Weihnachtsgeschichten am Kamin 32 -  - E-Book

Weihnachtsgeschichten am Kamin 32 E-Book

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Beschreibung

Schneeflocken, Lichterglanz – und eine besinnliche Weihnachtsgeschichte Sanft legt sich der Schnee auf Äste und Zweige, er lässt die Spuren von Schlitten und Kinderfüßen unter einer weißen Decke verschwinden. Im Sternenschein vor dem Fenster macht es sich eine Spatzenfamilie im Vogelhäuschen gemütlich. Drinnen duftet es nach Tee, nach Zimt und Anis. Am Weihnachtsbaum leuchten die Kerzen. Die Großen und die Kleinen rücken eng aneinander und freuen sich, wieder beisammen zu sein. Nun ist endlich Zeit für eine Weihnachtsgeschichte!

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Seitenzahl: 253

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Barbara Mürmann (Hg.)

Weihnachtsgeschichten am Kamin 32

 

Barbara Mürmann (Hg.)

 

 

Über dieses Buch

Schneeflocken, Lichterglanz – und eine besinnliche Weihnachtsgeschichte

 

Sanft legt sich der Schnee auf Äste und Zweige, er lässt die Spuren von Schlitten und Kinderfüßen unter einer weißen Decke verschwinden. Im Sternenschein vor dem Fenster macht es sich eine Spatzenfamilie im Vogelhäuschen gemütlich. Drinnen duftet es nach Tee, nach Zimt und Anis. Am Weihnachtsbaum leuchten die Kerzen. Die Großen und die Kleinen rücken eng aneinander und freuen sich, wieder beisammen zu sein. Nun ist endlich Zeit für eine Weihnachtsgeschichte!

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, November 2017

Copyright © 2017 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Redaktion Stefanie Röders

Umschlaggestaltung any.way, Walter Hellmann

Umschlagabbildung Akindo/iStock.com

ISBN 978-3-644-40210-2

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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Dieses eBook entspricht den Vorgaben des W3C-Standards EPUB Accessibility 1.1 (neueste Version des Barrierefreiheitsstandards für EPUB) und den darin enthaltenen Regeln von WCAG, Level AA (hohes Niveau an Barrierefreiheit). Die Publikation ist durch Features wie Table of Contents (Inhaltsverzeichnis), Navigationspunkte und semantische Content-Struktur zugänglich aufgebaut.

 

 

www.rowohlt.de

Vorwort

Beim Lesen Ihrer Weihnachtsgeschichten erinnere ich mich manchmal an eigene Erlebnisse. So auch in diesem Jahr, weil in einigen Geschichten Weihnachtsgedichte eine Rolle spielen.

Als Kind hielt sich meine Begeisterung über die weihnachtlichen Pflichtauftritte mit dem Aufsagen von Gedichten vor der Bescherung stark in Grenzen. Aber meine Großmutter verfügte über einen schier unerschöpflichen Vorrat an Weihnachtsgedichten, von denen ich jedes Jahr eines auswendig lernen musste. Im Gegensatz zu mir konnte meine Großmutter sämtliche Verse der Gedichte fehlerfrei vortragen, obwohl sie immer außergewöhnlich lang waren. Erst Jahre später ist mir aufgefallen, dass sie stets mehrere Verse hinzugedichtet hatte.

Vielleicht erinnern auch Sie sich beim Lesen dieses Buches an eigene Erlebnisse oder haben eine Idee für einen der nächsten Bände der Weihnachtsgeschichten am Kamin. Schicken Sie mir Ihre Geschichten zu – ich freue mich darauf.

 

Barbara Mürmann

Das erste Lied

Marlies Kalbhenn

Von der katholischen Kirche mit den zwei großen Türmen hatte es gerade sechs geschlagen. Ich war seit einer Stunde oder länger hellwach. Das war ungewöhnlich, da ich mich sonst weder vom Wecker noch von den Kirchenglocken aus meinen Kinderträumen reißen ließ. Aber an diesem Morgen war alles anders. Ich hatte unruhig geschlafen und war immer wieder aufgewacht – aus Angst, das erste Lied zu verpassen, mit dem für mich die schönste und geheimnisvollste Zeit des Jahres begann: die Advents- oder Vorweihnachtszeit.

Zwar rauchten in der Bäckerei nebenan schon die Stutenkerle ihre weißen Tonpfeifchen, zwar schaukelten in den Straßen unserer kleinen ostwestfälischen Stadt seit ein paar Tagen schon die Girlanden aus Tannengrün im Wind, zwar duftete es in der Wohnung schon nach Mamas Honigkuchen; doch für mich begann die Advents- und Vorweihnachtszeit genau in dieser Stunde zwischen Traum und Tag mit den Tönen des ersten Liedes.

Um das Warten abzukürzen und um nichts, aber auch gar nichts zu verpassen, stand ich auf und ging auf Zehenspitzen – schließlich wollte ich meine kleinen Geschwister nicht wecken – zum Fenster. Obwohl es im ofenlosen Kinderzimmer ziemlich kalt war, öffnete ich die Fensterflügel sperrangelweit. Auf dem rechten Fuß stehend, steckte ich den linken unter das Nachthemd, um ihn zu wärmen, und wechselte dann immer, linker Fuß, rechter Fuß, linker Fuß – bis ich es endlich hörte. Ganz zart, ganz leise noch, aber schon deutlich zu erkennen:

«Macht hoch die Tür, die Tor macht weit,

es kommt der Herr der Herrlichkeit,

ein König aller Königreich,

ein Heiland aller Welt zugleich,

der Heil und Leben mit sich bringt;

derhalben jauchzt, mit Freuden singt:

Gelobet sei mein Gott,

mein Schöpfer reich von Rat.»

Da stand ich, eine Zehnjährige, die statt Tür und Tor das Fenster weit gemacht hatte, und wollte am liebsten mitjauchzen oder wenigstens «mit Freuden» mitsingen. Warum tat ich es nicht? Der schlafenden Geschwister wegen? Vielleicht. Aber dann konnte ich meine Freude nicht länger für mich behalten und weckte nun doch die fünf Jahre jüngere Schwester, indem ich sie heftig an ihrer Schulter rüttelte.

«Was ist?», murmelte Elisabeth.

«Ich kann sie schon hören!»

«Wen?»

«Die Adventssänger. Sie kommen immer näher. Bald sind sie vor unserem Haus.»

Sofort war auch Elisabeth hellwach und rutschte nach einem Blick auf mich, ihre fröstelnde Schwester, bereitwillig an die Wand: «Wenn du dich wärmen willst – meinetwegen.»

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und schlüpfte unter die hochgehaltene Bettdecke.

Gemeinsam lauschten wir jetzt dem lauter werdenden Gesang der jungen Männer, die durch die Straßen der erwachenden Stadt gingen und in die Stille des ersten Adventsmorgens die von mir ungeduldig erwarteten Lieder sangen.

Während unser kleiner Bruder Andreas in seinem Gitterbettchen neben der Tür fest schlief, lagen Elisabeth und ich schweigend nebeneinander und lauschten.

So langsam, wie sich der Chor unserem Haus näherte, so langsam entfernte er sich wieder. Aber erst nachdem der letzte Ton verklungen war, stand ich auf, schloss das Fenster und kuschelte mich danach noch einmal an Elisabeths kleinen warmen Rücken. Und irgendwann schlief auch ich wieder ein, bis ich Papa hörte, der in der Wohnküche den Ofen anmachte und anschließend Kakao kochte. Zeit fürs Frühstück.

Zehn Jahre später, ich wohnte inzwischen mit meiner Familie in Münster, begleitete ich die Konfirmandinnen und Konfirmanden meines Vaters, die an die alte Tradition anknüpften und an allen vier Adventssonntagen singend durch die Straßen unseres Viertels zogen, begleitet von einigen Mitgliedern unseres Posaunenchors.

«Macht hoch die Tür, die Tor macht weit», begannen nun auch wir. Und dann sangen wir Wie soll ich dich empfangen und viele andere Advents- und Weihnachtslieder – besonders gern, nach der Melodie von Georg Friedrich Händel, Tochter Zion, freue dich, jauchze laut, Jerusalem, ein Lied, das ich schon liebte, lange bevor ich Jerusalem, die Tochter Zion, mit eigenen Augen sah.

Wir sangen nicht immer schön, aber immer schön laut und mit Inbrunst, gleichermaßen aus lauter Kehle und lauterem Herzen.

Wenn auch das frühe Aufstehen schwerfiel: Hatten wir uns einmal überwunden, machte das Singen Spaß, sogar den Rabauken unter den Jungen, die sich, wenn sie nicht gerade sangen, erstaunlich still verhielten.

In vielen Häusern gingen die Lichter an. Viele Fenster wurden geöffnet, in einigen Häusern sogar die Türen. Hier wurden wir schon erwartet und für unser kleines Frühkonzert mit Plätzchen, Schokolade oder einem selbstgebackenen Kiepenkerl belohnt.

Sogar bei Regen machte es Spaß. Natürlich war uns Schnee lieber, der leiser war, romantischer und zur Jahreszeit passte. Leider schneite es in den rund zehn Jahren, die ich in Münster lebte, nur selten. Kein Wunder in einer Stadt, zu deren Markenzeichen auch der Regen gehörte.

«Entweder regnet es bei uns, oder es läuten die Glocken. Und wenn es gleichzeitig regnet und läutet, wissen wir, dass Sonntag ist», erklärten die Paohlbürger, wie sich die Alteingesessenen nennen, lächelnd und nicht ohne Stolz den Zugereisten, als wäre der Regen ihr eigenes Werk.

Tatsächlich spüre ich, wenn ich heute an unser Adventssingen in diesen Jahren zurückdenke, eher den Regen als den Schnee auf Haut und Haaren.

Vor vierzig Jahren zog ich mit meinem Mann von Münster zurück nach Ostwestfalen – in eine kleine Stadt, die nach 1945 auf dem Gelände einer Munitionsanstalt errichtet wurde. Die Alteingesessenen hier sind die vor mehr als siebzig Jahren aus Ostpreußen, Pommern oder Schlesien geflüchteten Menschen.

In der vagen Hoffnung, dass vielleicht auch hier an den Adventssonntagen Menschen vor Tau und Tag durch die Straßen zögen und die Schläferinnen und Schläfer singend oder spielend aufforderten, die Türen auf und die Tore weit zu machen, stand ich am ersten Advent lauschend am geöffneten Schlafzimmerfenster. Ich wollte gerade das Fenster wieder schließen, als ich sie hörte, die Posaunenbläser unserer Gemeinde. Und wirklich spielten sie, wie es sich am ersten Advent gehört, das erste Lied aus unserem Gesangbuch: Macht hoch die Tür …

In diesem Moment wusste ich, dass ich in der Stadt, in die wir aus Berufsgründen gekommen waren, heimisch werden konnte.

Irgendwann – wir waren längst auch aus anderen Gründen heimisch geworden – war es vorbei mit diesem schönen Brauch.

Obwohl das nun Jahrzehnte her ist, stehe ich regelmäßig am ersten Advent, während alles noch schläft, auf und öffne das Fenster. Sollte die Tradition nämlich eines Tages wiederaufleben, möchte ich auf gar keinen Fall das erste Lied verpassen:

«Macht hoch die Tür, die Tor macht weit,

es kommt der Herr der Herrlichkeit …»

Der Blitzbeutel

Friedrich Peise

Es war an einem Heiligen Abend irgendwann in den sechziger Jahren. Und es war zu einer Zeit, in der ein kleines Geschenk schon der Inbegriff allen Glückes sein konnte. Geld spielte in unserer Familie nie eine Rolle, denn wie viele andere Familien in ländlichen Gegenden hatten wir nicht viel davon. Unser Vater war Bäcker und darüber hinaus alles, was man sonst so brauchte: Friseur, Gartenarbeiter, Handwerker, Laienprediger und Maler. Mehrmals im Jahr zog er los, um bedürftigen Familien oder Alleinstehenden die Wände in ihren Wohnungen zu streichen. Er hatte Geschick, wenngleich das Ergebnis bei zu billigen Tapeten oft nicht so berauschend war.

Natürlich wurde auch bei uns zu Hause hin und wieder der Pinsel in die Hand genommen. Die stark verwitterten Fenster des Hauses, in dem unsere Familie zur Miete wohnte, wurden gewissermaßen nur noch von der Farbe zusammengehalten, die unser Vater alljährlich im Sommer daraufpinselte – sehr zum Leidwesen unserer Mutter, die diese Fenster kaum noch öffnen konnte, denn sie waren mit dem Rahmen fest verklebt. Wenigstens waren sie so einigermaßen dicht.

Von solch einer Pinselaktion war noch etwas Farbe übrig geblieben, und unser Vater hatte die geniale Idee, die Wohnzimmertür damit zu streichen. So kurz vor Weihnachten gab es immer viel zu tun, und so schob sich der Tag, an dem tatsächlich gemalert wurde, bis zum vierten Adventssamstag hin. Als mein Vater mit dem Streichen fertig war, glänzte die Tür in ihrer neuen Lackfarbe und der Türrahmen gleich mit dazu. Die Lieblingsfarbe unseres Vaters war Beige, vielleicht auch, weil sie besonders preiswert war. Wir bewunderten nun jeden Tag die «neue» Tür.

Der Heilige Abend kam, und nachdem wir den Weihnachtsbaum aufgestellt hatten, sollte es ein Foto der Familie vor dem geschmückten Baum geben. Obwohl unser Vater viele Interessen und Begabungen hatte – die eines Fotografen gehörte nicht dazu. Und so gab es auch keinen gescheiten Fotoapparat. Eine alte, kaum genutzte Agfa-Box, so nannte man diesen Kasten von einer Fotokamera, sollte nun den Augenblick des weihnachtlichen Glücks festhalten. Unser Vater hatte einige sogenannte Blitzbeutel aufgetrieben. Sie sahen in gewisser Weise aus wie die heutigen Teebeutel und hatten am unteren Ende eine Lunte. Diese zündete man an, nachdem der Fotoapparat positioniert, das Licht gelöscht und die Blende der Kamera geöffnet war. Nach ein paar Sekunden dann machte es «Peng!», es wurde kurz sehr hell, und fertig war das Foto. Allerdings nur, wenn nicht irgendjemand das Licht anknipste, bevor die Blende der Kamera geschlossen war.

Nun hatte der Vater die Agfa-Box aufgestellt und die Familie ihren Platz unter dem Weihnachtsbaum eingenommen. Wo aber sollte der Blitzbeutel befestigt werden? Es war bekannt, dass er nicht in der Nähe von brennbaren Gegenständen angebracht werden durfte. So kam unserem Vater eine Idee: «Der Blitzbeutel kommt an den Türrahmen der Wohnzimmertür.»

Er öffnete die Tür weit, damit sie nicht beschädigt werden konnte. Da hing er nun, der Blitzbeutel, circa zehn Zentimeter unterhalb des Rahmens der frisch gestrichenen Tür. Die Lunte war lang genug, sodass es noch genügend Zeit für den Fotografen gab, seinen Platz vor der Kamera einzunehmen. Allerdings war es stockdunkel, denn die Blende der Kamera war ja bereits geöffnet. Alle waren gespannt. Jetzt ging Vater zur Tür, zündete die Lunte an, suchte sich schnell seinen Platz, und dann … passierte nichts. Die Lunte war ausgegangen.

Mutter rief: «Bleibt alle sitzen! Das Ding kann immer noch jeden Augenblick explodieren!».

Aber es blieb dunkel.

Vater knipste das Licht an, das Foto war verdorben, denn die Blende stand noch immer offen. Wir begannen also von vorne. Aber sparsam, wie unser Vater war, wurde nicht etwa ein neuer Blitzbeutel genommen, nein, der alte sollte es richten.

Vater zündete die Lunte noch einmal an, und die Spannung war auf dem Höhepunkt. Diesmal brannte die Lunte bis zum Ende. Unser Vater hatte wieder nur wenige Sekunden, um mit uns zu posieren, und stürzte auf den Sessel zu. Es machte «Peng!», und … es hatte funktioniert.

Nun hieß es Ruhe bewahren. Erst die Blende der Kamera schließen. Dann das Licht anschalten und dann … das pure Entsetzen. Da, wo der Blitzbeutel hing, war alles schwarz. Der Türrahmen hatte seinen Glanz verloren, und was das Schlimmste war: Es gab keine Farbe mehr, um den Schaden wiedergutzumachen. Sie war beim Streichen bis auf den letzten Tropfen aufgebraucht worden.

Das Bild allerdings gibt es bis heute. Es zeigt die Familie mit einer Mutter, der die Sorge um das Wohl aller ins Gesicht geschrieben steht. Meine Schwester duckt sich, als müsste sie einer Bombe ausweichen. Ich selbst habe die Augen geschlossen und die Hände gefaltet, gerade so, als wollte ich um Gottes Beistand bitten. Vater bekommt das volle Licht des Blitzes ab: Sein Blick ist nicht etwa in die Kamera gerichtet, nein, er gilt einzig und allein dem Blitzbeutel.

Glück im Unglück

Dieter Riegel

Ich erinnere mich an eine ungewöhnliche Advents- und Weihnachtszeit. Aber wann war das genau? Glücklicherweise führe ich seit meiner Pensionierung vor sechzehn Jahren ein Tagebuch und werde schnell fündig. Alles begann am 20. Dezember 2013.

Zunächst verlief die Adventszeit wie gewohnt. Die Weihnachtsvorbereitungen waren in vollem Gange: der Baum gekauft, sogar schon geschmückt, Stollen, Linzer Torte und Plätzchen mäusesicher verwahrt, Geschenke gekauft und verpackt.

Unser stilles Städtchen am Lake Massawippi in Quebec strahlte in weihnachtlichem Glanz. Bunte Lichterkerzen an fast allen Häusern, Rentiere, Weihnachtsmänner oder Krippen in Gärten und auf Veranden trugen dazu bei, dass Vorfreude auf Weihnachten bei uns aufkam. Auch der Winter trug das Seinige bei: reichlich Schnee überall, auf Dächern, Feldern und Wiesen. Rehe liefen durch unseren Garten auf der Suche nach Futter, und im Schnee waren deutlich Elchspuren zu sehen. Und es war kalt, sehr kalt sogar.

Die Stadt schien wie immer in der Vorweihnachtszeit, doch dieses Jahr sollte alles ganz anders kommen.

Eine Woche vor Weihnachten kündigte sich ein Schneesturm an. Wir dachten gar nicht weiter darüber nach, auf ein bisschen mehr oder weniger Schnee kam es ja nicht an. Es schneite den ganzen Tag, und mit Wohlbehagen sahen wir dem Schauspiel der Natur von unserem Wohnzimmerfenster aus zu.

Doch unsere Freude währte nicht allzu lange. Gegen Abend stieg plötzlich die Temperatur, es begann zu regnen. Es war der Beginn eines Eissturms. Wir erinnerten uns an einen Eissturm, der vor über einem Jahrzehnt die halbe Provinz lahmgelegt hatte, und die Menschen hatten zum Teil wochenlang ohne Strom in eisiger Kälte ausharren müssen. Aber wir waren Optimisten und hofften, dass es nicht so weit kommen würde.

Leider war dem nicht so. Es dauerte nicht lange, bis der starke und anhaltende Regen sich als Eis auf Straßen, Bäumen und Büschen festsetzte. Äste, ja ganze Bäume konnten die Last des Eises nicht mehr tragen, brachen ab, stürzten. Wir wollten noch schnell im Städtchen einkaufen, doch im Nu war unser Auto mit einer Eisschicht bedeckt, und wir kehrten vorsichtshalber um.

Am Samstagabend vor dem vierten Advent saßen wir gemütlich bei einem Glas Wein, als plötzlich der Strom ausfiel und wir im Dunklen saßen. Die Suche nach Kerzen und Taschenlampen begann. Wo sich die Kerzen befanden, wussten wir, aber wo waren die Taschenlampen? Jedenfalls nicht dort, wo wir sie vermuteten. So verbrachten wir den Rest des Abends bei Kerzenlicht. Das konnte unter normalen Umständen sehr gemütlich sein, doch allmählich begannen wir zu frösteln, es wurde immer kühler im Haus, und wir verzogen uns schließlich vorzeitig ins Schlafzimmer unter das wärmende Federbett.

Am Sonntag hielt der Eisregen an, und wir erfuhren, dass wir mindestens noch drei Tage ohne Strom auskommen mussten. Das hörte sich nicht gut an. Wir fuhren in unsere Nachbarstadt, wo das Einkaufszentrum glücklicherweise vom Stromausfall verschont geblieben war. Hier trafen wir viele Bekannte, die ebenso wie wir nach Kerzen, Taschenlampen und Batterien Ausschau hielten oder eine warme Mahlzeit einnahmen. Irgendwann mussten wir aber wieder nach Hause. Unterwegs ein Bild der Verwüstung: vereiste Straßen, umgestürzte Bäume rechts und links, vereinzelt lagen Zweige auf der Straße, die wir wegräumen mussten, um weiterzukommen.

Gegen vier Uhr wurde es dunkel. Auf unserer Straße herrschte gespenstische Stille, keine Lampe leuchtete weit und breit. Bei Kerzenlicht feierten wir den vierten Advent. Die Adventskerzen verströmten ein heimeliges Licht, gemütlich fanden wir das aber nicht, denn wir begannen zu frieren und verkrochen uns wieder früh ins Bett.

Am nächsten Morgen erhielten wir eine Hiobsbotschaft: Erst nach Weihnachten konnten wir mit der Reparatur der Stromleitungen rechnen. Wir begannen Pläne zu schmieden, wie wir den Heiligen Abend gestalten wollten. Kochen oder Backen konnten wir natürlich nicht, und die Restaurants waren geschlossen. Also was tun? Am Heiligabend beschlossen wir schließlich, zu unserer Tochter nach Ottawa zu fahren. Gesagt, getan. Wir packten Geschenke, Plätzchen und die bei uns traditionelle Erbsensuppe ins Auto und fuhren los. Nach vierstündiger Fahrt erreichten wir Ottawa.

Unsere Enkelin strahlte vor Freude, als sie uns erblickte. Nach dem Gottesdienst in der deutschen Kirche genossen wir das warme, hell erleuchtete, gemütliche Haus unserer Tochter. Nach den Entbehrungen der letzten Tage fühlten wir uns wie im Paradies. Der Heiligabend verlief dann nach der bei uns üblichen Tradition: Wir sangen gemeinsam O Tannenbaum, unsere Enkelin spielte uns ein Weihnachtslied auf dem Klavier vor, und anschließend begann die Bescherung. Wir waren dankbar dafür, einen so gemütlichen Abend zu erleben und Weihnachten mit unserer Enkelin feiern zu können.

Am Weihnachtsmorgen ließ unser Glücksgefühl ein wenig nach. Was konnte nicht alles mit unserem Haus in unserer Abwesenheit passieren? Wir wollten uns gar nicht erst vorstellen, welche Schäden ein Rohrbruch anrichten konnte. Auch Einbrecher konnten im Schutz der Dunkelheit in unser Haus eindringen, was bei uns tatsächlich vor einigen Jahren passiert war, als wir für ein paar Tage verreist waren. Wir wurden immer unruhiger und beschlossen schließlich, noch am ersten Weihnachtstag heimzufahren. Als wir uns unserem Städtchen näherten, sahen wir zu unserer Freude und Erleichterung hell erleuchtete Häuser mit ihren bunten Lichterketten und die Lichter des großen Tannenbaums am See, die sich geheimnisvoll im Wasser spiegelten. Unsere Leidenszeit war also vorbei.

Doch wir hatten uns zu früh gefreut. Als wir unsere Straße erreichten, empfingen uns wieder Dunkelheit und Stille. Hier hatte sich nichts verändert, und unsere Enttäuschung war groß. Das sollten also unsere restlichen Feiertage sein! Doch da klingelte das Mobiltelefon: Unsere Freunde auf der anderen Seite des Städtchens luden uns ein, den Abend bei ihnen zu verbringen. Freudig sagten wir zu.

Ein lichtdurchflutetes Haus empfing uns, der Weihnachtsbaum funkelte uns freundlich entgegen, der Kamin spendete angenehme Wärme. In geselliger Atmosphäre unter Freunden und Bekannten genossen wir ein typisch kanadisches Festmahl mit Truthahn, Kartoffelbrei, Squash und Apple Pie. Alles kam uns vor wie ein Wunder!

Doch schließlich mussten wir wieder zurück in unser ungemütliches Haus und fuhren heim. Wir setzen uns aufs Sofa, wickelten uns in Decken und schauten den Weihnachtsbaum an, der ruhig in der Wohnzimmerecke stand. Es schien uns, als ob er uns zuflüsterte: «Es ist Weihnachten, verzagt nicht!»

In den folgenden Tagen wuchs unsere Frustration. Jedes Mal, wenn wir unseren Stromversorger anriefen, wurde uns versichert, dass wir noch am gleichen Abend wieder mit Strom rechnen konnten – doch das waren nur leere Versprechungen.

Die Nachricht über den Quebecer Eissturm hatte in der Zwischenzeit auch Deutschland erreicht, und mehrere Verwandte riefen uns besorgt an.

So verging die Woche sehr langsam, viel zu langsam. Die Vorräte in unserer Tiefkühltruhe waren aufgetaut und würden bald in der Mülltonne landen, wenn sich die Lage nicht änderte. Und der Kühlschrank war nicht mehr kühl, sondern nutzlos. Wir versuchten, uns die Zeit mit der Lektüre der Bücher zu verkürzen, die uns der «Weihnachtsmann» gebracht hatte. Wer aber schon einmal versucht hat, bei Kerzenlicht ein Buch zu lesen, versteht, dass das einige Schwierigkeiten bereitet. Bei dem unzureichenden Licht ermüdeten unsere Augen schnell, wir mussten uns zwingen weiterzulesen und legten die Bücher schließlich bald wieder aus der Hand.

Nach ein paar Tagen hörten wir draußen auf der Straße Motorengeräusche und freuten uns schon, dass nun die Stromleitungen repariert wurden, doch es waren nur Feuerwehrleute, die von Haus zu Haus fuhren und nach dem Rechten sahen.

Ende der Woche war es dann so weit. Mehrere Fahrzeuge machten sich auf unserer Straße zu schaffen und stellten die Stromversorgung wieder her. Wir waren erleichtert, aber nun hatten wir genug von der kanadischen Kälte. Wir packten unsere Koffer, flogen vom Flughafen in Montreal aus an die Riviera Maya in Mexiko und feierten dort bei tropischer Hitze Silvester.

Unlängst kam mir zufällig ein Notizbuch mit Kindheitserinnerungen meiner Mutter in die Hände. Darin beschrieb sie wehmütig die gemütlichen Winterabende, die sie bei Kerzenlicht und Petroleumlampen in ihrem Elternhaus erlebte. Sind wir wirklich so verwöhnt, dass wir ohne Strom, Fernsehen oder Internet in Panik geraten? Ich fürchte, dem ist so.

Die Frau am Kachelofen

Hille Lux

Im Oktober waren wir von Lübeck nach Bremen gezogen. Ich war elf Jahre alt. Paps hatte in Hemelingen eine Tierarztpraxis eröffnet, Mom fuhr täglich mit dem Bus zum Krankenhaus Mitte, wo sie als Krankenschwester arbeitete.

Jetzt war es Anfang Dezember. Der erste Schnee breitete ein weißes Tuch über die Erde. Nachmittags nach der Schule stromerte ich alleine umher und erkundete die Umgebung. Freundinnen hatte ich in Bremen noch nicht.

Die Straße, in der wir wohnten, war eine Sackgasse. Am Wendeplatz stand ein kleines Haus aus schmutziggelbem Backstein hinter einem niedrigen, verrosteten Eisenzaun. Von der Tür und den Fensterrahmen blätterte bläuliche Farbe ab. Nirgends war ein Namensschild oder eine Klingel angebracht. Doch ein Fenster war beleuchtet. Das Licht schien durch bunte Bilder aus Transparentpapier, die an der Scheibe klebten: Engelsköpfe, Glocken, Tannenzweige mit Kerzen, ein Weihnachtsmann mit Sack auf dem Rücken.

Mein Herz klopfte heftig, als ich durch die angelehnte Eisenpforte des Zaunes schlüpfte. Sie quietschte in ihren Angeln. Die geriffelten Sohlen meiner Stiefel hinterließen die ersten Abdrücke in der noch unberührten Schneedecke beim Haus. Ich ging zu dem erleuchteten Fenster. Meine Schritte knirschten im Schnee.

Neugierig drückte ich das Gesicht an die Fensterscheibe. Ich schaute in ein kleines Zimmer. Dunkle, klobige Holzmöbel füllten den Raum. In einem verschlissenen grünen Ohrensessel, der neben einem weißen Kachelofen mit schwarzen Eisentüren stand, saß eine alte Frau. Ihre Augen waren geschlossen. Eine gelbbraune Stehlampe mit Troddeln spendete mildes Licht.

Das Gesicht der Frau war von tiefen Falten durchzogen. Es erinnerte mich an einen Troll in meinem Märchenbuch. Die Füße steckten in einem Fußsack aus Fell und standen auf einer kleinen grünen Fußbank. Über ihren Knien lag eine bunte Strickdecke, unter die sie die Hände gesteckt hatte. Um den Kopf trug sie ein geschlungenes, dunkelblaues Tuch, unter dem eine weiße Haarlocke hervorlugte.

Die Frau öffnete die Augen. Ich schrak zusammen. Sie sah mich am Fenster, lächelte und machte eine einladende Geste, die andeutete, dass ich ums Haus herumgehen sollte. Ich war neugierig und ging ums Haus. Im verschneiten Hinterhof sah ich die Tür, die von innen geöffnet wurde.

Die Frau schaute heraus und winkte.

«Komm nur herein.»

Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte sie sich um und humpelte an einem Stock ins Hausinnere zurück. Ich ging hinter ihr durch eine kleine, blau-weiß gekachelte Küche, durch einen schmalen, schummrigen Flur ins Zimmer mit den dunklen Möbeln und dem Kachelofen. Es roch nach Kerzen, Tannennadeln und Bratäpfeln. Eine Wanduhr tickte.

«Setz dich hierher.»

Die Frau deutete auf einen Stuhl neben dem Ohrensessel.

«Wie heißt du?»

«Maja.»

«Maja. Wie hübsch. Ich bin Hanna.»

Ich setzte mich auf die Stuhlkante und schaute mich um. Auf einem Tisch, nur eine Armlänge vom Sessel entfernt, stand ein brauner Tonkrug mit Tannenzweigen, an denen rote Kerzen und Kugeln befestigt waren. Dazwischen baumelten Strohsterne. Unter den Zweigen war eine Krippe aufgebaut.

Hanna sah meine Blicke und nickte. «Ich feiere in diesem Jahr schon etwas früher Weihnachten.»

Sie zeigte auf den kleinen Stall vor der Vase. «Die Krippe stand schon unter dem Tannenbaum, als ich Kind war.»

Sie ging zum Tisch und hob einzelne Figuren hoch. «Das hier ist Maria in ihrem blauen Gewand, und das hier ist Josef. Leider ist ihm ein Arm abgebrochen. Von den Hirten blättert die Farbe ab. Aber hier …» Sie schwenkte drei Figuren. «Die drei Könige Kaspar, Melchior und Balthasar, der Mohr, glänzen in ihren Gewändern.»

Sie stellte die Figuren zurück und schlurfte zu einer Kommode, über der die Durchreiche zur Küche war. Dort stand eine blau gepunktete Teekanne auf einem Stövchen, daneben Tassen und Teller. Hanna stellte das Geschirr auf einen Teewagen mit Rollen. Sie legte Teelöffel und Servietten dazu, stellte eine silberne Zuckerdose neben das Stövchen und schob den Teewagen zu mir herüber. Dann öffnete sie das Ofenrohr, nahm einen Bratapfel heraus, legte ihn auf einen Teller und reichte ihn mir.

«Nimm dir dazu Zucker aus der Dose, wenn du magst. Beim ersten Schnee gibt es den ersten Bratapfel.»

Sie setzte sich in den Sessel und nahm aus einem Bastkorb ihr Strickzeug. Während ich aß, zählte sie leise Maschen und bewegte flink die Nadeln. Als ich den leeren Teller wegstellte, legte sie ihr Strickzeug beiseite, goss aus der Kanne zwei Tassen roten Tee ein und lächelte.

«Komm, ich zeig dir was.»

Sie hob eine Schachtel vom Fußboden auf, öffnete sie und nahm vergilbte Fotos, ein Gesangbuch und ein Silberkettchen heraus.

«Damit bin ich zur Konfirmation gegangen.»

Sie zeigte mir ein Foto, auf dem ein Mädchen ernst in die Kamera schaute und vor dem Bauch ein Gesangbuch festhielt. Um den Hals trug sie die Silberkette.

«Und hier ist ein Bild von Schnuffi, meinem Lieblingshund. Er war ein Weihnachtsgeschenk.»

Hanna streichelte über das Foto, als spürte sie das Fell des Dackels.

«Fünf Weihnachten hat er mit mir gefeiert. Dann wurde er überfahren. Ich habe lange geweint.»

Die Stimme der alten Frau brach ab. Sie schloss die Augen.

«Jetzt bin ich müde, Maja. Geh nach Hause. Aber komm morgen Nachmittag wieder.»

In den nächsten Tagen besuchte ich Hanna jeden Nachmittag. Immer schaute ich erst durch das Fenster. Jedes Mal saß sie mit geschlossenen Augen im grünen Ohrensessel am Kachelofen. Ich klopfte an die Scheibe. Hanna öffnete die Augen, stand auf, ging zur Hintertür und ließ mich ein. Wir tranken roten Tee. Ich bekam einen Bratapfel aus dem Rohr, und Hanna zeigte mir Fotos, die ich bestaunte. Dazu erzählte sie aus ihrer Kindheit, Jugend, von ihrem Sohn in Kanada und ihrem früh verstorbenen Mann. Und immer wieder von Weihnachten, von Schlittenfahrten, Schneemännern und Schneeballschlachten. Wenn sie müde war, strich sie mir übers Haar, und ich ging nach Hause.

Als ich an einem Nachmittag durchs Fenster des kleinen Hauses am Wendeplatz schaute, war der Sessel neben dem Kachelofen leer. Nur die bunte Strickdecke lag darauf. Hannas Stock lehnte an der Wand, Fußsack und Bänkchen standen daneben. Das Strickzeug hing im Tannenstrauch.

In den folgenden Tagen schaute ich immer wieder durchs Fenster, aber der Sessel blieb leer. An einem Nachmittag stand ein großer Lastwagen mit offener Ladefläche vor dem Haus. Kräftige Männer schleppten die klobigen Holzmöbel, den grünen Sessel und andere Sachen heraus und warfen alles auf den Wagen.

Ich hielt mich etwas abseits und traute mich erst wieder zum Fenster, als sie fortgefahren waren. Das Zimmer war bis auf den Kachelofen leer.

Als ich zurückging, fand ich im Rinnstein ein verschmutztes Foto, das ich aufhob und säuberte. Darauf war ein junges Mädchen im Konfirmationskleid abgebildet. Es trug ein silbernes Kettchen um den Hals und hielt ein Gesangbuch in den Händen. Einige Schritte weiter fischte ich den tönernen Balthasar aus dem Schnee. Das Foto und die Figur steckte ich in meine Manteltasche und trug sie sorgsam nach Hause. Am Heiligabend stellte ich beides unter den Tannenbaum und erzählte Mom und Paps die Geschichte dazu.

Und bis heute ist es dabei geblieben: Das Konfirmationsfoto von Hanna, der Frau am Kachelofen, und der schwarze König gehören für mich zu Weihnachten.

Das wächserne Jesuskind

Friederike Steinborn

Ich bin auf dem Land aufgewachsen, in einem Bauerndorf mit einem prächtigen Kloster, damals Anfang der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts. Wir waren sechs Kinder, und heute noch ist es mir unbegreiflich, wie unsere Eltern es an Weihnachten schafften, uns mit mehr als nur ein paar dringend notwendigen Anziehsachen zu beschenken: Neben handgestrickten, kratzigen Wollstrümpfen und mollig warmen «Unaussprechlichen» mit Gummis an Bauch und Knien gab es auch eine Mundharmonika, einen Malkasten, ein Nähkörbchen oder ein Märchenbüchlein. Der höchste Luxus war, wenn jedes von uns Kindern eine Tafel Schokolade ganz für sich allein bekam. Ach, wir fühlten uns so reich!

Das Herrlichste jedoch war die Krippe. Vater hatte sie selber gebaut, und sie nahm gut ein Viertel der Stube in Anspruch. Sie war mit einer wilden, romantischen Gebirgslandschaft ausgestattet, sogar mit einem See neben dem windschiefen Stall. Moos, Rinden und Heu wurden jedes Jahr neu ausgelegt. Die heilige Familie und die Stalltiere hatte der Vater selber geschnitzt. Aber nach und nach bevölkerten wir Kinder die Idylle auch mit stilwidrigen Exoten. Aus Stroh geflochtene Kamele gingen ja noch an. Aber meinen auf dem Jahrmarkt gewonnenen Löwen wollte der Vater nicht in der Krippe dulden. Gewiss, der Löwe war dreimal so groß wie der Ochse. Sicher ist er traurig, dachte ich mir, dass er nicht bei den anderen Tieren sein darf, und wenn der Vater in der Werkstatt war, stellte ich meinen Löwen so hinter dem Stall auf, dass er wenigstens durch einen Spalt das Jesuskindlein sehen konnte.

«Du darfst ihm aber nichts tun», ermahnte ich ihn vorsorglich und beruhigte auch den kleinen Jesus und seine Mutter.