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Loreen versucht bereits seit einigen Jahren, mehr über ihre geistige Lehrerin Anna zu erfahren. Wer ist diese mysteriöse Frau? Wo kommt sie her und wohin geht sie? Woher nimmt sie die Gelassenheit, trotz ihres schwierigen Lebens? Diese und andere Rätsel scheinen plötzlich lösbar, als eine Autofahrt die beiden für längere Zeit aneinanderschweißt. Endlich will Loreen die indianischen Wurzeln der Freundin kennenlernen. Sie weiß auch schon, wie sie ihr das Geheimnis ihres Lebens entlocken will - doch bevor Loreen ihren Plan umsetzen kann, kommt Anna ihr zuvor ... "Wege nach vorn" ist die Geschichte zweier Reisen: Da ist die nicht ungefährliche Autofahrt zu einem nicht bekannten Ort, an dem Anna eine Überraschung erwartet. Und da ist die Reise in Annas Vergangenheit, die Erzählung ihres Lebens und ihrer spirituellen Wurzeln, die auch Loreen nicht unberührt lassen wird.
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Seitenzahl: 856
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Autor:
Dr. Elke Jung
Umschlaggestaltung & Titelabbildung:
Maximilian Jung & Dr. Elke Jung
Lektorat:
Yannek Drees
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Widmung
In tiefer Ehrfurcht und Liebe widme ich diesen
Roman meinem spirituellen Vater und
Lehrer, dem nordamerikanischen Muskogee-Indianer
Marcellus Williams "Bear Heart".
E.J.
Hinweis des Autors
Alle Personen und Handlungen der Erzählung sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.
Ich möchte mich für das Zustandekommen dieser Romanes ganz herzlich bei meiner Familie bedanken, die mich insbesondere in den schwersten Jahren meines Lebens unterstützt und mich immer wieder motiviert hat, dieses Buch voranzutreiben und zu veröffentlichen. Ganz besonders bin ich Marcellus Williams "Bear Heart" zu Dank verpflichtet, der mich in indianische Weisheiten, Traditionen und Heilrituale eingeführt, meine Visionssuche begleitet und mir die Möglichkeit gegeben hat, an indianischen Riten wie dem Sonnentanz teilzuhaben. Ebenfalls hoch anerkennen möchte ich die Mühen und das Engagement von Regina Water Spirit, die meine Aufenthalte in New Mexiko ermöglichte und mich auf so liebevolle Weise vor, während und nach meinen Aufenthalten unterstützt und begleitet hat. Zudem möchte ich mich bei den Indianern unterschiedlicher Tribes bedanken, mit denen ich gemeinsame Zeremonien erleben durfte, sowie meinem Lehrer der Lakota Indianer, der mich in die Riten der heiligen Pfeife eingeführt hat. Auch möchte ich meinem spirituellen Bruder Don Dickerson meinen Dank aussprechen, der maßgeblichen Anteil daran hat, dass ich meine Lebenskrise überwinden und neue Wege gehen konnte. Nicht außer Acht zu lassen ist Marcy Brandenburg, die mir bei meinen Aufenthalten in New Mexiko eine angenehme und liebevolle Atmosphäre gegeben hat und zu einer wertvollen Freundin und Schwester geworden ist. Außerdem möchte ich meinen engsten Freunden und Freundinnen aus New Mexiko, South Dakota und meiner Heimat danken. Sie haben mich bei meinen Unternehmungen unterstützt und begleitet sowie durch viel Engagement und Gespräche inspiriert, diesen Roman zu schreiben. Auch haben sie mir geholfen, meinen Rohentwürfen Struktur zu verleihen und die Fehlerteufel ein wenig zu auszumerzen.
Besonderer Dank gebührt jedoch meinem Lektor Yannek Drees. Ohne seine Hilfe wäre ich nicht in der Lage gewesen, diese Roman-Trilogie zu veröffentlichen. Seinem Wissen, seinem Engagement, seinem Ideenreichtum, seiner Geduld mit mir sowie den zahlreichen Korrekturrunden ist es letztendlich zu verdanken, dass aus einem teilweise mit Fachbegriffen überfrachtetem, sehr sachlich geschriebenen Buch ein Roman werden konnte. Vielen Dank.
Abfahrt und Rückblick
Wiener Stadtleben und die Natur
Freiheit und Forschung
Klangsession
Autounfall
Neue Wege
Auf und Ab
Unerwartete Begegnungen
Die Kraft des Geistes
Warnung
Rückschlag
Erwachsen werden
Intuition
Freundschaft und Abschied
Harte Prüfungen
Zuversicht
Afrikanisches Wissen
Ruf der Indianer
Erdheilzeremonie
Aufbruch
Therapie und Freundschaft
Heimkehr
Visionssuche
Sonnentanz
Wolf Bird Woman – eine Heimkehr der anderen Art
Die heilige Pfeife
Zu Besuch bei den Lakota
Zeit der Zeremonien
Im Land der Lakota
Welt der Gegensätze
Ein großer Held
Familienangelegenheiten
Abschied und Neuanfang
Ankunft
Loreen steht auf der Wiese und ist schon ganz nervös. Sechs Stunden Fahrt haben sie noch vor sich. Das Auto ist gepackt. Sie kontrolliert noch einmal, ob sie auch nichts vergessen hat, nimmt die Haarbürste heraus und kämmt ihre langen, schwarzen Haare. Ihre dunkelbraunen Augen funkeln vor Ungeduld. Ihre Beine geben fast zwei Meter Schrittlänge vor, wenn sie von einer Seite des Wagens zur anderen schreitet. Sie prüft nochmals, ob ihre dunkelblauen Jeans auch wirklich genau passen. Hat Anna schon meine neuen Mokkasins bemerkt? Gesagt hat sie dazu jedenfalls noch nichts.
Zufrieden betrachtet Loreen ihre Bauchmuskeln, für die sie lange Zeit trainiert hat. Dann nimmt sie ihr Telefonbuch hervor und ruft vorsichtshalber die ganzen Freunde und Helfer nochmals an. Sie will wirklich sicher sein, dass die Vorbereitungen für die Zeremonie laufen. Sie geht eine kleine Runde, um die Nervosität ein wenig zu unterdrücken und Geduld zu üben, wie es ihr Anna gefühlte tausend Male gesagt hat. Wer ist diese Frau? Nun habe ich sie schon unzählige Male bei ihren Zeremonien mitgemacht. An sie herangekommen bin ich nie und trotzdem war sie immer wie eine Mama zu mir. Loreen bleibt stehen. Kann ich sie nicht unterstützen oder sogar einen ähnlichen Weg gehen? Ich würde so gerne in ihre Fußstapfen treten.
Immer wenn ich zu ihr gehe, sind meine Magenschmerzen plötzlich verschwunden. Kaum bin ich zurück und im Stress, geht das Ganze wieder los. Warum halten die Behandlungen einfach nicht an? Nun habe ich schon so viele Therapien versucht und meine Probleme werden immer schlimmer. Aber warum muss mir das immer passieren? Warum ist die Welt so ungerecht?
Loreen hat tausend Fragen und mit jeder Begegnung der beiden kommen neue hinzu. Sie betet, dass dieses Mal nicht nur Fragen offen bleiben. Es soll der Durchbruch werden, Anna näher zu kommen und Antworten zu erhalten. Dieses Mal will sie Anna unbedingt überraschen. Nie zuvor ist es ihr gelungen, aber heute muss es funktionieren. Da ist sich Loreen ganz sicher. Aber sie müssen los. Und zwar jetzt gleich!
Alles ist perfekt organisiert. Nun müssen sie nur noch pünktlich ankommen. Unruhig geht Loreen auf Anna zu und sagt: „Anna, wir müssen gehen. Du weißt, die Leute warten schon. Heute Abend ist die Zeremonie und wir müssen noch sechs Stunden fahren.“ Anna steht da, in Gedanken vertieft, und beobachtet die Vögel. Loreen ist sich nicht sicher, ob Anna überhaupt mitbekommen hat, was sie gesagt hat. Was soll ich tun? Wir sind spät dran. Nervös läuft Loreen auf und ab und rauft sich die Haare. Der Verkehrsfunk berichtet unentwegt von ellenlangen Staus. Wie sollen wir das nur schaffen? Es ist eigentlich alles wie immer. Anna steht da, als ob ihr das alles gar nichts ausmachen würde. Sie scheint sich mit den Vögeln unterhalten. Loreen weiß, dass sie Anna dabei nicht stören darf. Es würde ohnehin keinen Sinn machen. Sie weiß, dass Anna sonst gleich wieder sagen würde: „Gib mir bitte noch ein paar Minuten Loreen ok? Bitte.“ Dann müsste sie Anna allein lassen. Diese ‚paar‘ Minuten können manchmal eine halbe Stunde oder länger dauern.
Irgendwie gibt es Leute, die nicht steuerbar sind. So wie Anna. Loreen hat es längst aufgegeben, sich dagegen aufzubäumen, also beschließt sie, ein weiteres Mal alle Sachen im Auto zu kontrollieren und zu warten. Währenddessen betrachtet sie Anna näher und bemerkt das erste Mal, wie sehr sie sich verändert hat. Die zierliche und doch sportliche Gestalt mit den schulterlangen, hellblonden Haaren ist nicht mehr da. Die Haare sind stattdessen brünett geworden und reichen bis tief unter die Schulterblätter. Sie hat außerdem breite Schultern bekommen, die jetzt sogar breiter sind als ihre Hüften. Ihr Gang ist aufrecht, sanft, andächtig, manchmal fast schleichend, aber trotzdem stolz. Oft ist sie kaum zu hören und steht plötzlich da. Sie ist braungebrannt und ihre knochige Gestalt ist auch durch die Bekleidung noch sichtbar. Ihre Augen strahlen tiefblau wie ein Ozean, in dem sich viele Geheimnisse verbergen.
Wann immer Loreen diesen Blick gesehen hat, ist ihr klar geworden, dass sie nur kleine Teile der ganzen Tiefe von Annas Gedanken, Gefühlen, ihrer Weisheit je erforschen wird. Loreen weiß, dass Anna schon immer anders als die anderen gewesen ist, immer schon die Extreme gesucht hat. Niemand kennt Anna wirklich oder weiß, was sie gerade tut. Immer wenn Loreen denkt, Anna endlich kennengelernt zu haben, geschieht etwas unerwartetes. Einiges meint Loreen jedoch schon über sicher über Anna zu wissen.
Schon als Kind hat Anna sich mit hochtrabenden philosophischen Themen auseinandergesetzt und ein Buch nach dem anderen verschlungen. Sie ist in die Tiefen klassischer Musik eingedrungen, hat anschließend komplizierte mathematische Gleichungen gelöst, um kurz darauf Hochleistungssport zu treiben. Oft hat sich Anna in die Natur geflüchtet. Erstaunlicherweise sind immer einfache und naturverbundene Menschen ihre besten Freunde gewesen. Sie haben gemeinsam Mutproben gemacht und versucht, die Grenzen des Körpers auszuloten.
Schon damals muss es unmöglich gewesen sein, Anna in ein System zu pressen. Sie hat immer ein Schlupfloch gefunden, um auszubrechen und das zu tun, was sie selbst wollte. Ihre Doktorarbeit hat sie mitten in der Nacht geschrieben. „Da hat man die meiste Ruhe, man wird von niemandem gestört. Alle schlafen. Das ist genial“, hat sie Loreen einmal erklärt. Nebenbei hat sie die US Open, das berühmte Tennisturnier in New York, verfolgt. Tennis ist für eine lange Zeit Annas Hobby gewesen, aber beim Schreiben ihrer Dissertation hat es ihr trotzdem nicht gereicht. Um die notwendige Inspiration zum Schreiben zu bekommen, hat sie Gustav Mahler in einer Lautstärke hören müssen, dass ihr fast die Ohren geplatzt sind. „Das brauche ich einfach“, ist ihr einziger Kommentar dazu gewesen, „da gehe ich so richtig auf und die Tinte läuft fast von ganz allein.“
Ansonsten muss Anna jede freie Minute genutzt haben, um zu reisen und die Welt zu erforschen. Obwohl sie nie mit ihrem Mut prahlt, haben es oft extreme Bergtouren in vollkommener Abgeschiedenheit sein müssen, um sich am Ende der Reise dann in Großstädte zu begeben, wo das Nachtleben sprudelte und die Nacht zum Tag wurde. Das Ganze ist dann abgerundet worden mit den besten kulinarischen Köstlichkeiten der Region, am besten noch kombiniert mit den landesspezifischen Klängen, möglichst natürlich Livemusik.
Eigenschaften, die Anna immer gefehlt haben, sind Konstanz und Geduld gewesen. Ihren Erzählungen nach hat Anna es immer gehasst, unnötige Dinge zu lernen, täglich Zeit für Routinetätigkeiten zu verschwenden oder ein Instrument üben zu müssen. Sie muss sich allerdings darüber im klaren gewesen sein, dass sie sich auf diesen Schwächen nicht ausruhen durfte. Später hat Anna eine Familie gegründet, um sesshaft zu werden. Im Grunde scheint es ein Ausdruck der Sehnsucht nach ihrem Elternhaus, einer Heimat, einen Lebensmittelraum gewesen zu sein. Wie kann man sich besser zwingen, an einem Platz zu verweilen, als ein Haus zu kaufen? Anna hat anscheinend großen Wert darauf gelegt, in einem eigenen, gemeinsamen Haus mit ihrer Familie zu wohnen. Der Besitz an sich ist ihr dabei wohl weniger wichtig gewesen. Es ist ihr offenbar vielmehr darum gegangen, sich selbst zu zwingen, sich niederzulassen, um nicht ihr Leben lang von einem Ort zum nächsten zu pilgern. Ein weiterer Vorteil war die Unabhängigkeit von irgendwelchen Vermietern, an dem Haus selbst hat Anna jedoch in keinster Weise gehangen. Es ist für sie vermutlich nur ein Dach über dem Kopf gewesen, sonst nichts.
Loreen schaut rüber zu dem kleinen Hügel. Anna steht immer noch da. Sie lebt in ihrer Welt, einer anderen Welt. Loreen ist nervös. Will Anna etwa schon wieder meine Geduld testen? Das hat Anna schon oft getan. Oft hat Loreen bei vergangenen Zeremonien auf sie warten müssen. Es kann für Anna immer einen Grund geben, warum sie im einen Moment noch nicht losfahren will. Im nächsten Moment sieht aber vielleicht alles ganz anders aus und sie müssen sofort fahren, genau in diesem Augenblick. Die wahren Gründe dafür hat sich Loreen nie erklären können. Es ist Annas Intuition. Man kann sie einfach in keinen Terminplan pressen. Auch im Berufsleben hat sie von je her mit Pünktlichkeit bei der Wahrnehmung von Terminen auf Kriegsfuß gestanden. Anna ist ein Buch mit sieben Siegeln. Ihre Reaktionen sind nie kalkulierbar. Sie folgt anderen Gesetzen, die mit Logik nicht zu erklären sind. Manchmal versteht Loreen erst Wochen später, warum Anna dieses oder jenes getan hat oder wovon sie wirklich gesprochen hat. Immer wieder gibt es Ereignisse, die sich Loreen nicht erklären kann. Für Anna scheint das alles jedoch ganz selbstverständlich zu sein. In diesen Fällen erntet Loreen nur ein verschmitztes Lächeln. So kommt es zuweilen, dass Anna sie vor irgendwelchen Dingen warnt, die sie besser lassen solle. Dann weiß Loreen, dass Anna etwas gesehen hat, was von entscheidender Bedeutung ist. Auch wenn sie Loreen selten sagt, was es wirklich gewesen ist. Es wäre auch sinnlos, danach zu fragen. Dann bekäme Loreen nur eine Antwort wie: „Zu gegebener Zeit wirst Du es erfahren oder selbst herausfinden. Die Kunst besteht darin, immer nur das Preis zu geben, was für Dein Gegenüber zu diesem Zeitpunkt angemessen ist und er oder sie verkraften kann.“ Manches Mal hat sie in der Tat den Grund später herausgefunden und sich klargemacht, wie wichtig es ist, Annas Ratschlag zu folgen. Sie ist Anna über jeden Ratschlag dankbar, den sie ihr gibt. Auch Loreen will eines Tages anderen Menschen helfen und freut sich über jedes Gespräch und die gemeinsamen Zeremonien mit Anna.
Nun kann sie es kaum erwarten, endlich loszufahren, denn sie weiß, dass Anna wieder viel erzählen wird. Jedes Mal ist es anders gewesen und sie weiß vorher niemals genau, worum es gehen wird. Manchmal hat Loreen aber Glück gehabt und Anna ist auf ihre Fragen eingegangen. Stück für Stück hat sie Anna näher kennengelernt, was nicht immer einfach gewesen ist. Man kann sich stundenlang mit Anna unterhalten, ohne zu erfahren, wer sie ist, woher sie kommt und wohin sie gehen wird. Jede Unterhaltung ist aber auch eine Lehrstunde mit neuen Erkenntnissen. Bisher hat Loreen jedes Mal eine paar Puzzleteile bekommen, die sie mühsam zusammen gesetzt hat. Sobald sie dann geglaubt hat, die Lösung gefunden zu haben, hat ihr Anna das nächste Rätsel aufgegeben und all ihre Bausteine sind wie ein Kartenhaus zusammengefallen. Manchmal hat Loreen das Gefühl, es sei nur ein Spiel, dass Anna vielleicht sogar amüsieren könnte.
Aber heute wittert Loreen ihre Chance. Sie hat einen halben Tag Zeit. Die Sonne strahlt über dem wolkenlosen, weißblauen Himmel. Endlich ist es soweit. Es ist knapp eine Stunde vergangen, als Anna kommt. Sie steigen ins Auto und fahren los. „Wir müssen zwischendurch noch mal Halt machen. Es gibt noch etwas zu tun.“ Loreen ist ganz entnervt. Sie weiß, dass Anna unterwegs noch eine kleine Zeremonie machen wird. Das würde wieder eine halbe Stunde kosten, wenn nicht mehr. Sie fragt: „Wir müssen pünktlich da sein. Wie sollen wir das schaffen? Wir sind jetzt schon zu spät dran!“ Anna lächelt verschmitzt und erwidert: „Mach Dir keine Sorgen.“ Loreen ist platt. Was soll sie darauf noch sagen? Diskutieren zu wollen, würde ohnehin nichts ändern.
Loreen grübelt lieber, wie sie am besten ein sinnvolles Gespräch beginnen kann. Sie will alles über Anna erfahren, ihre Kindheit, ihre Erfahrungen, einfach alles. Am meisten interessiert sie, wie Anna das erste Mal mit den Indianern in Berührung gekommen ist. Bisher hat Loreen darauf nie eine klare Antwort bekommen. Fortwährend hat Anna entgegnet: „Das ist eine lange Geschichte.“ Gerade als Loreen überlegt, ob sie heute vielleicht mehr Glück haben würde, fängt Anna scheinbar ganz unmotiviert an zu erzählen.
Die Sonne scheint. Es ist ein heißer Sommertag, die Luft ist klar und der Himmel azurblau. Ich bin sechs Jahre alt und gehe wie jeden Tag in den Garten. Nachbars Hühner sind schon in Lauerstellung. Sie wissen, dass ich die letzte Vogelmiere auf dem Sandboden finden, für sie zupfen und zu ihnen über den Zaun werfen werde. Es ist das einzige grüne Futter, das sie bekommen. Begeistert renne ich zum Zaun und freue mich, wie sich die Hühner darum streiten. Ich zupfe und zupfe, bis keine Vogelmiere mehr zu sehen ist. Dann setze ich mich auf den hellen Sandboden und schaue den Hühnern beim Fressen zu. Was für ein Anblick. Unwillkürlich gehen meine Mundwinkel nach oben.
Plötzlich hallt lautes Gebell zu mir herüber. Oh ja, fast hätte ich sie vergessen. Es ist Bella, die ihr Recht einfordert. Natürlich habe ich auch etwas für die Hündin dabei. Auch wenn es nur ein Stück trockenes Brot ist, wedelt Bella mit dem Schwanz und blickt dankend zu mir auf. Lange sitze ich auf dem Sand und schaue Bella zu. Eigentlich hatte ich damals Angst vor Hunden, aber bei Bella war es etwas anderes. Sie war eine wunderschöne, reinrassige Schäferhündin und sie tat mir leid. Sie war immer angekettet und hatte nur einen kleinen Käfig für sich. Würde sie mich wohl beißen, wenn sie frei wäre? Anfangs bin ich jedenfalls noch vorsichtig gewesen.
Dieses Mal habe ich ein Stück Wurst dabei. Ich habe es aus dem Kühlschrank genommen und werde bestimmt wieder Ärger bekommen, aber das ist mir egal. Ich werfe Bella ein Stück herüber, aber es bleibt im Zaum stecken und fällt schließlich auf den Boden, sodass sie es nicht erreichen kann. Ich bin traurig und greife mit dem Arm durch die Maschen des Zauns. Plötzlich fängt Bella an zu bellen und springt wild umher. Ich bekomme es mit der Angst zu tun. Eine Hornisse umfliegt mein Gesicht. Ich schlage wild um mich, aber mein Arm ist im Zaun eingeklemmt. Ich kann mich nicht befreien. Bella wird immer wilder und reißt sich schließlich los. Dann sehe ich nur noch viel Blut und verliere das Bewusstsein.
Ich beginne zu träumen. Ich liege auf dem Boden mitten in der Wüste. Lauter Berge umgeben mich. Neben mit steht ein Wolf, der mich bewacht. Ab und zu hebt er den Kopf und heult. Dann wird alles dunkel um mich herum. Irgendwann fühle ich etwas Warmes auf meiner Wange, als ob mich jemand mit einem warmen Lappen abwischen würde. Ich öffne die Augen und sehe wieder den Wolf vor mir stehen, doch dieses Mal habe ich keine Angst. Inzwischen ist es Abend geworden. Die Sonne ist dabei, unter zu gehen. Ich betrachte den Wolf und verstehe nicht ganz, was passiert ist. Wie ist er hier hin gekommen? Ich reibe mir die Augen und fühle einen stark brennenden Schmerz am linken Unterarm. Langsam fange ich an zu begreifen. Ich setze mich auf und sehe, was geschehen ist.
Ich habe mir eine tiefe Risswunde am linken Unterarm zugezogen. Mein ganzes Kleid ist voll mit Blut. Bella ist über den Zaun gesprungen und hat mir die ganze Zeit die Wunden geleckt. Ich blute nicht mehr. Bella sitzt wachsam neben mir und wartet. Ich umarme sie und bin einfach glücklich. Sie hat mich gerettet. Bella ist ja auch kein Hund, sie ist mein Wolf. Nun geht es für mich nur noch darum, keinen Ärger zu bekommen. Bella hat sich von der Kette losgerissen. Das ist schlimm. Wenn das die Nachbarn erfahren, schläfern sie Bella ein! Alles sieht danach aus, als ob sie mir weh getan hätte, obwohl sie doch mein Retter ist! Also renne ich zum Wasserhahn im Garten und wasche mein Kleid. Dann mache ich mich schmutzig, damit das Blut nicht auffällt. Ich klettere über den Zaun zum Nachbarn und hoffe, dass Bella wieder herüberspringt. Sie bleibt aber gemütlich sitzen und wartet. Sie will nicht zurück an die Leine.
Also lasse ich mich zu Boden fallen, um Bella dazu zu bewegen, zurück zu kommen. Aber sie springt einfach nicht. Stattdessen läuft sie zum Zaun und scharrt sich ein großes Loch, um darunter durch zu kriechen. Ich bin natürlich erleichtert und kette Bella wieder an. Dann versuche ich, zurück zu klettern. Da stehen auch schon die Nachbarn neben mir und halten mich fest. Ich bleibe wie angewurzelt stehen und bringe kein Wort heraus. „Was hast Du Dir dabei gedacht?“, will der Besitzer wissen. „Bella hat mir leid getan. Ich wollte mit ihr spielen.“ „Du blutest.“, sagt er entsetzt. „Ich habe mir am Zaun den Arm aufgerissen. Bitte holen Sie nicht die Polizei, bitte!! Bitte sagen Sie nichts meinen Eltern, bitte. Ich mache alles, was sie wollen, bitte!!“ Mir rollen die Tränen über die Wangen. Die Nachbarn scheinen Mitleid mit mir zu haben. „Und wie willst Du das wieder gut machen?“, will der Nachbar wissen. Mir fällt nur ein: „Dann kann ich ja Bella ausführen und mit ihr Gassi gehen.“
Das Ehepaar sieht sich fassungslos an. Inzwischen hat sich Bella in unserer Mitte positioniert und wedelt begeistert mit dem Schwanz. Sie schaut abwechselnd auf mich und die Nachbarn und bettelt. Die Nachbarn beginnen zu schmunzeln, dann sagt die Frau ganz ernst: „Ok, wenn Du das wirklich möchtest, musst Du mit Deinen Eltern klären, ob Du es darfst. In diesem Fall ist es dann aber eine Verpflichtung, jede Woche einmal mit Bella Gassi zu gehen, immer um dieselbe Zeit.“ Feuer und Flamme springe ich auf und auch Bella ist nicht mehr zu halten. Sie springt hoch, läuft hin und her und wedelt mit dem Schwanz. Der Mann sagt noch: „Gut. Morgen um Punkt fünf Uhr kommst Du rüber. Wenn Du Bella nicht ausführen darfst, rupfst Du Unkraut für uns. Und nun los, heim. Deine Eltern warten bestimmt schon.“ Ich verabschiede mich und renne heim. „Danke!!“, rufe ich noch und verschwinde.
Als ich daheim ankomme, ist mein Kleid schon getrocknet und das Blut sieht wirklich aus wie Schmutz. „Anna, Abendessen!“ höre ich meine Mutter rufen. Ist es schon wieder so spät? Ich muss gehen, auch wenn es mir schwer fällt. Nun muss ich mich wieder mit meiner Familie an den Tisch setzen und essen, pünktlich auf die Minute, wie immer. Dabei habe ich gar keinen Hunger und wäre so gern noch draußen bei meiner neuen Freundin Bella geblieben. Mit dem schmutzigen Kleid würde ich bestimmt wieder Ärger bekommen. Das ist immer so, wenn ich mit Flecken Heim komme. Zu allem Überfluss sitzen auch noch meine Brüder am Tisch.
Thomas und Christian waren Zwillinge und kaum zu unterscheiden. Sie waren bildhübsch, hatten breite Schultern, waren schlank und groß. Im Sommer waren sie braungebrannt. Dann leuchteten ihre blauen Augen unter den hellblonden Haaren. Sie waren vier Jahre älter als ich und hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Für sie war ich nur die kleine Schwester, die nichts zu sagen hatte und auf die man aufpassen musste. Das war ziemlich lästig und hielt sie von ihrer Freizeit ab. Schließlich konnten sie mit Mädels eh nicht viel anfangen. Ziemlich anstrengend, sage ich dir!
Aber an diesem Tag hatte ich ein neues Ziel. Ich musste meine Eltern überzeugen, mit Bella spazieren gehen zu dürfen. Ich war überzeugt davon, dass sie mir das nicht erlauben werden. Dieses Mal war es aber etwas anderes. Meine Eltern hatten damals viel zu tun, um das nötige Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen. Da war die gemeinsame Zeit mit ihren Kindern rar. Als Ausgleich kam es ihnen wohl gerade recht, mir einen heiß ersehnten Wunsch zu erfüllen. Das war der Beginn einer langen Freundschaft zwischen mir und Bella, meinem Wolf.
Wenig später waren wieder einmal Ferien, meine Eltern mussten arbeiten und die Nachbarn waren mit Bella verreist. Also war ich wieder mit meinen Brüdern allein und musste auf sie hören. Sie werden mir wieder vorhalten, dass sie auf mich aufpassen müssen, dachte ich. Wir haben uns immer viel gestritten. Die beiden waren dann meist wütend auf mich, weil sie sich immer wieder um mich kümmern mussten. Ich konnte nur hoffen, dass Frau Steinfurt, die Hauseigentümerin, da war.
Frau Steinfurt war wie eine Großmutter für mich und lebte mit ihrem Mann in der Erdgeschosswohnung. Er war schon sehr alt und lag die meiste Zeit im Bett. Draußen konnte er sich nur noch mit dem Krückstock fortbewegen. Sie kümmerte sich um den Garten und war oft draußen. Manchmal waren sie zwar streng, etwa wenn sie sich wieder zum Mittagsschlaf hingelegt hatten und ich mit Freunden nahe der Hauswand Rollschuhe lief. Oft gab es auch Ärger, wenn ich meinen Fußball immer wieder mit voller Wucht an den Holzzaun schoss, aber sie haben auch viel für mich getan. Manchmal durfte ich bei ihnen bleiben, dann kochten wir zusammen oder spielten sogar. An ganz besonderen Tagen spielte mir Frau Steinfurt verschiedene Stücke auf dem Klavier vor. Im Winter richteten sie für mich sogar eine Spritzeisbahn auf dem Hof her, damit ich Schlittschuh laufen konnte. Das habe ich ihnen nie vergessen!
Ich selbst wohnte gemeinsam mit meinen Eltern und Brüdern in einer kleinen Wohnung im Dachgeschoss des Zweifamilienhauses. Das Haus lag in einem Komponistenviertel am Rande von Wienerherberg. Das Schlafzimmer mussten wir uns mit unseren Eltern teilen. In der Küche war gerade einmal Platz für einen Esstisch mit Abwaschschüsseln, einen Herd, auf dem mit offenem Feuer gekocht wurde, ein kleines Buffet und einen Kühlschrank.
Wir hatten auch ein kleines Regal für unser Spielzeug, das mein Vater selbst gebaut hatte. Er war ein nicht sehr großer Mann, hatte aber wunderschöne, schwarz-gewellte Haare. Seine Muskeln erinnerten noch an den Sport, den er in der Jugend betrieben hatte. Im Laufe der Jahre war der Sport gewichen und er konzentrierte sich auf die Arbeit und seine Familie, für die er alles tat. Sie war zu seinem Lebensinhalt geworden, obwohl er oft Dienstreisen hatte und selten daheim war. Auch wenn er nicht unterwegs war, kam er oft spät von der Arbeit heim. In seiner Freizeit reparierte er dann Fahrräder für die Nachbarschaft oder spielte Federball mit meiner Mutter.
Auch meine Mutter arbeitete, sodass ich nach der Schule oft mit meinen Brüdern allein war. Meine Mutter war ziemlich klein und mit weiblichen Rundungen üppig ausgestattet. Sie war die Leidenschaft pur und sprudelte vor Energie und Enthusiasmus. Sie war wirklich jeder Situation gewachsen, auch wenn sie allein mit uns Kindern war. Dabei gab es natürlich oft harte Diskussionen, denn ich habe mir früher schon kaum etwas sagen lassen. Ich hatte eben meinen eigenen Willen.
Bald bin ich aber den Streitigkeiten aus dem Weg gegangen und habe mir meine eigene Umgebung gesucht. Ich nutzte jede freie Minute, um meine Freundinnen zu besuchen und draußen zu spielen. In der Nähe gab es etwa ein kleines Wäldchen mit hohen Bäumen und Sträuchern. Sie boten einen hervorragenden Unterschlupf und dienten als Geheimversteck. Unter den Büschen bauten wir uns eine eigene Wohnung. Die Zimmer malten wir auf die Erde und das Bett und die Couch füllten wir mit Laub aus. Dann sammelten wir Goldruten, deren Blüten und Blätter wir zum Kochen in der kleinen Küche benutzten. Mit den Stöcken bauten wir uns Pfeil und Bogen. Dazu spannten wir die Stöcke mit einer kleinen Schnur zusammen. Anschließend gingen wir gemeinsam zur Jagd. Das heißt, wir steckten ein paar Pfeile in die Hose und rannten wild umher. Immer wenn wir etwas „Verdächtiges“ sahen, nahmen wir einen Pfeil heraus, spannten den Bogen und schossen. Wir machten Wettbewerbe und versuchten, dasselbe Ziel zu treffen.
Manchmal hatte ich Glück und Ralf hatte Zeit für mich. Er wohnte nur zwanzig Gehminuten entfernt. Er hatte knallrote Haare und eine helle, blasse Haut mit vielen Sommersprossen. Er war schlank und schon viel größer als ich. Er konnte hervorragend reiten und zeigte mir die Pferdekoppel und sein Lieblingspferd. Ralfs Eltern waren Großbauern und hatten eine Weide mit fünf Pferden. Ich liebte es, sie zu füttern. Ab und zu durfte ich sie auch striegeln oder sogar füttern. Zum Reiten hatten meine Eltern leider kein Geld.
Im Laufe der Zeit ergab es sich, dass ich im Grunde nur zu den Mahlzeiten daheim war. Ich war über jede Minute glücklich, die ich in dem kleinen Wäldchen oder mit meinen Freundinnen verbringen konnte. Auch daheim hatte ich mir mein kleines Reich eingerichtet. Ich saß oft auf dem Boden der kleinen Küche oder direkt unter dem Tisch und spielte mit meinen Indianern. In den Kämpfen gegen die Cowboys gewannen natürlich immer die Indianer, das war ganz klar.
Eines Nachts hatte ich wieder einen Traum. Ich sehe mich auf der Straße stehen. Es geht mir nicht gut. Tränen rinnen über meine Wangen. Die Sonne blendet mich und ich schaue hoch zum Himmel. Plötzlich deckt ein riesiges Gesicht die Sonne ab. Es ist ein alter Mann mit einem zerfurchten Gesicht. Er ist ein Indianerhäuptling, der mit einem mächtigen Federgewand geschmückt ist. Er nimmt meine Hand und streicht mir mit der anderen Hand sanft über die Wange. „Fürchte Dich nicht. Die Indianer werden Dich beschützen. Ein weißer Schimmel wird zu Dir kommen und Dir Kraft geben. Nimm ihn mit, mit in Dein Herz. Er wird Dich beschützen, wo immer Du bist. Er wird Deinen Schmerz lindern und Dir helfen, wenn es Dir nicht gut geht.“ Ich blicke den Häuptling verdutzt an. Ich bringe kein Wort heraus und stehe ihm mit offenem Mund gegenüber. Wahrscheinlich hat er meine Gedanken gelesen, denn er fragt: „Du willst sicher wissen, wer ich bin?“ Ich nicke. „Ich bin Swimming Bear, Dein Vater. Wenn es soweit ist, werden wir uns begegnen.“ Dann ist er so plötzlich weg, wie er gekommen ist.
Ich wachte auf und bekam den Mund fast nicht mehr auf. Er war geschwollen und schmerzte so sehr, dass ich am liebsten geschrieben hätte. Mit Mutter fuhr ich sofort als Notfall zum Zahnarzt, wir kamen sofort dran. Ich hatte damals zwar noch Milchzähne, aber sie machten mir höllischen Ärger. Die Vorderfront meines Unterkiefers musste mit einem langen Schnitt geöffnet werden. Ich schrie vor Schmerz. Ich bekam eine Bandage gelegt, die täglich gewechselt werden musste.
Nachdem wir den Zahnarzt verlassen hatten, gingen wir in den Spielzeugladen nebenan. Heute durfte ich mir einen Indianer aussuchen, deshalb war ich ganz aufgeregt und vergaß den Schmerz. Ich rief begeistert: „Mama, Mama, ich brauche einen weißen Schimmel! Er wird mir helfen, dass ich keinen Schmerz mehr habe.“ „Wie kommst Du darauf?“, wollte sie wissen. „Swimming Bär hat es mir gesagt.“ Sie schaute mich verdutzt an. „Wer?“ „Na Swimming Bär, der Indianerhäuptling hat es mir gesagt.“ Sie dachte wahrscheinlich, dass mal wieder die Fantasie mit mir durchging und ließ sich vom Verkäufer die Indianerfiguren zeigen. Dieser legte an die fünfzehn unterschiedliche Indianer und Reiter auf den Verkaufstisch. Ich schaute einmal durch und sagte: „Da ist er ja, mein Schimmel, danke Swimming Bär.“ Meine Mutter schüttelte nur den Kopf und kaufte mir den Indianer samt Pferd. Es war ein prachtvoller Schimmel. Ich ließ ihn nicht mehr los, küsste seinen Kopf und drückte ihn an mich. Er half mir, den Schmerz zu überwinden. Er gab mir Trost und Zuversicht. Von nun an musste er immer mit, wohin ich auch ging.
Daheim wollte meine Mutter einen Kuchen backen und bat mich, das Mehl aus dem Unterschrank zu holen. Kaum bückte ich mich, ging die Wunde wieder auf. Es wollte nicht aufhören zu bluten. Ich musste mich wieder aufrichten und den Mund ausspülen. Dann nahm ich das Pferd wieder in die Hand. Langsam ließ der pulsierende Schmerz nach. Heute durfte ich sogar ins Wohnzimmer. Das durfte ich immer, wenn es mir schlecht ging. Dann konnte ich sogar auf der Couch sitzen, obwohl ich das Wohnzimmer eigentlich nur Sonntags oder an Feiertagen betreten durfte. Nachdem es mir wieder besser ging, mussten die Regeln natürlich wieder eingehalten werden.
Eines Tages brachte mein Vater zwei Schalen und Gips mit. Ich hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte. Er rührte den Gips mit Wasser an und erklärte mir, dass er gern gemeinsam mit mir einen Buddha in Gips gießen und anschließend mit Goldbronze anstreichen wollte. Ich war gespannt wie ein Flitzebogen. Diese Figur hatte ich schon öfter gesehen und sogar ein wenig darüber gelesen. Es war eine große Ehre für mich, so etwas tun zu dürfen. Stunden, Tage und Wochen verbrachte ich damit, die Figur herzustellen. Jeden Tag betrachtete ich das Meisterwerk und war ganz begeistert. Es war ein tolles Gefühl, den Buddha in den Händen zu spüren. Irgendetwas Besonderes ging von ihm aus. Was es war, wusste ich nicht, aber es war schön und das reichte für den Augenblick. Gern hätte ich eine eigene Vitrine gehabt, um dem Buddha einen gebührenden Platz zu geben, aber an ein eigenes Kinderzimmer war damals nicht zu denken.
Manchmal, wenn ich allein war, ging ich heimlich ins Wohnzimmer. Heute war auch so ein Tag, denn es waren Ferien und meine Eltern waren bei der Arbeit. Niemand war daheim und ich nutzte meine Chance. Von unten drang wunderschöne Musik herauf. Es war Frau Steinfurt, die Vermieterin. Ich grinste und freute mich, die Klänge zu hören. Ich legte mich auf den Boden und presste mein Ohr fest auf die Dielen, um der Musik zu lauschen. Plötzlich hörte ich nichts mehr, es war totale Stille. Ein wenig später läutete es an der Tür. Ich erschreckte mich fast zu Tode. Mein Herz begann laut zu klopfen. Ich dachte nur: Hoffentlich ist es kein Fremder. Als ich vorsichtig öffnete, stand Frau Steinfurt vor mir. Ich war erleichtert und wusste sofort, dass es ein schöner Tag werden würde.
Ich durfte wieder in dieses wunderschöne Wohnzimmer. Der Klavierhocker wurde wie beim letzten Mal an meine Größe angepasst und ich durfte Klavier spielen, einfach spielen, was immer ich wollte. Es war wie im Traum. Anschließend gingen wir raus in den Garten, um die Anemonen anzuschauen. Frau Steinfurt erzählte mir, wie sie es schon oft getan hatte, dass die Blumen nach mir – nach Anna – benannt worden waren. Ich wusste schon, dass das nicht stimmte, freute mich aber jedes Mal darüber.
Ich liebte die Pflanzen und Tiere. Draußen war es einfach am schönsten, da war ich frei. Manchmal, wenn die Familie Steinfurt nicht da war, hängte ich mich an die schmalen, rutenähnlichen Äste der riesigen Trauerweide, die im Garten stand. Dann schwang ich mich von einer Seite zur anderen, wie ich es von Tarzan gesehen hatte. Ich liebte diese Abenteuer.
Manchmal im Sommer machte meine Familie Campingurlaub. Dann schipperten wir in dem kleinen Boot die Kanäle entlang, um mehrere Tage am Neusiedler See zu verbringen. Ich liebte den See. Er war einfach riesig und dort warteten immer viele Kinder. Wir konnten auf den Liegewiesen Ball spielen, baden gehen und manchmal gab es sogar Eis. Leider ging diese Zeit immer wieder viel zu schnell vorbei.
Irgendwann gingen aber nicht nur die Urlaube sondern auch die schöne Zeit in der Natur zu Ende. Wir zogen in die Großstadt, nach Wien, in ein großes Mehrfamilienhaus mit vielen Eingängen und Mitbewohnern. Ich wusste, dass ich meine Freunde vielleicht nie wieder sehen würde. Damit war für mich alles vorbei. Ich musste mitgehen, ob ich wollte oder nicht. Es gab keinen Garten mehr, keine Trauerweide, keine Pferde, kein Geheimversteck, kein Klavier. Auch die Campingurlaube gab es nicht mehr, denn meine Eltern verkauften das Boot.“
„In Wien gab es nur viele Autos. Zu allem Überfluss musste ich auch noch eine andere Schule besuchen. Ohne meine Freunde fühlte ich mich verlassen und einsam. Inzwischen war ich elf Jahre alt, aber noch immer ein Kind. Die Mädchen hier schminkten sich, einige rauchten sogar schon. Manche von ihnen gingen in Discos und Bars. Sie gründeten Cliquen und wollten mit Buben ausgehen. Tief in meinem Herzen dachte ich: Was soll ich nur tun? Warum soll ich jetzt hier leben? Und vor allem: Wann kann ich weg von hier?
Glücklicherweise lernte ich bald Maria und Elvira kennen. Sie kannten die Gegend sehr gut und hatten mit Tanzen und Schminken nichts am Hut. Auch sie liebten die Natur und zeigten mir, dass es hier ebenso Plätze gab, an denen man Abenteuer erleben konnte. Es gab sogar einen kleinen Park und kleine Bäche mit mehreren Zuflüssen. Gemeinsam zogen wir los, um die Umgebung zu erkunden und die – für mich neue –Welt zu entdecken. Wir kletterten auf Bäume und beobachteten die Natur. Zu guter Letzt gründeten wir einen Geheimbund. Jeder, der darin aufgenommen werden wollte, musste einen Mutsprung mit kurzen Hosen von einem umgekippten Baum in hoch gewachsene Brennnessel hinter sich bringen. Wir bauten auch Staudämme und liefen im Winter Schlittschuh auf dem Eis des Nesselbachs, wenn er endlich auch einmal zugefroren war. Außerdem blieben wir draußen bis zum Einbruch der Dunkelheit, wann immer es ging. Das Größte daran war, wenn gewisse Sachen unentdeckt blieben, seien es unser kleines aus Ästen und mit Blättern gebautes Zelt und unser Geheimversteck, oder dass wir im zu dünnen Eis eingebrochen waren.
Ich fand neue Leidenschaften in der Musik und dem Sport. Einen großen Teil meiner Freizeit verbrachte ich mit Tischtennis, Volleyball und Leichtathletik. Ich trainierte drei bis fünf Mal die Woche hart und hatte darüber hinaus viele Wettkämpfe. In der Schule spielte ich Gitarre, nachdem mir das Standard-Musikinstrument eines fast jeden Schülers – die Blockflöte – zu langweilig geworden war. Mein Traum war es immer gewesen, einmal an der Universität Klavier oder Querflöte zu studieren. Die Umstände ließen es aber nicht zu. So konzentrierte ich mich vorerst auf die Gitarre, musste aber bald feststellen, dass meine Stimme dafür zu schlecht war. Da ein Klavier schon aus finanziellen Gründen in meiner Familie tabu war, fiel auch der Traum vom Musikstudium flach.
Ich konzentrierte mich dann auf die Schulfächer, die mir zufielen. Das waren im Grunde alle naturwissenschaftlichen Fächer wie Mathematik, Physik und Chemie. Damit war mein weiterer Entwicklungsweg gewissermaßen vorgezeichnet, auch wenn es mir vom Innersten nicht behagte. Ich musste mich nie wirklich anstrengen. Die Themen fielen mir einfach so zu, sodass ich zumindest meinen Hobbies nachgehen konnte. So richtig glücklich war ich damit aber nicht.
Eines Nachts hatte ich wieder einen Traum. Ich liege auf der Couch und kann mich nicht bewegen. Plötzlich kommt ein ganz helles Licht auf mich zu. Ich sehe den Buddha vor mir, aber dieses Mal sieht er ganz anders aus. Er hat ein Buch in der linken Hand, gebettet in wunderschönen Blumen. In der rechten Hand wedelt er mit einem brennenden Feuerschwert. Er durchschlägt damit alles, was dunkel ist. Wo er ist, ist Licht. Ich wachte irritiert auf. Was war das, fragte ich mich, wer war das? War das der Buddha? Ich fühlte mich dadurch jedenfalls beflügelt, zu studieren und meinen Weg zu gehen.
Also nutzte ich noch mehr Zeit, um zu trainieren. Ich spielte Tischtennis, beinahe Tag und Nacht. Bald bekam ich einen Trainer, der gezielt meine Leistungen fördern sollte. Ich spielte auch in ein paar Turnieren mit.“
Aufgeregt unterbricht Loreen die Erzählerin: „Ein paar? Du hast die Damenmannschaft angeführt, obwohl Du erst zwölf Jahre alt und damit fast noch ein Kind warst!“ Anna lächelt: „Ja, das stimmt. Damals habe ich das aber gar nicht so empfunden und auch jetzt kommt es mir nicht so großartig vor. Es gab immer irgendwo jemanden, der besser war. Naja, ich hatte jedenfalls ein Angebot für das Sportgymnasium erhalten. Ich hatte wohl eine gute Beschleunigung im rechten Arm und war damit eine Kandidaten für den Speerwurf, was schon frühzeitig gelernt werden musste. Auch für Eisschnelllauf wurde ich beworben. Das gefiel mir aber alles nicht, denn ich liebte vor allem Leichtathletik. Ich wollte mich auf Weitsprung und Kurzstreckensprints konzentrieren. Allein die Vorstellung, dass ich später einmal die Figur einer Speerwerferin oder die Schenkel der fast männlich wirkenden Eisschnellläuferinnen haben könnte, ließ mich keine Sekunde lang einen Gedanken darüber zu verschwenden, diese Sportarten weiter zu verfolgen.
Trotzdem wurde ich weiter gefördert und so kam es, dass ich an einem Wettkampf in Sankt Gallen teilnehmen durfte.“ Wieder kann Loreen sich nicht zurückhalten: „Du hast mir mal erzählt, dass dort nur die besten Sportler aus ausgewählten Jahrgängen Deiner Schule teilnehmen durften! Das ist doch nicht irgend ein beliebiger Wettkampf!“ Wieder muss Anna schmunzeln: „Du übertreibst wirklich! Ich war vor allem glücklich, weil damit vier Tage Schule ausfielen. Allein das war Grund genug, mitzufahren. Wir fuhren also mit zwanzig Teilnehmern in einem großen Bus nach Sankt Gallen. Wir waren in großen Bungalows auf einem Campingplatz untergebracht und hatten gemeinsame Waschräume. Die Gastgeber schliefen daheim.
Es waren harte, aber schöne Wettkämpfe, ich habe es noch genau vor Augen: Für mich läuft der Wettkampf hervorragend. Ohne besondere Mühe gewinne ich im Speerwurf. Aber das ist mir eigentlich gar nicht so wichtig, denn ich verfolge lieber die anderen Wettkämpfe. Ich bewundere gute Sporttalente, an die ich wohl nie herankommen werde. In den Wettkampfpausen setze ich mich zusammen mit meinen Freundinnen auf die Zuschauerplätze in der ersten Reihe und schaue den Sportlern zu. Da fällt mir ein schwarzhaariger Bub auf. Mit viel Pech ist er zweimal Zweiter geworden, im Weitsprung und im Sprint. Dabei ist er eigentlich der Favorit gewesen, aber fast zeitgleich beim Sprint und nur einen Finger breit im Weitsprung geschlagen worden. Er ist wütend und enttäuscht. Er steht direkt vor uns, flucht und hätte seine Medaille am liebsten weggeworfen. Ich muss laut lachen. Er bemerkt es und sieht mich ganz böse an. Das Lachen macht ihn noch wütender. Spontan laufe ich zu ihm und gebe ihm meine Medaille. Immer noch kocht er vor Wut, steht mit offenen Augen da und weiß nichts zu erwidern. Ich sage: „Es ist mein Ernst. Nimm meine Medaille. Sie soll Dich an uns und ein paar schöne gemeinsame Tage erinnern.“ Er steht perplex da und gibt mir eine seiner Silbermedaillen. „Ich bin Michael. Wie heißt Du?“ „Anna.“ Wir sehen uns lange an und sagen beide nichts. Dann geht jeder zu seiner Mannschaft zurück. Für mich hatte er etwas. Vielleicht war es schon die Tatsache, dass er gerade in den Sportarten so gut war, die ich so sehr bewunderte.
Als Abschluss der Wettkämpfe gab es noch einen Tagesausflug mit Bootsfahrt auf dem Bodensee. Wir setzten nach Deutschland über. Ich saß zusammen mit einer Freundin auf der Bank am Deck des Schiffes, als mein Blick auf Michael fiel. Wie ich inzwischen herausbekommen hatte, kam er aus der Schweiz und wohnte ganz in der Nähe vom Wettkampfort. Was immer ich damals tat, ich musste ihn immer wieder ansehen. Er war groß und schlank, mit knochigen spitzen Schultern und starken Muskeln, einem breiten Kreuz und kurzen, schwarzgewellten Haaren. Er hat bestimmt schon eine Freundin, dachte ich. Aber am Abend saßen wir sogar am selben Tisch und kamen ins Gespräch. Später tauschten wir noch unsere Adressen aus. Ich hatte ihn immer wieder fotografiert. Aber was hieß das schon, ich wollte mir keine Illusionen machen. Wir wohnten weit voneinander entfernt. Ich war nicht einmal sicher, ob wir uns überhaupt noch einmal wieder sehen würden.
Als ich zurückkam, war meine Entscheidung gefallen, mich voll und ganz auf Tischtennis zu konzentrieren und die anderen Sportarten nur am Rande weiter zu betreiben. Ich erhöhte mein Trainingspensum und war nun mindestens vier bis fünf Tage die Woche über und viele Stunden täglich mit Tischtennis beschäftigt. Ich hatte zahlreiche Stunden Einzeltraining und wurde aktiv gefördert. Dabei blieb es aber nicht. Bald lernte ich die ganze Familie meines Trainers, die Kowatzeks, näher kennen und fand hier ein zweites zu Hause. Sie besaßen ein riesiges Grundstück, das nahe am Waldrand gelegen war. Das Haus befand sich noch im Rohbau und ich half jedes Wochenende beim Bau mit. Ich deckte das Dach, mauerte Wände, verputzte und vernagelte Holzbohlen. Es machte mir großen Spaß, zu sehen, wie das Haus entstand.
Zur Belohnung durfte ich zuweilen allein mit dem Auto umherfahren und die Gegend erkunden. Und das, obwohl ich den Führerschein gerade erst frisch in der Tasche hatte. Darauf war ich besonders stolz. Oft fuhr ich mit Freunden zum Baden oder zur Eisdiele im nächsten Ort. Manchmal durfte ich auch ins Autokino fahren. Aber auch ohne Auto gab es genug Abenteuer. In der Nähe befanden sich zwei kleine, aber klare Seen, die bis zum Ufer mit Bäumen bewachsen waren. Im anliegenden Dorf gab es lediglich zweihundert Einwohner und meist begegnete man kaum Leuten. Hier lebten nicht diese tausend Menschen mit teuren Autos und dem Großstadtgehabe. Gut gekleidete Leute gab es fast gar nicht. Es war ganz anders als in der Großstadt. Hier konnte man sogar allein und absolut unbeobachtet baden gehen. Für mich war es das Paradies auf Erden, vor allem da ich eine echte Wasserratte war und die Natur über alles liebte. In diesem Ort gab es nur einen Supermarkt und ansonsten fast ausschließlich Bauern, die Ackerbau und Viehzucht betrieben. Teilweise fühlte ich mich um fünfzig Jahre zurückversetzt. Ich lernte eine Bauernfamilie kennen und fand neue Freundinnen. Zumindest an den Wochenenden war ich glücklich und zufrieden.
Zuweilen fuhr ich das Gras mit ein, das noch mit der Sense gemäht wurde. Der Traktor hatte schon Altertumswert. Er stammte aus den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts und wurde noch mit einer Kurbel gestartet. Er war wunderschön, ein echter Oldtimer. Im Spätsommer gingen wir gemeinsam Pilze sammeln. Mittlerweile kannte ich fast jede Stelle des Waldes wie meine Westentasche und bekam in kürzester Zeit eine Mahlzeit zusammen. Dann kochten wir gemeinsam und saßen beisammen.
Bald hatte ich das erste Mal die Chance, ein Wochenende allein im Haus zu bleiben. Du hast richtig gehört – ich durfte das Haus von Familie Kowatzek allein nutzen, wenn die Familie im Urlaub war! Der Hausherr hatte seine Zustimmung dafür gegeben und mich gebeten, am kommenden Wochenende nach dem Rechten zu sehen. Das war dann Abenteuer pur. Im Haus gab es noch keine Toiletten und die Liegen standen in der zweiten Etage, die nur über eine vier Meter lange Leiter erreichbar war. Ich wäre vor Glück fast an die Decke gesprungen. Ich musste die Gunst der Stunde unbedingt nutzen. Aber ganz allein im Haus hatte ich auch ein wenig Angst. Da fiel mir Lena ein, die Tochter der Bauernfamilie Gedlitschuck, mit der ich mich gut verstand. Ich musste unbedingt versuchen, das Wochenende gemeinsam mit ihr zu verbringen. Ich ging gleich los, runter zur Bauernfamilie Gedlitschuck. Am Eingang befand sich ein zwei Meter hoher Bretterzaun, durch den man nicht durchschauen konnte. Als ich den Bauernhof betrat, bellten mich die Hofhunde an. Gott sei Dank waren sie angekettet und konnten nicht beißen.
Die Familie hatte mehrere Kühe, ein paar Schweine und Hühner. In der Mitte vom Bauernhof befand sich ein großer Misthaufen. Rechts waren die Ställe angeordnet und links kam man zum Hauseingang. Davor standen ein Tisch und ein paar Stühle. Ich betrat das Haus und ging in die Küche. Wie gewohnt saß die Familie noch immer zum Essen beisammen und besprach, was noch zu tun wäre. Ich betete, dass Lena etwas Zeit hätte und ich sie zum Eis essen ‚entführen‘ könnte. Dann würde ich sie fragen können, ob sie sich das Wochenende vielleicht ,abseilen‘ konnte, um mit ihr gemeinsam die beiden Tage zu verbringen.
Ich wurde herzlich empfangen und musste erst einmal Mittag essen. Ich wusste, dass ich machen konnte, was ich wollte. Ich kam nicht mehr heraus und musste mitessen. Im Grunde fiel es mir nicht schwer. Das Essen von Frau Gedlitschuck war immer so lecker und frisch, dass es ein wahrer Genuss war. Wir kamen ins Gespräch und ich konnte fragen. Es war mein Glückstag. Ich hatte schon so oft Gras mit eingefahren und ihnen geholfen, dass sie überlegt hatten, wie sie mir danken könnten. Nun hatten sie die Gelegenheit dazu. Ich strahlte über das ganze Gesicht. Das Wochenende war gesichert. Außerdem durfte ich mit Lena zum Eisessen fahren. Wir jubelten. Mit Lena konnte man Pferde stehlen. Sie passte allerdings nicht wirklich auf das Land. Sie war wohl beleibt, hatte kurzes, kräftiges, schwarzes Haar und wie ich dunkelblaue Augen. Wir stopften uns noch schnell mit den letzten Kuchenresten voll, bevor wir losfahren konnten. Lena hatte immer viel zu erzählen und schwärmte von der Großstadt. Für sie war es schon ein Segen, für ein paar Stunden aus dem Dorf rauszukommen. Ich war genauso glücklich. Ich darf allein Autofahren, was für ein Glück!
Es ist ein heißer Sommertag. Wir kurbeln die Fenster herunter und fahren los. Unterwegs planen wir schon das Wochenende. Da würde ich allerdings mit dem Bus kommen müssen und wir hätten nur das Dorf. Das würde uns ausreichen. Lena hat die Musik zusammen gestellt und etwas zu essen besorgt. Getränke sind genug im Haus, es kann also keine Probleme geben. Heute gönnen wir uns einen Eisbecher und genießen jeden Happen. Lena dreht sich unentwegt nach den Buben um, dass ich innerlich grinsen muss. Ich habe eigentlich nur Michael im Kopf und die Frage, ob ich ihn jemals wieder sehen werde. So sitze ich einfach genüsslich da und schlecke mein Eis, fühle mich großartig und genieße meine Freiheit. Die Zeit vergeht wie im Flug.
Es gibt aber noch allerhand zu tun, denn alles ist auf das nächste Wochenende ausgerichtet. Die Woche ist schnell vorbeigegangen. Endlich ist es soweit. Für mich ist es eine lange Fahrt mit der Bahn und dem Bus, der nur dreimal täglich fährt. Es ist heiß und ich schwitze. Ich habe noch einen längeren Fußweg vor mir. Als ich endlich ankomme, sperre ich das Haus auf und trete ein. Hier ist es angenehm kühl. Schnell trinke ich eine Cola und gehe los zu Lena. Ich muss unbedingt heute noch baden gehen, denke ich. Am Bauernhof angekommen, sehe sie Lena, die gerade den Stall ausmistet. Soviel zu Thema baden.
Lena ist ziemlich angefressen und kann es kaum erwarten, endlich wegzukommen. Da kommt ihr Bruder Felix dazu und sie begrüßen sich herzlich. Felix ist ein sehr schmächtiger Kerl, aber ein Arbeitstier. Er ist fünf Jahre älter als ich, hat aber schon tiefe Furchen in seinem Gesicht. Sein Körper ist ausgemergelt und bereits jetzt schon sehr gealtert. Ständig hängt eine Zigarette aus seinem Mund. Anders kenne ich ihn gar nicht. Er schickt also Lena weg und sagt: „Ihr könnt mein Moped nehmen und zum Baden fahren, wenn ihr wollt. Ich helfe derweil die Ställe auszumisten, ok?“ Lena springt auf, wirft alles beiseite, drückt ihn ganz fest und bedankt sich. Dann rennt sie ins Haus, um sich zu waschen und umzuziehen. Felix baut sich sein eigenes Haus auf dem geerbten Grund ganz in der Nähe. Er arbeitet Tag und Nacht. „Heute Abend ist Autokino im Nachbardorf. Wenn Du willst, kannst Du mein Auto nehmen und Ihr könnt dort hinfahren. Es reicht, wenn Du es Morgen früh zurückbringst.“ „Wow, echt? Ist das Dein Ernst?“, erwidere ich. „Wenn ich es doch sage.“ „Oh mein Gott, danke!“ Ich bin gerührt und überglücklich zugleich.
Da kommt auch schon Lena angerannt. Sie hat nasse Haare und der Rücken unter dem T-Shirt ist auch ganz nass. Sie grinst über beide Wangen. Felix erklärt kurz, wie das Moped funktioniert, dann drehe ich ein paar Proberunden. Es ist ein großartiges Gefühl. Dann sind wir startklar. Lena setzt sich auf den Rücksitz und wir fahren los zum See. Lena hat schon ihren Badeanzug an, weil sie sich im Bikini geniert. Wir legen unsere Badetücher in den Sand, reden, sonnen uns und lassen es uns einfach gut gehen. Im Wasser schwimmen wir eine große Runde, spielen Ball und amüsieren uns köstlich. Am späten Nachmittag leert sich langsam der Strand und es ist Zeit, heim zu gehen. Wir fahren zurück.
Ich fahre die Straße entlang, geradeaus. Plötzlich fängt das Moped an zu schlingern. Ich beginne zu schwitzen, um das Moped aufrecht zu halten. Ich schreie nach hinten: „Was ist los?“, denn das Schlingern hört nicht auf. Ich weiß kaum noch, wie ich das Moped auf der Straße halten soll und rufe wieder: „Lena, was zum Himmel ist los?“ Lena lacht nur und erwidert: „Mein Bein ist eingeschlafen. Ich muss es ab und zu ausstrecken.“„Bist Du verrückt? Ich kann das Moped kaum halten. Willst Du, dass wir stürzen?“ Schließlich bin ich nur ein Hänfling gegen Lena und habe also kaum Gewicht, um Gegenzusteuern. Gott sei Dank hat Lena Einsicht und bewegt sich kaum noch. Ich bin erleichtert, da ich keine Lust auf Knochenbrüche oder Schrammen habe. Schließlich fahren wir ohne Helm und nur mit T-Shirt und Rock bekleidet. Ungeschoren am Bauernhof angekommen, werden wir auch schon empfangen. Kaffeeduft zieht durch den Raum. Die Großfamilie sitzt schon am großen Tisch und isst. Also müssen wir auch Kuchen essen, obwohl ich keinen Hunger habe. Aber Lena ist ganz begeistert.
Nach dem Kaffeetrinken helfe ich noch gemeinsam mit Felix, das Gras einzuholen. Heute muss außerdem frischer Löwenzahn für die Karnickel gesenst werden. Wir fahren gemeinsam mit dem Traktor raus. Felix nimmt die große Sense, schärft sie und geht an die Arbeit. Ich reche den geschnittenen Löwenzahn und Klee zusammen. Langsam wird es dunkel und wir fahren heim. Ich dusche noch schnell, bekomme das Auto von Felix und los gehts. Wir müssen zwanzig Kilometer fahren, um ins Kino zu kommen. Als wir ankommen, ist schon fast alles voll und wir haben Mühe, einen Platz zu finden. Wir schauen uns einen Thriller an, essen Chips und trinken Cola. Dann fahren wir heim.
Wir kommen eine gerade Straße entlang, die von engen Wäldern umgeben ist. Es ist eine schmale Asphaltstraße, die an den Seiten abschüssig ist. Ich schalte das Fernlicht an, um besser sehen zu können. Plötzlich bricht ein Reh aus dem Wald und kreuzt die Straße. Ich bin perplex und gehe vom Gas. Die Zeit scheint still zu stehen. Das Reh ist nun direkt vor uns und im Scheinwerferlicht ganz deutlich zu sehen. Nur noch Zentimeter trennen uns von dem Reh, als es auf einmal direkt zur anderen Straßenseite rennt und verschwindet. Ich finde keine Worte und bin eigentlich nur fasziniert von diesem Reh. Ich habe noch nicht realisiert, dass wir gerade einem schweren Unfall entgangen sind. Ich sehe nur das friedliche Reh und danke Gott.
Was für einen Schutzengel muss ich in diesem Augenblick gehabt haben. Lena ist ganz still geworden. Sie scheint aber irgendwie keine Angst zu haben. Es liegt etwas ganz Seltsames in der Luft. Ich fahre nun bedachter, um einen weiteren Zusammenstoß zu vermeiden. Nach ein paar Minuten unterhalten wir uns, als ob nie etwas geschehen wäre. Nur langsam wird mir bewusst, dass ich kurz davor gestanden habe, das Auto von Felix zu Schrott zu fahren und auch Lena zu verletzen. Wir hätten beide tot sein können. Es war nur ein winziger Augenblick. Es haben nur noch Millimeter gefehlt. Wow. Nun aber schnell heim und ein wenig ratschen oder Fernseh schauen.
Wir fahren auf das Grundstück. Es ist alles so dunkel, dass wir fast die Hand vor Augen nicht sehen können. Ich lasse die Scheinwerfer an, um den Eingang zu finden und aufzusperren. Wir betreten das Haus und schalten erst einmal überall Licht ein. Dann schalte ich die Scheinwerfer aus, schließe das Auto und gehe ins Haus. Mir ist mulmig zumute und ich bin froh, endlich drin zu sein, gemeinsam mit Lena. Wir unterhalten uns, trinken gemeinsam eine Flasche Wein und sind ein wenig beschwipst.
Du musst wissen, Loreen: Wir waren damals beide gerade mal etwas über achtzehn Jahre alt und hatten im Grunde noch nie groß Alkohol getrunken. Wir vertrugen beide nichts, waren aber glücklich. Wir verdrängten das Erlebnis mit dem Reh und den ‚Fastunfall‘, machten zwar keine Vereinbarung, ließen aber nie wieder ein Wort darüber fallen. Es war unser Geheimnis für immer, ohne dass wir uns abgesprochen hatten.
Nach ein paar Stunden muss ich raus, denn es gibt ja noch keine Toilette im Haus. Es kostet mich eine große Überwindung, habe ich doch mächtige Angst vor der Dunkelheit. Lena ist schon eingenickt und liegt friedlich da. Also klettere ich die Leiter runter ins Erdgeschoss, sperre auf und gehe raus. Zögernd gehe ich aus dem Haus und lausche auf jedes Geräusch. Ich spüre jeden Grashalm, jeden Luftzug. Langsam gewöhne ich mich an die Dunkelheit und kann die Umgebung besser wahrnehmen. Nachdem ich mein Geschäft verrichtet habe, überkommt mich plötzlich ein angenehmes Gefühl. Ein lauer Wind streift meinen Körper. Irgendwie ist es heller geworden. Ich blicke zum Himmel. Er ist dunkelblau und die Sterne funkeln mir entgegen. Ich erkenne den großen Bären, wie ich es in Astronomie gelernt habe. Der Mond ist aufgegangen und leuchtet wie eine Laterne. Meine ganze Angst ist verflogen. Ich fühle mich frei, genieße die Dunkelheit und das Glück, allein mit der Natur zu sein. Ich nehme die Hände ins Gesicht, das mit Tränen benetzt ist. Irgendjemand muss mich heute beschützt haben. Ich kann nur meine Gedanken zum Himmel schicken: Danke, danke, danke.
Ich hätte am liebsten die ganze Nacht draußen verbracht. Aber das kann ich Lena nicht antun. So gehe ich zurück, klettere die Leiter hoch und traue meinen Augen nicht. Lena hat eine Packung Zigaretten mitgenommen und ist gerade dabei, sich eine anzustecken. Sie fragt mich, ob ich auch eine wolle. Daheim bekäme sie immer Ärger und hier merke es keiner. In dem Augenblick fällt mir gar nichts mehr ein. Ich bin eigentlich nur müde und habe Angst, dass durch Unachtsamkeit das Haus abbrennen oder man den Rauch noch lange riechen könne. Ich bitte sie nur, gut aufzupassen und die Zigarette gründlich auszumachen Das ist für sie in Ordnung. Es ist bereits zwei Uhr Morgens, also machen wir uns fertig und gehen schlafen.
Viel Zeit zum Schlafen haben wir allerdings nicht, denn wir werden schon früh von den Vögeln geweckt. Es ist hell und die Sonnenstrahlen fallen in das Zimmer hinein. Wehmütig stehe ich auf. Es ist das Startzeichen zum Aufbruch, also packen wir unsere Sachen zusammen und fahren los. Am Bauernhof angekommen, warten schon alle mit dem Frühstück. Wir sitzen noch lange zusammen, bis das Läuten der Kirche ruft. Ich verabschiede mich und bedanke mich bei allen recht herzlich, kümmere mich noch um die Blumen im Garten und trete die Rückreise an.
Auf dem Weg zum Bus rennt ein Haase über das Feld. Ich muss lächeln. Hier gibt es noch überall Tiere, nicht wie in der Großstadt, wo man permanent von Beton umgeben ist. Nach diesem wunderschönen Wochenende muss ich wieder mit dem typischen Großstadtleben klar kommen. Damit kann ich mich nur schwer abfinden, aber ich freue mich schon auf das nächste Wochenende.
Leider absolvierte Lena ihre Ausbildung in Graz, sodass es das letzte Mal gewesen war, dass wir gemeinsam so viel Spaß hatten. Mit der Zeit verloren wir uns aus den Augen. Unsere Welten waren wohl doch zu verschieden.“
„Mit der Zeit gewöhnte ich mich zwangsläufig an das Großstadtleben und versuchte, ihm seine positiven Seiten abzugewinnen und die Großstadt mit all ihren Möglichkeiten für mich zu entdecken. Es war sehr abwechslungsreich, das hatte schon einen gewissen Charme. Ich lernte die unterschiedlichsten Leute kennen. Damit kamen auch neue Freunde in mein Leben. Es gab aber niemanden, mit dem ich alle Hobbys oder Interessen teilen konnte oder dem ich mich voll und ganz anvertraute. Die einen hatten denselben Musikgeschmack wie ich, angefangen von klassischer Musik, über Psychodelic Rock, Blues, Jazz und Dixieland bis hin zu Rock’n Roll, Trommelmusik oder Gospel. Die anderen trieben genauso viel Sport wie ich und wieder andere hatten die gleichen Hobbys im naturwissenschaftlichen Bereich. Und dann waren da noch die Kinder der Bauern aus dem Dorf, mit denen ich draußen auf dem Land herumziehen und im Sommer regelmäßig in den umliegenden Seen baden gehen konnte.
Manchmal zog ich auch allein los, um die Welt zu entdecken. Ich wusste, dass sich immer wieder Gelegenheiten bieten würden, Gleichgesinnte zu treffen und mich mit ihnen auszutauschen.
In der Stadt begann ich außerdem, renommierte Konzerthäuser aufzusuchen. Ich suchte gezielt nach Konzerten unter der Konzertleitung berühmter Dirigenten. Ich liebte es besonders, grandiosen Solisten und Virtuosen zuzuhören. In puncto Musik war Wien natürlich ein Eldorado, das reinste Paradies auf Erden. Inzwischen war ich bereits knapp zwanzig Jahre alt und hatte mein Studium für Elektrotechnik begonnen. Ich genoss das Studentenleben in vollen Zügen. Anfangs stellte ich mir noch den Wecker, um pünktlich bei den Vorlesungen dabei zu sein. Später schlief ich lieber aus und wählte genau, wo ich anwesend sein wollte und wo nicht. So kam es, dass ich manch einen Dozenten erst bei den Prüfungen zum ersten Mal sah. Das Leben bestand für mich zu dieser Zeit lediglich aus Abenteuern und Forschung. Ich verbrachte meine Zeit mit den Studien, die mich wirklich interessierten, Musik und Kunst. Mindestens zweimal die Woche besuchte ich ein Konzert, vor allem wenn Verdi, Wagner oder Gustav Mahler gespielt wurde. Spezielle Interpretationen großer Dirigenten wie Klemperer und Bernstein habe ich geliebt und verinnerlicht.
Bei den Konzerten tauchte ich in meine eigene Welt ein und war einfach weg, weg von der Großstadt, weg von der Zivilisation, einfach weg. Ich schloss die Augen und war gedanklich an einem ganz anderen Ort – sogar mein Körper schien mit zu reisen. Für mich war die Musik einfach göttlich, wie von einem anderen Stern. Um immer wieder auszubrechen, dafür war das Studentenleben wie geschaffen. Ich hatte zwar kein Geld, aber damit war ich mit meinen Freunden in bester Gesellschaft. Geld spielte irgendwie auch keine Rolle. Dafür hatte ich viele Freunde und es gab immer etwas zu erleben. So habe ich in Windeseile, ohne es zu bemerken, drei Semester absolviert.
In den Sommermonaten machten wir ausgiebige Gebirgstouren, abseits jeglicher Zivilisation. In diesem Sommer planten wir eine besonders lange und ausgiebige gemeinsame Reise, die über mehrere Wochen hinweg dauern sollte. Meine Freunde halfen mir, einen Rucksack und einen guten Schlafsack zu bekommen. Das war die wichtigste Grundausstattung für diese Art von Urlauben. Sonst brauchte ich nicht viel, nur ein wenig Proviant und Kleidung. Bergschuhe hatte ich zwar keine, aber meine Winterschuhe taten es auch. Sie hatten eine feste Sohle und waren hoch zum schnüren. Alles andere würde sich ergeben.