Weiblich, hochbegabt, unterschätzt - Alma Dreković - E-Book

Weiblich, hochbegabt, unterschätzt E-Book

Alma Dreković

0,0
26,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Was hochbegabte Frauen ausmacht - Fallbeispiele porträtieren hochbegabte Frauen aller Altersstufen - Wertvolle Tipps und Tools für ein erfülltes Leben mit Hochbegabung - Nimmt weibliche Hochbegabung über die gesamte Lebensspanne in den Blick Es gibt Unterschiede zwischen Männern und Frauen in ihrer Art und Weise, ihre Hochbegabung zu leben. Die Herausforderung für hochbegabte Frauen und Mädchen ist groß: Sie müssen es schaffen, ihre Weiblichkeit und ihre Intelligenz zu artikulieren und gleichzeitig Akzeptanz zu finden. Dieses Buch porträtiert das Innen- und Außenleben hochbegabter Frauen, skizziert typische Charakteristika und gibt konkrete Hilfestellungen für die Persönlichkeitsentwicklung und das Empowerment hochbegabter Frauen. Themen sind unter anderem Fragen der Identität, innere Belastungen hochbegabter Frauen und Herausforderungen in Familie, Partnerschaft, Beruf und Gesellschaft. Dieses Buch richtet sich an hochbegabte Frauen und all jene, die vermuten, hochbegabt zu sein. Gleichzeitig bietet es wertvolle Impulse für Therapeut:innen und Coaches, die mit hochbegabten Frauen arbeiten und diese unterstützen wollen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 332

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dies ist der Umschlag des Buches »Weiblich, hochbegabt, unterschätzt« von Alma Dreković

Alma Dreković

Weiblich, hochbegabt, unterschätzt

Wie hochbegabte Frauen ihr Potenzial entfalten können

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart

unter Verwendung einer Abbildung von Rido/Adobe Stock

Gesetzt von Eberl & Koesel Studio, Kempten

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

Lektorat: Ulrike Albrecht

ISBN 978-3-608-98742-3

E-Book ISBN 978-3-608-12226-8

PDF-E-Book ISBN 978-3-608-20646-3

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1

Besonderheiten weiblicher Hochbegabung

1.1 Über Hoch- und Höchstbegabung

1.2 Komplexität des Fühlens, Wahrnehmens und Denkens

1.2.1 Komplexität des Fühlens

1.2.2 Komplexität des Wahrnehmens

1.2.3 Komplexität des Denkens

Kapitel 2

Das Innenleben der hochbegabten Frau: Eine Frage der Identität

2.1 Interne Barrieren und das narzisstische Selbstwertgefühl

2.2 Asynchronie und das Gefühl des Andersseins

2.3 Das falsche Selbst und die Divergenz zur weiblichen Rolle

Kapitel 3

Das Außenleben der hochbegabten Frau: Die soziale Dimension

3.1 Externe Barrieren in der Gesellschaft

3.2 Liebesbeziehungen, Partnerschaft und Familie

3.2.1 Hochbegabte Frau sucht Mann

3.2.2 Die Projektion weiblicher Intelligenz

3.2.3 Die Gefahr narzisstischer Ausbeute

3.3 Weibliche Hochbegabung im Diversitätsspektrum

3.3.1 Sexuelle Diversität

3.3.2 Kulturelle und sozioökonomische Diversität

3.4 Der Lebenszyklus weiblicher Hochbegabung

3.4.1 Kindheit

3.4.2 Adoleszenz

3.4.3 Frühe und mittlere Erwachsenenzeit

3.4.4 Späteres Erwachsenenleben

Kapitel 4

Persönlichkeitsentwicklung und Empowerment für hochbegabte Frauen

4.1 Dąbrowskis Modell der Persönlichkeitsentwicklung

4.1.1 Die fünf Formen der erhöhten Sensitivität

4.1.2 Die Auswirkungen emotionaler Sensitivität auf Hochbegabte

4.1.3 Die Theorie der Positiven Desintegration

4.1.4 Die Entwicklungsstufen nach D

ą

browski

4.2 Hochbegabte Frauen in der Psychotherapie

4.2.1 Herausforderungen und Chancen in der Therapie

4.2.2 Nicht gelebte Hochbegabung und psychische Störungen

4.3 Coaching und Talentmanagement

4.3.1 Günstige Faktoren für die Entwicklung weiblicher Hochbegabung

4.3.2 Das Awareness-Modell von Vince Sweeney

4.3.3 Erkenntnisse aus der Positiven Psychologie

4.3.4 Reis’ Model of Talent Realization in Women

4.3.5 Künftige Forschung zur Talententwicklung von Frauen

Nachwort

Adressen von Hochbegabtenvereinigungen und Netzwerken

Literatur

Weitere Quellen

Podcasts zur Hochbegabung

Dieses Buch widme ich meiner besonderen Nichte Sara Dreković.

Моја прба књига

Vorwort

»What does it mean to be smart? (…) For most of us, smartness is associated with words like giftedness, talent, genius, brilliance, high ability, and intelligence. Across most cultures today, when people are asked to imagine a smart person, a genius, or a brilliant individual, the image that comes to mind is most often an adult male (…). For most of the history of psychology, genius has meant men achieving the highest honors in activities that are highly valued by other men.«1 (Kerr & McKay 2014, S. 1)

Lange Zeit hat sich die Wissenschaft ausschließlich mit männlichen klugen Köpfen befasst. Bis auf wenige Ausnahmen in der Geschichte gab es kaum Interesse, einen Beitrag zur Emanzipation von Frauen zu leisten. Bis zum 20. Jahrhundert war die intellektuelle Unterlegenheit von Frauen tief verankert im Geiste der Psychologen, Anthropologen und Wissenschaftler, die Frauen aus ihren Forschungen ausschlossen. Auf diese Weise sollte die weibliche Inferiorität bewiesen werden. Dieser Reflex besteht nach wie vor.

Auf viel subtilere Art findet die Unterdrückung weiblicher Intelligenz immer noch statt. Die feministischen Errungenschaften des letzten Jahrhunderts tragen sichtbare Früchte, doch die fortwährenden Kämpfe um Frauenrechte in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft wie auch die professionelle Erfahrung aus der Coachingpraxis zeigen, dass es zwischen Frauen und Männern immer noch Unterschiede in der Wahrnehmung ihres Geschlechtes und vor allem im Erleben ihrer Intelligenz gibt. In einer Gesellschaft, die immer noch von Sexismus und Patriarchat gezeichnet ist, stehen besonders hochbegabte Frauen vor einer doppelten Herausforderung: Sie müssen sowohl für ihre Weiblichkeit als auch für ihre Intelligenz Akzeptanz finden – zunächst bei sich selbst.

In den letzten zwei Jahrzehnten haben Forscherinnen die Konzepte menschlicher Begabung in Frage gestellt, die hauptsächlich von männlichen Wissenschaftlern formuliert wurden und daher auf androzentristischen Werten beruhen. Was wir aktuell über Hochbegabung wissen, lässt sich nicht völlig objektiv darstellen und erfordert persönliche Schwerpunktsetzungen.

Auch hochbegabte männliche Kinder und Erwachsene stehen vor genderspezifischen Herausforderungen, die ihre Bewandtnis in der Hochbegabtendiskussion haben. Meine persönliche Schwerpunktsetzung liegt aber in der Beobachtung und Erforschung der Persönlichkeit und Intersektionalität2 hochbegabter Frauen.

Dieses Buch ist aus Faszination am Themengebiet und dem Austausch mit hochbegabten Klientinnen entstanden. Mein Wunsch liegt in einer ganzheitlichen Betrachtung von Hochbegabung und darin, dieses Phänomen durch die Synthese von Erkenntnissen internationaler Forschender mit eigenen Beobachtungen und Erfahrungen aus der Coaching- und Beratungspraxis in einer intersubjektiven Vorgehensweise verständlich und greifbar zu machen. Die Arbeit wird bereichert durch insgesamt fünf Interviews mit hochbegabten Frauen zwischen 20 und 73 Jahren und einem Beitrag über ein elfjähriges hochbegabtes Mädchen.

Weiblich, hochbegabt, unterschätzt blickt tief in das Innen- und Außenleben hochbegabter Frauen und skizziert ihre Charakteristika. Das vorliegende Buch untersucht die internen Barrieren zur Verwirklichung weiblicher Hochbegabung und taucht analytisch in die soziale Dimension weiblicher Hochbegabung ein: Wie werden hochbegabte Frauen mit ihrer herausragenden Intelligenz in Familie und Gesellschaft wahrgenommen? Was macht weibliche Intelligenz mit Männern? Wie können gelingende Liebesbeziehungen aussehen? Und welche psychischen und gesundheitlichen Implikationen einer nicht-gelebten Hochbegabung gibt es?

Ein Teil dieses Bandes widmet sich der Persönlichkeits- und Talententwicklung hochbegabter Frauen und stellt das Persönlichkeitsentwicklungsmodell von Kazimierz Dąbrowski vor. Für die psychotherapeutische Arbeit werden der Hochbegabung immanente Herausforderungen vorgestellt, um Betroffenen und Therapierenden Möglichkeiten einer gelungenen therapeutischen Arbeit anzubieten. Dieses Buch schließt mit aussichtsreichen Perspektiven weiblicher Hochbegabung ab.

Die Besonderheit dieses Buches liegt zum einen in der Betrachtung der weiblichen Hochbegabung und zum anderen in der Berücksichtigung eines weiten Diversitätsspektrums. Die Monografie hat zum Ziel, hochbegabten Frauen die Möglichkeit einer Identifikation zu bieten – jenseits des Prismas gesellschaftlich-patriarchalischer, heteronormativer und eurozentristischer Werte.

Mein persönliches und berufliches Interesse als Karriereberaterin und Business-Coach gilt der Persönlichkeit des Menschen und seiner Entwicklung, insbesondere in persönlichen Krisen und Veränderungsprozessen. Als Geisteswissenschaftlerin gehe ich intersubjektiv vor und arbeite mit phänomenologischen und hermeneutischen Methoden. Bei meiner deskriptiven Untersuchung liegt der Fokus auf der Authentizität des Lebensgefühls hochbegabter Frauen. Dabei interessiert mich die Individualität einer jeden Frau im Erleben ihrer Hochbegabung, die hier in einem breiten Heterogenitätsspektrum ausgedrückt wird: Frauen unterschiedlichen Alters kommen zu Wort, Frauen verschiedener kultureller und sozioökonomischer Provenienz, früh- wie späterkannte Frauen, die mit ihrer Lebensgeschichte einen wertvollen Beitrag für dieses Buch und damit für die Sichtbarkeit hochbegabter Frauen leisten.

Die in diese Arbeit eingebetteten Biografien haben keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Allgemeingültigkeit für weibliche Hochbegabung. Hochbegabung kann, muss aber nicht so aussehen, wie hier beschrieben. Meine Leitfrage an die Interviewpartnerinnen richtete sich an ihr Lebensgefühl unter dem Blickwinkel der Hochbegabung. Zum Schutz der beteiligten Interviewpartnerinnen sind die Erzählungen anonymisiert; die gewählten Eigennamen sind Pseudonyme.

Das Phänomen der Hochbegabung soll deskriptiv verständlich gemacht werden, indem spezifische Merkmale erfasst werden. Anstatt objektiv reproduzierbare Daten zu gewinnen, gehe ich mit der zentralen Frage nach der Manifestierung und dem Erleben weiblicher Hochbegabung intersubjektiv vor. Wir werden sehen, dass umfassendere Studien zur Hochbegabung, institutionell gefördert und ausgestattet mit angemessenen finanziellen Mitteln, für die Bereiche Pädagogik, Medizin und Psychologie unerlässlich sind. In einer interdisziplinären Arbeit würden Gesellschaft und Wirtschaft von den Ergebnissen der Hochbegabungsforschung sehr profitieren. Insbesondere die Medizin und Psychotherapie sollten Hochbegabung in die therapeutische Ausbildung integrieren und sich der Hochbegabung wertfrei und ressourcenorientiert öffnen. Die Hochbegabung darf nicht auf eine Abweichung der Norm reduziert werden; sie braucht einen eigenen Wert, insbesondere im Hinblick auf weibliche hochbegabte Kinder, unsere Zukunftsträgerinnen, für die wir als Gesellschaft eine große Verantwortung tragen.

Моја прба књига

Kapitel 1

Besonderheiten weiblicher Hochbegabung

»Hochbegabt zu sein ist eine Art auf der Welt zu sein, die sich auf die gesamte Persönlichkeit auswirkt.« (Siaud-Facchin 2017, S. 16)

1.1 Über Hoch- und Höchstbegabung

»Giftedness creates a different organization of the self. Cognitive complexity, emotional sensitivity, heightened imagination, and magnified sensations combine to create a different quality of experiencing: vivid, absorbing, penetrating, encompassing, complex, commanding – a way of being quiveringly alive. An unusual mind coupled with unusual emotions leads to unusual life experiences throughout the life cycle.«3 (Silverman 2005, S. 2)

Hochbegabung ist faszinierend! Hochbegabung gehört zur Identität und macht einen großen Teil der Persönlichkeit aus. Doch was ist Hochbegabung, was sind die Kernmerkmale Hochbegabter, und was sind die Besonderheiten weiblicher Hochbegabung?

Auf die Frage nach der Hochbegabung gibt es inzwischen zahlreiche Antworten. Optimistisch könnte man die Vielfalt an Definitionen so deuten, dass inzwischen viele Formen und Ausdrucksmöglichkeiten von Hochbegabung anerkannt werden. Allgemeine Rückschlüsse können weder über Hochbegabte noch über hochbegabte Frauen in einer reliablen quantitativen Weise gegeben werden. Es müssen Beobachtungen und Erlebnisberichte über hochbegabte Frauen gesammelt und wissenschaftliche Studien durch strukturierte Interviews und methodische Analysen der qualitativen Recherche durchgeführt werden.

Ein Model, das in die Hochbegabtenliteratur eingegangen ist und unter Fachleuten akzeptiert wird, ist die sogenannte Delphi-Methode (van Thiel et al. 2019), die der Auswahl meiner Interviewpartnerinnen zugrunde liegt und im Wesentlich meinem Verständnis von Hochbegabung entspricht:

»Hochbegabte sind schnelle, kluge Denker mit der Fähigkeit, komplexe Materien zu bewältigen. Von Natur aus sind sie durch Autonomie, Neugier und Leidenschaftlichkeit gekennzeichnet. Es sind sensitive Menschen mit einer reich nuancierten Innenwelt und hohen Intensität, die ihre Kreativität genießen.« (Vgl. Kooijman-van Thiel 2008)

Das Konstrukt der Delphi-Methode beinhaltet sechs Hauptcharakteristika von Hochbegabung: Autonomie, Denken (hohe Intelligenz), Fühlen (Mehrschichtigkeit), Tatendrang (Neugier und Leidenschaft), Wahrnehmung (Hochsensitivität) und Effektivität (Kreativität). Die vier daraus abgeleiteten Interaktionen sind Schnelligkeit, Kreativität, Komplexität und Intensität. Der mit der Hochbegabung zusammenhängende Aspekt der Hochsensibilität erfährt inzwischen wissenschaftliches Interesse und fließt in das Delphi-Modell ein. Es wurde jedoch noch kein Test entwickelt, der Hochbegabung nach der Delphi-Methode messen kann.

»Gemäß der delphischen Definition von Talenten und Hochbegabten reicht der IQ zur Definition einer Hochbegabung nicht aus, da er nur einen geringen Prozentsatz der Hochleistenden prognostizieren kann.« (Ziegler 2018, S. 32)

Die Definition von Hochbegabung nach Brackmann (2010) ist eine verlässliche Quelle, an der ich mich in meiner Arbeit ebenfalls orientiere:

»Eine Person gilt als intellektuell hochbegabt, wenn sie in einem oder mehreren Bereichen über geistige Fähigkeiten verfügt, die in ihrer Ausprägung extrem weit über dem Durchschnitt ihrer Altersgenossen liegen. Dies können sprachliche, technische, musische und soziale Fähigkeiten sein. Per definitionem sind etwa zwei von hundert Menschen intellektuell hochbegabt und haben einen Intelligenzquotienten von 130 oder mehr Punkten.« (Brackmann 2010, S. 18 f.)

Wie steht es um den Zusammenhang von Hochbegabung und Hochsensibilität? Die US-amerikanische Psychologin Elaine Aron machte das Konstrukt der hochsensiblen Person messbar und prägte den Begriff Hochsensibilität bzw. »high sensitivity« und führte ihn 1997 in ihrem Beitrag einer namhaften medizinischen Zeitschrift in die Wissenschaft ein.

Das Delphi-Modell zeigt, dass Hochbegabung Hand in Hand mit einer hochsensiblen Wahrnehmung einhergeht. Zwei Untersuchungen bestätigen den Zusammenhang zwischen Hochbegabung und Hochsensibilität: Die niederländischen Psychologinnen van de Ven, Van Hoof und van Weerdenburg (2016) haben bei einer Studie festgestellt, dass 87 Prozent der Hochbegabten auch hochsensibel sind. Eine ähnliche Studie, die von der Erasmus-Universität im Jahr 2018 durchgeführt wurde, ergab einen Prozentsatz von 77. Laut Franzis Preckel und Tanja Baudson fehlen hierfür jedoch systematische Untersuchungen (Preckel & Baudson 2013, S. 62 ff.). Ob Hochbegabte grundsätzlich auch hochsensibel sind, ist wissenschaftlich noch nicht ausreichend erforscht.

»One of the most challenging problems that remains unresolved is determining a definition of giftedness that is inclusive, yet inclusive of a qualitative difference in performance or behavior.«4 (Noble et al. 1999, S. 140)

Spannend ist die Frage nach den Besonderheiten höchstbegabter Menschen und ihren Unterscheidungsmerkmalen zu den moderat Hochbegabten. In der deutschsprachigen Literatur hat sich für den Intelligenzbereich zwischen 140 und 145 Punkten im IQ-Test der Begriff »Höchstbegabung« eingebürgert. Zur Durchschnittsbevölkerung liegt das Verhältnis von Höchstbegabten etwa bei 1 zu 1000.

»Extreme intelligence is strongly correlated with the highest of human achievement, but also, paradoxically, with higher relationship conflict, career difficulty, mental illnesses, and high-IQ crime. Increased intelligence does not necessarily increase success; it should be considered as a minority special need that requires nurturing.«5 (Falck 2019, Vorwort)

Hinsichtlich der genauen Unterscheidung zwischen moderater Hochbegabung und Höchstbegabung gibt es international wenige Daten. Höchstbegabte Erwachsene sind oft weniger leicht zu erkennen, wenn sie nicht offensichtlich erfolgreich und renommiert sind. Aufgrund ihrer besonders hohen Intelligenz entwickeln sie diverse Strategien, um als unauffällig zu erscheinen und ihr Inneres zu verstecken. Sie können daher auf den ersten Blick sozial hochkompetent wirken, während sie innerlich völlig unsicher sind. Bislang findet sich keine aussagekräftige Forschung über höchstbegabte Erwachsene. Eine sichtbare Höchstbegabung kann erkennbar sein an einer stark beschleunigten schulischen und akademischen Laufbahn, einer extrem breitgefächerten Bildung, besonderen Begabungen auf mehreren Ebenen und einer herausragenden Produktivität.

Lovecky (1994, S. 116–220) zufolge gibt es sowohl quantitative als auch qualitative Unterschiede in der Art des Denkens und der Informationsverarbeitung zwischen Hoch- und Höchstbegabten. Die wesentlichen Merkmale von Höchstbegabung fasst sie wie folgt zusammen (s. Brackmann 2020, S. 24 ff.):

Außerordentliches Gedächtnis, das bis vor das dritte Lebensjahr zurückgeht und auf große Informationsmengen und lange zurückliegende Gedächtnisinhalte zugreift.

Einfachheit und Komplexität: Während das Einfache komplex erscheint, ist das Komplexe für Höchstbegabte einfach. Höchstbegabte haben Mühe, die Fülle der aufgenommenen Informationen zu ordnen und wiederzugeben. Sie begreifen Dinge oft, indem sie das zugrunde liegende Muster erfassen und verstehen Dinge so tiefgreifend, dass sie die einzelnen Schritte nicht ohne Weiteres darlegen können.

Abstrakt-logisches Denken im frühen Alter: Höchstbegabte haben ein Denkvermögen, das auf noch höheren Ebenen liegt als bei moderat Hochbegabten und das zu einem früheren Zeitpunkt entwickelt ist.

Unkonventionelles, non-lineares Lernen: Höchstbegabte nehmen große Informationsmengen mit hoher Geschwindigkeit auf und integrieren sie in eigene Gedankensysteme.

Projektive Identifikation: Die Fähigkeit, sich in Objekte und Prozesse hineinzuversetzen und sich selbst als Teil des produktiven Geschehens zu sehen.

Asynchronie: Das non-lineare Lernen bezieht sich bei Höchstbegabten auf die geistige, emotionale, soziale und motorische Entwicklung. Je höher die kognitive Kapazität, umso höher der Grad an Asynchronie, so Lovecky (1994). Der Widerspruch zwischen Verletzlichkeit und emotionaler Stärke bei Höchstbegabten ist besonders ausgeprägt.

Herausstechende Persönlichkeiten entstammen selten begüterten, konservativen Familien der oberen Schichten. 95 Prozent der Höchstbegabten einer Studie (s. Brackmann 2020, S. 24 ff.) kommen aus Mittelklassefamilien in Kleinstädten oder ländlicher Umgebung. 75 Prozent von ihnen sind mit Problemen wie Armut, Scheidung der Eltern oder frühem Tod eines Elternteils bzw. Geschwisters konfrontiert.

1.2 Komplexität des Fühlens, Wahrnehmens und Denkens

»Quelqu’un qui frappe par son intensité, par sa pensée complexe et originale«6 (de Kermadec, 2012)

Von der hochbegabten Persönlichkeit geht oft eine enorme Faszination aus. Im Folgenden wird die Phänomenologie der weiblichen Hochbegabung und ihrer Persönlichkeitsstruktur in ihrer Komplexität des Fühlens, Wahrnehmens und Denkens skizziert.

Grundsätzlich unterschiedet sich die Persönlichkeitsstruktur hochbegabter Männer und Frauen nicht. Sie kommt im sozialen Kontext zum Tragen und wird abhängig von Kultur und Epoche jeweils ganz unterschiedlich in der Gesellschaft gewertet, wie dies in den Folgekapiteln ausführlich dargelegt wird.

Was macht die hochbegabte Persönlichkeit aus? Ihre drei zentralen Merkmale lassen sich kurz und knapp auf den Punkt bringen: Intensität, Komplexität, Originalität.

Die Kernmerkmale der hochbegabten Persönlichkeit sind eine besonders hohe Emotionalität, ein vernetztes Denken und Fühlen sowie ein sehr hohes Energiepensum. Ausgehend von Kazimierz Dąbrowskis Modell der Overexcitability (OE) durchdringt Hochbegabung den ganzen Menschen, seinen Körper, Geist und die Seele. Diese drei Komponenten der Hochbegabung gehören aufgrund der neuronalen Beschaffenheit hochbegabter Gehirne genderübergreifend untrennbar zusammen. Das Spezifische an der Hochbegabung scheint die bis ins Extreme gesteigerte Intensität und gegenseitige Durchdringung der Domänen Denken, Fühlen und Wahrnehmen zu sein. Dabei geht der erfüllende Weg Hochbegabter nur über die Integration beider Aspekte der Hochbegabung:

»Der Weg, mit der eigenen Hochbegabung zurechtzukommen, besteht darin, die Koexistenz und Kooperation aller drei Komponenten zu akzeptieren und zu respektieren. Diejenigen, die eine Durchlässigkeit zwischen geistiger, seelischer und leiblicher Begabung zulassen, sind auf gutem Wege, ihre Hochbegabung in Einklang mit sich selbst zu leben und ihr Potenzial ausgewogen zu nutzen.« (Fietze 2019, S. 186)

1.2.1 Komplexität des Fühlens

»Complexity, intensity, and heightened awareness are lifelong attributes of the gifted. These qualities often result in extraordinary conscience, a need to make the gift of life mean something in the overall pattern of existence.«7 (Silverman 2005, S. 11)

Die ersten Eigenschaften, die in den Konsultationen mit hochbegabten Frauen auffallen, sind ihre hohe Sensibilität und Intensität. Unter Intensität versteht man die Kombination aus geistiger Hyperaktivität, Hypersensibilität und hoher Emotionalität. Die Intensität geht mit der Übererregtheit einher, sorgt für leidenschaftliche Schübe und ist verantwortlich für die Suche nach Sinn, nach dem Absoluten und der Wahrheit, die für hochbegabte Menschen so bezeichnend ist.

Was macht die Sensibilität und Intensität hochbegabter Frauen aus? Die Sinne sind die verbindenden Nähte zwischen Innen- und Außenwelt, die die Welt äußerst genau wahrnehmen lassen. Die Intensität des körperlichen Daseins äußert sich bei Hochbegabten in einer verdichteten Wahrnehmung von Gefühl, Geschmack, Geruch und Gehör. Viele Hochbegabte können sich beispielsweise auf ihre innere Uhr verlassen und verfügen über ein hervorragendes Augenmaß (Gusovius 2005).

Neben der Intensität körperlichen Selbsterlebens zeigt sich die Intensität hochbegabter Frauen auch im Fühlen, Denken und Wahrnehmen. Hochbegabung manifestiert sich als eine Kombination aus schnellem komplexem Denken, tiefem seelischen Empfinden und geschärfter sinnlicher Wahrnehmung. Sie entsteht aus einer Verquickung von erhöhter geistiger Aktivität, tiefer seelischer Empfindung, verstärkter körperlicher Wahrnehmung und spiritueller Empfänglichkeit (Fietze 2019). Diese Intensität des Daseins macht das Anderssein hochbegabter Frauen aus, doch diese wunderbaren Qualitäten haben auch ihre Schattenseiten: Hohe Schmerzempfindlichkeit und eine ausgeprägte Psychosomatik.

Die Hypersensibilität entsteht aus einer verstärkten Empathie, die manch einer Hochbegabten körperlichen und seelischen Schmerz beim Anblick des Leids anderer Menschen zufügen kann. Sie lesen zwischen den Zeilen und im Gesicht eines Menschen, hören Zwischentöne und erkennen am Klang der Stimme, wie andere sich fühlen. Die reiche Gefühlswelt macht hochbegabte Frauen empfänglich für tiefes Mitgefühl und Respekt für andere Menschen. Sie können das Leid der anderen im tiefsten Inneren fühlen wie die Betroffenen selbst; die Gefühle des Gegenübers werden zu den eigenen. Nur eine gesunde Abgrenzung schützt die Hochbegabten vor sich selbst.

Die eigenen Gefühle und die anderer Menschen präzise wahrzunehmen ist ein besonderes Talent hochbegabter Frauen: Sie nehmen alle Gefühle wahr und können sie sogar seismografisch vorhersehen. Erahnen sie ihr emotionales Gewicht vorzeitig, können sie schwierigste Situationen meisterhaft bewältigen. Hochsensible hochbegabte Frauen spüren beinahe greifbar, was als Nächstes geschehen wird. Diese Vorahnung ergibt sich aus einer messerscharfen und sekundenschnellen Analyse vieler Parameter, die zum eigentlichen Sinn blitzschnell zusammengefügt werden. Oft weiß die Hochbegabte Bescheid, kann sich aber selbst nicht genau erklären, wie sie zu dem Ergebnis gekommen ist.

Das seelische Erleben Hochbegabter wird stark durch Gefühle aus der Vergangenheit beeinflusst. Gefühle verblassen nicht, sie zeigen sich selbst nach Jahrzehnten in ihrer ursprünglichen Intensität und können zugleich machtvoll, wunderschön und quälend sein. Gefühlserlebnisse schreiben sich tief in die Seele hochbegabter Mädchen ein. Das erklärt das Bedürfnis nach Artikulation der Gefühle, die metaphorisch, künstlerisch oder in einer Psychoanalyse zum Ausdruck gebracht werden wollen.

Hochsensible Hochbegabte können oftmals mit Ablehnung und Kritik nur schwer umgehen, lassen sich dies jedoch Außenstehenden gegenüber kaum anmerken. Innerlich sind sie fassungslos, und das Gesagte beschäftigt sie lange, manchmal über Jahre hinweg. Als würden sie Worte und Bilder für ewig speichern. Werden ihre Wertvorstellungen und Auffassungen geringgeschätzt oder ins Lächerliche gezogen, sehen sie sich als ganze Person infrage gestellt.

Ist die emotionale Aufladung Hochbegabter so stark, dass es zu extremen Reaktionen kommt, spricht man von invasiver Hypersensibilität – dann zeigt sich ein Gefühlsausbruch als explosionsartige Entladung. Bei der geringsten unbedachten Bemerkung kann die Hochbegabte zutiefst getroffen sein, da sie darin einen bewussten Angriff sieht. Die Emotionalität Hochbegabter lässt sich schwer von der Vernunft bändigen, denn die Reaktionen können so stark sein, dass sie sich den kontrollierbaren Vorgängen im Gehirn entziehen (Siaud-Facchin 2017, S. 196).

Die Hypersensibilität kann das berufliche Leben junger Frauen sehr beeinträchtigen: Sie haben Angst, ihre Eltern mit ihrem Erfolg zu überfliegen und dadurch Ablehnung zu erfahren. Mit Ambivalenz betrachten sie ihre eigenen Fähigkeiten: Ihre Liebe zu ihrer Mutter lässt sie an der Verwirklichung ihrer Talente zweifeln. Die Angst vor einer geografischen, kulturellen und finanziellen Trennung vom Elternhaus kann sich als eine große Stressquelle erweisen.

Weshalb entwickelt sich diese Eigenschaft bei hochbegabten Mädchen und Frauen? Während hochbegabte Jungen rebellieren, gehorchen viele junge Mädchen, zeigen weniger Widerstand und äußerste Gewissenhaftigkeit. Sozialisationsbedingt entwickeln sie das große Bedürfnis, den Erwartungen ihrer Eltern, Lehrer:innen und Professor:innen zu entsprechen. Sie wollen gefallen. Diese Sozialisation treibt sie nicht selten dazu, ihre Karriere für die Betreuung eines kranken Familienmitglieds aufzugeben. In dysfunktionalen Familien übernehmen die kleinen hochbegabten Mädchen die Rolle der Vermittlerinnen. Diese extreme Verantwortungsübernahme raubt den kleinen Mädchen die Kindheit und ein erfülltes Erwachsenenleben, wie wir an der Lebensgeschichte der 73-jährigen Flora (▶Kap. 4.2.2) sehen werden. Manchmal stellt diese Erfahrung sie in den Dienst der anderen und transformiert sie in ewige Krankenschwestern, Sozialarbeiterinnen und Psychotherapeutinnen. Ihre Bedürfnisse werden nie ausgedrückt und respektiert, und nicht selten investieren sie sich in alle möglichen Felder, meistens auch gleichzeitig: zwischenmenschlich, beruflich, in der Familie, für Liebe, Freundschaft und Kreativität.

Die Philosophin und Psychoanalytikerin Alice Miller (2012) zeigt in Das Drama des hochbegabten Kindes die Risiken der Überanpassung von Mädchen, die unter allen Umständen höflich bleiben und mit ihrer Intelligenz niemanden überstrahlen wollen. Sie wahren vor ihren Angehörigen das Bild des idealen, braven und verantwortungsvollen Mädchens. Hochbegabte Mädchen sind mehr als männliche Kinder auf interpersonelle Beziehungen angewiesen und lernen dafür, ihre wirklichen Emotionen zu unterdrücken. Reaktionen von außen, die ihnen nicht erlauben, ihre echten Gefühle und ihre tiefe Intelligenz zu zeigen, prägen sich unauslöschlich in das exzellente Gedächtnis hochbegabter Mädchen ein und zwingen ihnen ein falsches Selbst auf, das sie im Leben nur schwer loswerden.

Alice Miller beobachtet den Wunsch nach Grandiosität und öffentlicher Aufmerksamkeit Hochbegabter und setzt ihn mit einem depressiven Zustand gleich (Miller 2012): Anstatt die innere Identität zu stärken, begeben sich Hochbegabte in den Ruhm, den sie als einzigen Weg sehen, eine wahrhaftige und bereichernde Verbindung zu konstruieren. Den Wunsch nach Grandiosität versteht Miller als Verteidigung gegen den tiefen Schmerz, der aus der Selbstverleugnung resultiert. Eine grandiose Person, so Miller, kann niemals frei sein, wenn sie sich in Abhängigkeit von der Bewunderung anderer Menschen befindet. Manch eine Hochbegabte, die ihr emotionales Potenzial nicht verwirklicht hat, wie so viele hochbegabte Mädchen und Frauen, sucht über die Bewunderung im Publikum oder über die Anerkennung der beruflichen Leistung einen Ersatz für ihr ungezügeltes, sie verschlingendes Liebesbedürfnis. Doch die Suche nach Berühmtheit führt leider nicht zu dem Effekt, der aus einer tiefen und echten (Selbst-)Beziehung resultieren würde. Gibt es jedoch eine starke Beziehung zu Religion, Spiritualität, Musik oder eine Berufung, die die Hochbegabte voll und ganz erfüllt, so schwindet das Bedürfnis, sich selbst mithilfe der emotionalen Anerkennung durch andere zu vervollständigen.

Das Leben hochbegabter Menschen kann die reinste Achterbahnfahrt sein: Große Hoffnungen, Weltschmerz, furchtbare Enttäuschungen, intensivste Freude und niemals versiegende Quellen der Lust und des Leids aus aufeinanderfolgenden überwältigenden und gegensätzlichen Empfindungen (Gusovius 2005). Ein Leben, das nur selten linear verläuft; ein Leben, in dem starke Gefühle immer präsent sind. Da ist es gerade für hochbegabte Frauen, die Mehrfachbelastungen im Alltag ausgesetzt sind und dem monatlichen Zyklus unterliegen, überlebensnotwendig, für innere Balance zu sorgen. Insbesondere Frauen, die einen Spagat zwischen gesellschaftlichen Anforderungen und inneren Bedürfnissen leisten wollen, brauchen Ruhezeiten und Schlaf, um ihre intensiven Wahrnehmungen nachträglich zu reflektieren. Manchen von ihnen gelingen emotionale Transformationsprozesse, und sie räumen innerlich auf, indem sie ihre intensiven Eindrücke und Empfindungen sortieren. Diese Art von seelischer Hygiene schützt sie vor der Intensität ihrer Gefühle. Anderen wiederum wird die Komplexität ihres Gefühlslebens manchmal zum Verhängnis.

Hochbegabte sind mit ihrem hohen Drive und ihrer hohen geistigen Kapazität wie ein Fass ohne Boden und benötigen zur Sättigung ihres Wissensdurstes permanent hohen Input. Die Schwierigkeit, die sich hier bei hochbegabten Mädchen und Frauen erweist, liegt in der Unsichtbarkeit ihrer Hochbegabung – für sie selbst und die Außenwelt, die diese hohe geistige Kapazität nicht einmal vermutet, meist missdeutet, übersieht und unterdrückt.

Die Themen Langeweile und Unterforderung begleiten fast alle Hochbegabten in ihrem Leben und können gravierende Folgen haben. Oft leiden hochbegabte Mädchen und Frauen an Unterforderung, die sie in eine unendliche Langeweile stürzen kann. Sie vermissen in ihrem Leben etwas Wesentliches und wissen plötzlich mit sich und der Welt nichts anzufangen. Finden sie etwas, wofür sie brennen, stellen sich geistige Höhenflüge ein. Solange Hochbegabte ihre Energien positiv ausleben können, bleiben sie im Gleichgewicht. Um der Langeweile zu entkommen, verfallen sie einem Aktionismus und widmen sich verschiedenen Aufgaben am liebsten gleichzeitig. Dabei laufen sie Gefahr, all ihre scheinbar unerschöpfliche Energie über die Jahre und Jahrzehnte an andere, meist dysfunktionale Beziehungen zu verschwenden.

Sie scheinen unermüdlich in ihrer Arbeitsmoral und ihrem Energiepensum, doch unter dem permanenten Feuerwerk lauert die Langeweile, die ihr Lebensgefühl angreift. Ein vages, hartnäckiges und heimtückisches Gefühl der Trägheit, das entstehen kann, wenn man ständig nach dem Sinn im Leben sucht. Für Hochbegabte müsste das Leben immer spannend sein, voll überraschender Wendungen und starker miteinander geteilter Gefühle: intensive Freuden, überbordendes Glück und besondere Erfolge. Sie wollen spüren, dass sie leben. Sie wollen die Welt mitgestalten und ihre aufregenden Abenteuer mit allen Menschen teilen.

Bei aller Vielfalt und Energie fühlen sich hochbegabte Frauen manchmal abgeschnitten von ihrem Umfeld, unterschätzt, unverstanden in ihrem Innersten. Ihre Fähigkeit, blitzschnell ein umfassendes Verständnis selbst auf fremden Gebieten zu entwickeln, ermöglicht es ihnen, oft besser zu sein als ihre Lehrkräfte, Vorgesetzten und Therapierenden. Es ist nicht einfach, immer allen voraus zu sein. Das fehlende Vertrauen in Autoritätspersonen und die schnelle Lernfähigkeit führen dazu, dass Hochbegabte sich irgendwann für eine berufliche Unabhängigkeit entscheiden, in der sie sich nur auf sich selbst verlassen dürfen. Zu gerne hätten sie jemanden, dem sie vertrauen und tiefen Respekt schenken würden, jemanden, der ihnen in Persönlichkeit und Kompetenzen überlegen ist, doch solche Begegnungen sind eher selten und außergewöhnlich.

Werden Unruhe und Energie nicht in Produktivität gebündelt, kann es zu Lebenssituationen kommen, in denen sie anderweitig versorgt werden – mit Alkohol, Glücksspiel, Essen, Drogen und sexuellen Exzessen. Die meisten Hochbegabten stellen intuitiv immer wieder die Balance zwischen intensiver Aktivität und absoluter Ruhe her. Sie müssen die Kunst erlernen, ihr hochaktives Gehirn so oft wie möglich bis an seine Grenzen auszulasten, ohne auszubrennen – ein Drahtseilakt, der oft lebenslanger und täglicher Übung bedarf.

1.2.2 Komplexität des Wahrnehmens

Hyperästhesie, Poetik, Ästhetik

Die sogenannte Hyperästhesie, die gesteigerte Erregbarkeit der Gefühls- und Sinnesnerven, verstärkt alle Wahrnehmungskanäle und verleiht der inneren Welt eine emotionale Dichte, eine Wahrnehmung mit allen Sinnen. Die bemerkenswerte Aufnahmefähigkeit Hochbegabter und ihr Erleben der Welt sind außergewöhnlich. Alles zu spüren, kann ein besonderer Genuss sein und zu magischen Momenten führen; Hyperästhesie ist einzigartig, euphorisierend und magisch.

Einen Sinn für das Schöne, ein Gefühl für das Wahre, für das, was berührt, steht im Zentrum der Ästhetik, die die intimste Verbindung zur Welt ermöglicht. Sie ist eine philosofische Disziplin, ein poetischer Charakter, der sich selbst vergessen lässt, um Schönheit zu genießen. Poetik und Ästhetik bringen die Welt in ihrer vollen Lebendigkeit zum Vorschein – sie sind das Tor zur Schönheit des Lebens.

Einige Hochbegabte können binnen Sekunden vom Lachen zum Weinen, von absoluter Ekstase zu tiefster Traurigkeit übergehen. Die netzwerkartige Ausbreitung ihrer Gedanken kann für häufige, unverhoffte Stimmungswechsel sorgen. Dabei können die dunkelsten Gedanken Hochbegabter zu psychischen Qualen und einem Leben führen, das unerträglich erscheint. Genauso lässt die grenzenlose positive Energie sie immer wieder wie Phönix aus der Asche emportreten. Mit ihrer besonders starken Wahrnehmung für die Komplexität der Welt haben Hochbegabte in der Regel ein großes Bedürfnis, in allem einen Sinn zu finden. Sie schaffen Ordnung und Struktur in ein scheinbares Chaos und erleben tiefe Glücksgefühle, wenn sie Neues lernen.

Die beinahe übernatürliche Energie mancher Hochbegabter kann sich auch ins Gegenteil wandeln: Ist die hochbegabte Frau im tiefsten Inneren davon überzeugt, dumm und inkompetent zu sein, dann verwandelt sich ihre beeindruckende positive Energie in Starre. Schnell befindet sie sich in einem Kampf ums psychische Überleben. Gelingt es ihr, den ermüdenden Kampf aufzugeben und sich einem glücklichen Leben zuzuwenden, werden Energien freigesetzt, die eine immer wieder neue Lebensgestaltung ermöglichen. Hochbegabte werden von ihrer Lust an Herausforderungen dazu getrieben, große Dinge zu erreichen – für sich selbst und für die anderen, genährt von ihrer tiefen Sehnsucht nach Menschlichkeit.

Zeiterleben

Für manche Hochbegabten gibt es keine normale Zeitstruktur. Ihre Gedanken breiten sich netzwerkartig aus; in einer besonderen Tiefe denken sie auf mehreren Achsen gleichzeitig, schwenken dabei von zwei- zu dreidimensionalen Gedanken und beobachten sich aus der Vogelperspektive. Sie analysieren, passen ihre Parameter an und antizipieren mögliche Konsequenzen und Reaktionen der anderen. Sie führen Regie, spielen gleichzeitig die Hauptrolle und schauen von außen zu. Ganz im gegenwärtigen Moment zu leben, im gleichen Takt mit ihren Sinneseindrücken und Emotionen zu sein, ist für Hochbegabte fast unmöglich. Die Metaanalyse jedes Moments hindert sie oft daran, sich einfach nur an einer Szene zu beteiligen und im Fluss des Lebens zu verweilen.

»Nicht nur haben Hochbegabte das Gefühl, mehrere Alter zu haben, sie bewegen sich auch in unterschiedlichen Raumzeiten: Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft. Natürlich leben sie ihre eigene individuelle Lebenszeit, doch ist diese auch mit dem Raum-Zeit-Kontinuum des Universums verbunden. […] Die Perspektive auf sich selbst ist ganz anders, da sie durch die Skalen von Raum und Zeit relativiert wird.« (Siaud-Facchin 2017, S. 157)

Hochbegabte können sich nicht vom Kontext lösen. Ihr Sinn des Lebens bezieht sich auf das Leben selbst, das mit dem Sinn der Welt verbunden ist, auch wenn dieser Sinn sich ihnen nicht direkt offenbart. Das persönliche Leben, so unbedeutend es sein mag, wird stets durch den Bezug zum Universum in die rechte Perspektive gerückt. Nur diese universelle und von der Zeit unabhängige Perspektive kann für sie einen Sinn ergeben und jedem gewöhnlichen Leben eines jeden Einzelnen einen Sinn verleihen.

Struktur und Freiheit

Die meisten Hochbegabten haben eine innere Strukturiertheit, die sie mit ihrem Logikverständnis und der Fähigkeit des Vorausschauens dazu befähigt, Ordnung und Struktur zu schaffen. Sie sind in der Lage, lückenhafte Systeme zu dechiffrieren und mit ihrem synoptischen Überblick systemübergreifend zu denken. Das schlussfolgernde Denken Hochbegabter, kombiniert mit einem breiten Wissen und dem richtigen Gespür, erlaubt ihnen, Entwicklungen vorauszusehen und aus wenigen Komponenten in Windeseile ein Zukunftsmodell zu entwickeln. Solche Menschen sind für eine Gesellschaft sehr wichtig, allerdings übersteigen ihre Ideen oftmals das, was andere Menschen nachvollziehen können und scheitern durchaus, da sie nicht erkannt werden. Dies passiert Frauen wie Männern, Frauen wird jedoch häufiger die Glaubwürdigkeit ernst zu nehmender Visionen abgesprochen.

Genauso gibt es unstrukturierte Hochbegabte, die Hochleistungen vollbringen, ohne den Überblick zu verlieren. In manchen Situationen sind Hochbegabte mit strukturiertem Denken unstrukturiert, nämlich dann, wenn sie sich in negativen Gedanken und Gefühlen verlieren. Dann kann eine geordnete Umgebung inneren Halt geben: ein ruhiges Zuhause, ein geregelter Tagesablauf und feste Gewohnheiten (Gusovius 2005).

Freiheit und Struktur ergänzen sich: Um Ordnung und Systeme zu entwickeln, braucht es Freiheit im Denken. Eine für Hochbegabte wichtige Art von Freiheit ist die Abwesenheit von Zwang. Sie sträuben sich aus Prinzip gegen äußere Zwänge und reagieren mit Widerstand; sie brechen mit Konventionen und arbeiten am liebsten frei und unabhängig. Lässt man sie in Ruhe, vollbringen sie außergewöhnliche Leistungen. Ihr Freiheitsdrang, ihre unermüdliche Energie und die Kreativität lassen sie wahre Wunder vollbringen. Freiheitsliebende Menschen können gut mit sich allein sein, ohne sich einsam zu fühlen. Sie brauchen Zeit für sich, zum Lesen, Arbeiten und Denken. Nur in Freiheit und Ruhe kann sich kreative Arbeit entwickeln. Alles andere kostet sie zu viel Kraft (Gusovius 2005).

Ethik und Moral

Hochbegabte Menschen sehen schon als Kinder keinen Sinn in einer von außen etablierten Moral. Sie wollen aus sich selbst heraus begreifen, was richtig ist und was falsch. Sie haben ein außerordentlich feines Sensorium für Menschen und einen ausgeprägten Sinn für Stimmigkeit und Wahrheit. In engeren persönlichen Beziehungen sind Hochbegabte kompromisslos loyal und stehen immer zu den Menschen, mit denen sie sich verbunden fühlen. Sie haben zudem das ausgeprägte Bedürfnis, niemanden zu verletzen. Loyalität, hohe ideelle Werte und ein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn begleiten viele Hochbegabte in ihrem täglichen Leben. Die Achillesferse hochbegabter Frauen ist die soziale Ungerechtigkeit. Dies gilt sowohl für ihre vielfältigen und im Vergleich zu Männern größeren Ungerechtigkeiten ihnen selbst als auch anderen Menschen gegenüber.

Intuition

Hochbegabte Frauen verfügen über eine kreative Intuition, eine Art Expertensystem, mit dem die Analyse eines jeden Problems unter Einbeziehung einer Vielzahl von Faktoren und Erfahrungen gleichzeitig und rasant erfolgt. Diese Intuition erlangen sie dank ihrer Assoziationsfähigkeit und ausgeprägten Empathie. Als Intuition wird eine unbewusste Intelligenz verstanden, das sogenannte Bauchgefühl, das uns die wirklich guten Entscheidungen aufgrund einer Vielzahl von nicht bewusst greifbaren Informationen treffen lässt. Der Haken liegt darin, dass Frauen die Legitimität ihrer Lösung rechtfertigen wollen – vor sich selbst und vor ihrem Umfeld. Oft wissen sie selbst nicht, warum sie etwas verstanden haben, aber sie wissen, dass sie es genau verstanden haben. Und manchmal glauben sie sich trotzdem nicht. Dabei ist ihre Intuition ein besonders starkes Instrument auf ihrem Lebensweg, auf das sie sich stets verlassen sollten.

Kreativität und Flow

Die Kreativität hochbegabter Menschen entsteht aus der sogenannten latenten Inhibition, dem Unvermögen, unwichtige Informationen von wichtigen zu unterscheiden, wie es die Gehirne Nicht-Hochbegabter automatisch tun. Das Gehirn hochbegabter Menschen registriert feinste Details und bildet daraus ein differenzierteres Bewusstsein und eine verstärkte Wahrnehmungsfähigkeit. Hochbegabte können die Intensität aller Reize auf sich einströmen lassen und aus ihnen sehr originelle Ideen entwickeln. Dieser großartige Vorgang bringt Leidenschaft und Erfüllung in einer kontinuierlichen, weitverzweigten und grenzenlosen Wahrnehmung und stellt unerwartete kreative Verbindungen her.

Kreative Hochbegabte sind erfolgreich, wenn sie ihre überdurchschnittliche Intelligenz und Kreativität mit anhaltender Motivation und Faszination für ein spezielles Thema verbinden. Der Flow kreativer Hochbegabter enthält Neugier, ein anhaltendes Streben nach mehr Wissen, den Willen, persönliche Barrieren zu überwinden und den Wunsch, sich über einen langen Zeitraum für eine Aktivität zu engagieren. Gerade hochbegabten jungen Frauen wird geraten, sich in den gesellschaftlichen Erwartungen nicht zu verlieren und stets den Fokus auf ihre Leidenschaften zu wahren.

Kreativität impliziert die Verpflichtung zu einer Aufgabe, ein bestimmtes Mindset und einen Flow. Erfolgreiche Menschen sind zu 100 Prozent bei ihrer Leidenschaft, sie planen, stellen Strategien auf, nutzen ihre Ressourcen, arbeiten hart und sind detailorientiert. Im Zusammenhang mit hochbegabten erfolgreichen Frauen beobachten Kerr und McKay:

»They had discovered the secret of joy that is always there waiting for the gifted woman – that falling in love with an idea can provide a lifetime of emotional sustenance and constancy.« (Kerr & McKay 2014, S. 272)8

1.2.3 Komplexität des Denkens

Intelligenz als Stärke

Hochbegabte Mädchen und Frauen dürfen und müssen mehr als Männer lernen, das Besondere an ihrer Intelligenz wertzuschätzen. Die Fähigkeit, die Perspektive auf sich zu wechseln, birgt für Hochbegabte unzählige neue Möglichkeiten, die sie ausschöpfen sollten. Perspektivwechsel und Selbstkritik sollten bewusst für die eigene Weiterentwicklung eingesetzt werden, anstatt unter der hohen Introspektionsfähigkeit zu leiden.

Eine lineare und analytische Denkweise, die von einer Grundhypothese ausgeht und sich dann in logischen Etappen weiterbewegt, erlaubt zwar gute Ergebnisse, allerdings kaum wirklich neue Ideen. Das netzwerkartige Denken Hochbegabter ermöglicht dagegen unerwartete Ergebnisse, auf die das strukturierte, sequentielle Denken niemals gekommen wäre. Im Denken gegen den Strom steckt die Kreativität.

Mit der sogenannten weitwinkligen Intelligenz können Hochbegabte Probleme gleichzeitig aus vielen verschiedenen Winkeln betrachten und dadurch ein viel größeres Verständnis der Welt erlangen. Die weitwinklige Intelligenz ist ein jenseits der Norm liegendes Denkvermögen, das Hochbegabten einen vorausschauenden Blick und außergewöhnlich hohe Kenntnisse verschafft.

Die netzwerkartige Ausbreitung ihrer Gedanken führt zu einer rapiden Gedankenverästelung und einer Quelle unzähliger Ideen, die gelenkt und genutzt werden wollen. Die Aktivität der Gedankennetzwerke ist immens hoch; gleichzeitig auftretende Unmengen an Ideen und Assoziationen können gleich wieder verloren gehen. Das Schreiben als Instrument zur Selbsterkundung und Kanalisierung eigener Gedanken ist besonders empfehlenswert.

Lässt die Mehrfachbelastung der Frauen von Familie, Beruf und Gesellschaft zu, dass sie ihre Intelligenz als Stärke wahrnehmen und einsetzen? Wie können hochbegabte Frauen davon Abstand nehmen, den Spagat zwischen Ansprüchen und Bedürfnissen halten zu müssen? Wie können sich Frauen von der Bewertung von außen befreien? Was muss passieren, damit weibliche Intelligenz wirklich als Stärke verstanden wird – von den hochbegabten Frauen selbst, ihren Familien, Lebenspartnern und Arbeitgebern?

Sprachkomplexität

Die Sprachkomplexität ist eins der Kernmerkmale von Hochbegabung: Profunde Lexik und ein sehr gutes sprachliches Ausdrucksvermögen zeichnen (gebildete) Hochbegabte in der Regel aus. Sie erkennen sprachliche Feinheiten und unterschiedliche Nuancen oft schon, bevor sie selbst sprechen können und begreifen rasch, dass ein Wort unter Umständen verschiedene Bedeutungen besitzt und unterschiedliche Wörter ein- und dasselbe aussagen können. Sie lernen schnell, dass man sich einen sehr umfangreichen Wortschatz und eine präzise Ausdrucksweise aneignen muss, wenn man vielfältige Gedanken und Gefühle oder komplexe Sachverhalte verstehen und entsprechend differenziert mitteilen möchte. Dahinter steckt der Wunsch nach Genauigkeit.

Hochbegabte haben ein sehr hohes Denk- und Sprechtempo, das zudem aufgrund der Assoziationsfähigkeit sehr sprunghaft wirken kann. Sie möchten Unmengen von Gedanken, Ideen und Fragen mit anderen Menschen teilen und fürchten, nicht ausreichend Zeit für ihre Darlegung zu haben. So versuchen sie, in kurzer Zeit sehr viele Informationen zu vermitteln, was sich im erhöhten Sprechtempo zeigt. Dank ihrer geschärften Sinne und ihrer Aufnahmekapazität fügen sie die vielen zusammenhanglosen Einzelinformationen im Gespräch oft in Windeseile zusammen. Daraus entstehen wieder neue Gedanken und Fragen, die dann eingeflochten werden. Das Gegenüber könnte sich irgendwann den Gedankensprüngen entziehen wollen.

Gedächtnis und Wissensdurst

Ein hervorragendes Gedächtnis ist eines der Hauptmerkmale Hochbegabter. Es ist die Mühelosigkeit des Erinnerns, die an Hochbegabten bewundert wird. Ihr Langzeitgedächtnis löst sehr schnell komplexe Aufgaben, indem es blitzschnell nach bekannten Parametern sucht. Hochbegabte spielen mit dem Gehirn und lassen es Aufgaben durchspielen, die ihr gesamtes Geschick erfordern: Schnelligkeit, Präzision, Analysefähigkeit. Ein noch so unbedeutendes Detail merken sie sich und erlangen in ihrem Wissen hohe Vollständigkeit. So werden Ideen vertieft und bis ins winzigste Detail erforscht. Diese Methode ist ein machtvolles Instrument für das Erkunden neuer Theorien und die Entstehung neuer Gedankensysteme, die Hochbegabten ein Vordringen ins Zentrum des eigenen Selbst ermöglichen.

Es gibt auch Hochbegabte, die sich nur merken, was sie wirklich interessiert – Unwichtiges und Überflüssiges behalten sie nicht. Ihr Wissen ist auf ihren Interessengebieten beeindruckend und manchmal unerwartet fragmentarisch. Ihre Erinnerungsfähigkeit kann von Nachteil sein, wenn sich schlechte Erfahrungen tief ins Gedächtnis einprägen. Erlebte Ungerechtigkeiten und Verletzungen bleiben über einen langen Zeitraum real, zeitlos und jederzeit abrufbar. Hier heilt die Zeit keine Wunden, wenn überhaupt braucht die Heilung viele Jahre, und dennoch kann die Verletzung sie, wie eine heftige Meereswelle, plötzlich wieder erfassen (Gusovius 2005).

Starke Neugierde und großer Wissensdurst zeichnen sie aus; sie brauchen das sprichwörtliche Futter fürs Gehirn. Bereits hochbegabte Kinder brauchen ausreichend geistige Stimulation, um ausgeglichen zu sein, und das ändert sich bis ins hohe Alter nicht, wie die Untersuchungen zu hochbegabten Senioren zeigen (Nauta et al. 2020). Die meisten hochbegabten Erwachsenen haben große Freude an Herausforderungen und fühlen sich erst wirklich wohl, wenn sie gefordert sind. Oft zeigen sie große Begeisterung für komplexe und manchmal ungewöhnliche Dinge und verfolgen sie mit großer Intensität. Dieses enorme Energiepensum kann manchen Menschen zu intensiv und anstrengend erscheinen. Gerade Frauen mit einem hohen Energiepensum und einer gelebten starken Intensität können irritieren, insbesondere wenn sie eine attraktive Erscheinung sind.

Geistige Autonomie, Abstraktionsfähigkeit und Nonkonformismus

Das Denken der hochbegabten Persönlichkeit ist sehr komplex. Hochbegabte denken selbst bei einfachen Aufgaben auf einer abstrakten Ebene. Dabei werden diverse Aspekte miteinbezogen, Konsequenzen durchdacht, Perspektivwechsel durchgeführt und Vergleiche herangezogen – alles zeitgleich. So kann ein Gedanke am Ende zu vielen weiteren Verästelungen führen und mit weiteren Überlegungen vernetzt werden. Dieses breite und komplexe Denken kann vielfältige und herausragende Ergebnisse hervorbringen (Fietze 2019).

Dank ihrer ausgeprägten Fähigkeit zur Visualisierung besitzen Hochbegabte ein ausgezeichnetes episodisches und situatives Gedächtnis. Reflexion bedeutet für sie nicht nur Rückschau, sondern auch Vorschau: Sie reflektieren nicht nur sich selbst und vergangene Situationen, sondern auch mögliche zukünftige Geschehnisse. Sie sind Meister der Strategien und Visionen. Die Kehrseite des komplexen Denkens besteht darin, nicht auf den Punkt zu kommen. Gerade bei einfachen Fragen erschwert diese Eigenart eine konkrete und praktische Lösungsfindung.

Für Hochbegabte bedeutet Denken Leben. Hochbegabte Menschen haben keine andere Wahl als zu denken: Ihre machtvollen, unablässigen Gedanken lassen sich nicht aufhalten und nehmen pausenlos alles unter die Lupe, analysieren, verarbeiten, assoziieren und antizipieren. Betroffene denken demnach über alles nach, und das in hoher Intensität, in verschiedenen Sprachen und Schriften.

Hochbegabte haben eine ausgeprägte Fähigkeit zur Mustererkennung und Analogiebildung, ein Denken in Bildern. Sachverhalte erschließen sich ihnen durch die unbewusste und intuitive Interpretation. All das geschieht in hoher Geschwindigkeit und ohne Zwischenschritte. Bei ihnen sind Präzision und Tiefenanalyse aktiviert bis ins Unendliche (Fietze 2019). Dies ist vor allem bei höchstbegabten Menschen bei einem IQ ab 145 zu beobachten.