umstände seines Todes erfahren. Genauso wenig wie mir bekannt sein wird, dass der Sheriff von Jericho davon überzeugt ist, dass dieser Mord – der jüngste einer ganzen Reihe von Morden – mit der Nevermore Academy in Verbindung steht oder was der Grund für sein tief sitzendes Vorurteil gegen die Schule ist.

Die Lokalzeitung wird am nächsten Morgen einen weitestgehend entschärften Bericht über einen tödlichen Bärenangriff veröffentlichen. Eine grausige Vorstellung, die ich sofort zu einer Szene in meinem aktuellen Roman verarbeite. Allerdings ist die Wahrheit letztlich, wie so oft, seltsamer als alles, was man sich ausdenken kann.

Kapitel 3

Später am Abend haben Enid und ich schon unsere erste heftige Auseinandersetzung. Sie ist sauer, weil ich unser Zimmer gleichmäßig aufgeteilt und ihre bunten Folien von meiner Hälfte des Fensters abgezogen habe. Ich bin gereizt, weil sie mich während meiner Schreibzeit stört. Enid hat ihre Krallen ausgefahren, und ich überlege gerade, welches meiner dekorativen mittelalterlichen Folterwerkzeuge sich in einem möglichen Zweikampf am besten als Waffe eignen würde, als es klopft und eine Frau hereinkommt.

»Guten Abend, ihr Lieben!« Sie runzelt die Stirn. »Oh. Störe ich?«

Enid zieht ihre Krallen widerwillig wieder ein.

»Hallo, Wednesday. Ich bin Ms Thornhill, eure Wohnheim-Mutter«, stellt die Frau sich vor. »Entschuldige bitte, dass ich nicht da war, als du angekommen bist. Ich musste mich draußen auf dem Schulgelände um etwas kümmern. Ein Problem mit … zu viel Laub.« Sie deutet auf ihre völlig verdreckten roten Stiefel.

»Faszinierend«, sage ich trocken.

»Ich hoffe, Enid hat dich an der Nevermore gebührend willkommen geheißen?«

»Ihre Gastfreundschaft hat mich geradezu erstickt«, sage ich mit bedeutungsvollem Blick in Richtung meiner Mitbewohnerin, die sofort rot anläuft. »Ich würde mich gerne bei ihr revanchieren. Wenn sie schläft.«

Ms Thornhill gluckst, als hätte ich einen Witz gemacht. Sie kommt ein paar Schritte auf mich zu und hält mir eine Topfpflanze hin. Ich muss zugeben, dass sie wirklich prachtvoll ist. Dunkelgrüne Blätter und eine große, dicht gefüllte Blüte, deren Farbe an vergossenes Blut erinnert. »Hier. Ich habe dir ein kleines Willkommensgeschenk aus meinem Gewächshaus gebracht. Ich versuche, jedem meiner Mädchen die passende Blume zuzuordnen.«

»Eine schwarze Dahlie.« Ich bin überrascht und fast beeindruckt.

»Ach, das hast du gleich erkannt?«, fragt Ms Thornhill so beglückt, dass ich mich für sie fremdschäme.

»Natürlich«, sage ich. »Die Züchtung wurde nach meinem Lieblingsmordfall benannt, der bis heute ungelöst ist.«

Das war ein Kompliment, aber Ms Thornhill wirkt etwas verunsichert, als sie die Blume neben meine Schreibmaschine stellt.

»Danke.«

»Bevor ich gehe, erwähne ich noch rasch die wichtigsten Punkte der Hausordnung. Um zehn wird das Licht gelöscht, keine laute Musik, keine Jungs. Niemals.«

Ich unterdrücke ein verächtliches Schnauben. Als ob.

»Der nächste Ort, Jericho, ist zu Fuß fünfundzwanzig Minuten entfernt. Am Wochenende verkehrt außerdem ein Shuttle, falls du shoppen gehen oder mit Freundinnen abhängen willst oder was ihr coolen Kids heutzutage eben so macht.« Ms Thornhill lacht. Ich nicht. »Die Einheimischen sind ein wenig misstrauisch gegenüber Nevermore, also vermeide es bitte, Aufsehen zu erregen und Außenseiter-Stereotype zu verstärken. Behaltet die Krallen heute Nacht bei euch und es wird auch bitte niemand im Schlaf erstickt. Haben wir uns verstanden?«

Ich setze mich an meinen Schreibtisch, während Enid wieder ihre Krallen ausfährt und beginnt, sie mit einer violetten Nagelfeile zu schärfen.

»Alles klärchen«, sagt Ms Thornhill, die ganz offensichtlich ein Ausbund an Autorität ist.

Als ich am nächsten Morgen zu meiner ersten Unterrichtsstunde im Fechtsaal eintreffe, bin ich gegen meinen Willen beeindruckt, weil die Anlage wirklich höchsten Ansprüchen genügt. Und ich muss zugeben, dass es unter meinen Mitschülern eindeutig ein paar nicht vollkommen hoffnungslose Fälle gibt.

Als gute Amateur-Kriminologin benötigt man übrigens dieselben Qualitäten wie eine gute Fechterin: Leichtfüßigkeit, ein Auge für Details sowie die Fähigkeit, blitzschnell die Schwachstellen des jeweiligen Gegners zu identifizieren. Ich hätte mich niemals dazu entschlossen, denselben Sport zu betreiben wie meine Mutter, wenn er mich nicht für meine wahre Leidenschaft in Form bringen würde.

Natürlich tragen alle hier die klassisch weißen Fechtanzüge, sodass ich in meiner komplett schwarzen Montur sofort auffalle und neugierig beäugt werde, als ich zwischen den Kämpfenden hindurch durch den Saal schreite. Ich wünschte, ich hätte meine Fechtmaske bereits aufgesetzt. Stattdessen verwandle ich mein Gesicht in eine undurchdringliche Maske und lasse niemanden sehen, wie heimisch ich mich hier fühle. Wie angenehm es ist, eine Waffe in der Hand zu halten.

Die Gefechte um mich herum gehen weiter, als wäre ich gar nicht da. Mir fällt eine Fechterin auf, deren samtige dunkelbraune Haut durch das Netzvisier ihrer Maske leuchtet. Bianca Barclay – ich bin mir ganz sicher. Ihr Gegner ist kleiner als sie, dem Körperbau nach würde ich ihn auf etwa fünfzehn schätzen. Er kämpft beschämend schlecht, springt in wilder Verzweiflung herum und rudert viel zu hektisch mit den Armen. Einen guten Fechter erkennt man an den sparsamen Bewegungen, der Junge wirkt so unbeholfen wie ein Kleinkind.

Bianca dagegen …

Im nächsten Moment stürzt er. »Coach!«, ruft er anklagend. »Sie hat mir ein Bein gestellt!« Er rappelt sich auf, klappt sein Visier hoch und enthüllt ein rot angelaufenes, verschwitztes Gesicht.

Ich bin nicht sonderlich sentimental, aber er erinnert mich ein bisschen an Pugsley, als er mir aus dem Spind entgegenfiel und versuchte, nicht loszuheulen.

»Das war ein sauberer Schlag, Rowan«, urteilt der Trainer.

»Wenn du mehr trainieren und weniger jammern würdest, wärst du auch nicht so ein miserabler Fechter«, sagt Bianca extra laut, damit alle es mitbekommen. Sie blickt sich um. »Wie sieht es aus? Möchte mich sonst jemand herausfordern?«

Ihrem Tonfall nach zu urteilen, geht sie davon aus, dass niemand so dumm wäre, das zu tun, oder es andernfalls mit Sicherheit bereuen würde. Zwar habe ich überhaupt kein Bedürfnis, mich in die soziale Rangordnung der Nevermore einzumischen (geschweige denn, mich darin einzugliedern), aber ich habe etwas gegen Menschen, die sich an Schwächeren auslassen. Mein Säbel ist kein modisches Statement, sondern eine Waffe, die eingesetzt werden möchte. Außerdem kann mir eine kleine Trainingseinheit nicht schaden.

»Ja, ich«, rufe ich also und trete vor. Jemand schnappt hörbar nach Luft.

»Aha.« Bianca umkreist mich lauernd. »Du musst die neue Psychopathin sein.«

»Und du bist hier wohl die selbst ernannte Bienenkönigin«, sage ich ungerührt, während ich meinerseits um sie herumgehe und sie taxiere. »Weißt du, was an Bienen interessant ist? Wenn man ihnen den Stachel zieht, sterben sie.«

Wieder höre ich lautes Aufkeuchen – diesmal aus vielen Kehlen. Bianca zieht überrascht die Brauen hoch, was darauf schließen lässt, dass alle sich vor ihr in den Staub werfen und zulassen, dass sie auf ihnen herumtrampelt. Aber genau das ist ihr Schwachpunkt. Der Mangel an ebenbürtigen Gegnern hat sie eitel und unvorsichtig gemacht.

»Du musst Rowan nicht verteidigen. Er ist nicht hilflos, er ist bloß faul«, sagt sie verächtlich, sieht dabei aber nicht mich an, sondern die Leute um uns herum. Noch eine Schwäche. Sie gibt zu viel auf ihre Wirkung auf das Publikum und das macht sie verletzlich.

»Was ist jetzt?« Ich ziehe meinen Säbel und lasse ihn ein paarmal durch die Luft surren. Ein überaus befriedigendes Geräusch. »Kämpfen wir oder nicht?«

Endlich richtet Bianca ihren Blick wieder auf mich. Wir setzen unsere Masken auf und nehmen die Grundstellung ein. »En garde«, ruft Bianca.

Aber sie achtet immer noch viel zu sehr auf die anderen und vernachlässigt darüber ihre Deckung.

Ich würde es gegenüber meiner Mutter niemals zugeben, aber es gibt Momente, in denen ich diesen Sport wirklich liebe. Verstandesgesteuerten Menschen wie mir fällt es oft schwer, unser Gehirn auszuschalten; ein Gefecht gibt mir die Möglichkeit, meine geistige Energie in körperliche Stärke umzuwandeln. Aufgeben ist keine Option. Es geht ausschließlich um Taktik und Dominanz. Ein Tanz im Schatten des Todes.

Gegner waren mir immer schon lieber als Partner.

Während Bianca noch nach einem geeigneten Angriffswinkel sucht, lande ich nach wenigen Sekunden meinen ersten Treffer.

»Der Punkt geht an Wednesday«, sagt der Trainer so überrascht, dass es geradezu beleidigend ist.

Ein Ruck geht durch Bianca. Als ich sie eben mit Rowan gesehen habe, wusste ich, dass sie gut ist. Jetzt spüre ich, dass sie gefährlich ist. Sie spannt jeden Muskel an, scheint ihren gesamten Körper auf mich einzustellen, als hätte sie endlich erkannt, dass das hier ein Kampf ist, kein Geplänkel. Mir wird klar, dass sie selbst auch um ihre Schwächen weiß. Sie ist es nur nicht gewohnt, jemandem gegenüberzustehen, der sie dafür zur Rechenschaft zieht.

Als sie zum Angriff übergeht, gelingt es mir kaum, mitzuhalten. Meine eben noch so geschmeidigen Bewegungen fühlen sich hölzern an, die perfekte Verbindung von Geist und Körper scheint aufgehoben. Bianca ist mir immer einen halben Schritt voraus. Und dann trifft mich ihre Säbelspitze.

Ich nehme nur gedämpft wahr, wie der Trainer den Punktestand verkündet. Es steht unentschieden. In der nächsten Runde geht es also wirklich ums Ganze. Bianca ist von uns beiden zweifellos die bessere Athletin, aber vielleicht kann ich sie mit einem psychologischen Manöver verunsichern.

»Für den finalen Punkt möchte ich vorschlagen, nach den Regeln einer Mensur zu kämpfen. Ohne Maske. Ohne Schutzkappe auf der Klinge.«

Ein drittes Mal wird nach Luft geschnappt, diesmal ist auch der Trainer dabei.

»Verloren hat, wer zuerst blutet«, sage ich und ziehe meine Maske ab.

Ich spekuliere darauf, dass es Bianca so wichtig ist, ihre eiskalte Fassade zu wahren, dass ihre Konzentration leidet, wenn die Zuschauer jede Gefühlsregung in ihrem Königinnengesicht wahrnehmen können. Vielleicht macht sie dann einen Fehler.

»Deine Entscheidung, Bianca«, sagt der Trainer, dessen Stimme anzuhören ist, dass er nichts dagegen hat, statt der ewig langweiligen Schülergefechte ausnahmsweise mal einen wirklich spannenden Kampf zu erleben.

»En garde.« Bianca wirft ihre Maske zur Seite und macht mit gezücktem Säbel einen selbstbewussten Schritt auf mich zu.

Ich erkenne sofort, dass meine Finte nicht funktioniert hat. Sie ist eher noch entschlossener als vorher. Noch schneller. Als Sirene bewegt sie sich so flüssig wie das Wasser, aus dem sie ihre Kraft zieht. Sie ist überall und nirgends. Ich weiß, dass ich sie nur schlagen kann, wenn ich auf Risiko spiele, also lasse ich bewusst eine Lücke in meiner Verteidigung, um sie zu täuschen. Aber sie ist schneller, als ich reagieren kann. Ich spüre das Brennen auf meiner Stirn, was bedeutet, dass Blut geflossen und der Kampf vorüber ist.

»Ich gebe dir einen Rat.« Biancas Stimme trieft vor Verachtung, während sie sich an meiner Demütigung weidet. »Vergiss in Zukunft nicht, wo dein Platz ist. Nämlich so weit von mir entfernt wie möglich.«

Ich sehe sie regungslos an. Habe ich Nevermores Königin womöglich unterschätzt? Bianca ist zweifellos eine würdige Gegnerin, und zwar nicht nur auf der Fechtbahn.

Der Trainer besteht darauf, dass Rowan und ich uns auf der Krankenstation verarzten lassen, obwohl ich ihm versichere, dass ich auch ohne jede Fürsorge oder Verbandsmaterial schon weitaus schlimmere Verletzungen überstanden habe.

»Du heißt Wednesday, stimmt’s?«, fragt Rowan, nachdem die Schulschwester gegangen ist, die mir ein beschämend großes Pflaster auf die Stirn geklebt hat. Meine Niederlage ist dadurch für jeden sofort erkennbar, was eine besonders grausame Form der Folter ist. Ich nehme mir vor, sie selbst anzuwenden, wenn ich das nächste Mal einen Feind erniedrigen muss. Ich nicke.

»Und du Rowan, oder?«

»Ja.«

Dieses fliehende Kinn, der schwache, zarte Körper. Rowan erinnert mich an ein schutzloses Vogelküken.

»Ich weiß, wie du dich fühlst«, sagt er.

Ich sehe ihn überrascht an. »Ich garantiere dir, das tust du nicht.«

»Meine Mutter hatte mir versprochen, dass ich hier endlich auch mal irgendwo dazugehören würde«, sagt er. Es ist erstaunlich, mit welcher Naivität er mir seinen wunden Punkt wie auf dem Silbertablett präsentiert. Ich kann für ihn nur hoffen, dass ich dieses Wissen niemals gegen ihn verwenden muss. »Ich hätte nicht gedacht, dass man selbst an einer Schule für Außenseiter ein Außenseiter sein kann. Aber es sieht so aus, als wäre ich nicht mehr der Einzige.«

Ich mache mir nicht die Mühe, darauf zu reagieren. Leute wie Rowan gehen automatisch davon aus, dass mich mein Einzelgängerinnenstatus unglücklich macht. Niemand, der unfreiwillig alleine ist, versteht jemanden, der diesen Zustand ganz bewusst wählt. Das ist unmöglich zu erklären, also versuche ich es erst gar nicht.

»Tut mir leid, dass du …« Er deutet auf die Stelle an seiner Stirn, wo auf meiner das riesige Neonschild prangt, auf dem steht: Opfer vonBianca Barclay.

»Du weißt doch – keine gute Tat bleibt ungestraft«, sage ich trocken und gehe aus dem Zimmer, bevor er mich noch weiter bemitleiden kann.

Als ich in den Hof komme, stelle ich fest, dass es mittlerweile angefangen hat zu regnen. Obwohl mir komplett egal ist, was andere über mich denken, beschließe ich, erst mal wieder aufs Zimmer zu gehen. Ich möchte nicht, dass die Leute hier mitbekommen, dass ich von Bianca besiegt wurde, bevor ich eine Strategie entwickelt habe, um wieder Gleichstand herzustellen.

Während ich noch überlege, ob ich Biancas Zimmer mit Spinnen verseuchen oder ihr einen abgetrennten Pferdekopf schicken soll, höre ich über mir lautes Knirschen und hebe den Blick. Auf den Türmen des Internatsgebäudes hocken Gargoyles in Form von geflügelten Fabelwesen – keine sehr originelle Deko, wenn man mich fragt –, doch im Moment beschäftigt mich mehr, dass einer davon gefährlich schwankt.

Und zwar exakt der, unter dem ich stehe.

Hier ist rasches Handeln gefragt, aber obwohl genau das normalerweise meine Stärke ist, sitzt mir die Niederlage noch so in den Knochen, dass mich einen Moment lang Selbstzweifel überkommen. Einen Moment zu lang. Ich nehme noch wahr, dass die Wucht des Aufpralls aus unerwarteter Richtung kommt, dann umfängt mich Schwärze.

Als ich auf der Krankenstation die Augen aufschlage, dröhnt mir der Schädel. Ich wurde darin geschult, extreme Zustände auszuhalten. Damit komme ich klar. Trotzdem wundere ich mich darüber, überhaupt überlebt zu haben.

»Willkommen zurück«, sagt eine leicht heisere Stimme zu meiner Linken.

Ich schnelle kampfbereit im Bett hoch.

»Die Schulschwester meint, es ist keine Gehirnerschütterung«, sagt der Junge, der neben mir sitzt. »Aber du kriegst wahrscheinlich eine ziemlich üble Beule.«

Er ist groß und schlank, hat längere Haare, hinten zum Zopf gebunden, ein fein geschnittenes Gesicht und einen leicht gequälten Blick – der aber vielleicht aufgesetzt ist, um sich interessant zu machen.

»Ich erinnere mich nur daran, dass ich von einer Mischung aus Wut, Mitleid und Selbstekel erfüllt war, als ich nach draußen gegangen bin«, sage ich – mehr zu mir selbst als zu ihm. Als geübte Profilerin habe ich mir bereits mein Urteil über den Jungen gebildet: weder Freund noch Feind. »So habe ich mich noch nie gefühlt.«

»So fühlt man sich wahrscheinlich, wenn man gegen Bianca verloren hat.«

Ich weigere mich, darüber nachzudenken, dass meine Niederlage an der Schule offenbar bereits die Runde gemacht hat. Stattdessen kehrt der Rest meiner Erinnerung an den Vorfall von eben zurück und meine Neugier ist geweckt. Ich drehe mich dem Jungen zu und sehe ihm scharf in die Augen. »Und dann stürzte plötzlich dieser steinerne Gargoyle auf mich zu, und ich dachte: Wenigstens sterbe ich einen interessanten Tod. Aber dann hast du mich aus dem Weg gestoßen. Warum?«

Er lächelt belustigt, als wäre es völlig normal, dass Menschen mehr als maximal zwei Prozent ihrer Lebenszeit dazu nutzen, etwas Selbstloses zu tun. »Nenn es Instinkt.«

»Ich wollte nicht gerettet werden«, sage ich leicht gereizt wegen seiner Lässigkeit und dem Pochen in meinen Schläfen.

»Dann hätte ich also zusehen sollen, wie du zermatscht wirst?«

»Ich hätte mich schon selbst gerettet.« Im tiefsten Inneren weiß ich, dass das gelogen ist. Ich erinnere mich viel zu deutlich an mein Zögern, für das ich mich selbst noch mehr gehasst habe. »Darin habe ich Übung.«

Der Typ hat den Nerv zu lachen. »Schön, dass du immer noch die alte Wednesday bist«, sagt er. »Falls du besser damit klarkommst, können wir uns auch darauf einigen, dass ich dir noch was schuldig war.«

Ich sehe mich gezwungen, ihn genauer anzuschauen. Aber obwohl ich ein ausnehmend gutes Gedächtnis für Namen und Gesichter habe, bin ich ratlos.

»Xavier Thorpe«, hilft er mir auf die Sprünge. Tatsächlich habe ich seinen Namen schon mal gehört, aber nur von Enid, als sie mir ihren langweiligen Vortrag über die Machtverhältnisse an der Nevermore gehalten hat. Ich ziehe kurz die Augenbrauen hoch, als mir einfällt, dass er der Junge ist, der aus unbekannten Gründen die Beziehung zu Bianca Barclay beendet hat, möchte mir dafür im nächsten Moment aber am liebsten die Pulsadern aufschneiden. Seit wann interessiere ich mich bitte für Schulklatsch?

»Was ist passiert?«, frage ich.

»Pubertät, schätze ich.« Er zuckt mit den Schultern. »Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, war ich einen Meter kleiner und hatte niedliche kleine Pausbäckchen.«

»Ich meine, was passiert ist, wofür du mir einen Gefallen geschuldet hast.«

Xavier schließt kurz die Augen. Nicht zum ersten Mal wünsche ich mir, ich hätte die Fähigkeit, Gedanken zu lesen. Das wäre wesentlich nützlicher, als Visionen zu haben wie meine Mutter, und würde mir viele langwierige Unterhaltungen ersparen.

»Es war auf der Beerdigung meiner Patentante«, sagt er schließlich. »Sie war mit deiner Großmutter befreundet und du warst auch da. Wir waren zehn, uns war langweilig, also haben wir Verstecken gespielt. Ich kam auf die großartige Idee, mich in ihren Sarg zu legen, aber dann habe ich auf dem Weg zum Krematorium den Deckel nicht mehr aufbekommen.«

Jetzt erinnere ich mich. Die Beerdigung. Ich hatte meine Mutter angefleht, mitkommen zu dürfen. Der köstliche Duft der welkenden Blumenkränze. Das Schluchzen und Schniefen – Musik in meinen Ohren. Die tröstliche Nähe des Todes.

»Ich habe gedämpfte Schreie gehört«, sage ich, als mir die Einzelheiten wieder präsent sind. »Ich dachte, deine Patentante wäre gar nicht tot und würde versuchen, sich aus dem Sarg zu kratzen.« Ich erwähne nicht, dass das eine meiner liebsten Beerdigungsfantasien ist, von der ich hoffe, sie eines Tages in der Realität zu erleben. Als Xavier lächelt, sehe ich einen schwachen Abglanz des rundlichen Gesichts des kleinen Jungen, der er mal gewesen ist. Ich hatte immer schon eine Schwäche für Underdogs.

»Jedenfalls hast du rechtzeitig den großen roten Stopp-Knopf gedrückt und mich davor bewahrt, im Flammengrill zu enden. Tja … und jetzt sind wir quitt.«

Ich sage es ihm zwar nicht, aber das mildert die Demütigung, von ihm gerettet worden zu sein, tatsächlich ein klein wenig.

Nachdem ich den Fängen der Schulschwester endlich entkommen bin und die Tür zu meinem Zimmer öffne, stelle ich erfreut fest, dass es verwaist ist. Enid ist nicht da, was bedeutet, dass ich in Ruhe arbeiten kann. Mit meinem Roman bin ich seit zwei Tagen im Rückstand und das vertraute Klackern der Schreibmaschine hat eine beruhigende Wirkung auf mich.

Darin vertieft, ein weiteres Abenteuer der jungen Detektivin Viper de la Muerte niederzuschreiben, steigt mir mit einem Mal ein vertrauter Duft in die Nase. Ein Duft, der in der Nevermore Academy nichts zu suchen hat, weil er fest mit meinem Elternhaus verknüpft ist. Ich stehe auf, orte schnuppernd die Quelle des Geruchs, schleiche auf Zehenspitzen zum Bett und reiße mit dramatischer Geste die Decke weg.

»Ich wusste es!«

Eine abgetrennte Hand kauert sich ängstlich zusammen, während ich – zum ersten Mal an diesem Tag – triumphiere. Im nächsten Moment versucht die Hand wegzuflitzen. Aber ich habe schon größere Ratten gefangen. Mit drei Fingern klammert sie sich verzweifelt am Bettgestell fest und fleht stumm zitternd um Gnade, als ich sie packe und losreiße.

»Na so was, Eiskaltes Händchen. Hallo«, sage ich im Plauderton. »Hast du etwa ernsthaft geglaubt, mein geschulter Geruchssinn würde den schwachen Hauch von Neroli und Bergamotte deiner Lieblingshandcreme nicht erschnuppern?«

Er windet sich und ich festige meinen Griff.

»Ich kann den ganzen Tag so weitermachen«, warne ich und knalle ihn auf den Schreibtisch. »Also? Ergibst du dich?«

Eiskaltes Händchen klopft zum Zeichen seiner Kapitulation dreimal auf die Tischplatte. Ich lasse ihn los, behalte ihn aber im Auge. Er ist ein flinkes, verschlagenes Ding. Deswegen ist er wahrscheinlich auch hier.

»Meine Eltern haben dich hergeschickt, damit du mich ausspionierst, richtig?«

Er schüttelt sich verneinend – schützt die beiden selbst jetzt noch, nachdem ich ihren Verrat entdeckt habe.

»Ich kann dir auch liebend gern ein paar Finger brechen«, drohe ich.

Eiskaltes Händchen beeilt sich, mir in Gebärdensprache zu erklären, weshalb er hier ist. Bei Sie sorgen sich … reicht es mir. Ich verdrehe die Augen.

»Du armes, naives Helfershelferchen. Meine Eltern machen sich um mich keine Sorgen. Sie sind grausame Puppenspieler, die selbst aus der Ferne noch die Strippen ziehen wollen.«

Eiskaltes Händchen bleibt ruhig, aber ich sehe seiner trotzigen Pose an, dass er anderer Meinung ist. Egal. Soll er mich ruhig unterschätzen, genau wie sie. Am Ende wird es ihnen allen leidtun, ich lasse mich jedenfalls nicht einschüchtern. Entschlossen knipse ich meine Schreibtischlampe an und richte den Lichtstrahl auf ihn.

»So wie ich die Sache sehe, hast du zwei Möglichkeiten.« Ich ziehe die Schreibtischschublade auf. Vollholz, gut verarbeitet, abschließbar. »Option eins: Ich stecke dich für den Rest des Halbjahrs hier rein, und du wirst bei dem Versuch, dich durchs Holz in die Freiheit zu schaben, langsam wahnsinnig. Außerdem ruinierst du dir die Nägel und deine samtweiche Haut, und wir wissen beide, wie eitel du bist.«

Eiskaltes Händchen zittert. Ich weiß, dass er sich gerade die eingerissenen Nägel vorstellt. Die Trockenheitsfältchen. Die runzlige Haut an den Knöcheln.

»Oder Option zwei«, sage ich großzügig. »Du schwörst mir Treue bis zum Tod.«

Er lässt sich sofort in einer unmissverständlichen Geste des Niederkniens auf Mittel- und Zeigefinger herab. Das permanent in meinem Kopf aufgebaute imaginäre Schachbrett ordnet sich neu. Jetzt steht eine zweite Figur neben der Königin. Meine Niederlage gegen Bianca erscheint mir plötzlich trivial. Auch die verwirrende Begegnung mit Xavier spielt keine Rolle mehr. Ich habe das, was ich gestern zu Direktorin Weems gesagt habe, ernst gemeint. Diese Schule wird mich nicht halten.

»Als Allererstes müssen wir dieser Teenager-Hölle entkommen«, sage ich zu ihm.

Ich schnaube, als er sofort wieder anfängt zu gebärden. »Natürlich habe ich einen Plan.« Und während ich das sage, setzen sich die einzelnen Gedanken in meinem Gehirn schon zu einem großen Ganzen zusammen, Verbindungen greifen ineinander, mögliche zukünftige Szenarien nehmen Gestalt an. »Und er läuft auch schon.«

Kapitel 4

Bisher konnte ich jeden Versuch, mich einer Psychoanalyse unterziehen zu lassen, erfolgreich abwehren. Obwohl das, wie sich jeder vorstellen kann, nicht ganz einfach war. Jemand mit meinem ausgeprägten Sinn für Ästhetik und meiner Sensibilität stellt für die Aasgeier dieser Berufsgruppe ein gefundenes Fressen dar.

Mein Vorgehen ist in der Regel schlicht, aber wirkungsvoll. Es ist entscheidend, von Anfang an die Oberhand zu haben. Während des lockeren Kennenlerngesprächs baue ich Vertrauen auf und identifiziere die wunden Punkte meiner Gegner. Mein Angriff kommt dann völlig unvermutet, und sie sind so damit beschäftigt, sich selbst zu verteidigen, dass der Versuch, mir für ein unverschämt hohes Honorar irgendwelche Kindheitstraumata zu entlocken, völlig aus den Augen gerät.

Diesmal ist die Ausgangssituation allerdings eine andere. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich jemand, der Schüler der Nevermore Academy in der Patientenkartei hat, so einfach einschüchtern lässt wie die Schulpsychologen, mit denen ich es in der Vergangenheit zu tun hatte. Diese Dr. Kinbott wird wohl kaum so schnell schreiend aus dem Zimmer fliehen. Also muss ich diejenige sein, die geht.

Die Praxis der Therapeutin sieht genauso aus, wie man es sich vorstellt. Neutrale Einrichtung, dazwischen ein paar persönliche Gegenstände. Wahrscheinlich das Werk eines auf Büroräume spezialisierten Innenarchitekten. Ich bezweifle stark, dass der »persönliche Touch« echt ist.

»Hallo, Wednesday«, begrüßt sie mich. »Ich habe die Berichte deiner Vertrauenslehrerin gelesen.«

»Von Mrs Bronstein? Sie hatte nach unserer letzten Sitzung einen Nervenzusammenbruch und musste sich für sechs Monate krankschreiben lassen.«

Dr. Kinbott lässt sich nicht beirren und deutet auf einen Sessel. Ich setze mich, um sie in Sicherheit zu wiegen. Phase eins meines Plans.

»Wie hast du dich dabei gefühlt?«, fragt sie.

Sehr origineller Einstieg. »Es hat mich in meiner Einschätzung bestätigt«, antworte ich. »Wobei ich eine Frau, die in ihrer Freizeit am liebsten häkelt, auch nicht als ebenbürtige Widersacherin betrachten konnte.«

Dr. Kinbott setzt sich mir gegenüber. Blond, schlank, pastellfarbener Pulli und Hose. Hübsch, aber mit unangenehm intensivem Blick.

»Nun, ich hoffe, du betrachtest mich nicht als deine Widersacherin. Ich würde mich freuen, wenn wir beide eine Beziehung aufbauen, die auf Vertrauen beruht! Und auf gegenseitigem Respekt!«

Als könnte ich jemanden respektieren, dessen Uhrenarmband auf die Farbe der Loafer abgestimmt ist.

»Wir befinden uns hier in einem sicheren Raum, Wednesday«, erklärt sie lächelnd. »Einem Zufluchtsort, an dem wir über alles reden können! Über deine Gedanken, deine Gefühle, deine Weltanschauung, deine ganz persönliche Lebensphilosophie!« Sie strahlt, als würde sie begeisterten Jubel von mir erwarten.

»Sie interessieren sich für meine Gedanken? Die können Sie gerne hören«, sage ich. »Ich halte das hier für reine Zeitverschwendung. Ich betrachte die Welt als einen Ort, den man ertragen muss. Und meine persönliche Lebensphilosophie lautet: töten oder getötet werden.«

Zu meinem großen Unmut strahlt sie mich weiter an. »Verstehe. Und wenn dein Bruder von Mitschülern gequält wird, wirfst du Piranhas ins Schwimmbecken.«

Wie kann sie es wagen? Ich weiß, dass meine Neigung, Pugsley und anderen verschwitzten, unbeholfenen Sonderlingen zu helfen, meine einzige echte Schwäche ist. Aber das schon in den ersten fünf Minuten anzusprechen, ist selbst für eine Seelenklempnerin ganz schlechter Stil.

»Ich will auf Folgendes hinaus«, sagt sie. »Einer der Jungen hat schwere Verletzungen davongetragen. Aber du hast keine Reue gezeigt. Deswegen bist du hier. Ich glaube, der Richter hat die tieferen Gefühle nicht gesehen, die du in dir versteckst. Vor der Welt. Vielleicht sogar vor dir selbst.«

Meine Nackenhaare stellen sich auf. »Er war ein grausamer, hirnloser Tyrann«, sage ich. »Ich verrate Ihnen gern mein verstecktes Gefühl: Enttäuschung. Dalton hat einen Hoden verloren. Schade, dass ihm nicht beide abgebissen wurden. Das wäre besser für die Welt gewesen. Menschen wie er sollten sich nicht fortpflanzen. So.« Ich stehe auf. »Damit habe ich alle Ihre Fragen beantwortet.«

»Halt. Wir sind noch nicht fertig.« In Dr. Kinbotts Stimme schwingt eine Schärfe mit, die mich müde macht. Ich setze mich wieder. Das Ganze wird anstrengender, als ich gedacht hatte. Ich brauche einen Alternativplan.

»Die Therapie wird dir wertvolle Werkzeuge aufzeigen, mit denen du dich selbst verstehen lernst. Ich kann dir neue Wege aufzeigen, mit deinen Gefühlen umzugehen«, erklärt Dr. Kinbott, deren Stimme jetzt wieder so klingt, als würde sie mit einem Kleinkind reden. »Die Therapie kann dir helfen herauszufinden, was dich glücklich machen würde.«

Ich schüttle den Kopf. »Das weiß ich jetzt schon.«

»Erzähl mir davon«, fordert sie mich auf und beugt sich lächelnd vor. »Alles, was in unseren Sitzungen besprochen wird, ist streng vertraulich. Deiner Akte lagen ein paar Romanmanuskripte bei, die du selbst geschrieben hast. Willst du später mal Autorin werden? Möchtest du mir davon erzählen? Von Viper de la Muerte?«

Ich möchte vor allem schnellstmöglich von hier weg. Dass diese Fremde von meinen Romanen weiß, von Viper, ist mehr, als ich ertragen kann. Ich leiere ein paar Eckdaten herunter, während ich gleichzeitig meinen Fluchtplan entwerfe. »Viper ist intelligent, scharfsinnig und chronisch missverstanden.«

»Möchtest du mir etwas über die Beziehung zwischen Viper und ihrer Mutter Dominica erzählen? Das wäre vielleicht ein guter Anfang.«

»Vielleicht«, sage ich. »Aber vorher müsste ich schnell auf die Toilette, wenn ich darf.«

Sobald ich in dem in Babyblau eingerichteten Raum bin, öffne ich meinen Rucksack. »Nagelfeile«, zische ich. Eiskaltes Händchen reicht sie mir gehorsam heraus. Ich öffne fast lautlos das Schloss am Schiebefenster und zwänge mich aufs Dach hinaus. Als Dr. Kinbott nach mir ruft, rutsche ich schon am Fallrohr hinunter und lande auf dem Gehweg. Dominica aka Morticia kann gerne oben bleiben. Es hat mir noch nie gutgetan, sie mit mir herumzuschleppen.

Direktorin Weems wartet im Wagen vor dem Haus auf mich.

Sie hat mich höchstpersönlich hergefahren und mir angeboten, mir danach noch eine heiße Schokolade zu spendieren. Dass eine Frau in ihrer Position Chauffeurin für eine Schülerin spielt, lässt vermuten, dass sie mit meinem Fluchtversuch rechnet. Allerdings sicher nicht schon nach acht Minuten. Das schenkt mir einen Vorsprung – wenn auch nur einen kleinen.

Jericho ist ein ziemlich übersichtlicher Ort. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite entdecke ich ein Café namens Weathervane. Ich beschließe, mir dort einen Schuss Koffein abzuholen und einen Einheimischen dazu zu bringen, mir ein Taxi zu rufen. Ich weiß zwar noch nicht, wohin, aber mir wird schon was einfallen.

Als ich gedankenverloren über die Straße gehe, stoße ich mit einem Farmer zusammen, der eine Kiste Äpfel zum Markt trägt. Und wieder passiert es ganz plötzlich. Genau wie bei Pugsley, als er mir aus dem Spind entgegenfiel. Auf einmal bin ich woanders. Sehe etwas, das ich nicht sehen will. Diesmal sind es Äpfel, die auf der Landstraße verstreut liegen. Der Farmer hatte einen Unfall. Sein Kopf hängt in einem unnatürlichen Winkel zur Seite. Genickbruch. Bevor ich mehr erkennen kann, ist alles schon wieder vorbei. Der Farmer, dessen Kopf noch ordentlich auf seinem Hals sitzt, starrt mich an, als wäre ich die Verkörperung aller schlimmen Vorurteile über die Schüler der Nevermore.

Mir kommt kurz der Gedanke, es ihm zu sagen. Sie werden sterben.

»Wer hat dich denn rausgelassen?«, schnauzt er mich an. »Alles Irre bei euch.«

Ich gehe wortlos weiter. Das Glöckchen über der Tür des Cafés bimmelt, als ich eintrete. Hinter der Theke steht ein Junge, der etwas älter ist als ich und mit der Espressomaschine beschäftigt ist. Ich stelle mich davor und starre ihn so lange an, bis er mich bemerkt und vor Schreck einen Satz nach hinten macht.

»Ich brauche einen Vierfachen auf Eis«, sage ich. »Ist ein Notfall.«

Er deutet auf die riesige Maschine, die zischend Dampf rülpst. »Sorry, die Espressomaschine zickt.«

»Was hat sie denn?«, frage ich, während ich die Stelle, an der Dampf austritt, schon ausgemacht habe.

»Sie ist ein temperamentvolles Biest mit einem eigenen Willen«, sagt der Junge. »Ist auch nicht gerade hilfreich, dass die Gebrauchsanweisung auf Italienisch ist.«

Als ich im nächsten Moment neben ihm stehe, starrt er mich mit offenem Mund an. Als ob es so schwierig wäre, schnell ein Brett hochzuheben, um hinter die Theke zu schlüpfen. »Ein Dreischlitz-Schraubendreher und ein Vier-Millimeter-Inbus-Schlüssel müssten mir reichen«, sage ich und klappe die Front der Maschine auf, um ans Innere zu kommen.

Der Junge guckt nur weiter entgeistert. Typisch.

»Okay, pass auf. Ich repariere deine Maschine, dafür machst du mir dann meinen Kaffee und rufst ein Taxi.«

Kopfschüttelnd holt er die Werkzeuge. »In Jericho gibt es keine Taxis. Hast du es mal bei Uber versucht?«

Ich winke ab. »Ich habe kein Handy. Ich lasse mich nicht von machthungrigen Tech-Milliardären unterjochen, um sie noch reicher zu machen. Fährt von hier aus ein Zug?«

»Der nächste Bahnhof ist in Burlington, ungefähr eine halbe Stunde von hier«, antwortet er.

Perfekt. Die Maschine ist schnell repariert. Ich schraube trotzdem ein bisschen länger daran herum als nötig, damit es aussieht, als hätte ich ihm wirklich einen Gefallen getan. Die Leute wissen Effizienz nicht in dem Maß zu würdigen, wie es angebracht wäre. Besonders nicht in Gestalt eines kleinen Mädchens mit Zöpfen.

»Lag am Ventil«, sage ich schließlich. »Damit kenne ich mich aus. Das hatte ich bei meiner dampfbetriebenen Guillotine auch mal. Meine Puppen sind alle nur halb enthauptet worden, bis ich das Problem gelöst hatte.«

Die Erwähnung von Puppenköpfungen scheint den Jungen nicht zu schockieren, er lächelt. »Danke. Die Leute von der Nevermore machen sich normalerweise nicht so gern die Hände dreckig. Ach so, ich heiße übrigens Tyler.«

»Wednesday.«

»Wie wäre es, wenn ich dich zum Dank einfach selbst nach Burlington fahre? In einer Stunde ist meine Schicht zu Ende.«

Mein Versuch, ihn zu bestechen, damit er früher Schluss macht, bevor Weems mich in dieser – im doppelten Sinne sehr nahe liegenden – Lokalität findet, scheitert leider. Er sagt nur: »Ich bin nicht käuflich.« So hinderlich das für meine Pläne ist, bin ich gleichzeitig beeindruckt. Er hat Rückgrat. Eine Eigenschaft, die bei männlichen Jugendlichen normalerweise sehr rar ist.

Ich setze mich mit meinem Kaffee an einen Tisch am Fenster und konzentriere mich darauf, nach Weems Ausschau zu halten, weshalb ich die drei merkwürdig aggressiv aussehenden kostümierten Jungs erst bemerke, als sie direkt vor mir stehen.

»Was macht ein Nevermore-Freak hier draußen in der Wildnis?«, fragt einer von ihnen. »Das hier ist unser Tisch.«