Weihnachten - Wilhelm Hauff - E-Book

Weihnachten E-Book

Wilhelm Hauff

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Beschreibung

Die schönsten Weihnachtsgeschichten und -gedichte der berühmtesten Autoren: Charles Dickens, Hoffmann von Fallersleben, Johann Wolfgang Goethe, Joachim Ringelnatz, Heinrich Heine, Wilhelm Busch, Kurt Tucholsky, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm, Hans Christian Andersen, Wilhelm Hauff, Ludwig Bechstein, Theodor Storm und E.T.A. Hoffmann. Eine Weihnachtsgeschichte, Nußknacker und Mausekönig, Der Schneemann, Die Eisjungfrau, Schneeweißchen und Rosenrot, Unter dem Tannenbaum, Die denkwürdige Neujahrnacht und viele andere. Denkt euch, ich habe das Christkind gesehen! Es kam aus dem Walde, das Mützchen voll Schnee, mit rotgefrorenem Näschen. Die kleinen Hände taten ihm weh, denn es trug einen Sack, der war gar schwer, schleppte und polterte hinter ihm her. Was drin war, möchtet ihr wissen? Ihr Naseweise, ihr Schelmenpack - denkt ihr, er wäre offen, der Sack? Zugebunden, bis oben hin! Doch war gewiss etwas Schönes drin! Es roch so nach Äpfeln und Nüssen! I N H A L T - Die heiligen drei Könige - Eine Weihnachtsgeschichte - Weihnachten - Von dem Schneider, der bald reich wurde - Weihnachtszeit - Nußknacker und Mausekönig - Weihnachten - Das Geschenk der Weisen - Das Weihnachtsbäumlein - Schneeblume - Die heilige Nacht - Der Kamerad - Vom Schenken - Der Schneemann - Weihnachtslied - Yingeangeut und der Erdmacher - Der Bratapfel - Von den zwölf Monaten - Knecht Ruprecht - Der Haushalt von Fuchs und Bär - Adventsgedicht - Die Eisjungfrau - Die heiligen Drei Könige - Schneeweißchen - Es ist Advent - Der große Narr aus Cuasan - Die Nacht vor dem heiligen Abend - Vom langen Winter - Weihnachtsglocken - Der Bär - Nikolaus im Walde - Die Rekkenk - Weihnachtssprüchlein - Die zwölf wilden Enten - Vorweihnacht - Schneeweißchen und Rosenrot - Advent - Vom großen Ziegenbock - Der Stern - Wohl getan und schlecht gelohnt - Vom Christkind u.v.m. Null Papier Verlag

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Weihnachten

Gedichte und Geschichten

Weihnachten

Gedichte und Geschichten

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 2. Auflage, ISBN 978-3-954182-36-7

www.null-papier.de/weihnachten

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Die hei­li­gen drei Kö­ni­ge

Eine Weih­nachts­ge­schich­te

Ers­tes Ka­pi­tel – Mar­leys Geist

Zwei­tes Ka­pi­tel – Der ers­te der drei Geis­ter

Drit­tes Ka­pi­tel – Der zwei­te der drei Geis­ter

Vier­tes Ka­pi­tel – Der letz­te der drei Geis­ter

Fünf­tes Ka­pi­tel – Das Ende des Lie­des

Weih­nach­ten

Von dem Schnei­der, der bald reich wur­de

Weih­nachts­zeit

Nuß­knacker und Mau­se­kö­nig

Der Weih­nachts­abend

Die Ga­ben

Der Schütz­ling

Wun­der­din­ge

Die Schlacht

Die Krank­heit

Das Mär­chen von der har­ten Nuß

Fort­set­zung des Mär­chens von der har­ten Nuß

Be­schluß des Mär­chens von der har­ten Nuß

On­kel und Nef­fe

Der Sieg

Das Pup­pen­reich

Die Haupt­stadt

Be­schluß

Weih­nach­ten

Das Ge­schenk der Wei­sen

Das Weih­nachts­bäum­lein

Schnee­blu­me

Die hei­li­ge Nacht

Der Ka­me­rad

Vom Schen­ken

Der Schnee­mann

Weih­nachts­lied

Yin­gean­geut und der Erd­ma­cher

Der Brat­ap­fel

Von den zwölf Mo­na­ten

Knecht Ru­precht

Der Haus­halt von Fuchs und Bär

Ad­vents­ge­dicht

Die Eis­jung­frau

I. Der klei­ne Rudy

II. Die Rei­se in die neue Hei­mat

III. Der On­kel

IV. Ba­bet­te

V. Auf dem Heim­weg

VI. Der Be­such in der Müh­le

VII. Das Ad­ler­nest

VIII. Was die Stu­ben­kat­ze an Neu­em er­zäh­len konn­te

IX. Die Eis­jung­frau

X. Die Pa­tin

XI. Der Vet­ter

XII. Böse Mäch­te

XIII. Im Haus des Mül­lers

XIV. Ge­sich­te der Nacht

XV. Das Ende

Die hei­li­gen Drei Kö­ni­ge

Schnee­weiß­chen

Es ist Ad­vent

Der große Narr aus Cua­san

Die Nacht vor dem hei­li­gen Abend

Vom lan­gen Win­ter

Weih­nachts­glo­cken

Der Bär

Ni­ko­laus im Wal­de

Die Rek­kenk

Weih­nachtss­prüch­lein

Die zwölf wil­den En­ten

Vor­weih­nacht

Schnee­weiß­chen und Ro­sen­rot

Ad­vent

Vom großen Zie­gen­bock

Der Stern

Wohl ge­tan und schlecht ge­lohnt

Vom Christ­kind

Warm und kalt aus ei­nem Mund

Ein Zweig Tan­nen­grün

Der Wolf und der Fuchs

A, a, a, der Win­ter der ist da

Das sechs­fü­ßi­ge Elen­tier

Der Weih­nachts­aus­zug

Caoil­te Cosfha­da

Der klei­ne Nim­mer­satt

Die Son­ne und der Mond

Knecht Ru­precht

Das Fest der Un­ter­ir­di­schen

Weih­nachts­schnee

Der Kan­te­le­spie­ler

Der Traum

Von ei­ner Jung­frau, die den Je­sus­kna­ben sah

Ad­vents­kranz

Von der hei­li­gen Eu­fe­mia

Christ­kind im Wal­de

Das Ulta-Mäd­chen

Groß­stadt – Weih­nach­ten

Vom Salz im Meer

Weih­nach­ten wird es für die Welt

Die Bis­hors­ter

Weih­nachts­lied

De twe Brö­der

Weih­nachts­lied

De ol Fritz un de Jung

Weih­nacht

Die Weih­nachts­mes­se

Der ar­men Kin­der Weih­nachts­lied

Von dem Som­mer- und Win­ter­gar­ten

Weih­nach­ten

Die Ge­schich­te von Steinn Thru­duvan­gi

Weih­nachts­zeit

Un­ter dem Tan­nen­baum

Eine Däm­mer­stun­de

Un­ter dem Tan­ne­baum

Weih­nachts­baum

Merk­wür­di­ge Re­den, ge­hört zu Krebs­lin­gen zwi­schen zwölf und ein Uhr in der Hei­li­gen Nacht

Furcht­bar schlimm

Vom Hell­jä­ger

Chri­stoph, Rupprecht, Ni­ko­laus

Drau­ßen­sit­zen am Kreuz­we­ge

O Tan­ne­baum

Kö­ni­gin und Teu­fel

Mit Gott so wol­len wir lo­ben und ehrn

Dat Mä­ten un de Rö­wer

Zu Weih­nach­ten

Der Huld­re­kö­nig auf Selö

Durch stil­le Dämm­rung

Die denk­wür­di­ge Neu­jahr­nacht

Ge­burts­nacht

Dan­ke

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Die heiligen drei Könige

(Au­gust Wil­helm Schle­gel)

Aus fer­nen Lan­den kom­men wir ge­zo­gen; Nach Weis­heit streb­ten wir seit lan­gen Jah­ren, Doch wan­dern wir in un­sern Sil­ber­haa­ren. Ein schö­ner Stern ist vor uns her­ge­flo­gen. Nun steht er win­kend still am Him­mels­bo­gen: Den Fürs­ten Ju­da’s muss dies Haus be­wah­ren. Was hast du, klei­nes Beth­le­hem, er­fah­ren? Dir ist der Herr vor al­len hoch­ge­wo­gen. Hold­se­lig Kind, lass auf den Knie’n dich grü­ßen! Wo­mit die Son­ne uns­re Hei­mat seg­net, Das brin­gen wir, ob­schon ge­rin­ge Ga­ben. Gold, Weih­rauch, Myr­rhen, lie­gen dir zu Fü­ßen; Die Weis­heit ist uns sicht­bar­lich be­geg­net, Willst du uns nur mit Ei­nem Bli­cke la­ben.

Eine Weihnachtsgeschichte

(Charles Di­ckens)

Erstes Kapitel – Marleys Geist

Mar­ley war tot; da­mit wol­len wir be­gin­nen. Dar­über gibt es nicht den min­des­ten Zwei­fel. Sein To­ten­schein war un­ter­schrie­ben von dem Geist­li­chen, dem No­tar, dem Lei­chen­wär­ter und dem Haupt­leid­tra­gen­den. Scr­oo­ge un­ter­zeich­ne­te ihn. Und Scr­oo­ges Name hat un­be­ding­te Gel­tung auf der Bör­se für jede An­ge­le­gen­heit, an der er be­tei­ligt war.

Der alte Mar­ley war so tot wie ein Tür­na­gel.

Paßt auf! Ich möch­te da­mit nicht be­haup­ten, daß für mein Wis­sen ein Tür­na­gel et­was be­son­de­res To­tes an sich hät­te. Was mich be­trifft, ich möch­te einen Sar­g­na­gel als das to­tes­te Stück Ei­sen im Han­del be­trach­ten. Aber die Weis­heit un­se­rer Vor­fah­ren ruht in dem Gleich­nis; und mei­ne un­be­ru­fe­nen Hän­de sol­len es nicht zer­stö­ren, sonst ist es um das Va­ter­land ge­sche­hen. Man wird mir des­halb ge­stat­ten, es nach­drück­lich zu wie­der­ho­len, daß Mar­ley so tot war wie ein Tür­na­gel.

Wuß­te Scr­oo­ge, daß er tot war? Selbst­re­dend wuß­te er es. Wie wäre es an­ders mög­lich ge­we­sen? Scr­oo­ge und er wa­ren ja – wer weiß wie lan­ge – Kom­pa­gnons ge­we­sen. Scr­oo­ge war sein ein­zi­ger Te­sta­ments­voll­stre­cker, sein ein­zi­ger Sach­wal­ter, sein ein­zi­ger Erbe und sein ein­zi­ger trau­ern­der Hin­ter­blie­be­ner. Und nicht ein­mal Scr­oo­ge war von dem be­trüb­li­chen Er­eig­nis ge­nug mit­ge­nom­men, daß er sich nicht auch an dem Be­gräb­nis­tag als ein her­vor­ra­gen­der Ge­schäfts­mann er­wie­sen und die­sen durch einen er­folg­rei­chen Han­del fest­lich be­gan­gen hät­te.

Der Hin­weis auf Mar­leys Be­gräb­nis­tag führt mich in mei­ner Er­zäh­lung wie­der zu dem Punkt zu­rück, von dem ich aus­ge­gan­gen bin. Es ist ganz si­cher, daß Mar­ley tot war. Das muß klar er­kannt sein; sonst ist an der Ge­schich­te nichts Wun­der­ba­res, die ich er­zäh­len will. Falls wir näm­lich nicht ganz und gar über­zeugt wä­ren, daß Ham­lets Va­ter tot ist, ehe das Stück an­fängt, wür­de sein nächt­li­cher Spa­zier­gang im hef­ti­gen Ost­wind auf der Ter­ras­se sei­nes Schlos­ses gar nichts Merk­wür­di­ges an sich ha­ben.1 Nichts Merk­wür­di­ge­res, als wenn ir­gend­ein an­de­rer Herr in bes­ten Jah­ren sich nach Son­nen­un­ter­gang noch rasch zu ei­nem Spa­zier­gang in ei­ner win­di­gen Ge­gend – etwa auf dem St. Pauls-Fried­hof – ent­schei­det, nur um sei­nem trä­gen Sohn aus sei­nem Stumpf­sinn auf­zu­ja­gen. Scr­oo­ge ließ Mar­leys Na­men nicht über­ma­len. Noch nach Jah­ren stand über der Tür des Wa­ren­ma­ga­zins »Scr­oo­ge und Mar­ley«. Die Fir­ma war un­ter dem Na­men Scr­oo­ge und Mar­ley be­kannt. Zu­wei­len nann­ten Leu­te, die Scr­oo­ge nicht kann­ten, ihn Scr­oo­ge und zu­wei­len Mar­ley; er hör­te auf bei­de Na­men, denn es war ihm ganz gleich.

Oh, er ver­stand sich auf Men­schen­schin­de­rei, die­ser Scr­oo­ge! Ein er­pres­se­ri­scher, aus­beu­ten­der, zu­sam­men­grap­schen­der, gei­zi­ger al­ter Sün­der; hart und scharf wie ein Kie­sel, aus dem noch kein Stahl einen wär­me­n­den Fun­ken ge­schla­gen hat; ver­schlos­sen und selbst­süch­tig und nur für sich be­dacht wie eine Aus­ter. Sei­ne in­ne­re Käl­te mach­te sei­ne al­ten Züge er­star­ren, sei­ne spit­ze Nase noch spit­zer, sein Ge­sicht vol­ler Run­zeln, sei­nen Gang steif, sei­ne Au­gen rot, sei­ne dün­nen Lip­pen blau, und sie klang aus sei­ner knar­ren­den Stim­me her­aus. Ein fros­ti­ger Reif lag über sei­nem Haupt, auf sei­nen Au­gen­brau­en, auf sei­nem stop­pe­li­gen Kinn. Er ver­brei­te­te sei­ne ei­ge­ne nied­ri­ge Tem­pe­ra­tur im­mer um sich her. In den Hunds­ta­gen kühl­te er sein Kon­tor wie mit Eis; zur Weih­nachts­zeit tau­te er es nicht um einen Grad auf.

Äu­ße­re Hit­ze und Käl­te hat­ten ge­rin­gen Ein­fluß auf Scr­oo­ge. Kei­ne Wär­me konn­te ihn er­wär­men, kei­ne Käl­te ihn frie­ren ma­chen. Kein Wind war schnei­den­der als er, kein fal­len­der Schnee er­bar­mungs­lo­ser, kein peit­schen­der Re­gen un­er­bitt­li­cher. Schlech­tes Wet­ter konn­te ihm nichts an­ha­ben. Der ärgs­te Re­gen, Schnee oder Ha­gel konn­ten sich nur in ei­ner Hin­sicht rüh­men, ihm über­le­gen zu sein: sie spen­de­ten ihre Ga­ben oft im Über­fluß, und das tat Scr­oo­ge nie.

Hielt ihn je­mals ein Be­kann­ter auf der Stra­ße an, um ihm freund­lich zu sa­gen: Mein lie­ber Scr­oo­ge, wie steht’s? Wann wer­den Sie mich ein­mal be­su­chen? Kein Bett­ler sprach ihn um eine Klei­nig­keit an, kein Kind frag­te ihn, wie­viel Uhr es sei, kein Mann und kein Weib hat ihn je nach dem Weg ge­fragt. Selbst die Hun­de der Blin­den schie­nen ihn zu ken­nen; wenn sie ihn kom­men sa­hen, zupf­ten sie ihre Her­ren, daß sie in ein Haus trä­ten, und we­del­ten dann mit dem Schwan­ze, als woll­ten sie sa­gen: Kein Auge ist im­mer noch bes­ser als ein bö­ses Auge, blin­der Herr.

Doch was ging das Scr­oo­ge an? Gera­de das ge­fiel ihm. Al­lein sei­nen Weg durch das Ge­drän­ge des Le­bens zu ge­hen, je­des mensch­li­che Ge­fühl in ge­hö­ri­ge Ent­fer­nung zu­rück­zu­wei­sen – das war es, was Scr­oo­ge be­hag­te.

Ein­mal, es war am bes­ten al­ler Tage im Jahr, es war der Chri­sta­bend, saß der alte Scr­oo­ge in sei­nem Kon­tor. Drau­ßen war es schnei­dend kalt und duns­tig, und er konn­te hö­ren, wie die Leu­te im Hof drau­ßen prus­tend auf und nie­der gin­gen, die Hän­de zu­sam­menschlu­gen und mit den Fü­ßen stampf­ten, um sich zu er­wär­men. Es hat­te eben erst drei ge­schla­gen, war aber schon ganz dun­kel. Den gan­zen Tag über war es nicht hell ge­wor­den, und in den Fens­tern der be­nach­bar­ten Kon­to­re er­blick­te man Lich­ter, wie rote Fle­cken in der di­cken, brau­nen Luft. Der Ne­bel drang durch jede Rit­ze und durch je­des Schlüs­sel­loch und war so dick, daß die ge­gen­über­ste­hen­den Häu­ser des sehr klei­nen Ho­fes ganz geis­ter­haft aus­schau­ten. Wenn man die trü­be, di­cke Wol­ke al­les ver­fins­ternd her­ab­sin­ken sah, hät­te man glau­ben kön­nen, die Na­tur woh­ne dicht ne­ben­an und habe dort eine Groß­braue­rei ein­ge­rich­tet.

Die Tür von Scr­oo­ges Kon­tor stand of­fen, da­mit er sei­nen Kom­mis be­auf­sich­ti­gen kön­ne, der in ei­nem er­bärm­li­chen, klei­nen Rau­me, ei­ner Art Ver­ließ, Brie­fe ko­pier­te. Scr­oo­ge hat­te nur ein sehr klei­nes Feu­er; aber des Clerks Feu­er war noch so viel klei­ner, daß es wie eine ein­zi­ge Koh­le aus­sah. Er konn­te aber nicht nach­le­gen; denn Scr­oo­ge hat­te den Koh­len­kas­ten in sei­nem Zim­mer; und je­des­mal, wenn der Die­ner mit der Koh­len­schau­fel in der Hand her­ein­kam, mein­te der Herr, es wür­de wohl nö­tig sein, ihr Ver­hält­nis zu lö­sen. Da­rauf band sich der Clerk sei­nen wei­ßen Schal um und ver­such­te, sich an der Ker­ze zu wär­men, was, da er ein Mann von nicht zu star­ker Phan­ta­sie war, im­mer fehl­schlug.

»Fröh­li­che Weih­nach­ten, On­kel, Gott er­hal­te Sie!« rief eine hei­te­re Stim­me. Es war die Stim­me von Scr­oo­ges Nef­fen, der ihm so schnell auf den Hals rück­te, daß er sich erst durch die­sen Gruß be­merk­bar mach­te.

»Quatsch«, sag­te Scr­oo­ge, »dum­mes Zeug!«

Der Nef­fe war vom Ren­nen so warm ge­wor­den, daß er ganz glü­hend war; sein Ge­sicht war rot und sah hübsch aus, sei­ne Au­gen glänz­ten, und sein Atem dampf­te.

»Weih­nach­ten dum­mes Zeug, On­kel?« sag­te Scr­oo­ges Nef­fe, »das kann doch nicht Ihr Ernst sein.«

»Ob er es ist!« sag­te Scr­oo­ge. »Fröh­li­che Weih­nach­ten? Was für ein Recht hast du, fröh­lich zu sein? Was für einen Grund, fröh­lich zu sein? Du bist arm ge­nug.«

»Nun«, ver­setz­te der Nef­fe auf­ge­räumt, »was für ein Recht ha­ben Sie, gries­grä­mig zu sein? Sie sind reich ge­nug.«

Scr­oo­ge, der im Au­gen­blick kei­ne bes­se­re Ant­wort be­reit hat­te, sag­te noch ein­mal »Quatsch« und brumm­te ein »Dum­mes Zeug« hin­ter­her.

»Sei­en Sie nicht är­ger­lich, On­kel«, sag­te der Nef­fe.

»Was kann ich denn an­ders sein?« ant­wor­te­te der On­kel, »wenn ich in ei­ner Nar­ren­welt wie die­ser lebe! Fröh­li­che Weih­nach­ten! Zum Kuckuck mit den fröh­li­chen Weih­nach­ten! Was ist Weih­nach­ten für dich an­ders als ein Tag, wo du Rech­nun­gen be­zah­len müß­test, ohne Geld zu ha­ben, ein Tag, wo du dich um ein Jahr äl­ter und nicht um eine Stun­de rei­cher fin­dest, ein Tag, wo du die Bilanz dei­ner Bü­cher siehst und bei je­dem Pos­ten ein De­fi­zit zwölf vol­le Mo­na­te hin­durch ent­deckst? Wenn es nach mir gin­ge«, sag­te Scr­oo­ge er­bost, »dann müß­te je­der Narr, der mit sei­nem fröh­li­chen Weih­nach­ten her­um­läuft, mit sei­nem ei­ge­nen Pud­ding ge­kocht und mit ei­nem Pfahl von Stechei­che im Her­zen be­gra­ben wer­den. Das wär’ das Rich­ti­ge!«

»On­kel!« sag­te der Nef­fe.

»Nef­fe!« ant­wor­te­te der On­kel er­regt, »feie­re du Weih­nach­ten nach dei­nem Ge­schmack und laß es mich nach mei­nem fei­ern.«

»Fei­ern!« wie­der­hol­te Scr­oo­ges Nef­fe; »aber Sie fei­ern es nicht.« »Laß mich zu­frie­den«, sag­te Scr­oo­ge. »Mag es dir recht viel ein­brin­gen! Es hat dir ja schon viel ein­ge­bracht.«

»Es gibt vie­le Din­ge, die mir Gu­tes hät­ten brin­gen kön­nen, und die ich nicht ge­nutzt habe, das weiß ich«, ant­wor­te­te der Nef­fe, »und Weih­nach­ten ist eins von die­sen. Aber das weiß ich be­stimmt, daß ich Weih­nach­ten, wenn es ge­kom­men ist, ab­ge­se­hen von der Ver­eh­rung, die wir sei­nem hei­li­gen Na­men und Ur­sprung schul­dig sind, im­mer als eine gute Zeit an­ge­schaut habe, als eine lie­be Zeit, als die Zeit der Ver­ge­bung und des Er­bar­mens, als die ein­zi­ge Zeit, die ich im lan­gen Ka­len­der­jahr ken­ne, wo die Men­schen ein­träch­tig ihre ver­schlos­se­nen Her­zen auf­tun und die an­dern Men­schen be­trach­ten, als wenn sie wirk­lich Rei­se­ge­nos­sen nach dem Gra­be wä­ren und nicht eine ganz an­de­re Art von Le­be­we­sen, die für einen ganz an­dern Weg vor­ge­se­hen sind. Und dar­um, On­kel, ob die­se Tage mir gleich nie­mals ein Stück Gold oder Sil­ber in die Ta­sche ge­bracht ha­ben, glau­be ich doch, sie ha­ben mir Gu­tes ge­tan, und sie wer­den mir Gu­tes tun, und ich sage: Gott seg­ne die­ses schö­ne Fest!«

Der Die­ner in dem Ver­lie­ße drau­ßen klatsch­te un­will­kür­lich Bei­fall. Je­doch einen Au­gen­blick spä­ter emp­fand er das Un­schick­li­che sei­nes Be­tra­gens, mach­te sich an den Koh­len zu schaf­fen und ver­lösch­te den letz­ten klei­nen Fun­ken gänz­lich.

»Wenn Sie mich noch einen ein­zi­gen Laut hö­ren las­sen«, sag­te Scr­oo­ge, »so fei­ern Sie Ihre Weih­nach­ten durch Ihre Ent­las­sung. Du bist ein ganz ge­wal­ti­ger Red­ner«, füg­te er hin­zu, sich zu sei­nem Nef­fen wen­dend. »Es wun­dert mich nur, daß du nicht ins Par­la­ment kommst.«

»Sei­en Sie nicht bös, On­kel. Es­sen Sie mor­gen bei uns.«

Scr­oo­ge sag­te, er wol­le ihn ver­dammt se­hen, ja, wirk­lich, das sag­te er. Er sag­te es ganz aus­drück­lich, und daß er dann erst ihn be­su­chen wol­le. Ja wahr­haf­tig, er sprach sich ganz deut­lich aus.

»Aber warum?« rief Scr­oo­ges Nef­fe, »warum?«

»Wa­rum hast du dich ver­hei­ra­tet?« frag­te Scr­oo­ge.

»Weil mich die Lie­be er­griff!«

»Weil ihn die Lie­be er­griff!« brumm­te Scr­oo­ge, als ob das das ein­zi­ge Ding in der Welt wäre, das ihm noch lä­cher­li­cher vor­käme als eine fröh­li­che Weih­nacht. »Gu­ten Abend!«

»Aber, On­kel, Sie ha­ben mich ja auch vor­her ein­mal be­sucht. Wa­rum ge­ben Sie es jetzt als Grund an, wes­halb Sie mich jetzt nicht be­su­chen?«

»Gu­ten Abend!« wie­der­hol­te Scr­oo­ge.

»Ich brau­che ja nichts von Ih­nen, ich be­geh­re nichts von Ih­nen, warum kön­nen wir da nicht gute Freun­de sein?«

»Gu­ten Abend!« sag­te Scr­oo­ge.

»Ich be­dau­re wirk­lich von Her­zen, Sie so ver­här­tet zu fin­den. Wir ha­ben nie einen Zank mit­ein­an­der ge­habt, an dem ich schuld ge­we­sen wäre. Ich habe es dies­mal ver­sucht, Weih­nach­ten zu Ehren, und ich will mei­ne Weih­nachts­s­tim­mung bis zu­letzt be­wah­ren. Also: Fröh­li­che Weih­nach­ten, On­kel!«

»Gu­ten Abend!« sag­te Scr­oo­ge.

»Und ein glück­li­ches Neu­jahr!«

»Gu­ten Abend!« sag­te Scr­oo­ge.

Trotz­dem ver­ließ der Nef­fe das Zim­mer ohne ein bö­ses Wort. An der Haus­tür blieb er noch ste­hen, um mit dem Glück­wunsch des Ta­ges den Clerk zu grü­ßen, der, so sehr ihn fror, doch noch wär­mer als Scr­oo­ge war, denn er gab den Gruß freund­lich zu­rück.

»Das ist auch so ein Narr«, brumm­te Scr­oo­ge, der es hör­te. »Mein Clerk mit fünf­zehn Schil­ling die Wo­che und Frau und Kin­dern und spricht von fröh­li­chen Weih­nach­ten. Ich könnt’ mich ins Nar­ren­haus zu­rück­zie­hen.«

Der Die­ner hat­te, wäh­rend er den Nef­fen hin­ausließ, zwei an­de­re Per­so­nen ein­ge­las­sen. Es wa­ren zwei be­hä­bi­ge Her­ren, statt­li­chen For­mats, die jetzt, den Hut in der Hand, in Scr­oo­ges Kon­tor stan­den. Sie hiel­ten Bü­cher und Pa­pie­re in der Hand und ver­neig­ten sich.

»Scr­oo­ge und Mar­ley, wenn ich nicht irre«, sag­te ei­ner der Her­ren und blick­te auf sei­ne Lis­te. »Hab’ ich die Ehre, mit Mr. Scr­oo­ge oder mit Mr. Mar­ley zu spre­chen?«

»Mr. Mar­ley ist seit sie­ben Jah­ren tot«, er­wi­der­te Scr­oo­ge. »Er starb heu­te vor sie­ben Jah­ren.«

»Wir zwei­feln nicht, daß die Ge­sin­nung sei­ner Frei­ge­big­keit auch bei sei­nem Kom­pa­gnon vor­han­den sein wird«, sag­te der Herr, in­dem er sei­ne Voll­macht hin­reich­te.

Er hat­te auch ganz recht, denn es wa­ren zwei ver­wand­te See­len ge­we­sen. Bei dem be­deu­tungs­vol­len Wort Frei­ge­big­keit er­schau­er­te Scr­oo­ge und gab kopf­schüt­telnd das Pa­pier zu­rück.

»In die­ser fei­er­li­chen Jah­res­zeit, Mr. Scr­oo­ge«, sag­te der Herr, eine Fe­der er­grei­fend, »ist es mehr als ge­wöhn­lich wün­schens­wert, ei­ni­ger­ma­ßen we­nigs­tens für die Ar­mut zu sor­gen, die ge­ra­de jetzt in großer Be­dräng­nis ist. Vie­le Tau­sen­de ha­ben nicht das Le­bens­not­wen­di­ge, Hun­dert­tau­sen­den feh­len die not­dürf­tigs­ten Be­quem­lich­kei­ten des Le­bens.«

»Gibt es denn kei­ne Ge­fäng­nis­se?« frag­te Scr­oo­ge.

»Über­fluß an Ge­fäng­nis­sen«, sag­te der Herr, die Fe­der wie­der hin­le­gend.

»Und die Ar­men­ar­beits­häu­ser?« frag­te Scr­oo­ge. »Be­ste­hen sie denn nicht mehr?«

»Al­ler­dings. Frei­lich«, ant­wor­te­te der Herr, »wünsch­te ich, sie be­stün­den über­haupt nicht.«

»Tret­müh­le und Ar­men­ge­setz sind also noch in vol­ler Kraft«, mein­te Scr­oo­ge.

»Bei­de ha­ben alle Hän­de voll zu tun.«

»So? Nach dem, was Sie zu­erst sag­ten, fürch­te­te ich, ihr nütz­li­ches Be­ste­hen sei ge­fähr­det«, sag­te Scr­oo­ge. »Ich freue mich, das zu hö­ren«.

»In der Mei­nung, daß sie doch wohl kaum christ­li­chen Froh­sinn und Be­ha­gen den Ar­men für Leib und See­le be­rei­ten«, ant­wor­te­te der Herr, »ha­ben sich ei­ni­ge von uns zwecks ei­ner Samm­lung zu­sam­men­ge­fun­den, um für die Ar­men Spei­se und Trank und Feue­rung an­zu­schaf­fen. Wir wäh­len die­se Zeit, weil sie vor al­len an­dern eine Zeit ist, wo der Man­gel am bit­ters­ten ge­fühlt wird und der Reich­tum in Freu­den schwimmt. Wie­viel darf ich für Sie zeich­nen?«

»Nichts«, ant­wor­te­te Scr­oo­ge.

»Sie wün­schen also un­ge­nannt zu blei­ben?«

»Ich wün­sche, daß man mich in Ruhe las­se«, sag­te Scr­oo­ge. »Da Sie mich nach mei­nem Wun­sche fra­gen, mei­ne Her­ren, so ist dies mei­ne Ant­wort. Ich gön­ne mir auch zu Weih­nach­ten kei­ne Freu­de und kann nicht dem fau­len Volk lus­ti­ge Tage ma­chen. Ich zah­le mei­nen Bei­trag zu den ge­nann­ten An­stal­ten. Sie kos­ten ge­nug, und wem es schlecht geht, der mag sich dort­hin be­ge­ben!«

»Vie­le kön­nen nicht hin­ge­hen, und vie­le wür­den eher lie­ber ster­ben.«

»Wenn sie eher lie­ber ster­ben wür­den«, sag­te Scr­oo­ge, »so wäre es gut, wenn sie das aus­führ­ten und die über­flüs­si­ge Be­völ­ke­rung ver­min­der­ten. Üb­ri­gens, Sie wer­den mich ent­schul­di­gen, ver­ste­he ich nichts da­von.«

»Aber Sie könn­ten es ver­ste­hen«, be­merk­te der Herr.

»Es geht mich nichts an«, ant­wor­te­te Scr­oo­ge. »Es ge­nügt, wenn ein Mann sein ei­ge­nes Ge­schäft be­greift und sich nicht in das an­de­rer Leu­te mischt. Das mei­ni­ge nimmt mei­ne gan­ze Zeit in An­spruch. Gu­ten Abend, mei­ne Her­ren!«

Da sie ein­sa­hen, daß wei­te­re Ver­su­che ver­geb­lich sein wür­den, zo­gen sich die Her­ren zu­rück. Scr­oo­ge mach­te sich wie­der mit noch bes­se­rer Mei­nung von sich selbst und in ei­ner an­ge­neh­me­ren Lau­ne als ge­wöhn­lich an die Ar­beit.

Wäh­rend­dem hat­ten Ne­bel und Dun­kel­heit so zu­ge­nom­men, daß Leu­te mit bren­nen­den Fa­ckeln her­um­lie­fen, um den Wa­gen vor­an­zu­leuch­ten. Der Kirch­turm, des­sen brum­men­de Glo­cke aus ei­nem al­ten go­ti­schen Fens­ter in der Mau­er gar pfif­fig auf Scr­oo­ge her­nie­der­blick­te, wur­de un­sicht­bar und schlug die Stun­den und Vier­tel in den Wol­ken mit ei­nem zit­tern­den Nach­klin­gen, als ob ihr in ih­rem er­fro­re­nen Haup­te dro­ben die Zäh­ne klap­per­ten. Die Käl­te wur­de im­mer schnei­den­der. In der Haupt­stra­ße an der Ecke des Ho­fes wur­den Gas­röh­ren aus­ge­bes­sert, und die Ar­bei­ter hat­ten in ei­ner Koh­len­pfan­ne ein großes Feu­er an­ge­zün­det, um das sich ei­ni­ge zer­lump­te Män­ner und Kna­ben dräng­ten, die sich die Hän­de wärm­ten und mit den Au­gen vor der be­hag­li­chen Flam­me blin­zel­ten. Aus den Was­ser­pum­pen, die eben ver­las­sen wa­ren, floß noch et­was Was­ser nach; aber bald war es zu men­schen­feind­li­chem Eis er­starrt. Der Schim­mer der Lä­den, in de­nen Stech­pal­men­zwei­ge und Bee­ren in der Lam­pen­wär­me der Fens­ter far­ben­freu­dig leuch­te­ten, über­zog die blei­chen Ge­sich­ter der Vor­über­ge­hen­den. Die Lä­den der Ge­flü­gel- und Ma­te­ri­al­wa­ren­händ­ler wur­den eine glän­zen­de Quel­le der Freu­de, mit der es fast un­mög­lich schi­en, den Ge­dan­ken von ei­ner so erns­ten Sa­che wie Kauf und Ver­kauf zu ver­bin­den. Der Ober­bür­ger­meis­ter gab im Fest­saal des Man­si­on-Hou­se2 sei­nen fünf­zig Kö­chen und Kel­ler­meis­tern Be­fehl, Weih­nach­ten zu fei­ern, wie es ei­nes Ober­bür­ger­meis­ters wür­dig ist, und selbst der arme Flick­schnei­der, den er am Mon­tag vor­her we­gen Trun­ken­heit und öf­fent­lich aus­ge­spro­che­ner blut­dürs­ti­ger Ge­sin­nung mit fünf Schil­ling be­straft hat­te, rühr­te den Weih­nachts­pud­ding in sei­nem Dach­käm­mer­chen an, wäh­rend sei­ne ab­ge­härm­te Frau mit dem Säug­ling auf dem Arm aus­ging, um den Rin­der­bra­ten zu kau­fen.

Im­mer neb­li­ger und käl­ter wur­de es, durch­drin­gend, bei­ßend, schnei­dend kalt. Wenn der gute, hei­li­ge Duns­tan3 des Teu­fels Nase nur mit ei­nem Hau­che von die­sem Wet­ter ge­faßt hät­te, an­statt sei­ne sonst üb­li­che Waf­fe zu brau­chen, dann wür­de er erst recht ge­brüllt ha­ben. Der In­ha­ber ei­ner klei­nen, jun­gen Stups­na­se, be­nagt und an­ge­knab­bert von der hung­ri­gen Käl­te, wie Kno­chen von Hun­den be­nagt wer­den, leg­te sich vor Scr­oo­ges Schlüs­sel­loch, um ihn mit ei­nem Weih­nachts­lied zu er­freu­en. Aber bei dem ers­ten Tone des Lie­des:

»Gott grüß euch, fro­her Gent­le­man, Mög nichts euch är­gern heut!«

er­griff Scr­oo­ge das Li­ne­al mit sol­cher Kraft, daß der Sän­ger voll Schre­cken ent­floh und das Schlüs­sel­loch dem Ne­bel und der noch ein­dring­li­che­ren Käl­te über­ließ.

End­lich kam die Stun­de des Ge­schäfts­schlus­ses. Mür­risch stieg Scr­oo­ge von sei­nem Ses­sel und gab dem har­ren­den Clerk in dem Ver­ließ still­schwei­gend die Er­laub­nis, zu ge­hen, wor­auf die­ser so­gleich das Licht aus­lösch­te und den Hut auf­setz­te.

»Sie wol­len, wie ich ver­mu­te, den gan­zen Tag mor­gen ha­ben«, sag­te Scr­oo­ge.

»Wenn Sie nichts da­ge­gen ha­ben, Sir.«

»Es paßt mir nicht«, sag­te Scr­oo­ge, »und es ist nicht schick­lich. Wenn ich Ih­nen eine hal­be Kro­ne da­für ab­rech­ne­te, wür­den Sie den­ken, es wi­der­fah­re Ih­nen Un­recht, nicht?«

Der Die­ner lä­chel­te ver­zagt.

»Und doch«, sag­te Scr­oo­ge, »den­ken Sie nicht dar­an, daß mir Un­recht ge­schieht wenn ich einen Tag Lohn für einen Tag ohne Ar­beit be­zah­le.«

Der Die­ner be­merk­te, daß es nur ein­mal im Jahr vor­käme.

»Eine arm­se­li­ge Ent­schul­di­gung, um an je­dem fünf­und­zwan­zigs­ten De­zem­ber ei­nem den Geld­beu­tel zu be­steh­len«, sag­te Scr­oo­ge, in­dem er sei­nen Man­tel bis an das Kinn zu­knöpf­te. »Aber ich ver­mu­te, Sie müs­sen durch­aus den gan­zen Tag frei ha­ben. Sei­en Sie da­für über­mor­gen um so frü­her hier.«

Der Die­ner ver­sprach, daß er kom­men wol­le, und Scr­oo­ge ging knur­rend fort. Das Kon­tor war im Au­gen­blick ge­schlos­sen. Der Clerk, dem die lan­gen En­den sei­nes wei­ßen Schals über die Brust her­ab­hin­gen (denn er konn­te sich kei­nes Man­tels rüh­men), schlit­ter­te zu Ehren des Fes­tes als der Letz­te hin­ter ei­ner Rei­he von Kna­ben, die beim Eis­ver­gnü­gen war, Corn­hill hin­un­ter und lief dann so schnell wie mög­lich in sei­ne Woh­nung in Cam­den-Town, um dort Blin­de­kuh zu spie­len.

Scr­oo­ge nahm sein me­lan­cho­li­sches Mahl in sei­nem ge­wöhn­li­chen me­lan­cho­li­schen Gast­hau­se ein; und nach­dem er alle Zei­tun­gen ge­le­sen und sich den Rest des Abends mit sei­nem Abrech­nungs­jour­nal ver­trie­ben hat­te, ging er nach Hau­se, um zu Bett zu ge­hen. Er wohn­te in den Zim­mern, die sei­nem ver­stor­be­nen Kom­pa­gnon ge­hört hat­ten. Es war eine trü­be Rei­he von Zim­mern in ei­nem düs­tern, fins­tern Ge­bäu­de ei­nes Hin­ter­ho­fes, wo die­ses so we­nig an sei­nem Platz stand, daß man fast hät­te glau­ben kön­nen, es habe sich dort­hin ver­lau­fen und sich nicht wie­der her­aus­fin­den kön­nen, als es noch ein jun­ges Haus war und mit an­dern Häu­sern Ver­ste­cken spiel­te. Es war jetzt alt und trist ge­nug; denn nie­mand wohn­te dort, au­ßer Scr­oo­ge, da die an­dern Räu­me alle als Ge­schäfts­räu­me ver­mie­tet wa­ren. Der Hof war so dun­kel, daß selbst Scr­oo­ge, der je­den Stein dar­in kann­te, sei­nen Weg mit den Hän­den er­tas­ten muß­te. Der Ne­bel und der Frost hin­gen so dick und schwer über dem schwar­zen al­ten Tor­weg des Hau­ses, als ob der Dä­mon die­ses Wet­ters in be­küm­mer­tem Grü­beln auf der Schwel­le säße. Nun ist es eine Tat­sa­che, daß an dem Tür­klop­fer ganz und gar nichts Be­son­de­res war, ab­ge­se­hen von sei­ner Grö­ße. Auch ist es Tat­sa­che, daß Scr­oo­ge ihn abends und mor­gens, seit­dem er das Haus be­wohn­te, ge­se­hen hat­te und daß Scr­oo­ge von dem, was man mit Phan­ta­sie be­zeich­net, so we­nig be­saß wie sonst je­mand in der City von Lon­don, ein­ge­rech­net – wenn es er­laubt ist, das zu sa­gen, – den Stadt­rat, die Al­der­men und die Zünf­te. Man muß auch dar­auf hin­wei­sen, daß Scr­oo­ge, au­ßer heu­te nach­mit­tag, mit kei­nem Wört­chen an sei­nen seit sie­ben Jah­ren ver­stor­be­nen Kom­pa­gnon ge­dacht hat­te. Und nun möge mir je­mand, wenn er es kann, er­klä­ren, warum Scr­oo­ge, als er sei­nen Schlüs­sel in das Tür­schloß steck­te, in dem Klop­fer, ohne daß sich die­ser ver­än­dert hat­te, kei­nen Tür­klop­fer, son­dern Mar­leys Ge­sicht er­blick­te.

Ja, Mar­leys Ge­sicht. Es war nicht in so un­durch­dring­li­ches Dun­kel gehüllt, wie die an­dern Ge­gen­stän­de im Hofe, son­dern von ei­nem un­heim­li­chen Leuch­ten um­ge­ben, wie ein ver­faul­ter Hum­mer in ei­nem dunklen Kel­ler. Das Ge­sicht war nicht böse oder zür­nend, son­dern sah Scr­oo­ge an, wie ihn Mar­ley ge­wöhn­lich an­ge­se­hen hat­te, die ge­spens­ti­sche Bril­le auf die ge­spens­ti­sche Stirn hin­auf­ge­rückt. Das Haar starr­te selt­sam in die Höhe, wie von Wind oder hei­ßer Luft ge­ho­ben; und ob­gleich die Au­gen weit of­fen stan­den, wa­ren sie doch ohne al­les Le­ben. Dies und die lei­chen­haf­te Far­be mach­ten das Ge­sicht schreck­lich; aber sei­ne Schreck­lich­keit schi­en mehr in et­was an­de­rem zu lie­gen und au­ßer­halb sei­ner Macht als ein Teil sei­nes Aus­drucks.

Als Scr­oo­ge fest auf die Er­schei­nung blick­te, war es wie­der ein Tür­klop­fer.

Zu sa­gen, er wäre nicht er­schro­cken, oder sein Blut hät­te nicht ein Gru­seln emp­fun­den, das ihm seit sei­ner Kind­heit un­be­kannt ge­blie­ben war, wäre eine Un­wahr­heit. Aber er nahm sich mit Ge­walt zu­sam­men, leg­te die Hand wie­der an den Schlüs­sel, dreh­te ihn um, trat ein und zün­de­te sei­ne Ker­ze an.

Al­ler­dings zö­ger­te er einen Au­gen­blick, ehe er die Tür schloß, und starr­te erst vor­sich­tig da­hin­ter, als fürch­te er wirk­lich, durch den An­blick von Mar­leys Kopf er­schreckt zu wer­den. Aber hin­ter der Tür war nichts als die Schrau­ben, die den Klop­fer fest­hiel­ten; und so sag­te Scr­oo­ge: »Ach was!« und warf sie zu.

Der Knall er­scholl durch das Haus wie ein Don­ner. Je­des Zim­mer im Ober­ge­schoß, und je­des Faß in des Wein­händ­lers Kel­ler drun­ten schi­en mit sei­nem be­son­de­ren Echo zu ant­wor­ten. Scr­oo­ge war nicht der Mann, der sich durch Echos ins Bocks­horn ja­gen ließ. Er schloß die Tür zu, ging über den Haus­flur und die Trep­pe hin­auf, und zwar lang­sam und das Licht auf­put­zend, wäh­rend er hin­auf­stieg. Man kann un­ge­fähr ver­an­schla­gen, daß sich eine sechs­s­pän­ni­ge Equi­pa­ge über eine Trep­pe aus der gu­ten al­ten Zeit oder auch durch ein schlech­tes neu­es Reichs­ge­setz kut­schie­ren ließ; und ich möch­te be­haup­ten, man hät­te über die Trep­pe bei Scr­oo­ge einen To­ten­wa­gen hin­auf­trans­por­tie­ren kön­nen; und zwar selbst der Brei­te nach, mit der Deich­sel ge­gen die Wand und mit der To­ten­w­agen­tür ge­gen das Ge­län­der. Und das wäre leicht ge­tan ge­we­sen. Da­für wäre Raum über­ge­nug vor­han­den ge­we­sen, und das war viel­leicht der Grund, warum Scr­oo­ge wähn­te, er sähe vor sich ge­ra­de­zu eine To­ten­wa­gen-Lo­ko­mo­ti­ve im Dun­kel sich hin­auf­be­we­gen. Ein hal­b­es Dut­zend Gas­lam­pen von der Stra­ße aus hät­ten den Ein­gang son­der­lich hell ge­macht, und so kann man sich den­ken, daß es bei Scr­oo­ges Fun­zel ziem­lich dun­kel blieb.

Scr­oo­ge aber ging hin­auf und scher­te sich kei­nen Pfif­fer­ling dar­um. Dun­kel­heit ist bil­lig, und das hat­te Scr­oo­ge gern. Aber ehe er sei­ne schwe­re Tür zu­mach­te, ging er doch durch die Zim­mer, um zu se­hen, ob al­les in Ord­nung sei. Er er­in­ner­te sich des Ge­sich­tes noch zu nach­drück­lich, als daß er nicht die­ses Be­dürf­nis ge­habt hät­te.

Wohn­zim­mer, Schlaf­zim­mer, Rum­pel­kam­mer, al­les war, wie es sein soll­te. Nie­mand un­ter dem Tisch, nie­mand un­ter dem Sofa; ein klei­nes Feu­er auf dem Rost, Löf­fel und Tel­ler be­reit, und das klei­ne Töpf­chen Sup­pe (Scr­oo­ge war er­käl­tet) an dem Feu­er. Nie­mand un­ter dem Bett, nie­mand in dem Al­ko­ven, nie­mand in sei­nem Schlaf­rock, der in ganz ver­däch­ti­ger Art an der Wand hing. Die Rum­pel­kam­mer wie ge­wöhn­lich. Ein al­ter Ka­min­schirm, alte Schu­he, zwei Fisch­kör­be, ein drei­bei­ni­ger Wasch­tisch und ein Feu­er­ha­ken.

Voll­kom­men zu­frie­den, mach­te er die Tür zu, schloß sich ein und rie­gel­te noch zu, was sonst sei­ne Ge­wohn­heit nicht war. So ge­gen Über­ra­schung ge­si­chert, leg­te er sei­ne Hals­bin­de ab, zog sei­nen Schlaf­rock und die Pan­tof­fel an, setz­te die Nacht­müt­ze auf und setz­te sich vor das Feu­er, um sei­ne Sup­pe zu löf­feln.

Es war wirk­lich ein sehr klei­nes Feu­er, so gut wie gar keins in ei­ner so bit­ter­kal­ten Nacht. Er muß­te sich dicht dar­an set­zen und sich dar­über beu­gen, um das ge­rings­te Wär­me­ge­fühl von ei­ner sol­chen Hand­voll Koh­len zu ge­nie­ßen. Der Ka­min war vor vie­len Jah­ren von ei­nem hol­län­di­schen Kauf­mann er­rich­tet wor­den und rings­um mit selt­sa­men hol­län­di­schen Flie­sen be­legt, die be­stimmt wa­ren, die Hei­li­ge Schrift zu il­lus­trie­ren. Da sah man Kain und Abel, Pha­ra­os Töch­ter, Kö­ni­gin­nen von Saba, En­gel durch die Luft auf den Wol­ken gleich Fe­der­bet­ten her­ab­schwe­bend, Abra­ham, Bel­sa­zar, Apos­tel in See ge­hend auf Markt­schif­fen, Hun­der­te von Fi­gu­ren, sei­ne Ge­dan­ken zu be­schäf­ti­gen; und doch kam das Ge­sicht Mar­leys wie der Stab des al­ten Pro­phe­ten und ver­schlang al­les an­de­re. Wenn jede glän­zen­de Flie­se blank und ver­mö­gend ge­we­sen wäre, aus den zer­streu­ten Frag­men­ten von Scr­oo­ges Ge­dan­ken ein Bild auf sei­ne Flä­che zu zau­bern, auf je­dem wäre ein Ab­bild von des al­ten Mar­leys Ge­sicht er­schie­nen.

»Dum­mes Zeug!« sag­te Scr­oo­ge und schritt im Zim­mer auf und ab.

Nach­dem er ei­ni­ge­mal hin- und her­ge­gan­gen war, setz­te er sich wie­der nie­der. Als er den Kopf in den Stuhl zu­rück­leg­te, blieb sein Blick wie von un­ge­fähr an der Glo­cke hän­gen, an ei­ner al­ten, nicht mehr ge­brauch­ten Glo­cke, die zu ei­nem jetzt ver­ges­se­nen Zweck mit ei­nem Zim­mer in dem obers­ten Stock­werk in Ver­bin­dung stand. Es be­fiel ihn großes Er­stau­nen und ein selt­sa­mer un­er­klär­li­cher Schau­er, als die Glo­cke an­hub, sich zu be­we­gen; erst be­weg­te sie sich so sach­te, daß sie kaum einen Ton von sich gab; aber bald läu­te­te sie laut und mit ihr alle Glo­cken des Hau­ses.

Dies moch­te eine hal­be Mi­nu­te oder eine Mi­nu­te ge­dau­ert ha­ben, aber es schi­en eine Stun­de zu sein. Die Glo­cken hör­ten gleich­zei­tig auf, wie sie gleich­zei­tig an­ge­fan­gen hat­ten. Da­rauf ver­nahm man ein klir­ren­des Geräusch, tief un­ten, als ob je­mand eine schwe­re Ket­te über die Fäs­ser in des Wein­händ­lers Kel­ler zerr­te. Jetzt er­in­ner­te sich Scr­oo­ge, ge­hört zu ha­ben, daß Ge­s­pens­ter Ket­ten schlep­pen soll­ten.

Die Kel­ler­tür flog mit ei­nem dumpf­dröh­nen­den Kra­chen auf, und dann hör­te er das Klir­ren viel lau­ter auf dem Haus­flur un­ten; dann wie es die Trep­pe her­auf­kam; und dann wie es ge­ra­de auf sei­ne Tür zu­kam.

»Es ist dum­mes Zeug«, sag­te Scr­oo­ge. »Ich glau­be nicht dar­an.«

Aber er wech­sel­te die Far­be, als es, ohne zu ver­wei­len, durch die schwe­re Tür und in das Zim­mer kam. Als es her­ein­trat, flamm­te das ster­ben­de Feu­er auf, als ob es rie­fe: »Ich ken­ne ihn, Mar­leys Geist!« und fiel wie­der zu­sam­men.

Das­sel­be Ge­sicht, ganz das­sel­be. Mar­ley mit sei­ner Zopf­pe­rücke, sei­ner ge­wöhn­li­chen Wes­te, den en­gen Bein­klei­dern und ho­hen Stie­feln, de­ren Quas­ten sträub­ten sich wie sein Zopf und sei­ne Rock­schö­ße und das Haar auf sei­nem Kopf. Die Ket­te, die er hin­ter sich her­schlepp­te, war mit­ten um sei­nen Kör­per ge­schlun­gen. Sie war lang und wand sich wie ein Schweif und war (denn Scr­oo­ge be­trach­te­te sie sehr ge­nau) aus Geld­kas­set­ten, Schlüs­seln, Sch­lös­sern, Haupt­bü­chern, Ver­trä­gen und schwe­ren Bör­sen aus Stahl zu­sam­men­ge­setzt. Sein Leib war durch­sich­tig, so daß Scr­oo­ge durch die Wes­te hin­durch die zwei Knöp­fe rück­wärts auf sei­nem Rock se­hen konn­te.

Scr­oo­ge hat­te oft be­haup­ten ge­hört, Mar­ley habe kein Herz im Lei­be, aber er hat­te es bis jetzt nicht ge­glaubt.

Nein, er glaub­te es auch jetzt nicht ein­mal. Ob­wohl er das Ge­s­penst durch und durch vor sich ste­hen sah; ob­wohl er den er­frie­ren ma­chen­den Schau­er sei­ner tot­kal­ten Au­gen fühl­te und selbst den Stoff des Tu­ches er­kann­te, das um sei­nen Kopf und sein Kinn ge­bun­den war, und das er frü­her nicht be­merkt hat­te, war er doch noch un­gläu­big und ver­wahr­te sich ge­gen die Ein­drücke sei­ner Sin­ne.

»Nun«, sag­te Scr­oo­ge, barsch und kalt wie ge­wöhn­lich, »was wollt Ihr?«

»Viel!« Das war Mar­leys Stim­me; kein Zwei­fel.

»Wer seid Ihr?«

»Fragt mich, wer ich war.«

»Nun, wer wa­ret Ihr denn?« sag­te Scr­oo­ge lau­ter. »Ihr seid ein be­son­de­res Exem­plar für ein Ge­s­penst.« Er woll­te sa­gen »als Ge­s­penst«; aber er er­setz­te das »als« durch »für ein«, um auf alle Fäl­le sich zu si­chern.

»Als ich leb­te, war ich Euer Kom­pa­gnon, Ja­kob Mar­ley.«

»Könnt Ihr auch sit­zen?« frag­te Scr­oo­ge und sah ihn zwei­felnd an.

»Ich kann es.«

»Dann bit­te!«

Scr­oo­ge stell­te die Fra­gen, weil er nicht wuß­te, ob ein so durch­sich­ti­ges Ge­s­penst sich wer­de set­zen kön­nen, und fühl­te, daß er ihn recht un­an­ge­nehm hät­te zur Rede stel­len kön­nen, wenn je­ner dies nicht ge­konnt hät­te.

»Ihr glaubt nicht an mich?« frag­te der Geist.

»Nein«, sag­te Scr­oo­ge.

»Wel­chen Be­weis wollt Ihr, au­ßer dem Eu­rer Sin­ne, von mei­ner Wirk­lich­keit ha­ben?«

»Ich weiß nicht«, sag­te Scr­oo­ge.

»Wa­rum glaubt Ihr Eu­ren Sin­nen nicht?«

»Weil eine Ge­ring­fü­gig­keit sie stört«, sag­te Scr­oo­ge. »Eine klei­ne Stö­rung im Ma­gen macht sie zu Lüg­nern. Ihr könnt ein un­ver­dau­tes Stück Rind­fleisch, ein Senf­klecks, eine Kä­serin­de, ein Stück­chen schlech­ter Kar­tof­fel sein. Wer Ihr auch sein mögt, Ihr seid mehr Un­ter­leib, als Un­ter­welt.«

Es war nicht eben Scr­oo­ges Art, Wit­ze zu ma­chen, auch fühl­te er jetzt kei­ne be­son­de­re Lust dazu. Die Wahr­heit war, daß er sich be­streb­te, auf­ge­räumt zu sein, über­le­gen zu er­schei­nen, um sei­ne Auf­merk­sam­keit auf das Ge­s­penst zu ver­ja­gen und um sein Ent­set­zen nie­der­zu­hal­ten; denn die Stim­me des Geis­tes mach­te selbst das Mark in sei­nen Ge­bei­nen er­zit­tern.

Nur einen Au­gen­blick schwei­gend die­sen star­ren, er­fro­re­nen Au­gen ge­gen­über­zu­sit­zen, wür­de ihn wahn­sin­nig ma­chen, das emp­fand Scr­oo­ge wohl. Auch war die Tat­sa­che so grau­en­er­re­gend, daß das Ge­s­penst sei­ne ei­ge­ne höl­li­sche At­mo­sphä­re hat­te. Scr­oo­ge fühl­te sie zwar nicht selbst, aber doch muß­te es der Fall sein. Ob­wohl näm­lich das Ge­s­penst ganz re­gungs­los da­saß, be­weg­ten sich sei­ne Haa­re, sei­ne Rock­schö­ße und sei­ne Stie­fel­quas­ten wie von der er­hitz­ten Luft ei­nes Ofens.

»Ihr seht die­sen Zahn­sto­cher«, sag­te Scr­oo­ge und nahm aus dem eben an­ge­führ­ten Grund sei­ne At­ta­cke wie­der auf, von dem Wunsch be­seelt, wenn auch nur für einen Au­gen­blick den star­ren, ei­si­gen Blick des Ge­s­pens­tes von sich ab­zu­wen­den.

»Ja«, ant­wor­te­te der Geist.

»Ihr seht ihn ja nicht an«, sag­te Scr­oo­ge.

»Aber ich sehe ihn trotz­dem«, er­wi­der­te das Ge­s­penst.

»Gut«, mein­te Scr­oo­ge. »Ich brau­che ihn nur hin­un­ter­zu­schlu­cken, und mein gan­zes üb­ri­ges Le­ben hin­durch ver­fol­gen mich eine Le­gi­on Ko­bol­de, die ich selbst er­zeugt habe. Dum­mes Zeug, sag’ ich, dum­mes Zeug!«

Bei die­sen Wor­ten stieß das Ge­s­penst einen gräß­li­chen Schrei aus und ließ sei­ne Ket­te so grau­en­haft und fürch­ter­lich klir­ren, daß Scr­oo­ge sich an sei­nen Stuhl fest­klam­mern muß­te, um nicht in Ohn­macht zu sin­ken. Aber wie­viel grö­ßer ward sein Ent­set­zen, als das Ge­s­penst die Bin­de vom Kopf nahm, als wäre es ihm zu warm im Zim­mer, und die Un­ter­kinn­la­de auf die Brust her­ab­sank.

Scr­oo­ge fiel auf die Knie nie­der und schlug die Hän­de vors Ge­sicht.

»Gna­de!« rief er. »Schreck­li­che Er­schei­nung, warum quälst du mich?«

»Mensch mit der welt­lich ge­sinn­ten See­le«, er­wi­der­te der Geist, »glaubst du an mich oder nicht?«

»Ich glau­be«, sag­te Scr­oo­ge, »ich muß es. Aber warum wan­deln Geis­ter auf Er­den und warum kom­men sie zu mir?«

»Von je­dem Men­schen wird ge­for­dert«, ant­wor­te­te das Ge­s­penst, »daß der Geist in ihm un­ter sei­nen Mit­menschen wand­le und fer­ne, wei­te Rei­sen ma­che. Wenn nun die­ser Geist nicht bei Leb­zei­ten hin­aus­geht, so ist er ver­dammt, durch die Welt zu wan­dern – ach, weh mir! – und an­zu­se­hen, was er nicht mehr mit­ge­nie­ßen kann, was er aber auf Er­den hät­te mit­ge­nie­ßen und zum Gu­ten hät­te aus­nut­zen kön­nen.«

Wie­der stieß das Ge­s­penst einen Schrei aus, rüt­tel­te an sei­nen Ket­ten und rang die schat­ten­haf­ten Hän­de.

»Du bist ge­fes­selt«, sag­te Scr­oo­ge zit­ternd. »Sage mir, wes­halb?«

»Ich tra­ge die Ket­te, die ich im Le­ben ge­schmie­det habe«, sag­te der Geist. »Ich schmie­de­te sie Glied für Glied und Elle für Elle; mit mei­nem ei­ge­nen frei­en Wil­len gür­te­te ich sie um; und nach mei­nem ei­ge­nen frei­en Wil­len muß ich sie nun tra­gen. Ihre Glie­der kom­men dir selt­sam vor.«

Scr­oo­ge zit­ter­te im­mer hef­ti­ger.

»Oder willst du die Schwe­re und Län­ge der Ket­te wis­sen«, fuhr der Geist fort, »die du sel­ber trägst? Sie war ge­ra­de so lang und so schwer wie die­se hier vor sie­ben Weih­nach­ten. Seit­dem hast du an ihr wei­ter­ge­ar­bei­tet. Es ist eine schwe­re Ket­te.«

Scr­oo­ge schau­te auf den Bo­den her­ab in der Er­war­tung, sich von fünf­zig oder sech­zig Klaf­tern Ei­sen­ket­ten um­schlun­gen zu se­hen; aber er ge­wahr­te nichts.

»Ja­kob«, sag­te er bit­tend, »Ja­kob Mar­ley, er­zäh­le mir mehr. Sage mir einen Trost, Ja­kob.«

»Ich habe kei­nen zu ge­ben«, ant­wor­te­te der Geist. »Er kommt aus an­de­ren Sphä­ren, Ebe­ne­zer Scr­oo­ge, und wird von an­dern Bo­ten zu an­dern Men­schen ge­bracht. Auch darf ich dir nicht sa­gen, was ich dir sa­gen möch­te. Nur ein We­ni­ges mehr als das Bis­he­ri­ge ist mir zu sa­gen er­laubt. Ich kann nicht ras­ten, ich kann nicht ru­hen, ich kann nur et­was ver­si­chern. Mein Geist ging nie über un­ser Kon­tor hin­aus – merk auf – im Le­ben blieb mein Geist im­mer in den en­gen Gren­zen un­se­rer Wu­cher­höh­le; und wei­te Rei­sen lie­gen noch vor mir.«

Es war eine Ge­wohn­heit von Scr­oo­ge, wenn er nach­denk­lich wur­de, die Hand in die Ho­sen­ta­sche zu ste­cken. Nach­sin­nend über das, was der Geist sag­te, tat er es auch jetzt, aber ohne sei­ne Au­gen zu er­he­ben oder vom Stuhl auf­zu­ste­hen.

»Du mußt dir aber viel Zeit ge­nom­men ha­ben, Ja­kob«, be­merk­te er in der Art ei­nes Ge­schäfts­man­nes, wenn auch mit vie­ler De­mut und Ehr­er­bie­tung.

»Viel Zeit!« sag­te der Geist.

»Sie­ben Jah­re tot«, sann Scr­oo­ge nach. »Und die gan­ze Zeit über ge­wan­dert.«

»Die gan­ze Zeit«, sag­te der Geist. »Kein Blei­ben, kein Frie­den, nur un­auf­hör­lich die Qual der Reue.«

»Du rei­sest schnell«, sag­te Scr­oo­ge.

»Auf den Fit­ti­chen des Win­des«, sag­te der Geist.

»Da mußt du doch eine große Stre­cke in den sie­ben Jah­ren ab­sol­viert ha­ben«, sag­te Scr­oo­ge.

Als der Geist das ver­nahm, stieß er wie­der einen Schrei aus und klirr­te so grau­en­voll mit sei­ner Ket­te in dem To­des­schwei­gen der Nacht, daß ihn der Nacht­wäch­ter mit vol­lem Recht we­gen Ru­he­stö­rung hät­te an­zei­gen kön­nen.

»Oh, ge­fan­gen und ge­fes­selt, in dop­pel­tes Ei­sen ge­legt!« rief das Ge­s­penst, »nicht zu wis­sen, daß Zeit­al­ter von un­auf­hör­li­cher Mühe sterb­li­cher Ge­schöp­fe ver­ge­hen, ehe das Gute, des­sen die Erde fä­hig ist, sich ent­fal­ten kann; nicht zu wis­sen, daß ein christ­li­cher Geist, und wenn er auch in ei­nem noch so klei­nen Kreis der Lie­be wirkt, in die­sem Er­den­le­ben sich selbst be­loh­nen­de Ar­beit ge­nug fin­den kann! Aber ich ahn­te es nicht, ach, ahn­te es nicht!«

»Aber du warst doch im­mer ein gu­ter Ge­schäfts­mann, Ja­kob«, stot­ter­te Scr­oo­ge zit­ternd, der jetzt be­gann, das Schick­sal des Geis­tes auf sich selbst zu über­tra­gen.

»Ge­schäft!« rief das Ge­s­penst, sei­ne Hän­de wie­der rin­gend. »Der Mensch war mein Ge­schäft. Die all­ge­mei­ne Wohl­fahrt war mein Ge­schäft; Barm­her­zig­keit, Ver­söhn­lich­keit und Lie­be wä­ren al­les mein Ge­schäft ge­we­sen. Der Fleiß in mei­nem Ge­wer­be aber war nur ein Trop­fen Was­ser in dem wei­ten Ozean mei­nes wah­ren Ge­schäfts.«

Er hielt sei­ne Ket­te weit von sich weg, als ob dies die Ur­sa­che sei­nes hoff­nungs­lo­sen Schmer­zes ge­we­sen wäre, und warf sie wie­der dröh­nend nie­der.

»In die­ser Zeit des en­den­den Jah­res«, sag­te das Ge­s­penst, »lei­de ich am meis­ten. Wa­rum ging ich mit zur Erde ge­senk­ten Au­gen durch das Ge­drän­ge mei­ner Mit­menschen und hob mei­nen Blick nie zu dem ge­seg­ne­ten Stern em­por, der die Wei­sen zur Woh­nung der Ar­mut führ­te? Gab es nicht arme Hei­me ge­nug, wo­hin mich sein Licht hät­te füh­ren kön­nen?«

Scr­oo­ge war au­ßer sich, das Ge­s­penst so re­den zu hö­ren, und be­gann hef­tig zu zit­tern.

»Höre mich«, rief der Geist. »Mei­ne Zeit ist bei­na­he vor­über.«

»Ich will hö­ren«, sag­te Scr­oo­ge. »Aber ver­fah­re glimpf­lich mit mir! Sei nicht zu hart, Ja­kob, ich bit­te dich.«

»Wie es mög­lich ist, daß ich in ei­ner dir wahr­nehm­ba­ren Ge­stalt vor dich tre­ten kann, weiß ich nicht. So man­chen, man­chen Tag habe ich un­sicht­bar ne­ben dir ge­ses­sen.«

Das war kei­ne an­ge­neh­me Vor­stel­lung. Scr­oo­ge schau­der­te und wisch­te sich den Schweiß von der Stirn.

»Es ist kein leich­ter Teil mei­ner Buße«, fuhr der Geist fort. »Heu­te nacht kom­me ich zu dir, um dich zu war­nen, weil für dich noch eine Aus­sicht und Hoff­nung be­steht, mei­nem Schick­sal zu ent­ge­hen. Eine Aus­sicht und eine Hoff­nung, die du mir zu ver­dan­ken hast.«

»Du bist im­mer ein gu­ter Freund zu mir ge­we­sen«, sag­te Scr­oo­ge. »Ich dan­ke dir.«

»Du wirst be­sucht wer­den«, fuhr das Ge­s­penst fort, »von drei Geis­tern.« Bei die­sen Wor­ten wur­de Scr­oo­ges Blick noch län­ger als der des Ge­s­pens­tes.

»Ist das die Mög­lich­keit und die Hoff­nung, die du er­wähnt hast, Ja­kob?« frag­te er mit be­ben­der Stim­me.

»Ja.«

»Ich – ich soll­te mei­nen, das wäre aber ge­ra­de kei­ne Hoff­nung«, sag­te Scr­oo­ge.

»Ohne ihr Kom­men«, ent­geg­ne­te der Geist, »kannst du nicht hof­fen, den Pfad zu ver­mei­den, den ich durch­wan­dern muß. Er­war­te den ers­ten am Mor­gen, wenn die Glo­cke eins schlägt.«

»Könn­te ich sie nicht alle auf ein­mal über mich er­ge­hen las­sen?« frag­te Scr­oo­ge.

»Er­war­te den zwei­ten in der nächs­ten Nacht um die­sel­be Stun­de. Den drit­ten in der fol­gen­den Nacht, wenn der letz­te Schlag zwölf ver­k­lun­gen ist. Sieh mich an, denn du er­blickst mich nicht wie­der; und sieh mich an, daß du dich um dei­ner Ret­tung wil­len an das er­in­nerst, was zwi­schen uns ge­sche­hen ist.«

Als es die­se Wor­te ge­spro­chen hat­te, hob sich das Ge­s­penst das Tuch vom Tisch und band es sich wie­der um den Kopf. Scr­oo­ge be­merk­te dies durch das Knir­schen der Zäh­ne, als die Kie­fern zu­sam­men­klapp­ten. Er wag­te es, die Au­gen auf­zu­he­ben, und sah sei­nen über­na­tür­li­chen Be­such vor sich ste­hen, die Au­gen noch starr auf ihn ge­hef­tet, und die Ket­te um den Leib und den Arm ge­wun­den.

Die Er­schei­nung ent­fern­te sich rück­wärts­schrei­tend; und bei je­dem Schritt öff­ne­te sich das Fens­ter ein we­nig, so daß es weit of­fen stand, als das Ge­s­penst bei ihm an­kam. Es wink­te Scr­oo­ge, nä­her­zu­kom­men, was die­ser be­folg­te. Als sie noch zwei Schrit­te von­ein­an­der ent­fernt wa­ren, hob Mar­leys Geist die Hand em­por und be­deu­te­te ihm, daß er nicht nä­her­kom­me. Scr­oo­ge stand still.

Er tat dies min­der aus Ge­hor­sam als aus Über­ra­schung und Furcht; denn als sich die ge­spens­ti­sche Hand er­hob, hör­te er wir­re Klän­ge durch die Luft schwir­ren und zu­sam­men­hang­lo­se Töne des Kla­gens und des Schmer­zes un­sag­bar und reu­ig. Das Ge­s­penst horch­te ih­nen eine Wei­le zu und stimm­te dar­auf in das Kla­ge­lied ein. Dann schweb­te es in die dunkle Nacht hin­aus.

Scr­oo­ge trat an das Fens­ter, von Neu­gier­de bis zur Verzweif­lung ge­trie­ben. Er blick­te hin­aus.

Die Luft war mit Sche­men an­ge­füllt, die in ru­he­lo­ser Hast kla­gend hin und wi­der schweb­ten. Je­der trug eine Ket­te, wie Mar­leys Geist. Ei­ni­ge wa­ren zu­sam­men­ge­schmie­det (wahr­schein­lich schul­di­ge Mi­nis­ter), kei­nes war ganz ohne Fes­seln. Vie­le wa­ren Scr­oo­ge wäh­rend ih­res Le­bens be­kannt ge­we­sen. Ganz ge­nau hat­te er ein al­tes Ge­s­penst in ei­ner wei­ßen Wes­te ge­kannt, das einen un­ge­heu­ren ei­ser­nen Geld­kas­ten hin­ter sich her­schlepp­te und jäm­mer­lich schrie, weil er ei­nem ar­men, al­ten Wei­be mit ei­nem Kin­de nicht hel­fen konn­te, das un­ten auf ei­ner Tür­schwel­le kau­er­te. Man sah es deut­lich, ihre Pein be­stand dar­in, sich um­sonst da­nach zu seh­nen, mensch­li­che Not zu lin­dern, und die Macht dazu für im­mer ver­lo­ren zu ha­ben.

Ob die­se Ge­schöp­fe in dem Ne­bel zer­gin­gen oder ob der Ne­bel sie ver­hüll­te, konn­te Scr­oo­ge nicht sa­gen. Aber sie und ihre Geis­ter­stim­men ver­gin­gen zu glei­cher Zeit, und die Nacht wur­de wie­der so, wie sie war, als er nach Hau­se ging.

Scr­oo­ge schloß das Fens­ter und prüf­te die Tür, durch die das Ge­s­penst her­ein­ge­kom­men war. Sie war noch ver­schlos­sen und ver­rie­gelt wie vor­her. Er ver­such­te zu sa­gen: Un­sinn, stock­te aber bei der ers­ten Sil­be. Da er von der Er­re­gung oder von den An­stren­gun­gen des Ta­ges oder von sei­ner Schau in die un­sicht­ba­re Welt oder der be­drücken­den Un­ter­hal­tung mit dem Ge­s­penst oder der spä­ten Stun­de sehr er­schöpft war, ging er so­gleich zu Bett, ohne sich aus­zu­zie­hen, und sank bald in Schlaf.

An­spie­lung auf Sha­ke­s­pea­res »Ham­let«, wo Ham­lets Va­ter als Geist in den ers­ten Sze­nen er­scheint und den Sohn bit­tet, sei­nen Mord zu rä­chen.  <<<

Man­si­on-Hou­se, Be­zeich­nung für das Amts­ge­bäu­de des Ober­bür­ger­meis­ters.  <<<

Der klei­ne Duns­tan (sprich Danns­ten), Erz­bi­schof von Can­ter­bu­ry (925 – 988), be­rühmt als Ge­lehr­ter und Klos­ter­re­for­ma­tor im Sin­ne der Be­ne­dik­ti­ner.  <<<

Zweites Kapitel – Der erste der drei Geister

Als Scr­oo­ge er­wach­te, war es so fins­ter, daß er kaum das das Au­ßen­licht hin­durch­las­sen­de Fens­ter von den Wän­den sei­nes Zim­mers un­ter­schei­den konn­te. Er be­müh­te sich, die Fins­ter­nis mit sei­nen Luchsau­gen zu durch­drin­gen, als die Glo­cke ei­nes Tur­mes in der Nach­bar­schaft zu läu­ten be­gann. Er horch­te auf die Zeit der Stun­de. Zu sei­nem großen Er­stau­nen ging der Schlag der Glo­cke von sechs zu sie­ben, und von sie­ben zu acht und so wei­ter bis zwölf; dann stopp­te sie.

Zwölf! Es war nach zwei Uhr ge­we­sen, als er sich zu Bett ge­legt hat­te. Die Uhr ging wohl falsch. Ein Eis­zap­fen muß­te in das Werk ge­ra­ten sein. Zwölf!

Er drück­te auf die Fe­der sei­ner Re­pe­tier­uhr, um die irre Glo­cke in Ord­nung zu brin­gen. Ihr klei­ner schnel­ler Puls schlug zwölf und schwieg.

»Was! es ist doch nicht mög­lich«, sag­te Scr­oo­ge, »daß ich den gan­zen Tag und bis in die an­de­re Nacht ge­schla­fen ha­ben soll­te? Es ist doch nicht mög­lich, daß der Son­ne et­was zu­ge­sto­ßen ist und daß es mit­tags zwölf Uhr ist.«

Die Vor­stel­lung alar­mier­te ihn. Er stieg aus dem Bett und tapp­te ans Fens­ter. Er muß­te das Eis erst weg­scha­ben und das Fens­ter mit dem Är­mel sei­nes Schlafrockes ab­wi­schen, ehe er et­was se­hen konn­te. Aber auch da­nach konn­te er nur we­nig se­hen. Al­les, was er wahr­neh­men konn­te, war, daß es noch sehr neb­lig und sehr kalt war, und daß man nicht das Lär­men hin und her ei­len­der Leu­te hör­te, das doch ge­wiß vor­han­den ge­we­sen wäre, wenn die Nacht den lich­ten Tag ver­trie­ben und die Welt be­schlag­nahmt hät­te. Das war ein großer Trost, weil »drei Tage nach Sicht be­glei­chen Sie die­sen Pri­ma­wech­sel an Mr. Ebe­ne­zer Scr­oo­ge oder des­sen Or­der usw.« le­dig­lich Ve­rei­nig­te Staa­ten-Si­cher­heit ge­we­sen wäre, wenn kei­ne Tage mehr zu zäh­len wa­ren.1

Scr­oo­ge leg­te sich wie­der nie­der und dach­te nach, konn­te aber zu kei­nem Re­sul­tat kom­men. Je mehr er nach­dach­te, de­sto wir­rer wur­de er; und je mehr er sich be­streb­te, nicht nach­zu­den­ken, de­sto mehr dach­te er nach. Mar­leys Geist be­un­ru­hig­te ihn viel. Je­des­mal, wenn er nach reif­li­cher Über­le­gung zu der fes­ten Über­zeu­gung ge­langt war, daß al­les nur ein Traum ge­we­sen, schnell­te sein Geist wie eine star­ke vom Druck be­frei­te Fe­der wie­der in die alte Lage zu­rück und wie­der­hol­te ihm die Fra­ge, die er schon zehn­mal durch­grü­belt hat­te: War es ein Traum oder nicht?

Scr­oo­ge lag in die­sem Zu­stan­de, bis es drei Vier­tel schlug. Da be­sann er sich plötz­lich, daß der Geist ihm eine Er­schei­nung mit Schlag eins ver­spro­chen hat­te. So nahm er sich vor, wach­zu­blei­ben, bis die Stun­de vor­über sei; und wenn man be­denkt, daß er eben­so­we­nig ein­schla­fen wie in den Him­mel ein­ge­hen konn­te, war dies wahr­schein­lich der klügs­te Ent­schluß, den er zu fas­sen ver­moch­te.

Die Vier­tel­stun­de war so lang, daß es ihm mehr als ein­mal dünk­te, er müß­te un­ver­se­hens in Schlaf ge­sun­ken sein und die Uhr über­hört ha­ben. Schließ­lich ver­nahm sein lau­schen­des Ohr die Glo­cke.

»Ding, dong!«

»Ein Vier­tel«, sag­te Scr­oo­ge zäh­lend.

»Ding, dong!«

»Halb«, sag­te Scr­oo­ge.

»Ding, dong!«

»Drei Vier­tel«, sag­te Scr­oo­ge,

»Ding, dong!«

»Voll!« rief Scr­oo­ge freu­dig, »und nichts wei­ter!«

Er sprach’s, be­vor die Stun­den­glo­cke schlug, was sie jetzt mit ei­nem tie­fen, dunklen, hoh­len, me­lan­cho­li­schen Eins tat.

Licht er­goß sich au­gen­blick­lich in den Raum, und die Vor­hän­ge sei­nes Bet­tes wur­den auf­ge­zo­gen.

Die Vor­hän­ge sei­nes Bet­tes wur­den, ich sage es euch, von ei­ner Hand fort­ge­zo­gen, nicht die Vor­hän­ge vor sei­nen Fü­ßen, nicht die Vor­hän­ge hin­ter sei­nem Rücken, son­dern die Vor­hän­ge, nach de­nen sich sein Ge­sicht wand­te, wur­den fort­ge­zo­gen; und Scr­oo­ge blick­te, sich zu ei­ner halb lie­gen­den Stel­lung auf­rich­tend, dem un­ir­di­schen Be­su­cher, der sie ge­öff­net hat­te, ins Ant­litz. So dicht stand er ihm ge­gen­über, wie ich jetzt im Geis­te ne­ben euch ste­he.

Es war eine merk­wür­di­ge Ge­stalt, gleich ei­nem Kin­de; aber doch ei­gent­lich nicht gleich ei­nem Kin­de, son­dern eher wie ein al­ter Mann, der durch ein wun­der­ba­res Me­di­um ge­se­hen ward, und so zu den Grö­ßen­ver­hält­nis­sen ei­nes Kin­des ver­min­dert war. Sein Haar, das in lan­gen Lo­cken über sei­ne Schul­tern wall­te, war weiß, wie vom Al­ter. Aber das Ge­sicht hat­te kei­ne ein­zi­ge Fal­te, und um das Kinn be­merk­te man den zar­tes­ten Flaum. Die Arme wa­ren lang und kräf­tig; eben­so die Hän­de, als ruhe eine un­ge­heu­re Kraft in ih­nen. Sei­ne zart und fein ge­form­ten Füße wa­ren wie die Arme bloß. Der Geist trug eine Tu­ni­ka vom reins­ten Weiß, und um sei­nen Kör­per schlang sich ein Gür­tel von wun­der­ba­rem Schim­mer. Er hielt einen frisch-grü­nen Stech­pal­men­zweig in der Hand. Aber in selt­sa­mem Wi­der­spruch mit die­sem Zei­chen des Win­ters war sein Ge­wand mit Som­mer­blu­men ge­schmückt. Das Wun­der­bars­te aber war, daß aus der Kro­ne auf sei­nem Haup­te ein hel­ler Licht­strahl em­por­schoß, der al­les rings er­hell­te, und der ge­wiß der Grund war, daß der Geist in we­ni­ger gu­ter Stim­mung einen großen Licht­aus­lö­scher, den er jetzt un­ter dem Arme trug, als Kap­pe auf­stülp­te.

Aber eben das war noch nicht sei­ne son­der­bars­te Ei­gen­schaft. Denn wie der Gür­tel des Geis­tes bald an die­ser Stel­le glänz­te und fun­kel­te und bald an je­ner, und wie das, was im Au­gen­blick hell ge­we­sen war, dun­kel wur­de, so ver­wan­del­te sich auch die Ge­stalt selbst auf un­er­klär­li­che Art. Bald war es ein We­sen mit ei­nem Arm, bald mit ei­nem Bein, bald mit zwan­zig Bei­nen, bald mit nur zwei Fü­ßen ohne Kopf, bald ein Kopf ohne Kör­per. Wenn ei­ner die­ser Tei­le ver­schwand, blieb kei­ne Spur von ihm in dem dich­ten Dun­kel zu­rück, das ihn um­fing. Und das größ­te Wun­der da­bei war, daß die Ge­stalt im­mer die glei­che blieb.

»Seid Ihr der Geist, des­sen Er­schei­nung mir ver­kün­det wur­de?« frag­te Scr­oo­ge.

»Ich bin es.«

Die Stim­me war sanft und wohl­klin­gend und so lei­se, als er­klin­ge sie nicht dicht ne­ben ihm, son­dern aus ei­ni­ger Fer­ne.

»Wer und was seid Ihr?« forsch­te Scr­oo­ge.

»Ich bin der Geist der ver­gan­ge­nen Weih­nach­ten.«

»Der lan­ge ver­gan­ge­nen?« frag­te Scr­oo­ge, die zwerg­haf­te Ge­stalt in Rech­nung zie­hend.

»Nein, dei­ner ver­gan­ge­nen.«

Vi­el­leicht hät­te Scr­oo­ge nicht sa­gen kön­nen, warum, wenn ihn je­mand ge­fragt hät­te; aber er heg­te den be­son­de­ren Wunsch, den Geist in sei­ner Kap­pe zu se­hen; und er bat ihn, sich zu be­de­cken.

»Was?« rief der Geist, »willst du so bald mit un­from­mer Hand das Licht, das ich schen­ke, aus­lö­schen? Ist es nicht ge­nug, daß du ei­ner von je­nen bist, de­ren Lei­den­schaf­ten die­se Kap­pe her­vor­ge­bracht ha­ben, und die mich zwin­gen, sie oft auf Jah­re tief ins Ge­sicht zu zie­hen?«

Scr­oo­ge wi­der­rief de­mü­tig jede Ab­sicht, daß er ihn habe etwa be­lei­di­gen wol­len. Er ver­si­cher­te hoch und teu­er, nicht zu wis­sen, daß er je im Le­ben dem Geis­te Ur­sa­che ge­ge­ben habe, sich zu be­de­cken. Dann war er so kühn zu fra­gen, wel­che An­ge­le­gen­heit ihn hier­her füh­re.

»Dein Heil!« sag­te der Geist.

Scr­oo­ge ver­si­cher­te ihm sehr sei­nen Dank, konn­te sich aber nicht hel­fen als in den Ge­dan­ken, daß eine un­ge­stör­te Nachtru­he ihm mehr genützt ha­ben wür­de. Der Geist muß­te sei­ne Ge­dan­ken durch­schaut ha­ben; denn er sag­te als­bald: »Dei­ne Bes­se­rung also. Nimm dich in acht!«

Er streck­te bei die­sen Wor­ten sei­ne star­ke Hand und er­griff sanft sei­nen Arm.

»Steh auf und komm mit!«

Um­sonst wür­de Scr­oo­ge ein­ge­wen­det ha­ben, Wet­ter und Stun­de sei­en zum Spa­zie­ren­ge­hen nicht son­der­lich ge­eig­net; das Bett sei warm und das Ther­mo­me­ter stän­de be­trächt­lich un­ter Null; er habe nur Pan­tof­fel, Schlaf­rock und Nacht­müt­ze und lei­de über­dies an Schnup­fen. Dem Grif­fe, wie von Frau­en­hand, war nicht zu wi­der­ste­hen. Scr­oo­ge er­hob sich; aber als er sah, daß der Geist dem Fens­ter zu­schweb­te, faß­te er ihn fle­hend beim Ge­wan­de.

»Ich bin sterb­lich«, sag­te Scr­oo­ge, »und wür­de stür­zen, möch­te ich noch so be­hut­sam sein.«

»Laß dich nur von mei­ner Hand be­rüh­ren«, sag­te der Geist, in­dem er ihm die Hand auf das Herz leg­te, »und du wirst grö­ße­re Ge­fah­ren über­ste­hen, als eine sol­che.«

Als er die­se Wor­te ge­spro­chen hat­te, ver­schwan­den sie bei­de durch die Wän­de und stan­den plötz­lich im Frei­en auf der Land­stra­ße, rings von Flu­ren um­ge­ben. Die Stadt war ganz ver­sun­ken. Kei­ne Spur war mehr da­von üb­rig. Die Fins­ter­nis und der Ne­bel wa­ren mit ihr ver­schwun­den, denn es war jetzt ein kla­rer, kal­ter Win­ter­tag, und der Bo­den von weißem, rei­nem Schnee be­deckt.

»Gu­ter Him­mel!« rief Scr­oo­ge, die Hän­de fal­tend, als er um sich blick­te, »hier wur­de ich ge­bo­ren. Hier leb­te ich als Kna­be.«

Der Geist sah ihn mit lin­dem Bli­cke an. Sei­ne sanf­te Berüh­rung, ob­wohl sie nur lei­se und kurz ge­we­sen war, klang im­mer noch in dem Her­zen des al­ten Man­nes nach. Er war sich tau­sen­der­lei Düf­te in der Luft be­wußt, de­ren ein je­der ein­zel­ne mit tau­send Ge­dan­ken, Hoff­nun­gen, Freu­den und Sor­gen ver­bun­den war, die lan­ge ver­ges­sen wa­ren.

»Dei­ne Lip­pe zit­tert«, sag­te der Geist. »Und was ist denn das hier auf dei­ner Wan­ge?«

Scr­oo­ge stam­mel­te mit ei­nem un­ge­wöhn­li­chen Sto­cken in der Stim­me, es sei ein Bläs­chen, und bat den Geist, ihn zu ge­lei­ten, wo­hin er wol­le.

»Erin­nerst du dich des We­ges?« frag­te der Geist.

»Ob ich mich sei­ner er­in­ne­re?« rief Scr­oo­ge mit Feu­er, »ich könn­te ihn mit ver­bun­de­nen Au­gen fin­den.«

»Merk­wür­dig, daß du ihn so vie­le Jah­re lang ver­ges­sen hast«, sag­te der Geist. »Komm!«

Sie schrit­ten den Weg ent­lang. Scr­oo­ge er­kann­te je­des Gat­ter, je­den Pfos­ten, je­den Baum wie­der, bis ein klei­ner Markt­fle­cken in der Fer­ne mit sei­ner Kir­che, sei­ner Brücke und dem sich win­den­den Fluß er­schi­en. Nun er­blick­ten sie ei­ni­ge zot­ti­ge Po­nies auf sich zu­tra­ben, mit Jun­gens auf ih­ren Rücken, die wie­der an­de­ren Jun­gens in länd­li­chen Wa­gen und Ge­fähr­ten, ge­trie­ben von Far­mern, laut zu­rie­fen. Alle die­se Jun­gens wa­ren sehr ver­gnügt und laut, bis die wei­ten Fel­der so voll hei­te­rer Mu­sik wa­ren, daß die kal­te, son­ni­ge Luft selbst mit­zu­la­chen schi­en.

»Dies sind bloß Schat­ten der We­sen, die ge­we­sen sind«, sag­te der Geist, »sie wis­sen nichts von uns.«

Die fröh­li­chen Rei­sen­den ka­men nä­her, und jetzt er­kann­te Scr­oo­ge sie alle und konn­te sie alle bei Na­men nen­nen. Wie war er er­freut über alle Be­grif­fe, sie zu se­hen! Wie leuch­te­te sein tro­cken­kal­tes Auge feucht auf! Wie ju­bel­te sein Herz, als sie vor­über­eil­ten. Wie ward er von Froh­sinn er­füllt, als sie an den Kreuz­we­gen von­ein­an­der schie­den und sich fröh­li­che Weih­nach­ten wünsch­ten? Was wa­ren fröh­li­che Weih­nach­ten für Scr­oo­ge?

Zum Kuckuck mit fröh­li­chen Weih­nach­ten! Was hat­te er schon Gu­tes da­von ge­habt?

»Die Schu­le ist noch nicht ganz ver­las­sen«, sag­te der Geist. »Ein ein­sa­mes Kind, von sei­nen Freun­den ver­las­sen, sitzt noch ein­sam dort.«

Scr­oo­ge sag­te, er wis­se es. Und er wein­te.

Sie ver­lie­ßen jetzt die Chaus­see auf ei­nem wohl­be­kann­ten Feld­weg und er­reich­ten bald ein Haus aus dun­kel­ro­ten Zie­geln, mit ei­ner klei­nen Kup­pel auf dem Da­che und dar­in eine Glo­cke. Es war ein großes Haus, aber jetzt nur Zeu­ge ver­flos­se­nen Reich­tums, denn die ge­räu­mi­gen Ge­mä­cher wa­ren we­nig be­nutzt, die Wän­de feucht und mod­rig, die Fens­ter zer­bro­chen, die Git­ter zer­fal­len. Hüh­ner ga­cker­ten und scharr­ten in den Stäl­len; und die Schup­pen und Ten­nen wa­ren mit Gras über­wach­sen. Auch im In­nern war nichts von sei­nem al­ten Glanz üb­rig­ge­blie­ben; denn als sie in den ver­öde­ten Haus­flur tra­ten und durch die of­fe­nen Tü­ren in die vie­len Zim­mer blick­ten, ge­wahr­ten sie nur ärm­lich aus­ge­stat­te­te, kal­te, öde Räu­me. Ein mod­ri­ger Ge­ruch er­füll­te die Luft, eine fros­ti­ge Un­freund­lich­keit schi­en über dem Ort zu la­gern, der an Früh­auf­ste­hen bei Ker­zen­licht und an Schmal­hans als Kü­chen­meis­ter er­in­ner­te.

Sie schrit­ten, der Geist und Scr­oo­ge, über den mod­ri­gen Haus­flur zu ei­ner Tür in der Rück­front des Hau­ses. Sie öff­ne­te sich vor ih­nen und zeig­te ih­nen einen lan­gen, kah­len, trost­lo­sen Saal, noch kah­ler und trost­lo­ser ge­macht durch die Rei­hen von ein­fa­chen höl­zer­nen Bän­ken.

Auf ei­ner der Bän­ke saß ein ein­sa­mer Kna­be ne­ben ei­nem schwa­chen Feu­er und las; und Scr­oo­ge setz­te sich auf eine Bank nie­der und wein­te, sein ei­ge­nes, ver­ges­se­nes Eben­bild, wie es in frü­he­ren Jah­ren war, wie­der­zu­se­hen.

Kein schwa­ches Echo in dem Hau­se, kein Ra­scheln der Mäu­se hin­ter der Tä­fe­lung, kein Ge­tröp­fel der halb­ge­fro­re­nen Was­ser­röh­re in dem Hofe rück­wärts, kein Seuf­zer in den blatt­lo­sen Zwei­gen ei­ner ver­las­sen trau­ern­den Pap­pel, nicht das Klap­pen der vom Win­de hin und her be­weg­ten Tür der lee­ren Vor­rats­räu­me, selbst nicht das Knis­tern des Feu­ers wa­ren für Scr­oo­ge ver­lo­ren. Al­les traf sein Herz mit rüh­ren­den Klän­gen und lös­te sei­ne Trä­nen.

Der Geist be­rühr­te sei­nen Arm und deu­te­te auf sein jün­ge­res, in ein Buch ver­tief­tes Selbst. Über­ra­schend stand auf ein­mal ein Mann in fremd­ar­ti­ger Klei­dung da, wun­der­lich und selt­sam an­zu­se­hen, mit ei­ner Axt im Gür­tel, der einen mit Holz be­la­de­nen Esel am Zau­me führ­te.2

»Wie! das ist ja Ali Baba!« rief Scr­oo­ge vol­ler Freu­de aus. »Es ist der lie­be, alte, bra­ve Ali Baba. Ja, ja, ich weiß noch. Einst zu Weih­nach­ten, als je­ner ver­las­se­ne Kna­be hier ganz al­lein saß, kam er zum ers­ten­mal, ge­ra­de wie jetzt. Der arme Jun­ge! Und Va­len­tin«, fuhr Scr­oo­ge fort, »und sein wil­der Bru­der Or­son, da ge­hen sie. Und wie hieß doch je­ner, der, wäh­rend er schlief, vor das Tor von Da­mas­kus ge­setzt wur­de? Siehst du ihn nicht! Und der Stall­meis­ter des Sul­tans, der von den Ge­ni­en auf den Kopf ge­stellt wur­de, dort ist er! Ge­schieht ihm recht! Wa­rum muß­te er auch die Prin­zes­sin hei­ra­ten!«

Scr­oo­ge mit al­lem Ernst und mit ei­ner son­der­ba­ren Stim­me zwi­schen La­chen und Wei­nen über sol­che Ge­gen­stän­de re­den zu hö­ren und sein vor Freu­de er­reg­tes Ge­sicht zu se­hen, wäre für sei­ne Ge­schäfts­freun­de in der City in der Tat eine große Über­ra­schung ge­we­sen.

»Da ist auch der Pa­pa­gei«, rief Scr­oo­ge, »mit grü­nem Leib und gel­bem Schweif, da ist er! Oben auf dem Kopf wächst wie ein Ge­mü­se­bü­schel­chen ein Et­was her­aus. ›Ro­bin­son Cru­soe!‹ rief der Pa­pa­gei ihm zu, als je­ner wie­der von sei­ner Um­se­ge­lung der In­sel nach Hau­se kam, ›Ro­bin­son Cru­soe, wo bist du ge­we­sen?‹ Er glaub­te, er träu­me; aber es war der Pa­pa­gei. Ha, dort läuft Frei­tag nach der klei­nen Landen­ge, um sein Le­ben zu ret­ten. Hal­lo, hopp, hal­lo!«

Dann sag­te er mit ei­nem schnel­len Wech­sel der Ge­füh­le, der sei­nem sons­ti­gen Cha­rak­ter sehr fremd war: »Der arme Kna­be!« und er wein­te von neu­em.

»Ich woll­te«, mur­mel­te Scr­oo­ge, die Hand in die Ta­sche ste­ckend und um sich bli­ckend, nach­dem er sich mit dem Rockaufschlag die Au­gen ge­rie­ben hat­te, »aber es ist zu spät jetzt.«

»Was willst du?« frag­te der Geist.

»Nichts«, sag­te Scr­oo­ge, »nichts. Ges­tern abend sang vor mei­ner Tür ein Kna­be ein Weih­nachts­lied. Ich wünsch­te, ich hät­te ihm et­was ge­ge­ben; das ist al­les.«

Der Geist lä­chel­te be­däch­tig, wink­te mit der Hand und sag­te dann: »Laß uns ein an­de­res Weih­nach­ten se­hen.«

Scr­oo­ges frü­he­res Selbst wuchs bei die­sen Wor­ten, und das Zim­mer wur­de et­was dunk­ler und ver­schmutz­ter. Die Tä­fe­lung warf sich, die Fens­ter­schei­ben spran­gen; Stücke Kalk­be­wurf fie­len von der De­cke und das nack­te Bret­ter­werk zeig­te sich; aber wie das al­les ge­sch­ah, wuß­te Scr­oo­ge eben­so­we­nig wie ihr. Er wuß­te nur, al­les er­fol­ge ganz ge­hö­rig, er sei es wie­der, der dort al­lein sit­ze, wäh­rend die an­de­ren Kna­ben nach Hau­se ge­reist wa­ren zur fröh­li­chen Weih­nachts­fei­er.

Er las nicht, son­dern ging in Verzweif­lung und Düs­ter­nis im Zim­mer auf und ab. Scr­oo­ge blick­te den Geist an und schau­te mit ei­nem trau­ri­gen Kopf­schüt­teln ängst­lich nach der Tür.

Sie ging auf, und ein klei­nes Mäd­chen, viel jün­ger als der Kna­be, sprang her­ein, schlang die Arme um sei­nen Na­cken, küß­te ihn und be­grüß­te ihn als ih­ren »lie­ben, lie­ben Bru­der.«

»Ich kom­me, um dich nach Hau­se zu ho­len, lie­ber Bru­der!« sag­te das Kind, fröh­lich in die Hän­de klat­schend. »Dich nach Hau­se zu ho­len, nach Hau­se!«

»Nach Hau­se, lie­be Fan­ny?« frag­te der Kna­be.

»Ge­wiß!« ant­wor­te­te die Klei­ne, in über­strö­men­der Fröh­lich­keit. »Nach Hau­se und für im­mer. Der Va­ter ist so­viel freund­li­cher als sonst, daß es bei uns wie im Him­mel zu­geht. Er sprach ei­nes Abends, als ich zu Bett ging, so freund­lich mit mir, daß ich mir den Mut nahm und ihn noch ein­mal frag­te, ob du nicht nach Hau­se kom­men dürf­test. Er sag­te ja und sen­det mich im Wa­gen her, um dich zu ho­len. Und du sollst jetzt dein eig­ner Herr sein«, sag­te das Kind, und blick­te ihn be­wun­dernd an, »und nicht mehr hier­her zu­rück­rei­sen. Aber erst sol­len wir alle zu­sam­men das Weih­nachts­fest fei­ern und die fröh­lichs­te Fei­er in der gan­zen Welt ha­ben.«

»Du bist ja eine rich­ti­ge Dame ge­wor­den, klei­ne Fan­ny!« rief der Kna­be aus.

Sie klatsch­te in die Hän­de, lach­te und ver­such­te, bis an sei­nen Kopf zu rei­chen; aber da sie zu klein war, lach­te sie wie­der und stell­te sich auf die Ze­hen, um ihn zu um­ar­men. Dann zog sie ihn in kind­li­cher Un­ge­duld nach der Tür, und er be­glei­te­te sie mit leich­tem Her­zen.

Eine schreck­li­che Stim­me in dem Haus­flur rief: »Bringt Mas­ter Scr­oo­ges Kof­fer her­un­ter!« Und in dem Haus­flur er­schi­en der Schul­leh­rer selbst, der Mas­ter Scr­oo­ge mit er­schre­cken­der Herab­las­sung mus­ter­te und ihn in große Angst ver­setz­te, als er ihm die Hand drück­te. Dann ge­lei­te­te er ihn und sei­ne Schwes­ter in das In­ne­re ei­nes un­freund­li­chen, feucht­kal­ten Sprech­zim­mers, wo die Land­kar­ten an den Wän­den und in den Fens­tern vor Käl­te glänz­ten. Hier brach­te er einen Krug merk­wür­dig leich­ten Wein und ein Stück merk­wür­dig schwe­ren Ku­chen her­bei und be­wir­te­te das Jung­volk scho­nend spar­sam mit die­sen aus­er­le­se­nen Lecker­bis­sen. Zu­gleich schick­te er eine hung­rig aus­se­hen­de Magd hin­aus, um dem Post-Boy ein Schlück­chen an­zu­bie­ten, wo­für die­ser aber mit der Be­mer­kung dank­te, wenn es von dem­sel­ben Faß wie das vo­ri­ge sei, möch­te er lie­ber nicht da­von pro­bie­ren. Wäh­rend die­ser Zeit war Mas­ter Scr­oo­ges Kof­fer auf dem Wa­gen be­fes­tigt wor­den, und die Kin­der nah­men ohne Be­dau­ern von dem Schul­meis­ter Ab­schied, setz­ten sich in die Kut­sche und fuh­ren so schnell zum Gar­ten hin­aus, daß der Reif und der Schnee von den dunklen Blät­tern des Im­mer­grüns wie Pu­der sto­ben.

»Sie war im­mer ein zar­tes We­sen, das ein Hauch hät­te ver­nich­ten kön­nen«, sag­te der Geist. »Aber sie hat­te ein lieb­rei­ches Herz.«

»Ja, das hat­te sie«, rief Scr­oo­ge. »Ich will nicht wi­der­spre­chen, Geist. Gott be­hü­te! nein.«

»Sie starb ver­hei­ra­tet«, sag­te der Geist, »und hat­te Kin­der, glau­be ich.«

»Ei­nes nur«, ant­wor­te­te Scr­oo­ge.

»Ja«, sag­te der Geist. »Dein Nef­fe.«

Scr­oo­ge schi­en un­ru­hig in sei­nem Ge­müt zu wer­den und er ant­wor­te­te kurz: »Ja«.

Ob­gleich sie die Schu­le nur einen Au­gen­blick hin­ter sich ge­las­sen hat­ten, be­fan­den sie sich doch jetzt mit­ten in den le­ben­digs­ten Stra­ßen der Stadt, wo schat­ten­haf­te Fuß­gän­ger hin und her eil­ten, wo ge­spens­ti­sche Wa­gen und Kut­schen um den Weg kämpf­ten, und wo al­les Ge­drän­ge und al­ler Lärm ei­ner wirk­li­chen Stadt war. An dem Schmuck der Lä­den er­kann­te man deut­lich, daß auch hier Weih­nach­ten sei; aber es war Abend, und die Stra­ßen­la­ter­nen wa­ren an­ge­zün­det.

Der Geist blieb vor ei­ner Ge­schäfts­tür ste­hen und frag­te Scr­oo­ge, ob er sie ken­ne.

»Ob ich sie ken­ne?« mein­te Scr­oo­ge. »Habe ich hier nicht ge­lernt?«