9,99 €
Die schönsten Geschichten zur schönsten Zeit des Jahres Die Kinder, Eltern und Großeltern kommen von einem langen Spaziergang durch den Schnee und einer wilden Schneeballschlacht zurück in die warme Stube. Nun ist es endlich so weit – eingekuschelt in eine weiche Decke, die Hände gewärmt an einer Tasse heißem Kakao, versammeln sich alle um den Kamin. Jetzt ist die Zeit für eine der schönsten Traditionen zu Weihnachten: das Vorlesen von Geschichten.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 275
Veröffentlichungsjahr: 2015
Barbara Mürmann (Hg.)
Weihnachtsgeschichten am Kamin 30
Ihr Verlagsname
Die schönsten Geschichten zur schönsten Zeit des Jahres
Die Kinder, Eltern und Großeltern kommen von einem langen Spaziergang durch den Schnee und einer wilden Schneeballschlacht zurück in die warme Stube. Nun ist es endlich so weit – eingekuschelt in eine weiche Decke, die Hände gewärmt an einer Tasse heißem Kakao, versammeln sich alle um den Kamin. Jetzt ist die Zeit für eine der schönsten Traditionen zu Weihnachten: das Vorlesen von Geschichten.
Barbara Mürmann wurde in Goslar geboren. Die Autorin lebt mit Mann und Hund in Hamburg. Dort leitet sie den Arezzo Musikverlag.
Als ich ein Kind war, ging die schöne Weihnachtszeit in meiner Familie immer pünktlich und ganz plötzlich an Silvester zu Ende. Der Weihnachtsbaum und all das von mir so geliebte «Drumherum» verschwanden, und es kehrte wieder der ganz normale Alltag bei uns ein.
So war es auch in dem Jahr, in dem mich meine Lehrerin darum bat, nach den Weihnachtsferien eine neue Klassenkameradin abzuholen, die ganz bei mir in der Nähe wohnte. Ich erschien dort etwas zu früh, und die Mutter bat mich, noch einen Moment im Wohnzimmer zu warten. Sie öffnete die Tür, und ich stand plötzlich wie verzaubert in einer Weihnachtswelt, betrachtete den geschmückten Baum und genoss die festliche und friedliche Stimmung, die das Weihnachtszimmer ausstrahlte. Damals habe ich mir geschworen, es später einmal genauso mit der Weihnachtszeit zu halten wie die Familie meiner Klassenkameradin. Und so ist es gekommen, dass Weihnachten in meiner Familie frühestens am sechsten Januar ausklingt. Gerade die ruhigere Zeit nach den teilweise turbulenten Feiertagen gibt Gelegenheit, gemütliche und stille Nachmittage und Abende miteinander zu verbringen. Sie eignet sich natürlich auch bestens, um Weihnachtsgeschichten zu lesen – oder zu schreiben.
Vielleicht haben Sie ja in diesem Jahr auch Lust dazu?
Barbara Mürmann
Birgit Kirschke-Giese
Ein ungemütlicher, stürmischer Winternachmittag im Dezember ließ die Menschen, die dennoch in der vorweihnachtlich geschmückten Fußgängerzone unterwegs waren, hastig und mit nach unten gesenkten Köpfen aneinander vorbeieilen.
Die herabfallenden Schneeflocken wirbelten wild durcheinander, sodass Annabel kaum sehen konnte, wohin sie trat. Ihr Gesicht war von der Kälte bereits gerötet, und sie fror vom Scheitel bis zur Sohle, obwohl sie den neuen Daunenmantel trug, der ihren zarten Körper fast vollständig umhüllte.
Als sie durch den knirschenden Schnee an den Geschäften vorüberstapfte, blickte sie plötzlich auf.
Etwas zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie hielt kurz inne und sah einen kleinen Jungen in einem Café sitzen, der mit leuchtenden Augen in ein aufgeschlagenes Buch schaute. Fasziniert blieb sie stehen, und alle Hektik fiel auf einmal von ihr ab. Sie spürte weder die noch immer wirbelnden Schneeflocken noch die vorbeihastenden Menschen. Durch das Fenster des Cafés beobachtete sie den kleinen Jungen, der geradezu einzutauchen schien in die Welt der Wörter und nun ganz langsam aufblickte, als spürte er, dass ihn jemand ansah.
Da es draußen bereits schummrig war, blinzelte er, als müssten sich seine Augen erst einmal an das Licht anpassen. Da erblickte er die junge Frau in dem hellen Daunenmantel, die einfach so dastand und ihn ansah. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem kleinen Lächeln, und Annabel lächelte zurück.
Sie bewegte sich wie von Zauberhand geführt auf die Eingangstür des Cafés zu. Ein zartes Glockenspiel ertönte, als sie eintrat.
Sogleich umfing Annabel eine angenehme Wärme in dem hell erleuchteten Raum der Konditorei. Geplauder, Lachen und Gesprächsfetzen drangen an ihr Ohr. Ein wunderschön geschmückter Tannenbaum zierte den Eingangsbereich. Sie sah sich suchend um, dann schritt sie auf einen der wenigen freien Tische zu, ohne den Blick von dem kleinen blonden Jungen abzuwenden, der sie seinerseits mit den Augen verfolgte. Sie entledigte sich ihres Mantels, des Schals und der Handschuhe und nahm auf einem bequemen Sessel Platz.
Neugierig schaute sie sich um und stellte mit Erstaunen fest, dass das Café aus einer anderen Epoche zu stammen schien. Gerade so, als wäre die Zeit hier einfach stehen geblieben. Das Mobiliar war zwar alt, aber nicht unansehnlich. Im Gegenteil, es strahlte eine erhabene Würde aus, so als könnte es zahlreiche Geschichten erzählen. Die antike Uhr, die an einer der Wände hing, war tatsächlich stehen geblieben. Beim Anblick des Tresens, auf dem wundervolle Torten und Gebäck angerichtet waren, bekam Annabel Lust auf eine dieser süßen Sünden. Wie aus dem Nichts erschien eine nette Dame an ihrem Tisch, die nach ihren Wünschen fragte. Annabel entschied sich für ein Stück der köstlich aussehenden Orangenlikör-Torte und ein Kännchen heiße Schokolade. Nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatte, lehnte sie sich entspannt in ihrem Sessel zurück und genoss das rege Treiben um sich herum. Immer wieder wanderte ihr Blick jedoch zu dem kleinen Jungen, der wieder völlig in sein Buch vertieft zu sein schien.
Wann hatte sie selbst zum letzten Mal so dagesessen, alles um sich herum vergessen, war einfach nur im Hier und Jetzt verweilt? Das war vor langer Zeit, musste sie sich traurig eingestehen. Zu bedrückend waren die Sorgen der vergangenen Jahre, zu groß die Existenzängste, alles allein schaffen zu müssen. Warum nur hatte Karsten sie so früh allein lassen müssen? An einem ebensolchen Wintertag vor fast genau vier Jahren. Eine vereiste Straße, ein betrunkener Autofahrer, und ihr gemeinsames Glück war von jetzt auf gleich einer Ohnmacht gewichen, die bis heute anhielt. Sie hatte das Gefühl, nur noch zu funktionieren. Nicht mehr zu leben. Alles in ihr war erstarrt, kalt wie Eis.
Und nun saß Annabel hier in diesem wunderbaren Café, genoss die zartschmelzende Konsistenz der köstlichen Torte. Die heiße Schokolade wärmte ihre Seele, und sie schaute einem kleinen Jungen beim Lesen eines Buches zu.
Eine tiefe Ruhe durchströmte sie bei diesem Anblick, fühlte sich die junge Frau doch so sehr an sich selbst erinnert. So wie sie früher einmal war. Sie liebte es, zu lesen, einzutauchen in fremde, geheimnisvolle Welten, Abenteuer zu bestehen, dem Ende der Geschichte mit allen Irrungen und Wirrungen entgegenzufiebern.
In den letzten Jahren konnte Annabel jedoch kaum ein Buch in der Hand halten, ohne dass ihr das eigene unwiderrufliche Schicksal schmerzlich bewusst wurde. Sie war stets rastlos, fand keine Ruhe. Also unterließ sie es zu lesen. Doch sie vermisste es ungemein. In ihre Gedanken vertieft, blieb ihr Blick wieder an dem kleinen Jungen hängen. Er schaute sie nachdenklich an, klappte den Buchdeckel zu und kletterte von seiner Sitzbank hinunter. Annabel schätzte den Kleinen auf acht oder neun Jahre. Wo waren seine Eltern? War er ganz alleine hier? Plötzlich stand er direkt vor Annabels Tisch, hielt sein Buch fest umklammert an den Bauch gedrückt und sah sie lächelnd an.
«Hallo», sagte er. «Wie heißt du?»
«Ich heiße Annabel. Und du?»
«Ich bin Clemens. Kommst du öfter hierher?»
«Nein, es ist das erste Mal heute. Aber es gefällt mir hier sehr gut. Und du? Bist du öfter hier?»
«Ja», antwortete Clemens. «Ich bin sehr oft hier. Meine Mutter bringt mich hierher, sie arbeitet auf der anderen Straßenseite. Da schau, siehst du den kleinen Laden da drüben? Der gehört Mama, und ich darf hier sein und lesen. Das ist meine liebste Beschäftigung. Liest du auch gerne?»
«Ja, ich lese sehr gerne. Das heißt, früher einmal …»
«Oh. Und heute nicht mehr? Warum denn nicht?»
«Ach, weißt du. Das Lesen macht mich so traurig.»
«Traurig?», fragte der Kleine. Mittlerweile hatte er sich neben Annabel an den Tisch gesetzt. «Aber du kannst doch lustige Geschichten lesen, dann wirst du nicht traurig.»
Annabel musste ein wenig schmunzeln ob dieser kindlichen Logik. «Ja», sagte sie. «Eigentlich hast du recht. Das sollte ich versuchen. Was liest du denn da für ein Buch? Darf ich es mal sehen?»
Clemens zögerte, aber dann schob er sein Büchlein zu Annabel über den Tisch. Sie blickte auf den Einband, stutzte und sah den Jungen wieder an.
Der Titel des Buches lautete: BLINDENSCHRIFT FÜR KINDER. Verständlich und einfühlsam erläutert.
«Oh», entfuhr es Annabel. Im ersten Moment wusste sie nicht, was sie sagen sollte.
Clemens spürte offenbar ihre Unsicherheit, darum erklärte er diese für ein Kind doch eher ungewöhnliche Lektüre: «Weißt du, ich lese dieses Buch, damit ich später einmal weiterlesen kann. Wenn ich nichts mehr sehen kann. In ein paar Jahren wird die Krankheit meine Augen blind machen. Und deshalb muss ich jetzt schon ganz viel üben.»
Annabels Unterlippe zitterte. Sie konnte ihre Tränen kaum zurückhalten, und aus einem Impuls heraus zog sie den Kleinen ganz fest an sich.
Clemens ließ es geschehen und schmiegte sich an die Unbekannte.
«Aber das ist ja ganz furchtbar», schniefte Annabel. «Es tut mir so leid für dich. Was ist denn das für eine schlimme Krankheit?»
«Es ist etwas Rheumatisches, sagt Mama. So genau weiß ich es nicht. Aber der Herr Doktor sagt, ich muss tapfer sein, denn meine Augen werden immer weniger sehen können. Daher möchte ich so viel wie möglich lernen und sehen, damit ich alles in guter Erinnerung behalte, wenn es dunkel wird.»
Annabel straffte ihre Schultern, wischte sich energisch über die tränennassen Augen und erwiderte: «Recht hast du! Du bist ein mutiger kleiner Kerl. Ich bewundere dich.» Sanft fuhr sie ihm durch das strubbelige blonde Haar. «Weißt du, du hast mir gerade die Augen geöffnet.»
«Ja, wirklich? Aber warum denn?», fragte Clemens verwundert.
«Ich war lange Zeit gefangen in meiner Traurigkeit. Du hast mir neuen Mut gegeben. Ich danke dir.»
«Aber ich habe doch gar nichts getan», erwiderte Clemens unschuldig.
«Doch, du hast eine Menge getan, mein Kleiner. Aber nun zeig mir doch mal, was du schon alles gelernt hast. Übst du schon die Blindenschrift?»
«Ja, das mach ich. Hier in dem Buch sind ein paar Übungen drin. Warte, ich zeige es dir.» Clemens schloss seine Augen und fuhr sachte mit den Fingern über die erhabene Brailleschrift. Langsam und noch etwas stockend formte er einzelne Wörter mit den Lippen.
Eine tiefe Dankbarkeit durchströmte Annabel. Ein Gefühl, als sei der eiserne Ring, den sie jahrelang um ihr Herz getragen hatte, entzweigebrochen. Sie atmete tief durch und lauschte andächtig den Worten des kleinen Jungen.
Als Annabel auf ihre Armbanduhr schaute, bemerkte sie, dass bereits zwei Stunden vergangen waren. Aber ihr war, als sei die Zeit stehengeblieben, hier in diesem wunderbaren Café, mit diesem kleinen blonden Jungen namens Clemens.
Martina Tischlinger
Zufrieden lege ich Zimtstern für Zimtstern auf den Teller, als eine kleine Kostprobe. Die unförmigen und die mit verlaufener Glasur kommen als Ausschussware in eine spezielle Blechdose. Obwohl meine Lieben auf solche Kleinigkeiten nicht achten, sie futtern unbesehen auch die Weihnachtskekse mit Makel.
Ein wunderbarer Zimtduft zieht durchs Haus. Ich stelle das Räuchermännchen aus dem Erzgebirge und die kleinen Holzengel mit den Trommeln auf das Fensterbrett. Im Advent werde ich wieder zum Kind. Mein Blick fällt auf den verschneiten Garten, in dem mein Sohn gerade einen Schneemann baut. Moment, Sebastian baut ja gar keinen Schneemann, er steht mit einem Jungen zusammen, der bestimmt fünf Jahre älter ist als er. Er wird doch nicht heimlich rauchen?
Aber als Sebastian wieder ins Haus kommt, verliere ich kein Wort darüber. Unbemerkt durchsuche ich später seine Taschen und rieche an seinem Anorak. Nur Schneeluft.
Die Weihnachtsbäckerei ist für mich der ungeschlagen wichtigste Bestandteil der Vorweihnachtszeit. Anstrengend und zeitraubend zwar, aber höchst erfüllend. Mit hochgekrempelten Ärmeln bereite ich den Teig für das Buttergebäck zu, der über Nacht ruhen muss, und bringe danach auf einer schwankenden Leiter eine Lichterkette an der Vorhangleiste an. Ich sollte wirklich öfter aus dem Fenster schauen, denn da huschen gerade meine zwei Mädchen mit Einkaufstüten hinters Haus.
«Na?», frage ich sie, als sie tuschelnd in die Küche kommen. «Was macht ihr denn Schönes?»
Susanne schießt sofort heraus: «Nichts!» Und Annas Wangen färben sich rot.
Da stimmt doch was nicht. Sonst können sie keinen Wimpernschlag lang ein Geheimnis für sich behalten, und jetzt flunkern sie mich an? Später inspiziere ich ihr Kinderzimmer. Keine Spuren von Kleber, nicht am Fußboden, nicht auf ihren T-Shirts. Keine Papierschnipsel und Wollreste. Ein Weihnachtsgeschenk für mich – wie diese «geliebt gefürchteten» Glasuntersetzer aus Filz und die unförmigen Salzteig-Schälchen – kann es also nicht sein, was sie vor mir verbergen.
O Tannenbaum summend steche ich am nächsten Tag das Buttergebäck aus. Halbmonde, Herzen und Pferdchen. Ich stelle saftige Tannenzweige in eine Vase und verteile sie überall auf den Fensterbrettern. Die Kinder machen Schularbeiten. Was für ein gemütlicher Nachmittag. Dann horche ich auf. Susanne werkelt in der Diele. Leise zieht sie die Stiefel und ihre Jacke an und verlässt das Haus. Ohne zu mir in die Küche zu schauen? Ich gehe zum Fenster und stelle kleine Elche zu den Zweigen und den trommelnden Holzengeln. Da sehe ich Sebastian, der den Kopf wieder mit diesem Burschen zusammensteckt. Ich kneife die Augen zusammen und gehe näher an die Fensterscheibe. Was hat er nur immer mit dem Sohn des Holzhändlers zu bequatschen? Sie werden doch wohl nicht zündeln?
Das seltsame Verhalten meiner Familie mehrt sich. Abends, als ich einen Knopf annähen will, vermisse ich mein Nähkästchen. Es steht seit Jahr und Tag an ein und demselben Ort. Und glauben Sie mir, niemand außer mir hat es je benutzt. Doch als ich die Kinder danach frage, bekommen alle rote Ohren, und mein Mann versucht mich abzulenken: «Deine Zimtsterne sind absolut lecker, mein Schatz!»
Unterdessen drängeln sich zu den Elchen und den Engeln auch noch sämtliche Weihnachtsmänner, gerade noch so, dass sie nicht vom Fensterbrett purzeln. Mein Mann kommt von der Arbeit nach Hause, guckt sich wie ein Dieb um und geht zum Zaun des Nachbargrundstücks. Prompt kommt Liselotte Huber angelaufen. Seit wann haben die beiden etwas zu plaudern?
Wieder stelle ich einen Teller mit Plätzchen auf den Tisch. Den Buttergebäck-Pferden fehlen die Schwänze, die Mondsicheln sind als solche nicht erkennbar und die Herzen kommen gleich in die Ausschuss-Dose. Irgendwie bin ich heute nicht bei der Sache.
«Was erzählt die Liselotte denn?», frage ich meinen Mann, als er es sich auf dem Sofa bequem macht.
«Wer? Die Liselotte, wieso?», antwortet er scheinheilig. «Du, dein Buttergebäck ist wie immer ein Genuss.»
Am Samstagmorgen gebe ich vor, einkaufen zu gehen. Doch heimlich kehre ich nach ein paar Schritten wieder um und lege mich auf die Lauer. Es dauert nicht lange. Ich kann es nicht fassen! Liselotte betritt unser Haus. Mein Mann betrügt mich mit der Nachbarin!
Aber doch nicht, während die Kinder im Garten nun endlich den Schneemann bauen? Ich gehe am Zaun entlang. Außer dem schwarzen Zylinder und der Karotte, die im Schnee liegen, ist die Fläche unter dem kahlen Apfelbaum verwaist. Hat mein Mann die Kinder etwa fortgeschickt? Ins Kino oder zum Eisessen? Was untreuen Ehemännern so einfällt! Doch da marschieren sie plötzlich alle einträchtig, einen sperrigen, in Tücher gehüllten Gegenstand tragend, aus unserem Keller zur Hintertür hinaus. Wir haben doch wohl keine Leiche im Keller? Das wird ja immer bunter!
Was für ein Glück, dass schon in drei Tagen Weihnachten ist. Denn glauben Sie mir, vor lauter Sorge produziere ich nur noch Weihnachtsgebäck-Ausschuss. Ich habe sämtliche Fenstersimse im Haus mit Figürchen, Kerzenhaltern und sogar mit den Krippenfiguren und Osterlämmchen bestückt, nur um immer wieder aus dem Fenster schauen zu können, so neugierig und misstrauisch bin ich unterdessen geworden.
Den Weihnachtsbaum schmückt traditionell mein Mann, und als bei der Bescherung das Glöckchen bimmelt und mein Blick unter den vor Lichtern strahlenden Baum fällt, werde ich vor Scham verlegen. Hübsch verpackt mit Schleife entdecke ich «unsere Leiche aus dem Keller».
Daran baumelt ein Geschenkanhänger: Für unsere liebe Mami!
Meine Süßen haben mir ein neues Nähkästchen gebaut! Oder sagen wir beinahe. Sie haben zwar mein altes als Vorbild genommen, meinem Weihnachtsgeschenk jedoch fehlen die kleinen Schubladen, in denen die Garnrollen und Knöpfe aufbewahrt werden können. Die Kinder wollen sie (irgendwann) noch nachliefern, wenn denn der Papa wieder Zeit hat. Das Kästchen hat auch keine Füßchen zum Aufstellen, aber das ist nicht relevant, insgesamt ist es so windschief, dass es auch mit Füßen nicht stabiler geworden wäre. Dafür ist es den Heimwerkern aber etwas zu groß geraten. Ich könnte darin die Nähmaschine und einen Stoffballen verstauen. Erschöpft erklären meine Kinder, dass sie unter meiner dauernden Bespitzelung und den Heimlichkeiten in Zeitdruck geraten seien. Sonst hätte es mit dem perfekten Weihnachtsgeschenk garantiert pünktlich bis Weihnachten geklappt.
Für mich könnte es kein perfekteres Nähkästchen geben. Meine peinlichen Hirngespinste werden meine Kinder allerdings niemals erfahren. Ich bin wirklich zu töricht gewesen. Und unter uns: Noch nie hatten wir so voll dekorierte Fenster an Weihnachten.
Liselotte, die das Nähkästchen bei sich versteckt hatte, habe ich übrigens einen Teller mit Zimtsternen und Butterplätzchen gebracht. Und zwar nicht die aus der Ausschusswaren-Dose!
Ingo Paulussen
«Ach, lass mich doch mit deinen Märchen zufrieden, du glaubst doch selbst nicht daran, und das, obwohl du Pfarrer bist! Ich habe dir diese Krippe gebaut, weil du sie so haben wolltest und ich mir damit einen Teil meines Lebensunterhalts verdienen kann. Ich habe nun mal das Talent, mich in die Träume anderer hineinzuversetzen und solche Dinge zu formen. Mehr steckt von meiner Seite nicht in diesem Werk.»
Werner Beil betrachtete die harmonische Anordnung der liebevoll geschnitzten und bemalten Holzfiguren. Eine so perfekte Krippe hatte er noch nie zu Gesicht bekommen. Alles schien zu leben. Die Augen der etwa zwanzig Zentimeter großen Marienfigur sahen mit geradezu magischem Blick den drei Weisen entgegen, die mit ihrer Karawane aus Eseln und Kamelen vor dem offenen Stall standen.
Die Augen des in der Futterkrippe liegenden Kindes erweckten den Eindruck, ihn sogar durch die geschlossenen Lider hindurch sehr eindringlich anzusehen! Die Josephfigur beugte sich mit einer Mischung aus Stolz und Sorge über das Christuskind, einen Esel zurückhaltend, den das Stroh in der Krippe zu interessieren schien.
Eukalyptusbäume und orientalisch aussehende Büsche zierten die Platte, auf der Karl Landauer die Figuren angeordnet hatte. Die vorderen Ränder hatte er mit flachen Felsvorsprüngen versehen. Im gemalten Landschaftshintergrund waren die Schatten von Hügeln zu sehen, über denen ein nachtblauer Sternenhimmel von mediterraner Pracht leuchtete. Jedes Detail passte in das Bild einer Szene, die sich vor zweitausend Jahren so abgespielt hatte. Die sich so abgespielt haben soll, berichtigte er sich in Gedanken.
Landauer hatte recht. Werner Beil war der Pfarrer und evangelische Seelsorger der Gemeinde und sollte an der Weihnachtsgeschichte nun wirklich nicht zweifeln. Aber dass er Theologie studiert hatte, hatte eher am niedrigen Numerus clausus als an seinem Glauben gelegen. Obwohl er sich seiner Aufgabe mit allem gebotenen Respekt vor der Religion seiner Gemeindemitglieder widmete, war sein Glaube während der letzten Jahre nicht um einen Deut gewachsen. Er übte lediglich seinen erlernten Beruf aus, wenn auch mit Interesse an der Sache.
Ein behaglicher Beruf, denn er brachte die Annehmlichkeit mit sich, von jedem geachtet und in Glaubens- oder Herzensfragen als kompetenter Ansprechpartner zu Rate gezogen zu werden. Auch der Lebensstandard, der mit diesem Beruf einherging, ließ keine Wünsche übrig. Zudem stand er als Pfarrer stets mitten im Geschehen und wurde überall mit Respekt empfangen. Sogar bei den Ungläubigen. Auch machte so manche Dame keinen Hehl daraus, in ihm den Mann zu sehen, dem sie gerne ihre Zuneigung schenken würde.
Sein Blick wanderte über den wie echt aussehenden Sternenhimmel, an dem jedoch ein prägnantes Detail zu fehlen schien: «Das hast du ja alles wahnsinnig toll hinbekommen, aber wo ist der Weihnachtsstern?», fragte er irritiert.
Landauer nahm eine elektronische Fernbedienung zur Hand, und kurz darauf flammte ein kometenartiges Objekt zwischen den Sternen auf, dessen Helligkeit die kleine Landschaft dezent und geheimnisvoll beleuchtete, während es im Inneren des Stalls zu glühen begann.
Besonders intensiv wurde das geschnitzte Stroh beleuchtet, das über dem Kopf des Jesuskindes in der Krippe lag und wie ein Heiligenschein wirkte.
«Ein Meisterwerk!», lobte er Landauer. «Wie bekommt jemand, der von sich behauptet, ein reiner Kopfmensch zu sein, eine solche Harmonie zustande? Es muss doch ein inniges Gefühl dahinterstehen, jede Figur mit einer solchen Liebe zum Detail auszugestalten. Jedes der Gesichter hat Charakter, jede Geste ist wie aus dem Leben gegriffen, und die Landschaft, auch der Stall, wirken wie fotografiert.»
«Das ist nun mal mein erlernter Beruf», brummte Landauer. «Du bringst deinen Glaubensschmus ja auch ganz überzeugend unter die Leute, obwohl du, wie ich hörte, in der Realität nichts anderes als ein Manager der Glaubensindustrie bist. Gelernt ist nun mal gelernt, auch wenn man nicht wirklich hinter dem steht, was man macht, nicht wahr? Und jetzt lass mich in Ruhe, denn für den katholischen Pfaffen habe ich auch noch was anzufertigen. Sobald du weißt, wo das Zeug in deiner Kirche aufgestellt werden soll, gib mir Bescheid. Die Rechnung liegt übrigens am Eingang auf der Werkbank.»
Beil nickte etwas zerknirscht, wandte sich um und nahm im Vorbeigehen den Briefumschlag mit. Ein seltsamer Kauz, dieser Landauer. Wer so viel Hingabe in seine Arbeit steckte, der konnte doch nicht völlig gefühllos sein, zumal sein Werk äußerst glaubhaft etwas in Szene setzte, das bei vielen Menschen in der Weihnachtszeit tiefe Gefühle hervorrufen würde.
Er tastete im Halbdunkel nach dem Griff der Werkstatttür, um dann unerwartet von hellem Licht geblendet zu werden, in dem sich undeutliche Schatten auf und ab bewegten. Blinzelnd wischte er sich mit seiner Hand über die geblendeten Augen.
Es dauerte eine Weile, bis Werner Beil klare Konturen wahrnehmen konnte, die ihn in die Realität zurückbrachten. Noch ganz von seinem Traum eingenommen, schlug er die Bettdecke zurück, richtete sich auf und ließ seinen Blick über die schneebedeckte Landschaft wandern. In diesem Jahr hatte es schon sehr früh geschneit, der elektronische Kalender zeigte den zweiundzwanzigsten November an. Die Morgensonne blendete ihn durch den kahlen Kirschbaum vor seinem Fenster, dessen dünne Zweige sich im Wind bewegten. Eigentlich ein wunderbarer Anblick, aber gegen die Krippe aus seinem Traum wirkte alles irgendwie fade.
Er dachte an den Landauer in seinem Traum. Er kannte wirklich niemanden, der so hieß, zumindest konnte er sich an niemanden mit diesem Namen erinnern. Ein derart grantiger Kunsthandwerker war ihm ebenfalls noch nicht begegnet. Was waren seine Worte gewesen? «Glaubensschmus», und er hielte Werner für einen «Manager der Glaubensindustrie».
Was brachte einen Pfarrer dazu, eine derart kritische Aussage über seinen Berufsstand zu träumen? Gab er sich nicht genügend Mühe, der Gemeinde den Sinn der Bibelworte zu vermitteln? Tat er nicht alles, um Ratsuchenden zur Seite zu stehen?
Waren Träume wirklich die Verarbeitung unbewusster Gedanken? «Glaubensindustrie» … Was wollte sein Unterbewusstsein ihm damit sagen?
Na ja, zumindest in Ansätzen handelte es sich bei der Organisation seiner Kirche um einen Wirtschaftsbetrieb, gestand er sich nachdenklich ein. Auch hier gab es schließlich eine hochgebildete Führungsebene, ausgestattet mit viel Macht, die unter anderem auch den Wert ihrer Arbeit in weltlicher Währung festlegte. Dann gab es das mittlere Management, zu dem er gehörte und dessen Mitglieder sich ebenfalls eines relativ sorglosen Lebens erfreuen durften. Dann kamen deren Angestellte und am unteren Ende der Leiter die Arbeiter, denen ein recht kärgliches Einkommen und wenig irdische Sicherheit zugebilligt wurde. Seine Haushälterin zum Beispiel hatte einiges auszuhalten. Auf der anderen Seite standen die Endverbraucher, die Gläubigen, die das Angebot der Kirche konsumierten und mit dem Geld bezahlten, das sie in anderen Berufszweigen erwirtschafteten. Was bekamen sie dafür?
Seine Gedanken schweiften in die Vergangenheit ab, in die Zeit, in der Jesus mit seinen Jüngern im Vorderen Orient tätig war. Damals hatte jeder einen eigenständigen Beruf und diente Gott daneben als freiwilliges Sprachrohr. Ohne Bezahlung. «Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben», so stand es in der Bibel. Sie strebten nicht danach, Ikonen zu sein, Anerkennung zu finden und sich vom Volk abzuheben. Dessen war sich gewiss jeder bewusst, der heute ein Kirchenamt anstrebte, und doch hielt man sich nicht an diesen Grundsatz. Würde ein wahrer Gläubiger wirklich Gottes Wort für seinen Ehrgeiz und seinen Wohlstand missbrauchen?
Und was sagte Jesus zu seinen Jüngern, als sie fragten, was sie den Menschen sagen sollten? «Sorget nicht darum, was ihr sagen sollt, der himmlische Vater wird durch euch sprechen.» Demnach war es fast widersinnig, die Bibel zu studieren, denn die Worte Gottes mussten ja auch in die Zeit und zu den Anlässen passen, zu denen sie ausgesprochen wurden.
Das Klopfen seiner Haushälterin riss ihn aus seinen Gedanken. Sie brachte ihm das Frühstück und die Zeitung ans Bett, hängte seinen sorgfältig gereinigten Anzug an die Badezimmertür, holte ein passendes Hemd aus dem Schrank und legte neue Leibwäsche ins Bad. Zum ersten Mal nahm er dies alles wirklich wahr, und er sah sie mit anderen Augen als sonst. Sie diente ihm mit dem festen Glauben, damit auch Gott zu dienen. Womit aber diente er selbst Gott und den Menschen?
Als Werner Beil am Heiligen Abend auf seine Empore stieg, hatte er Wochen damit verbracht, seine für heute bestimmte Predigt zu perfektionieren und sie immer wieder umgeschrieben, denn was gestern noch überzeugend klang, bekam schon am nächsten Morgen einen faden Beigeschmack. Zu sehr bedrückte ihn der Gedanke, seinen Schäfchen eine falsche Botschaft zu vermitteln, zu sehr warnten ihn die in der letzten Zeit gelesenen Bibelworte davor, seine eigenen, ehrgeizigen Gedanken als Worte Gottes zu verkündigen.
Eine Weile ließ er unsicher seinen Blick über die Gemeinde schweifen, bis er jemanden in der letzten Bank erkannte, dem er hier noch nie begegnet war. Er hätte schwören können, sein Gesicht schon einmal gesehen zu haben. Werner Beils Augenmerk richtete sich einen Moment lang auf die vor dem Altar aufgebaute Krippe, die zwar liebevoll hergerichtet war, aber sicherlich nicht annähernd die Perfektion der Krippe aus seinem Traum aufwies. Der Mann auf der hinteren Bank jedoch sah dem Kunsthandwerker aus seinem Traum mehr als ähnlich, und er blickte den Pfarrer mit einer Mischung aus Herausforderung und Erwartung an.
Wie von selbst hoben Beils Hände die Blätter mit seiner wohlüberlegten Predigt in die Höhe und rissen sie in kleine Fetzen, bevor er sagte: «Heute ist der Heilige Abend, an dem wir der Geburt unseres Erlösers gedenken wollen, und ich habe das Gefühl, dass meine eigenen Worte dazu nicht die richtigen sind. Also lasse ich unseren Erlöser lieber selbst reden.»
Nach einem flehenden Blick in den Giebel des Kirchenschiffs schien sich sein Mund zu verselbständigen, denn er sprach Worte aus, die zum ersten Mal auch ihn selbst erreichten.
Christine Zickmann
Das Konzert war zu Ende. Marga war wie verzaubert. Die russischen Weisen schwangen noch in ihrer Seele nach, wehmütig, überschäumend und dann wieder unendlich traurig. Es gab stürmischen Beifall für den A-cappella-Chor aus Sankt Petersburg, der das Publikum in der Kirche von Ramelsloh verzaubert hatte.
Marga sah die fünf Sänger an, sah ihre tiefen Verbeugungen, die schwarzen Anzüge mit viel zu weiten Hosenbeinen und knautschigen Sakkos, die weißen Hemden, sah rote Fliegen und schwarze Krawatten. Der Reichtum dieser Menschen lag in ihren Kehlen, nicht im tadellosen Äußeren. Und dann blickte Marga auf zwei braune Schuhe. Ja, wirklich, einer der Sänger trat verlegen von einem braun beschuhten Fuß auf den anderen.
Marga vergaß, dass sie klatschen wollte. Wieder und wieder glitt ihr Blick über das junge, offene Gesicht, wanderte am schwarzen, schlotternden Anzug hinunter und blieb an den braunen Schuhen haften. Jeans und Turnschuhe hätten sie weniger überrascht als dieser Auftritt. Ein schwarzer Anzug mit braunen Halbschuhen? Nein, das passte nicht in ihr Weltbild!
Am nächsten Morgen fuhr Marga nach Lüneburg, wo der Chor die nächsten beiden Abende gastierte. Der Geschäftsführer des Schuhhauses Lehmann begrüßte sie wie eine alte Bekannte. Natürlich könne sie einen Gutschein erwerben. Gerade jetzt in der Weihnachtszeit. Und selbstverständlich werde er den Kunden persönlich bedienen, wenn sie dies wünsche. Ein junger Russe? Ja, er freue sich auf ihn.
Am Abend stand Marga schon früh vor der Johanniskirche und erwartete die Sängergruppe. Sie wusste, dass dem russischen Chor ein deutscher Betreuer zur Seite stand. Ihm übergab sie den Umschlag, den sie sorgsam in ihrer Handtasche verwahrt hatte. Zuvor schrieb sie noch ein wenig aufgeregt den Namen des Empfängers darauf, den sie soeben nach Darlegung ihres Planes bereitwillig von dem deutschen Betreuer erfahren hatte. Dann schenkte Marga dem Mann ein verschwörerisches Lächeln und enteilte in die Nacht.
Es war ein Freitagabend, und die Stadt war fast menschenleer. Am Sonntag würden die Russen ihre Gastspielreise in nördliche Richtung fortsetzen. Viel Zeit blieb Sergej Alexander für seinen Einkauf also nicht.
Am Montag hielt Marga es nicht länger aus. Das Schuhhaus Lehmann war noch leer am frühen Vormittag. Der Geschäftsinhaber selbst stand hinter der Kasse.
Welch ein sympathischer Junge dies doch gewesen sei, begrüßte er Marga mit einem Lächeln. Marga strahlte. Dann würde er wohl schon morgen mit schwarzglänzenden Schuhen auf dem Podium stehen.
Schwarz? Herr Lehmann blickte über den Rand seiner Brille. Nein, rot sei der Schuh gewesen. Ein eleganter roter Damenschuh. Bestes Leder. Der Junge habe Geschmack. Und sein Gesicht hätte Marga sehen sollen. Wie hundert Christbäume habe es gestrahlt. Diese Freude, dieser unbändige Stolz. Ein schönes Weihnachtsfest würde es geben in diesem Jahr in Sankt Petersburg.
Lieselotte Benedict
Das Weihnachtsgefühl begann schon Ende November. Am rot gefärbten Abendhimmel konnte man erkennen, dass das Christkind Plätzchen backte. Nun konnte es natürlich nicht alle Plätzchen, die an Weihnachten gebraucht wurden, alleine backen, und so halfen alle Mütter und Großmütter mit. Wenn die frühe Dunkelheit hereinbrach, die Familie zu Abend gegessen hatte und das Geschirr gespült war, wurden die Backzutaten auf dem großen Küchentisch bereitgestellt.
Meist wurde mit Anisplätzchen begonnen, denn die mussten eine gewisse Zeit ruhen, damit sie sich beim Backen «scherzten». Das bedeutet, dass sich die Oberseite der Plätzchen wie eine Art weißes Hütchen anheben muss. Bis man wusste, ob es gelingen würde, war die Spannung fast unerträglich.
Wir waren fortschrittlich und hatten schon einen Gasbackofen mit einer offenen Flamme auf jeder Seite. Damit konnte man eher mit dem Gelingen des Backwerks rechnen als mit dem Kohleherd meiner Großmutter. Aber mir schmeckten die Anisplätzchen immer, ob mit oder ohne Hütchen. Welche Sorte auch immer ihren Backduft verströmte, jede war einfach wundervoll.
Meine größte Aufmerksamkeit bekamen die «Müsterchen». Die durfte ich, nachdem ich mir gründlichst die Hände gewaschen hatte, mit ausstechen. Es waren immer die gleichen Förmchen, die auch das Christkind verwendete. Das wusste ich, weil das Christkind manchmal Plätzchen verlor, die ich dann sofort und noch vor den Festtagen essen durfte.
Es war die erwartungsvollste Zeit des Jahres. Ich versuchte immer wieder durch Fragen herauszubekommen, ob ich mir Hoffnung auf ein bestimmtes Geschenk machen konnte. Meine Mutter tat geheimnisvoll. Es sei etwas, das vor Weihnachten in unsere Familie käme und sicher sehr zum Gelingen des Festes beitragen würde.
Meiner Phantasie waren keine Grenzen gesetzt. Sollte ich vielleicht doch den Hund bekommen, den ich mir schon lange innigst wünschte? Als meine Mutter merkte, in was ich mich da hineinsteigerte, hielt sie es für besser, mir so gut gelaunt wie möglich zu erklären, dass wir über die Weihnachtsferien Besuch von einem französischen Studenten bekämen, der Deutsch lernen wolle und dessen Eltern Bekannte meiner Eltern waren. Das war eine herbe Enttäuschung. Da wäre mir ja selbst der kleinste Kanarienvogel lieber gewesen.
Doch Henri, von uns Hännrie genannt, erwies sich als gar nicht so übel. Er lächelte mit seinen dunklen Augen auf mich herunter, und er roch gut. Er wurde in unser Gästezimmer einquartiert, und die sonst immer offene Tür war fortan geschlossen. Einmal übernahm er sogar die Onkelrolle in einem Spiel mit meiner Freundin und unseren Puppen. Seitdem waren wir trotz der Verständigungsschwierigkeiten hellauf begeistert von ihm, und er wurde zum Objekt unserer Neugier. Aber wir wussten, dass wir in seinem Zimmer nichts zu suchen hatten.
An einem der Adventssonntage luden meine Eltern die Nachbarn zum Kaffee ein. Der Tisch wurde festlich gedeckt, und eine runde Kuchenplatte mit sorgsam dekoriertem Gebäck wurde daraufgestellt. Natürlich war dies nur ein Teil des Weihnachtsgebäcks, und man konnte und durfte sich auch nicht daran satt essen. Dazu gab es noch einen Gugelhupf, von dem jeder ein Stück zu essen hatte. Deswegen wurde er auch heimlich «Stopfer» genannt.
Zu den Nachbarn gehörte auch meine Freundin. Wie die Großen saßen wir am Tisch und verzehrten unseren Kuchen. Danach wurde es uninteressant für uns. Denn jeder schien einige Wörter Französisch zu kennen, die er nun anbrachte, um sich mit Henri zu verständigen. Dabei sollte Henri doch Deutsch lernen.