Weihnachten auf Mistletoe Island - Sophie Pembroke - E-Book
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Weihnachten auf Mistletoe Island E-Book

Sophie Pembroke

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Beschreibung

Der Schnee fällt vom Winterhimmel, als Fliss und ihre Freunde sich kurz vor Heiligabend im Holly Cottage auf einer kleinen schottischen Insel treffen. Anlass ist Fliss’ Hochzeit, die für den 23. Dezember geplant ist. Eine perfekte Winter-Wunderland-Heirat soll es werden, doch alle haben neben warmen Jacken auch ihre ganz eigenen Sorgen im Gepäck. Zwischen Tortendebakel und Brautkleidanprobe kommen immer mehr Geheimnisse ans Licht, und es zeigt sich, dass die Freunde sich vielleicht doch nicht so gut kennen. Ein Happy Ever After scheint plötzlich in weiter Ferne. Doch Fliss glaubt an ein Weihnachtswunder und so findet am Ende jeder seinen Weg zum Glück.

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Zum Buch

Der Schnee fällt vom Winterhimmel, als Fliss und ihre Freunde sich kurz vor Heiligabend im Holly Cottage auf einer kleinen schottischen Insel treffen. Anlass ist Fliss’ Hochzeit, die für den 23. Dezember geplant ist. Eine perfekte Winter-Wunderland-Heirat soll es werden, doch alle haben neben warmen Jacken auch ihre ganz eigenen Sorgen im Gepäck. Zwischen Tortendebakel und Brautkleidanprobe kommen immer mehr Geheimnisse ans Licht, und es zeigt sich, dass die Freunde sich vielleicht doch nicht so gut kennen. Ein Happy Ever After scheint plötzlich in weiter Ferne. Doch Fliss glaubt an ein Weihnachtswunder und so findet am Ende jeder seinen Weg zum Glück.

Zur Autorin

Sophie Pembroke wurde in Abu Dhabi geboren und wuchs in Wales auf. Sie studierte Englische Literatur an der Lancaster University und lebt heute zusammen mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in einem kleinen Dörfchen nördlich von London. Ganz in britischer Manier gibt es für Sophie nichts, was sich nicht mit einer Tasse Tee lösen ließe, und im Ernstfall kann man ja auch immer zwischen die Seiten eines Buches abtauchen.

SOPHIEPEMBROKE

Weihnachten

auf

Mistletoe

Island

ROMAN

AUSDEMENGLISCHEN

VONJANAMINZEL

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 09/2021

Copyright © 2019 by Sophie Pembroke

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel

The Wedding on Mistletoe Island bei Orion, London.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe

© 2021 by Diana Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: © t.mutzenbach design, München

Umschlagmotiv: © Shutterstock.com (Kjpargeter; PurpleBird;

Adiemus; Woskresenskiy; Nebula Cordata)

Redaktion: Ingola Lammers

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-26931-9V002

www.diana-verlag.de

Für Victoria

Dafür, dass sie an mich geglaubt,

mich angerufen und diese Geschichte stets

im Herzen herumgetragen hat.

2009

Fliss

»Fliss, das Haus ist ja der Hammer!«

Fliss sah grinsend zu, wie Lara sich im Eingangsbereich des Holly Cottage um ihre eigene Achse drehte. Ihr langes, wallendes blondes Haar flog umher und wurde von dem Sonnenlicht, das durch die Buntglasfenster der Eingangstür fiel, rot, grün und golden gefärbt.

»Ich wusste, dass es dir gefallen würde«, freute sie sich. Vor allem war sie froh, Lara rausgelockt zu haben, nachdem sie sich die letzten Wochen vor den Prüfungen in der Universitätsbibliothek verkrochen hatte. Daraufhin hatte Fliss beschlossen, dass sie dringend mal rausmusste und einen Tapetenwechsel brauchte. Genau wie sie alle.

Glücklicherweise konnte sie ihre Eltern überreden, ihnen dabei zu helfen.

Das Holly Cottage befand sich im Besitz ihrer Familie, seit Fliss denken konnte. Viele schöne Urlaube hatten sie hier im Cottage auf Mistletoe Island verbracht, einer Insel vor der Westküste Schottlands. Aber Fliss hatte so ein Gefühl, dass dies die schönsten Ferien ihres Lebens werden würden.

Solange du dafür sorgst, dass keiner deiner Freunde es zu wild treibt, hatte ihr Vater sie ermahnt und ihr widerstrebend die Schlüssel zum Cottage überreicht. Auf dich ist Verlass, aber bei einigen deiner Freunde bin ich mir da nicht so sicher.

Ihre Mutter hatte ihn umgestimmt, indem sie ihn daran erinnerte, dass Fliss emsig für ihren Abschluss gebüffelt hatte und dies die letzte Gelegenheit für die Freunde war, noch einmal zusammen einen draufzumachen, bevor es ernst wurde und sie ins Arbeitsleben entlassen wurden.

Außerdem hatte Fliss noch nie etwas angestellt, was dagegengesprochen hätte, ihr und ihren Freunden eine Woche das Cottage zu überlassen. Und glücklicherweise wussten ihre Eltern nicht, was sich ihre Freunde an der Uni tatsächlich für Dinger geleistet hatten.

Fliss schüttelte die Gedanken ab. Ihre Eltern waren nicht da, insofern war es müßig, sich Sorgen zu machen. Stattdessen hatten sie nun zu siebt sieben Tage lang das Cottage für sich allein. Sie sah sich um. »Wo bleiben eigentlich die anderen?«

»Wir kommen ja schon!« Neal erschien im Türrahmen, zwei Koffer in der Hand und ein breites Grinsen im Gesicht. Offenbar war es mit Caitlins feministischer Seite nicht so weit bestellt, dass sie ihre Koffer selbst tragen würde, wenn ihr Freund das für sie übernahm. Entweder das, oder Neal versuchte, irgendetwas wiedergutzumachen. Vermutlich Letzteres. »Schau dir das an. Kein Zelt oder ein billiges Hostel, sondern ein echtes Cottage. Sieht so aus, als würden wir alle langsam erwachsen.«

»Alle außer Harry«, sagte Jon, der seinen Koffer an die Wand neben der Standuhr anlehnte, die bereits zu jeder Stunde geschlagen hatte, noch lange bevor Fliss überhaupt geboren worden war. »Er hat sich geschworen, nie erwachsen zu werden und für immer einundzwanzig zu bleiben.«

Fliss überlegte, dass das gar nicht so abwegig klang. Harry war der Witzbold der Gruppe, ständig zu Späßen und Spielen aufgelegt. Der wikingerartige Rugbystar, der jeden unter den Tisch trank. Der immer erst auf den letzten Drücker lernte – und auch nur, wenn Lara ihn dazu zwang – und sich trotzdem nie darüber Gedanken machte, dass er seinen Abschluss nicht schaffen könnte. Wahrscheinlich rechnete er sich aus, dass er zur Not die Dozenten so lange bequatschen würde, bis sie ihm eine bessere Note gaben. Harry wickelte mit seinem Charme jeden um den Finger – selbst Prüfer.

Nun konnte sie ihn draußen mit Alec hören, wie sie beratschlagten, wo sie am besten die Bierfässer positionieren sollten, die sie mitgebracht hatten. Zumindest konnte sie darauf vertrauen, dass Alec aufpassen würde, dass sie nicht explodierten. Auf Alec war Verlass. Egal ob es darum ging, mit ihm zu später Stunde noch ein Bier zu trinken, den entscheidenden Versuch in einem Rugbyspiel zu erzielen oder sich direkt nach der Uni einen Job zu angeln. Alec zuckte nur mit den Schultern und erklärte, er sei nichts Besonderes, wenn sie sich beschwerten, dass er immer auf der Sonnenseite des Lebens stand. Aber Fliss hatte Alecs Geheimnis durchschaut: Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, krempelte er die Ärmel hoch und sorgte dafür, dass er sein Ziel erreichte.

Meistens zumindest. Beim Thema Freundinnen schien er kein so glückliches Händchen zu haben. Genau wie beim Kochen.

Ihr Blick landete schließlich auf Lara, die zu Jon hinaufstrahlte und so entspannt aussah wie seit Monaten nicht. Wenn Harry der Partylöwe war, dann war Lara ihr Workaholic. Eine Studentin, die nie trödelte, ihre Hausarbeiten immer pünktlich abgab und trotzdem die letzte Nacht vor der Abgabe durchmachte, damit ihre Arbeit auch ja perfekt war.

So viel Fleiß und Disziplin hieß, dass, wenn Lara sich dann zur Abwechslung entspannte, sie es so richtig krachen ließ.

Vielleicht passte Jon deshalb so gut zu ihr. Solide, seriös und strebsam genug, um diese Seite von Lara abzudecken, aber gleichzeitig war er auch gerne draußen unterwegs – beim Wandern oder Klettern normalerweise – und sorgte dafür, dass Lara auch mal das Tageslicht zu Gesicht bekam. Er war der Handwerker der Gruppe, den man rief, wenn die Dusche kaputt war oder die Haustür ihres Studentenwohnheims nicht mehr schloss.

Doch all seine Ernsthaftigkeit verflog, sobald er in Laras Nähe war. Fliss hatte ihre Beziehung im letzten Jahr verfolgt und war manchmal ein wenig neidisch darauf gewesen, wie gut die beiden zusammenpassten. Wie die Blondine und der dunkle Lockenschopf die Köpfe zusammensteckten und sich Insiderjokes zuflüsterten. Oder wie Lara wirklich aufmerksam zuzuhören schien, wenn sich Jon betrunken in einem seiner tiefgründigen, philosophischen Monologe ergoss.

Die beiden wirkten harmonisch miteinander. Glücklich. Ihr Blick schwenkte zu Neal just in dem Moment, da Caitlin hinter ihm in der Tür stand und ihn mit ihrer Handtasche vorwärtsstupste.

»Ich bin so froh, dass wir in einem Haus mit einer funktionierenden Toilette übernachten«, sagte sie und beäugte gewohnt kritisch den Flur, während sie ihre rote Mähne nach hinten warf.

Fliss unterdrückte ein Grinsen. Ach ja, das war es, was Neal wiedergutmachen wollte. Sie hatte davon gehört, wie Neals Plan für ein romantisches Wochenende in einem B&B in Norfolk nach hinten losgegangen war. Caitlin hatte sich mehr an der Sanitäreinrichtung gestört als an der »Serienmörder«-Atmosphäre, die in der Unterkunft laut Neal geherrscht hatte.

Caitlin und Neal waren die Erwachsenen unter ihnen – sie waren seit dem ersten Jahr an der Uni zusammen und inzwischen praktisch verheiratet. Sie waren für die Gruppe so etwas wie der Mama- und Papa-Ersatz an der Uni. Als sie im zweiten Jahr beschlossen, alle zusammenzuziehen, war Caitlin diejenige gewesen, die sämtliche Immobilienmakler durchtelefonierte, um für sie die perfekte Wohnung zu finden. Auch rechnete sie aus, wie viel jeder, basierend auf seiner Zimmergröße, an Miete zu entrichten hatte, und aktualisierte regelmäßig die Einkaufsliste am Kühlschrank.

Und Neal … Neal wurde zum Einkaufen oder für andere Erledigungen losgeschickt, die Caitlin für erforderlich hielt.

Caitlin hatte einen Plan fürs Leben – mehrere, um genau zu sein. Sie alle kannten ihre Drei-, Fünf- und Zehnjahrespläne bis ins kleinste Detail. Caitlin wusste genau, was sie wollte und wie sie es erreichen würde.

Und offenbar hatte sie vor, diese Pläne mit Neal zu verwirklichen.

Das waren ihre Freunde. So setzte sich ihre Gruppe zusammen. Der Witzbold, der Verlässliche, der Workaholic, der Ernste und Mama und Papa. Und sie.

Sie wusste genau, welche Rolle ihr zukam.

»Miss Fliss«, brüllte Harry und quetschte sich an den anderen vorbei, um ihr ein Küsschen auf die Wange zu drücken. »Das Cottage ist perfekt! Ich sehe es schon vor mir: wilde Partys, Nacktbaden im Meer …«

Fliss brachte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen zum Schweigen. Harry grinste verlegen. »Sorry, ich hatte ganz vergessen, mit wem ich rede. Ich meinte natürlich, wir alle werden uns brav benehmen und nur äußerst maßvoll Spaß haben.«

Sie wusste, dass er log, und verdrehte die Augen. Aber was noch schlimmer wog, war, dass er offenbar glaubte, es wäre das, was sie hören wollte – und nicht vielmehr, was ihre Eltern von ihr erwarteten.

Das war ihre Rolle in der Gruppe. Die Miss Fliss. Die Nette – was auch immer das heißen sollte. Das Nesthäkchen der Gruppe, das man vor der Welt da draußen beschützen musste. Die naive Unschuld, die Harrys zotige Witze nicht kapierte und stattdessen Kuchen backte und alle glücklich machen wollte.

Und vielleicht war sie tatsächlich so gewesen, damals vor drei Jahren, als sie sich im ersten Semester kennenlernten. Aber hatte sie sich überhaupt nicht weiterentwickelt? Sie begegnete Neals Blick, der ihr mitfühlend zulächelte.

»Na los, Miss Fliss«, sagte Alec, der hinter Harry auftauchte. Gott, wie sie diesen Spitznamen hasste. »Wie wär’s, wenn du uns einmal durchs Haus führst?«

Fliss lächelte und zwang sich, sich aufs Hier und Jetzt zu konzentrieren. Immerhin hatten sie alle ihr Studium abgeschlossen, und die alten Rollenmodelle galten nun nicht mehr.

Der ganze Sinn und Zweck dieses Urlaubs war es, die Seele baumeln zu lassen. Zu siebt wollten sie – nachdem sie den Prüfungsdruck, Hausarbeiten und das Studium hinter sich gelassen hatten – ihren Abschluss feiern, bevor eine neue Phase in ihrem Leben begann.

Diese Woche würde perfekt werden, dachte Fliss entschlossen. Dafür würde sie schon sorgen.

»Ich würde vorschlagen, wir stoßen erst mal an«, sagte sie, zog eine Flasche Sekt der Supermarkt-Eigenmarke aus ihrer Tasche und ging den anderen in die Küche voran.

Jubelnd lief Lara zu einem der Küchenschränke, holte sieben Champagnerschalen heraus und hielt sie Jon hin, der sie weiterreichte, bis alle ein Glas hatten.

Fliss zog die Folie herunter und ließ den Korken knallen, ohne sich darum zu scheren, dass das nicht die vernünftigste Flaschenöffnentechnik war. Dann verteilte sie den Sekt so gleichmäßig wie möglich und wartete mit erhobenem Glas, bis all ihre Freunde es ihr nachtaten. »Auf unseren Abschluss!«, verkündete sie schließlich.

»Darauf, dass wir durchgehalten haben!«, fügte Harry hinzu.

»Auf Mistletoe Island!«, ertönte es von Neal.

»Auf die Innentoilette!« Das kam natürlich von Caitlin, die sie alle damit zum Lachen brachte.

»Auf den Abschluss!«, schrie Alec.

»Auf uns alle!«, stimmte Lara ein, die sich an Jon lehnte und ihn anlächelte.

Fliss genoss es, wie richtig sich dieser Moment anfühlte – sie alle hier, zusammen vereint. Und als sie am Sekt nippte und die Blubberbläschen ihre Nase kitzelten, wusste sie tief in ihrem Inneren, dass keiner von ihnen diesen gemeinsamen Urlaub jemals vergessen würde.

DONNERSTAG, 19. DEZEMBER 2019

Vier Tage bis zur Hochzeit

Fliss

Fliss griff, das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt, zum oberen Küchenschrank, während der Stuhl unter ihr bedrohlich kippelte. Über ihr funkelten die Champagnerschalen in den fahlen Wintersonnenstrahlen, die durch die hohen Fenster des Cottage fielen. Sie erinnerte sich an diese Gläser. Daran, wie sie angestoßen hatten, als sie vor zehn Jahren im Holly Cottage angekommen waren. Wie Jon heimlich mehr Sekt besorgt hatte, um eine Verlobung zu feiern, die nie stattfand. Sie hatten die Flaschen bis auf den letzten Tropfen leer getrunken an jenem Abend, um ihn aufzumuntern, nachdem Lara ihn abblitzen ließ und in die Nacht hinaus geflohen war. Sie sah, wie Harry aus den Gläsern eine nicht ganz überschwappsichere Champagnerpyramide gebaut hatte. Hörte, wie Alec ständig neue dämliche Toasts ausgegeben hatte, bis sie nicht mehr anders konnten, als über sich und alle anderen zu lachen. Caitlin musste damals über Alecs an Neal gerichteten Toast so sehr lachen, dass sie Sekt über ihren Freund verschüttet hatte, der daraufhin draußen schmollte, bis Fliss ihm ein neues Glas brachte, um ihn aufzumuntern.

Fliss biss sich auf die Lippen. Es hatte keinen Sinn, in der Vergangenheit zu leben. Diese Woche ging es nicht darum, was vor zehn Jahren vorgefallen war. Hier ging es um ihre Zukunft.

Sie konzentrierte sich wieder auf die Champagnerschalen. Wieso standen sie eigentlich so weit oben, dass kein Mensch sie je benutzen würde? Na ja, immerhin würden sie diese Woche zum Einsatz kommen. Nur noch ein paar Zentimeter …

»Felicity, Liebling, hörst du mir überhaupt zu?« Bei ihrer Schwiegermutter besaßen Kosenamen immer einen leicht scharfen Unterton, aber daran war sie gewöhnt.

»Natürlich, Martha. Du möchtest die Blumengestecke ändern.« Mal wieder. »Da bin ich ganz bei dir. Wenn wir Schneeglöckchen kriegen könnten, würde das zwischen den Winterzweigen wunderschöne Akzente setzen.« Ihre Schwiegermutter tat fast so, als hätte sie keinerlei Erfahrung mit dem Planen einer Hochzeit, und das obwohl sie für einen der gefragtesten Hochzeitstorten-Designer in ganz London arbeitete. Sie hatte die letzten neun Jahre tagein, tagaus nichts anderes gemacht, als mit den Bräuten die Deko, Farben und Geschmacksrichtungen der Torten durchzusprechen, nachdem sich ihr Abschluss in englischer Literatur als wenig Erfolg versprechend herausgestellt hatte, sodass sie sich inzwischen einer anderen Leidenschaft widmete.

Allerdings hatte sich trotz ihres Fachwissens die Planung ihrer eigenen Hochzeit doch deutlich kniffliger gestaltet als erwartet. Was vor allem an all den anderen Menschen lag, die in die Hochzeitsvorbereitungen involviert waren und offenbar meinten, in alle Entscheidungen miteinbezogen und zufrieden gestimmt werden zu müssen. Ihre Eltern, Ewans Eltern, die Brautjungfern, Ewans Großmutter, ihre Freunde, die Gäste … oh, und Ewan, ihr Verlobter. Und vielleicht irgendwo am Ende der Liste sie selbst.

Aber all das spielte jetzt keine Rolle. In vier Tagen, am 23. Dezember, würde sie Ewan heiraten. Damit blieben ihr vier Tage voller Partyspaß. Vier kurze Tage, bevor sich ihr Leben für immer verändern würde. Das war, was zählte.

»Gut.« Fliss konnte Marthas effizientes Nicken am anderen Ende der Leitung praktisch hören. »Und vielleicht könnten wir das Motiv bei der Torte wiederaufnehmen … Ich habe mit deiner Mutter geredet, und wir beide sind der Meinung, auf eine Hochzeitstorte gehören Blumen, findest du nicht?«

Nein.

Sie lehnte die Stirn gegen den Schrank und atmete tief durch. Fliss wusste genau, was auf ihre Hochzeitstorte gehörte und was nicht, sie brauchte keine Ratschläge. Seit Ewan ihr den Antrag gemacht hatte, schwebte ihr eine ganz bestimmte Torte vor, und so hatten sie die ganze Hochzeit unter das Motto Weihnachten gestellt. Die Schneeflockenmotive lagen seit Wochen bereit. Das Kuchenbacken würde sie zwar dem Team von dem Hotel überlassen, in dem die Feier stattfand, aber die Dekoration wollte sie komplett selbst übernehmen.

Martha würde sich ganz bestimmt nicht in ihre Torte einmischen.

»Um die Hochzeitstorte habe ich mich gekümmert, keine Sorge«, sagte Fliss so besänftigend, wie es ihr unter den Umständen möglich war. Solange sie dafür sorgte, dass ihre Mutter und Martha von anderen Themen abgelenkt wurden, war alles gut. Mum hatte bereits ihre Brautjungfernkleider als »zu leger« abgekanzelt und bestand darauf, bei der Auswahl neuer Kleider dabei zu sein. In Anbetracht dessen war die Frage nach den Blumengestecken auch schon egal. Hauptsache, niemand pfuschte ihr in ihre Torte hinein.

»Dann reiche ich dir mal meinen Sohn.« Nicht »Ewan«, nicht »deinen Verlobten«, sondern »meinen Sohn«. Nur um Fliss daran zu erinnern, wer ihn zuerst geliebt hatte – als ob sie das je vergessen würde, wo Martha doch keine Gelegenheit dazu ausließ.

Manchmal vermisste Fliss die Anfangszeit ihrer Beziehung, als sie es sich einfach zu Hause gemütlich gemacht hatten mit Filmen und Essen vom Chinesen und es keinerlei Verpflichtung gab, die Eltern des anderen zu treffen.

»Hey, na, alles okay? Steht der Weihnachtsbaum noch?« Beim warmen Klang von Ewans Stimme musste sie lächeln, als sie daran dachte, wie sie am Vorabend gemeinsam mit ihm den Baum im Cottage geschmückt hatte. Der erste Abend nach gefühlt einer Ewigkeit, der nur ihnen beiden gehört hatte, und vermutlich der letzte vor ihrer Hochzeit.

Sie streckte sich wieder nach den Champagnerschalen. Ihre Finger bekamen den feinen, gewundenen Stiel des vordersten Glases zu greifen, sodass sie es behutsam herunternahm und sich langsam auf den Stuhl herabließ. Nachdem sie das Glas abgestellt hatte, angelte sie nach dem nächsten Glas, ehe sie antwortete.

»Dem Baum geht’s gut und mir auch. Ich bereite nur gerade alles dafür vor, wenn die Gang eintrifft.« Sieben Personen, genau wie damals, also sieben Gläser. Nur dass die Siebte im Bunde dieses Mal Alecs Frau Ruth war, da Jon in den USA lebte und nicht zur Hochzeit kommen konnte. »Aber es wird seltsam sein, so ohne Jon. Auch wenn ich total verstehen kann, dass er nicht kommt.«

Am anderen Ende der Leitung machte Ewan eine Pause. »Ich weiß, dass du traurig bist, weil er nicht da ist. Aber angesichts der Umstände …«

»Du meinst Lara«, tippte Fliss.

»Vielleicht ist es das Beste so.«

Fliss seufzte. »Wahrscheinlich hast du recht. Aber es wird komisch sein, wenn alle dabei sind außer Jon.«

Jon. Sie musste unbedingt mit Lara über Jon reden. Aber vielleicht übernahm das auch Caitlin …

Vorsichtig holte sie ein weiteres Glas aus dem Schrank. Dies hier waren keine langweiligen Sektflöten. Nein, das waren echte gatsbymäßige Champagnerschalen, und wenn sie all die vielen Jahre überstanden hatten, würde Fliss einen Teufel tun und sie nun zu Bruch gehen lassen. »Weißt du was? Ich hab die Champagnerschalen gefunden, aus denen wir das letzte Mal getrunken haben, als wir hier waren. Es liegen zwar zehn Jahre Staub darauf, weil sie die ganze Zeit im obersten Schrank verstaut waren, aber wenn man sie ein wenig poliert …« Sie bremste sich. »Dir liegt nichts an Gläsern, oder?«

Ewan kicherte. »Nachdem deine und meine Mutter den ganzen Vormittag darüber diskutiert haben, welche der völlig identisch aussehenden Servietten in die engere Auswahl kommen, klingen selbst Gläser spannender.«

»Servietten?«, runzelte Fliss die Stirn. »Aber ich habe doch längst Servietten ausgesucht. Die weißen mit dem silbernen Schneeflockenmuster, die zu den Schleifen an den Stühlen passen.«

»Ah. Apropos …«

Tief einatmen, befahl sich Fliss und schloss die Augen. »Wir haben neue Servietten?«

»Und neue Schleifen.«

»Aha.« Das war der Nachteil daran, die letzten paar Tage vor der Hochzeit im Holly Cottage mit ihren Freunden zu verbringen, während ihre Mutter und Martha ungefähr einen Kilometer entfernt im Hotel saßen, wo niemand ein Auge auf sie hatte. Ihre Mum hatte schon genug Chaos angerichtet, wie viel schlimmer würde es nun kommen, da sie Schützenhilfe hatte? Es blieben noch vier Tage, und Fliss war nicht sicher, ob sie ihre eigene Hochzeit noch wiedererkennen würde, wenn es so weit war.

DIEMÜTTER, hatte Fliss die letzten elf Monate gelernt, hatten sehr genaue Vorstellungen davon, wie eine Hochzeit sein sollte. Und beide waren fest entschlossen, der jeweils anderen zu beweisen, dass ihre Vorstellung davon, wie Fliss’ und Ewans Hochzeit auszusehen hatte, die bessere war.

Solange sie meine Torte in Ruhe lassen …

»Na schön. Wie sie meinen.« Sie bemühte sich, fröhlich zu klingen, zu der Heiterkeit und dem Optimismus zurückzufinden, für den sie bekannt war. Solange alle glücklich waren, konnte sie auch mit neuen Servietten und Blumengestecken leben. »Das Einzige, was zählt, ist doch schließlich, dass ich dich am Montag heirate, stimmt’s?«

Eigentlich hatte sie am vierundzwanzigsten Dezember heiraten wollen, aber da an diesem Tag keine Fähre von der Insel ablegte und es auch von Glasgow aus keine Flüge zurück nach England gab, hatte sie sich mit dem Vortag zufriedengegeben in dem Wissen, dass alle rechtzeitig zu Heiligabend zu Hause bei ihren Familien sein wollten.

»Okay.« Ewan klang erleichtert. Er scheute Konflikte und Streitigkeiten ebenso sehr wie sie. Wahrscheinlich war ihre Beziehung deshalb so entspannt. Auch wie sie zusammengekommen waren, nachdem ein Kollege sie vor zwei Jahren einander vorgestellt hatte, hatte sich so natürlich angefühlt, dass Fliss eigentlich erst gemerkt hatte, dass sie ein Paar waren, als ihr auffiel, dass ihr Kühlschrank in ihrer Wohnung mit seinem Lieblingsessen gefüllt war. Normalerweise hatten die Typen die Beziehung sanft auslaufen lassen, bevor es überhaupt je dazu kam.

»Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich mich jetzt zu einer etwas unterkühlten Partie Golf mit unseren Vätern verabschieden. Wollen wir nicht vielleicht doch noch mal ausknobeln, wer den ›Eltern bespaßen‹-Part übernimmt?«, fragte Ewan.

Fliss verdrehte die Augen. »Nein, danke. Ich werde stattdessen unsere Freunde bespaßen.« Sie hatten die Aufgaben fair unter sich aufgeteilt, die in der riesigen Hochzeits-To-do-Exceltabelle standen, die Caitlin ihnen einen Tag nach Verkündung ihrer Verlobung zugemailt hatte. Das heißt, nachdem sie die absurdesten Aufgaben gestrichen hatten. Lud man wirklich zum »Hochzeitskaffeekränzchen« ein? Fliss hatte noch nie etwas davon gehört, bis DIEMÜTTER sich eingeschaltet hatten.

»Deine Freunde«, korrigierte sie Ewan. »Meine Freunde reisen erst am Vortag an wie alle normalen Menschen.«

»Willst du damit sagen, meine Freunde wären nicht normal?«, fragte Fliss mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Ich hab Harry ja schon kennenlernen dürfen«, sagte er, und Fliss lachte. »Dann treffe ich euch alle heute Abend zum Essen im Griffin?«

»Ja, bitte. Ich vermisse dich.« Seit sie sich verlobt hatten und vor knapp einem Jahr zusammengezogen waren, hatte sie keine Nacht ohne Ewan verbracht. Die Vorstellung, dass Ewan heute Abend im Mistletoe Hotel übernachtete, während sie allein in ihrem Bett im Holly Cottage lag, fühlte sich irgendwie nicht richtig an.

»Nach Montag musst du mich nie mehr vermissen.«

Da hatte er recht, überlegte Fliss, als sie auflegte. Am Montagabend wäre sie bereits Mrs. Ewan Bennett. Am Montag würde sie in Anwesenheit aller nahestehenden Menschen den Bund fürs Leben eingehen, ihn feiern und ihre Zukunft besiegeln. Diesmal würde sie nicht die perfekte Torte für das Happy End anderer entwerfen, sondern für ihr eigenes. Und ihre Mutter konnte von der Frage »Wann wirst du je heiraten?« zu »Wann schenkst du mir endlich Enkelkinder?« übergehen.

Sie sah es schon vor sich: all die lächelnden Gesichter an ihrem Hochzeitstag. Niemand würde sich an den Servietten oder an den Schleifen am Stuhlrücken stören. Alle wären einfach nur glücklich, diesen Moment mit ihnen zu erleben. Sie heiratete einen liebenswerten Mann, den ihre Eltern vergötterten und dessen Familie sie ebenfalls zu mögen schien. Und sie heiratete ihn auf der Insel, die seit ihrer Kindheit eine wesentliche Rolle in ihrem Leben – und dem ihrer Eltern – gespielt hatte.

Alle wären glücklich. Das war das Wichtigste.

Und abgesehen davon … ihr ganz persönlicher, heimlicher Wunsch, der mit diesem Tag verbunden war.

Nämlich, dass sie die Chance bekam, noch einmal von vorne anzufangen. Unter einem neuen Namen. Als verheiratete Frau.

Dass sie nicht länger Miss Fliss war – ihr Spitzname aus Unizeiten, den sie hasste. Nicht das perfekte Einzelkind ihrer Eltern, auf dem alle Erwartungen lasteten. Nicht die orientierungslose Single-Frau, die in London Fuß zu fassen suchte und deren Beziehungen nie länger als sechs Monate hielten. Nicht die Träumerin, die wunderschöne Hochzeitstorten für glückliche Paare entwarf. Oder zumindest wünschte sie, dass sie nicht nur all das wäre.

Ab Montag wäre sie Ewans Frau. Eine völlig andere.

Sie konnte es kaum erwarten.

Fliss stieg vom Stuhl herunter, zupfte ihr Oberteil zurecht – ein blassrosa Pullover, der über und über mit Mistelzweigen und Stechpalmen bestickt war – und zählte noch einmal die Gläser. Sieben staubige Champagnerschalen standen wohlbehalten auf der Arbeitsfläche. Zufrieden ließ sie warmes Wasser ins Waschbecken ein und lächelte beim Anblick der Lichterketten, die oben am Fenster hingen. Nachdem sie einen kräftigen Schuss Spülmittel hineingegeben hatte, griff sie nach dem ersten Glas, als sie draußen vor dem Fenster aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm.

Ein Auto.

Doch so schnell wie es aufgetaucht war, war es auch wieder hinter den Bäumen verschwunden. Ihr Herz schien stillzustehen und erst wieder einzusetzen, als das Auto auf dem geschwungenen Weg wieder ins Blickfeld kam.

Die Ersten trafen ein.

Zehn Jahre waren wie im Flug vergangen, und nun waren sie alle wieder vereint – bis auf Jon. Aber ansonsten war es beinahe wie eine Wiederholung ihres Ausflugs nach dem Uniabschluss.

Nur dass diesmal alles anders war.

Anders sein musste.

Lara

Zehn Jahre später wirkte der Fährhafen auf Mistletoe Island noch immer wie das Tor zu einer anderen Welt. Einer Zauberwelt fern vom Alltag und den gewöhnlichen Sorgen. Ein Ort voller Freude, Abenteuer und Freiheit.

Nur, dass es diesmal auch ein Ort voller Erinnerungen war.

Jon.

Lara starrte durch die Windschutzscheibe auf die Insel, während sie darauf wartete, dass sie an der Reihe war, um auf der einspurigen Rampe von der Fähre ans Ufer zu fahren. Letztes Mal war Jon gefahren; letztes Mal war alles anders gewesen.

Mistletoe Island lag nicht weit vom schottischen Festland entfernt, und laut Fliss war der Tourismus in den letzten zehn Jahren rasant angestiegen. Mittlerweile fuhren täglich mehrere Fähren vom Festland zur Insel. Mit ihrer atemberaubenden Landschaft und den Wanderwegen – sowie dem von Fliss’ Vaters Firma neu gebauten Mistletoe Hotel – war sie ein beliebtes Sommerausflugsziel für all diejenigen, die mit den Mücken leben konnten. Doch offenbar gab es den größten Ansturm zu Weihnachten und Silvester. Lara wollte sich lieber nicht vorstellen, was sie wohl für die Übernachtung so kurz vor Weihnachten bezahlt hätten, wenn das Holly Cottage nicht Fliss’ Eltern gehören würde.

Doch trotz des gestiegenen Marktwerts der Insel fand Lara, dass sich Mistletoe Island seit ihrem letzten Besuch nicht verändert hatte. Es war noch immer dieselbe zerklüftete, felsige Küstenlandschaft. Dieselben malerischen weißen Cottages oberhalb des Hafens und die kleine, aus Feldsteinen gemauerte Kapelle, in der sich Fliss und Ewan am Tag vor Heiligabend das Jawort geben würden. Auch das kleine Dorf, wo sie Essen und Alkohol eingekauft hatten, hatte sich nicht verändert; wie auch der Pub, in dem sie den Billardtisch in Beschlag genommen hatten. Vermutlich gab es im The Griffin auch noch dieselben fleckigen Polsterbänke und die Delle in der Wand, als Harry die Billardkugel ausgerutscht war.

Vielleicht hatte nur sie sich verändert.

Eine Hupe riss sie aus ihren Gedanken und erinnerte sie daran, dass sie an der Reihe war und weiterfahren konnte. Vorsichtig fuhr sie von der Fähre herunter auf die Rampe, dann die Straße zum Dorf hinunter, bog aber kurz vorher rechts ab und nahm stattdessen die Ringstraße um die Insel, die in Richtung Wald führte.

Es war praktisch unmöglich, sich auf Mistletoe Island zu verfahren. Verlaufen, das schon eher – es gab Hunderte kleiner Pfade, die sich um die Insel herum und ins Landesinnere schlängelten, durch den Wald oder entlang der Felsen, hinunter zu den Buchten. Aber es gab nur eine von Schlaglöchern übersäte Hauptstraße, die die knapp zehn Kilometer Inselumfang komplett umrundete. Diese lag genug landeinwärts, sodass man als Fahrer kaum Risiko lief, die Kontrolle über das Auto zu verlieren und die Felsen hinunterzustürzen, aber gleichzeitig nah genug an der Küste war, um aus dem Augenwinkel das Meer zu sehen. Vielleicht gab es andere, kleinere Straßen ins Landesinnere, aber alles, was Lara brauchte, befand sich entlang dieser Straße – wofür sie äußerst dankbar war.

Die Küstenstraße präsentierte die ganze Schönheit der schottischen Inseln, selbst an einem trüb-kalten Dezembertag. Die Ginster- und Heidekrautfelder am Straßenrand waren noch mit Frost überzogen an jenen Stellen, die die Sonne nicht erreicht hatte. Dahinter stieg das Land zur Inselmitte hin erneut an, und schneebedeckte Gipfel ragten in die tief hängende, graue Wolkendecke. Irgendwo da oben, wusste Lara von ihrem letzten Besuch, mussten sich die Tiere vor dem Winter in Sicherheit gebracht haben – all die entzückenden Rehe, die Kaninchen und die immense Vielfalt an Vögeln –, sofern sie nicht gen Süden gezogen waren. Bei ihrem letzten Besuch war es Hochsommer gewesen, in jenem August nach ihrem Abschluss, als alles möglich schien und die Zukunft offen und endlos vor ihnen gelegen hatte. Ja, dieses Mal war wirklich alles anders.

Lara lächelte in sich hinein. Sie waren so jung gewesen damals, auch wenn sie sich alt genug gefühlt hatten, um die Welt zu erobern. Das war das letzte Mal gewesen, dass sie sich in dieser Konstellation getroffen hatten, und aus diesem Grund würde diese Insel immer einen besonderen Platz in ihrem Herzen haben.

Auch wenn sie zugeben musste, dass sie niemals auch nur erwogen hätte, zurück auf die Insel zu kommen, wäre nicht Fliss’ Hochzeit gewesen. Denn selbst jetzt war ihr jene Woche noch allzu gegenwärtig, vor allem, wie sie geendet hatte.

Fünf Tage auf dieser Insel hatten schon einmal ihr Leben verändert, fünf Tage mit den fünf Menschen, die sie besser kannten als sonst irgendjemand – plus jenem Menschen, der damals sogar noch tiefer in sie hineinblicken konnte. Glaubte sie wirklich, sie könnte diese Woche überstehen, ohne sich neue Wunden zuzufügen – oder zumindest einige der alten Wunden wieder aufzureißen?

Zumindest wäre Jon nicht da, um sie ständig daran zu erinnern. Sie war enorm erleichtert gewesen, als Fliss ihr gesagt hatte, dass er nicht kommen würde, auch wenn sie wusste, wie gerne ihre beste Freundin ihn an ihrem großen Tag dabeigehabt hätte.

Als sie zu einem vertraut aussehenden Straßenabschnitt kam, verlangsamte sie das Tempo und behielt die Steinwand zu ihrer Linken fest im Auge. Mistletoe Island mochte sich zwar nicht verändert haben, aber wenn sie sich recht erinnerte, war der Zugang zum Holly Cottage etwas versteckt. Sie wusste, wenn sie zum Leuchtturm käme, wäre sie zu weit gefahren, aber ansonsten … war es hier?

Lara bremste erneut und war froh, ihre Stöckelschuhe gegen Turnschuhe eingetauscht zu haben. Eigentlich hatte sie vorgehabt, ihren Hosenanzug auszuziehen und vielleicht noch kurz im Hotel zu duschen, bevor sie Glasgow verließ, wo sie eine Veranstaltung organisiert hatte, aber ihr Meeting am Morgen hatte länger gedauert, dann musste sie sich mit zwei rangniederen Kollegen besprechen, die sie in ihrer Abwesenheit vertreten sollten, und schließlich hatte sie in letzter Minute ihren Chef angerufen, um ihm zu berichten, wie es gelaufen war … am Ende schaffte sie mit Ach und Krach den spätesten Check-out. Ja, sie hatte Glück gehabt, dass sie überhaupt noch die Fähre erwischt hatte. Und zum Glück hatte sie die ganze Woche in Schottland gearbeitet, von London aus wäre sie ganz sicher nicht rechtzeitig hier raufgekommen.

Sie hätte eher losfahren sollen, das war ihr klar. Wenn Fliss’ Hochzeit ein geschäftliches Event gewesen wäre, wäre sie eine Stunde vor Abfahrt an der Fähre gewesen und hätte noch Geschäftsunterlagen zum Lesen dabeigehabt, um die Wartezeit zu überbrücken. Da fiel ihr ein …

War das die Abzweigung? Lara wusste es nicht. Es sah nicht so aus wie in ihrer Erinnerung, aber andererseits war die Abzweigung zu der gewundenen Einfahrt auch nicht das Einprägsamste an ihrem letzten Besuch hier gewesen, und es war immerhin zehn Jahre her. Mist, jetzt war sie dran vorbei, dabei war sie sich beinahe sicher, dass es doch die richtige Zufahrt gewesen war. Das Holly Cottage lag weiter außerhalb des Dorfes als viele andere Feriencottages auf der Insel, war aber nicht halb so gut ausgeschildert wie das Hotel.

Sie legte den Rückwärtsgang ein und warf einen Blick über die Schulter, während sie zurücksetzte. Gleichzeitig vibrierte ihr Handy auf dem Beifahrersitz. Typisch! Sie ignorierte es und fuhr weit genug zurück, um die Abzweigung zu nehmen. Als sie in die gewundene Auffahrt einbog, hielt sie zwischen den Bäumen nach dem Holly Cottage Ausschau. Endlich hörte ihr Handy auf zu brummen, und sie nahm die letzte Kurve.

Sie hatte sich nicht getäuscht. Da war es! Das Holly Cottage tauchte vor ihr auf, und bei seinem Anblick musste Lara unweigerlich lächeln. Altmodische Laternen mit strahlend weißen Glühbirnen hingen an den Bäumen, die die Auffahrt säumten, sowie unter dem Reetdach. An der leuchtend roten Eingangstür, die frisch gestrichen aussah, hing ein perfekt zusammengesteckter Kranz aus Winterzweigen, gespickt mit knallroten Stechpalmenfrüchten, passend zur Tür. Die dünne Schneeschicht, die über Nacht gefallen war, ließ den Garten ringsum noch zauberhafter erscheinen, und einen Moment lang spürte Lara, wie alle Anspannung von ihr abfiel und sie sich freute, wieder hier zu sein.

Ihr Handy brummte erneut.

Die leuchtend rote Tür öffnete sich, und Fliss kam herausgesprungen, ihre blonden Locken wippten auf den Schultern, während sie ihr grinsend zuwinkte. In ihrem rosa Pullover sah sie aus wie zwölf, und Lara musste bei ihrem Anblick lächeln, wie sehr sie nach all den Jahren noch immer Miss Fliss verkörperte.

Fliss wirkte überglücklich, sie zu sehen, weshalb Lara sich sofort wegen ihres vibrierenden Handys schuldig fühlte. Aber nicht schuldig genug, um den Anruf zu ignorieren. Mit einem entschuldigenden Blick durch die Windschutzscheibe in Fliss’ Richtung nahm sie ihn an. Draußen verdrehte Fliss die Augen und schnitt eine Grimasse, wobei sie die Zunge so weit rausstreckte, dass ihre Augen heraustraten.

»Lara Miller«, meldete sie sich so professionell wie möglich und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie kurz davor war, in Gelächter auszubrechen. Das war vermutlich die Rache für all ihre Versuche damals an der Uni, Fliss aus dem Konzept zu bringen, wenn diese gerade mit ihren Eltern telefonierte. Manchmal hatten sogar die anderen mitgemacht. Besonders Harry machte sich gerne einen Spaß daraus, eine Geräuschkulisse vorzutäuschen, als sei Fliss bei einer ausschweifenden Studentenparty und nicht gerade dabei, ihre Lieblingssoap zu schauen.

»Lara! Hier ist Jeremy. Ich wollte nur nachfragen, ob du noch mal nachgedacht hast über unser … Angebot.« Bei Jeremy klang selbst ein seriöses Jobangebot schmierig. Lara schüttelte sich kurz, ehe sie antwortete.

»Ich dachte, das hätte bis nach Neujahr Zeit?« Immerhin war in sechs Tagen Weihnachten. Zwischen den Jahren lief doch in den Unternehmen eh nichts.

»Die Sache ist die … Beatrix würde das alles gerne in trockenen Tüchern haben, bevor sie am vierundzwanzigsten in die Weihnachtsferien geht.«

Beatrix Bryce. Der einzige Grund, weshalb sie das Jobangebot überhaupt in Erwägung zog. Wenn sie für Jeremy hätte arbeiten sollen, wäre die Antwort von Anfang an ein klares Nein gewesen. Bei Beatrix hingegen … Lara mochte Beatrix. Bewunderte sie. Und sie hatte gerne für Beatrix gearbeitet, bis diese die Firma verlassen hatte, um oben im Norden in Manchester eine eigene aufzumachen und näher an ihrer Familie zu sein. Den schmierigen Jeremy hatte sie mitgenommen, auch wenn Lara nie ganz verstanden hatte, weshalb.

Und nun wollte Beatrix, dass Lara ihr in den Norden folgte. Und Lara musste entscheiden, ob sie das auch wollte.

»Sag Beatrix, dass mir ihr Angebot schmeichelt und ich meine Optionen sorgfältig abwäge, da ich wahnsinnig gerne wieder mit ihr zusammenarbeiten würde.« Es wäre eine neue Herausforderung. Eine Chance, sich weiterzuentwickeln. Vielleicht irgendwann sogar eine Führungsposition zu übernehmen – etwas, das in ihrem aktuellen Job aussichtslos schien.

»Aber?«, drängte sie Jeremy.

Lara blickte durch die Windschutzscheibe zu Fliss, die mit den Augenbrauen wackelte. Sie hielt eine Flasche Prosecco in den Händen und eine altmodisch aussehende Champagnerschale, die Lara vom letzten Mal wiedererkannte.

»Kein Aber«, erklärte sie. »Ich bin mir sicher, dass Beatrix versteht, welch große Entscheidung es für mich bedeutet, aus London wegzuziehen. Das muss ich mir gut überlegen.« Lara war nach der Uni eine Weile durch die Welt gereist und dann für ihren ersten Job nach London gezogen. War ihren Freunden in die Großstadt gefolgt und hatte es nie bereut. Konnte sie jetzt einfach so wegziehen und ihre Freunde zurücklassen?

Jon hatte das getan. Aber das war ihre Schuld gewesen.

Jeremy schnaubte. »Ach komm schon, Lara. Wir beide wissen, dass du sowieso praktisch nie in London bist. Graham schickt dich quer durch die Welt, damit du seine Fehler ausbügelst und die Kunden besänftigst.«

»Das stimmt nicht«, argumentierte Lara, obwohl er gewissermaßen recht hatte. Offiziell war sie Senior Account Manager für Grahams Eventplanungsservice, aber in letzter Zeit kam es ihr so vor, als würde sie mehr Krisenmanagement und Kundenpflege betreiben als Eventplanung.

»Nein, natürlich nicht.« Jeremy versuchte, sich seine Zweifel nicht anhören zu lassen.

Lara seufzte. »Hör mal, Jeremy. Ich habe eigentlich bis nach Weihnachten Urlaub und bin gerade auf der Hochzeit einer alten Studienfreundin in Schottland. Aber sag Beatrix … sag ihr, dass ich es ernsthaft in Erwägung ziehe und mich bei ihr melde, sobald ich kann.«

»Mach ich«, sagte Jeremy. »Aber denk nicht, dass ich dir abnehme, dass du in deinem sogenannten Urlaub nicht arbeiten wirst. Ich kenne dich besser, schon vergessen?«

Der vertrauliche Tonfall in seiner Stimme sagte ihr, dass er an ihre zwei verhängnisvollen Dates und die eine gemeinsame Nacht dachte. Etwas, das sie tunlichst vergessen wollte.

Mit Jeremy zusammenarbeiten zu müssen und ständig von ihm an diesen einen schwachen Moment erinnert zu werden war ein weiterer Punkt auf der Liste der Kontra-Argumente.

Ein lautes Ploppen, das selbst durch die geschlossenen Autofenster zu hören war, ließ sie aufschrecken, und als sie hochblickte, sah sie, dass Fliss den Prosecco geöffnet hatte und sich vergnügt ein Glas einschenkte. Lachend begegnete Fliss Laras Blick und prostete ihr aus der Ferne zu.

»Ich ruf bald zurück, Jeremy. Frohe Weihnachten!« Sie legte auf, noch ehe er etwas erwidern konnte.

Dann beobachtete sie, wie Fliss das Glas Perlwein hinunterkippte, ehe sie sich nachschenkte.

Genau wie früher – nur mit besserem Alkohol. Hoffte sie. Das Bier, das Alec und Harry das letzte Mal mitgebracht hatten, war widerlich gewesen. Aber das hatte sie natürlich nicht davon abgehalten, es trotzdem zu trinken.

Bei der Erinnerung musste Lara lächeln und stieg aus dem Auto aus.

»Ich hoffe doch, das ist für mich!«, rief sie, als Fliss das Glas nachgefüllt hatte.

»Unter Umständen schon«, antwortete Fliss mit einem Schmunzeln. »Aber zuerst musst du mir dein Handy geben.«

»Fliss …«, stöhnte Lara.

»Du hast es versprochen! Diese Woche wird nicht gearbeitet!«

Lara zuckte zusammen, sie hatte inständig gehofft, Fliss hätte es vergessen.

»Als ich das versprochen habe, war ich gerade gestresst«, erklärte sie. Galt das Nachdenken über einen neuen Job schon als Arbeit?, überlegte Lara. Vermutlich nicht.

»Was denn? Meinst du etwa die Planung der Sitzordnung für die Hochzeit? Wieso solltest du davon gestresst sein?«

»Na gut, ich meinte, ich war emotional gestresst.«

»Du meinst, du warst betrunken«, grinste Fliss.

»Das auch. Du hast mir das Versprechen abgeluchst, indem du mich mit Wein abgefüllt hast.« Jede Menge Wein, wie sich Lara erinnerte. Es war seit Ewigkeiten das erste Mal gewesen, dass sie Zeit gefunden hatten, sich nur zu zweit zu treffen, insofern hatten sie das ausgiebig gefeiert.

»Aber versprochen ist versprochen«, sagte Fliss. »Und jetzt hast du dein Versprechen schon gebrochen. Also, her damit.«

Lara sah auf ihr Smartphone, dann zu ihrer Freundin. Fliss nahm Versprechen überaus ernst und verstand nicht, wie man sie brechen und andere enttäuschen konnte. Immerhin war es ihre Hochzeit … außerdem wäre sie bestimmt so beschäftigt, dass sie es morgen schon vergessen hätte und Lara es ihr unbemerkt wieder abnehmen konnte. Nur um ihre E-Mails zu checken und falls etwas Dringendes reinkam. So wie sie Fliss kannte, würde sie es bestimmt in ihrem Nachttisch oder so verstecken, und da sie sich ein Zimmer teilten, wäre es nicht schwer, es zu finden. Fliss war nicht unbedingt eine Meisterin der List und des Geheimhaltens.

Lara tauschte das Handy gegen das Champagnerglas. »Was ich nicht alles für dich tue …«

Fliss steckte das Handy ein. »Wunderbar. Jetzt muss ich nur noch Ewans Mutter davon abhalten, meine gesamte Hochzeitsplanung umzuwerfen, und Harry davon, einen meiner weiblichen Gäste zu verführen, und schon ist alles in Butter!«

»Klingt so, als sei ich noch die leichteste Herausforderung diese Woche.« Lara nahm einen Schluck Prosecco und merkte, wie es sie in den Fingern juckte, das Handy zu checken.

»Wahrscheinlich«, stimmte Fliss zu, lächelte aber immer noch so wie sonst.

Ihre gute Laune war ansteckend. Lara biss sich auf die Lippe, als sie sah, wie ihre Freundin vor Glück und Vorfreude strahlte. Vorsichtig, um ihren Drink nicht zu verschütten, umarmte sie Fliss. »Unfassbar, du wirst heiraten!«, flüsterte sie ihrer Freundin ins Ohr.

So viele Abende hatte sie Fliss getröstet, nachdem ihr mal wieder irgendein Typ das Herz gebrochen hatte. Wieso erkannte keiner von denen, was für ein Juwel sie vor sich hatten? So oft hatte sie gesehen, wie Fliss wacker all ihre positive Energie zusammengekratzt und erklärt hatte, dann sei es eben nicht der Richtige gewesen. Wie sie weitergesucht hatte nach dem Richtigen. All diese Idioten, die ein- oder zweimal mit ihr ausgegangen waren, oder dieser noch größere Volltrottel, der monatelang mit ihr ausgegangen war und trotzdem nicht erkannt hatte, was für ein toller Mensch Fliss war.

All diese Typen hatten sie hierhergeführt. Zu dieser Woche. Zu Fliss’ und Ewans Hochzeit.

»Ich freue mich so riesig für dich«, sagte Lara und löste die Umarmung.

»Ich mich auch!« Fliss quietschte kurz vor Entzücken. Dann schwand ihr Lächeln, und sie sah Lara besorgt an. »Für dich ist das aber okay, oder? Ich meine das mit dem Nicht-arbeiten und der ganzen Sache mit der Hochzeit …« Sie sah sich im verschneiten Garten um. »Damit, wieder hier zu sein. Nachdem wir das letzte Mal hier waren mit …«

»Jon.« Sein Name fühlte sich seltsam an in Laras Mund, nachdem sie ihn so lange Zeit nicht ausgesprochen hatte. Sie merkte, wie sie zu zittern anfing – bestimmt wegen der Kälte. Hier auf der Insel war der Wind besonders eisig.

»Ja.« Fliss kaute auf ihrer Lippe herum – eine nervöse Angewohnheit, die sie schon immer hatte, seit Lara sie kannte.

Lara zwang sich zu lächeln. »Schon okay. Es ist immerhin zehn Jahre her. Das war quasi in einem anderen Leben. Ich würde doch denken, wir alle sind inzwischen erwachsener geworden und haben uns weiterentwickelt, oder nicht?«

Sie für ihren Teil war ganz sicher nicht mehr das Mädchen von der Uni. Sie hatte die Welt bereist und Orte gesehen, von deren Existenz andere nicht einmal ahnten. Sie hatte erfolgreich Events für mehrere Tausend Menschen organisiert. Oder zumindest niemanden merken lassen, was für ein Chaos teilweise hinter den Kulissen herrschte.

Sie war eine kluge, professionelle Geschäftsfrau mit einem eigenen Leben und unzähligen Möglichkeiten. Zumindest sagte sie sich das selbst jedes Mal, wenn die alte Lara zum Vorschein zu kommen drohte. Und sie versuchte, nicht darüber nachzudenken, was hätte sein können oder welche anderen Lebenswege sie hätte einschlagen können.

»Außerdem«, sagte Lara, holte tief Luft und lächelte ihre Freundin an, »es ist ja nicht so, als ob Jon da wäre. Ich glaube, ich kann damit leben, wenn ab und an ein paar unangenehme Erinnerungen hochkommen.«

»In Ordnung«, stimmte Fliss zu, auch wenn Lara einen Rest Zweifel in ihrer Stimme vernehmen konnte.

Sie zeigte ihr ein breites, zuversichtliches Lächeln. »Mach dir bitte überhaupt keine Sorgen.« Lara legte ihrer Freundin einen Arm um die Schulter, als sie das Holly Cottage betraten. »Das wird eine wunderschöne Woche – und eine noch schönere Hochzeit. Okay?«

Wofür auch immer es gut sein mochte, Lara war nach Mistletoe Island zurückgekehrt. Für Fliss. Und Lara würde nicht zulassen, dass irgendwer oder irgendetwas – weder ihre Arbeit noch ihre Freunde – ihr diese Woche ruinierte.

Ruth

»Und weißt du noch, wie wir einmal abends aus dem Pub rausgeworfen worden sind?«

Harry streckte erneut von der Rückbank seinen Kopf zwischen den Kopfstützen hindurch. Ruth drehte sich zur Seite und schaute aus dem Fenster, weg von Harrys Snack-Müllberg, der sich dort angehäuft hatte, seit sie den Mietwagen vor knapp vier Stunden am Flughafen Glasgow abgeholt hatten. Seine Worte waren ohnehin nicht an sie gerichtet gewesen.

»Du wurdest rausgeworfen«, korrigierte Alec ihn. »Und wir mussten dich heimtragen.«

»Meinst du, ich hab immer noch Hausverbot?«, fragte Harry, und Alec lachte.

»Das ist zehn Jahre her. Selbst wenn die Eigentümer noch dieselben sind und sie dich wiedererkennen sollten, würden sie vermutlich davon ausgehen, dass du inzwischen älter und gereifter bist.«

»Stimmt.« Harry ließ sich wieder in den Rücksitz fallen. »Tja, Menschen machen eben immer wieder denselben Fehler.«

Selbst in ihrer derzeitigen Stimmung – die Alec vermutlich als »ziemlich finster« beschreiben würde – musste sie schmunzeln. Von allen Freunden, die Alec hatte, war Harry der große Junge, der nie erwachsen wurde – der weder heiratete noch sesshaft wurde noch irgendwelche Anstalten dazu machte. Lara, die Einzige andere in der Gruppe, die noch Single war, hatte zumindest ihre Karriere als Ausrede dafür, dass sie die ganze Sache von wegen fester Beziehung und Familiengründung mied. Harry hingegen schien sich in der Rolle des ewigen Teenagers gut zu gefallen.

Normalerweise amüsierte sich Ruth über Harrys kindische Anekdoten oder ignorierte sie, aber heute …

Sie seufzte und blickte erneut aus dem Beifahrerfenster, hinaus auf das stahlgraue Meer, das sich zwischen ihnen und dem Festland ausrollte, während sie den Hafen verließen.

Harry war nicht das Kind, das sie sich auf der Rückbank wünschte.

Als ob er ihre Gedanken erraten hätte, nahm Alec eine Hand vom Lenkrad und tätschelte ihre, die im Schoß lag. Ruth erstarrte unter der Berührung und bereute es sogleich, als er seine Hand wegzog.

Ein Teil von ihr empfand Mitleid mit Alec. Er trauerte ebenso wie sie und gab sich Mühe. Er wollte sie trösten, wusste aber nicht wie, sodass er sich zu sehr bemühte und alles nur noch schlimmer machte. Dabei sagte ihr der Verstand, dass er nichts dafür konnte.

Doch der Verstand hielt sie nicht davon ab, dass ihr Herz ihn fortstoßen wollte, ihm so sehr wehtun wollte, wie es ihr wehtat.

Ruth biss sich auf die Innenseite ihrer Wange, um die Wut zu unterdrücken, die erneut in ihr aufstieg – oder die Trauer; inzwischen konnte sie beides nicht mehr richtig unterscheiden.

Es war nicht Alecs Schuld. Niemand hatte Schuld. Der Arzt hatte das klipp und klar gesagt.

Manche Schwangerschaften glückten einfach nicht, hatten nicht sein sollen.

Nur dass es für sie nicht nur eine Schwangerschaft gewesen war. Sondern ihr Baby. Ihr Kind. Ihre Tochter oder ihr Sohn. Ihr Kind, dessen Herz einfach so in der neunten Woche aufgehört hatte zu schlagen. Ihr Kind, das sie noch einen weiteren Monat in sich getragen hatte, bevor es die Ärzte aus ihr herausschabten.

Ihr Körper, der mit jeder traumatisierten Zelle um dieses Kind trauerte.

Was auch der Grund war, weshalb sie jedes Mal zusammenzuckte, wenn Alec sie berührte. Weshalb sie jedes Mal wieder die Wut überkam, wenn er ihr sagte, er würde es verstehen.

Wie sollte er?

Sie wusste, dass Alec nur wieder zur Normalität zurückkehren wollte. Zu jenen Tagen, an denen sie von der Arbeit nach Hause kamen, zusammen zu Abend aßen, ein Gläschen Wein tranken und sich erzählten, was sie am Tag erlebt hatten. Wochenenden, an denen sie faulenzten oder mit Freunden ausgingen und die Stadt erkundeten, die sie beide so liebten. Oder zu jener aufregenden Anfangszeit ihrer Schwangerschaft, als ihre Morgenübelkeit von den Zukunftsplänen als Familie aufgewogen wurde.

Es war nicht so, dass Ruth das alles nicht auch wollte. Aber es war schlicht unmöglich.

Sie war nicht mehr derselbe Mensch. Die Frau, in die sich Alec verliebt hatte, die er geheiratet hatte.

Die Schwangerschaft war zwar nicht geplant gewesen, und die Vorstellung, Mutter zu werden, hatte ihr Angst eingejagt, aber nun, da sie ihr einfach so genommen worden war …

Das hatte sie für immer verändert.

»Hat Fliss eigentlich etwas darüber gesagt, wie viele Single-Ladys zur Hochzeit kommen, Ruth?«, fragte Harry, als Alec eine weitere Kurve der mäandernden Küstenstraße nahm.

Ruth konzentrierte sich auf Harry und versuchte, sich in seine simple Sicht der Dinge hineinzuversetzen. Wie war es wohl, Harry zu sein? Vielleicht konnte sie sich etwas von seiner unbeschwerten Art abschauen und so diese Horrorwoche überstehen.

Sie dachte daran zurück, wie sie ihn das erste Mal getroffen hatte. Das musste man ihm zugutehalten, er hatte sie sofort in ihrer Gruppe willkommen geheißen und sie wie die große Schwester behandelt, die er nie hatte. Auch alle anderen waren unglaublich nett zu ihr gewesen, seit Alec und sie zusammengekommen waren. Caitlin hatte sogar einen reinen »Mädelskennenlernabend« organisiert, als sie sich verlobt hatten, damit sich Ruth noch mehr im Freundeskreis aufgenommen fühlte. Das war nett, wenn auch etwas unangenehm gewesen.

Aber Ruth war immer klar gewesen, dass es vordergründig Alecs Freunde waren. Und sie wusste nicht, ob sie je aufhören würde, sich wie das Anhängsel zu fühlen.

Harry war der Einzige, der ihr nicht dieses Gefühl gab. Weshalb sie ihn geduldig ertrug.

»Seltsamerweise war so eine Single-Lady-Liste nie Thema bei unseren Gesprächen«, sagte sie.

»Schade.« Harry seufzte. »Hochzeiten sind einfach die perfekte Gelegenheit, um jemanden aufzureißen. All diese Mädels in ihren schicken Kleidchen, die Sekt schlürfen. Ganz zu schweigen von den Brautjungfern …«

Harry fing an, eine ellenlange Liste von Namen von Brautjungfern herunterzubeten, die er kennengelernt und in die er sich verliebt hatte – kurzzeitig natürlich nur, denn Harry war nie länger als eine Woche verliebt –, und Ruth ging wieder dazu über, aus dem Autofenster zu starren.

In all den Jahren, die sie Alec kannte, hatte sie schon viel über Mistletoe Island gehört. Ihre gemeinsame Abschlussfahrt vor zehn Jahren genoss unter den Freunden inzwischen Kultstatus, und die Anekdoten hatten beinahe mythische Dimensionen angenommen. Ruth nahm an, dass die Geschichten im Lauf der Jahre ausgeschmückt worden waren, aber Tatsache war: Während sich ihre Kommilitonen auf Ibiza, in Thailand oder Australien sonnten, hatten Alec, Harry, Caitlin, Neal, Lara, Jon und Fliss sich auf einer entlegenen schottischen Insel im Holly Cottage einquartiert.

Soweit Ruth wusste, gehörte das Cottage Fliss’ Eltern – die auch Miteigentümer des einzigen Hotels auf der Insel waren, das den ziemlich offensichtlichen Namen Mistletoe Island trug. Was vermutlich erklärte, weshalb Fliss sie alle mitten im Winter zu ihrer Hochzeit ausgerechnet hierhergeschleppt hatte.

Als sie die Einladung inklusive einer handschriftlichen Nachricht erhalten hatten, in der Fliss vorschlug, ihre Jugend wiederaufleben zu lassen, indem sie die Tage vor der Hochzeit mit der ganzen Gang im Holly Cottage verbrachten, hatte sich Ruth zunächst gefragt, ob diese Einladung sie auch miteinschloss. Beim letzten Mal, als die Freunde gemeinsam auf Mistletoe Island gewesen waren, hatte Alec nicht einmal von Ruths Existenz gewusst. Sie war erst knapp fünf Jahre später auf der Bildfläche aufgetaucht, als eine Kollegin am Valentinstag ein Blind Date für sie arrangiert hatte. Das Date war ein Reinfall gewesen, aber an der Bar hatte sie Alec getroffen, und sie waren ins Gespräch gekommen … Der Rest war Geschichte. Nur eben eine Geschichte, die nicht so weit zurückreichte wie die von Alecs Clique.

Wegen der Hochzeitseinladung mussten sie ein paar Urlaubstage zusätzlich nehmen und konnten ihren traditionellen Weihnachtsbesuch bei ihrer eigenen Familie erst später antreten. Zuerst war Ruth frustriert gewesen, weil Alecs Freunde schon wieder so viel von ihnen verlangten, aber letztlich hatte sie zugestimmt. Natürlich. Wie hätte sie auch Nein sagen sollen, als Alec ihr voller Vorfreude davon erzählt hatte? Aber das war gewesen, bevor sie schwanger wurde. Vor allem aber vor dem, was danach geschehen war. Und jetzt … jetzt wäre Ruth gerne überall, nur nicht eingepfercht in einem Cottage auf einer einsamen Insel, wo sie gezwungen war, über die Insiderwitze von Alec und seinen Freunden zu lachen.

Hinter ihnen hörte sie, wie Harry das Fenster runterkurbelte und die eiskalte Luft hineinströmen ließ.

»Ah!« Harry atmete tief in die Lunge ein. Als Ruth sich umdrehte, sah sie, dass er den Kopf zum Fenster raushielt und das Gesicht mit geschlossenen Augen gen Himmel streckte, wie um alles in sich aufzusaugen. »Gott«, sagte er, als er den Kopf wieder ins Auto zurückgezogen hatte, »es tut so gut, wieder hier zu sein.« Als er die Augen öffnete, sah er Ruth an und war offenbar erstaunt, dass sie ihn anfunkelte. »Was?«

»Es ist eiskalt!« Sie sah zu, wie er widerwillig das Fenster wieder hochkurbelte und das Glas gegen die Gummidichtung ruckelte.

»Danke.« Sie drehte sich wieder um und schlug einen sanfteren Ton an: »Was ist überhaupt so besonders an der Insel?« Na gut, nach dem, was sie bislang vom Auto aus gesehen hatte, war die Insel schon ganz hübsch. Und sie verstand auch, dass sie alle damit schöne Erinnerungen verbanden – aber war das alles? Denn falls ja, würde es sie bestimmt nicht gnädiger gegenüber diesem Ort stimmen, wenn sie sich eine Erkältung einfing.

»Die Insel ist …« Ein Lächeln umspielte Alecs Mund, und er schüttelte den Kopf.

»Was?«, hakte Ruth nach und drehte sich zu ihrem Mann. Er sah irgendwie … verändert aus. Sie blinzelte. Die Stirnfalte, die sich fest zwischen seinen Augenbrauen eingegraben hatte, seit der Ultraschall ihre Fehlgeburt offenbart hatte. Sie war verschwunden. Fast so, als ob der Wind auf Mistletoe Island sie fortgeblasen hätte, wohingegen ihr es nicht gelungen war. Nicht dass sie es ernstlich versucht hätte.

»Die Insel ist verzaubert«, sagte Harry mit einer sanften Stimme, die Ruth noch nie an ihm gehört hatte. »Ohne Scheiß, Ruth, du weißt ja – ich glaube normalerweise nicht an solchen Kram. Weder an die große Liebe noch an Hexen, Feen oder Homöopathie. Aber dieser Ort … ist wie aus einer anderen Welt.«

Ruth drehte sich zu Alec und wartete auf eine nüchternere Erklärung, doch er sah sie nur an und lächelte.

»Du wirst schon sehen. Harry hat recht. Dieser Ort hat irgendwie etwas Besonderes. Wusstest du, dass … dass man sie auch die Heilende Insel nennt?«

Er wandte ihr kurz den Blick zu, bevor er wieder auf die Straße sah. Die Hoffnung in seinen Augen war unerträglich. Ruth schaute weg, als der Schmerz ihr erneut durch die Brust fuhr.

O Gott. Alec hatte sie hergebracht, um sie zu heilen. Klar, sie waren wegen der Hochzeit hergekommen. Aber nun wusste sie, weshalb er darauf bestanden hatte, dass sie mitkam, als sie absagen wollte, ihm erklärt hatte, wie verletzlich und elend sie sich fühlte, als sie ihn dazu überreden wollte, schon einmal zu ihren Eltern vorzufahren, wo sie sich dann an Heiligabend treffen würden. Selbst als sie unter Tränen versichert hatte, es nicht auszuhalten … hatte er sie mit hierhergeschleppt in der Absicht, sie zu heilen.

Weil er nicht begriffen hatte, wie sehr sie am Ende war.

»Da ist es!« Harry setzte sich kerzengerade auf und deutete zwischen ihnen auf einen unscheinbaren Weg, der von der Hauptstraße abging. »Da vorn, Alec. Da ist die Abzweigung.«

Alecs Lachen war so unbeschwert, wie es Ruth seit Monaten nicht mehr gehört hatte. »Wie hast du dir das nur gemerkt?«

Harry zuckte mit den Schultern. »Wichtige Sachen merk ich mir eben.«

Kurz darauf bog Alec mit Schwung in die Kurve und folgte einer langen, geschlängelten Zufahrtsstraße, an deren Ende schließlich ein strahlend weißes Cottage lag. Ruth betrachtete den Eingang mit dem halbrunden Oberlicht über der Tür, die in demselben Rotton gestrichen war wie die Beeren, die an dem Stechpalmenkranz steckten. Über dem Eingang ragte ein steinernes Türmchen in die Höhe, das nahtlos in das Reetdach überging, auf das der Schnee gerieselt war. Selbst Ruth musste zugeben, dass es aussah wie aus einem Märchen – allerdings eines aus vorangegangenen Jahrhunderten, nicht wie von Disney. Jene Art von Märchen, bei denen die Menschen hundert Jahre in tiefen Schlaf verfielen.

Wie bei Dornröschen. Hatte Alec sie hierhergebracht in der Hoffnung, sie aufzuwecken?

Das Auto kam zum Stehen. Als Alec die Handbremse anzog, öffnete Ruth bereits die Tür, um auszusteigen und sich das Holly Cottage anzuschauen.

Plötzlich empfand sie die kalte Luft um sie herum eher als belebend denn als unangenehm. Es fühlte sich beinahe so an, als ob der Wind versuchte, all ihren Schmerz und ihren Zorn fortzufegen, genau wie er bei Alec und Harry all die Jahre fortgeweht hatte.

Während ihre Haare vor dem Gesicht tanzten, gestattete sie sich ein Lächeln. Vielleicht würde die Heilende Insel ja wirklich das kitten, was zwischen ihr und ihrem Mann zerbrochen war. Das wäre doch schon zumindest etwas. Auch wenn sie wusste, dass nichts den tiefen Schmerz in ihr auslöschen konnte.

Fliss

Fliss hatte ganz vergessen, was für ein Tohuwabohu entstand, wenn sich sieben Leuten in einem Cottage drängten. Acht, wenn sie Ewan mitzählte. Auch wenn er nicht im Cottage übernachtete, hoffte Fliss, dass er viel Zeit mit ihnen verbringen würde.

Denn es lag ihr viel daran, dass er ihre Freunde kennenlernte, dass er sie ebenso sehr ins Herz schloss wie sie. Ihre Freunde waren ein wichtiger Teil ihres Lebens, und es fühlte sich falsch an, dass er sie so wenig kannte.

Aber vielleicht war das nur normal. Ewan war ihre Zukunft, und ihre Freunde, nun ja, sie waren sowohl ein Teil ihrer Vergangenheit als auch ihrer Gegenwart. Natürlich hoffte sie, dass sie auch in Zukunft in ihrem Leben präsent wären – aber gleichzeitig lebte jeder sein eigenes Leben. Inzwischen hingen sie nicht mehr so dicht aufeinander wie noch zu Unizeiten. Sie hielten zwar miteinander Kontakt – vor allem ü