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Der Glanz der Weihnacht in 50 bezaubernden Geschichten. Wann kommt endlich der Schnee? Auf dem Weihnachtsmarkt herrscht geschäftiges Treiben. Manchmal fegt eine Windbö durch das bunte Kinderkarussell und reißt die Kapuzen von den Köpfen. Die leuchtenden Sterne schaukeln über den Ständen, und der Regen malt tausend kleine Kreise in die Pfützen. Aber in den Herzen ist es warm. Die Kinder jauchzen, der Punsch taut die steif gefrorenen Hände wieder auf. Und dann freuen wir uns auf das Schönste an der Weihnachtszeit: Omas, Opas, Eltern, Freunde und Kinder! Wir gehen nach Hause, kuscheln uns aneinander und lesen gemeinsam eine Weihnachtsgeschichte. So leuchtet die Welt langsam der Weihnacht entgegen ....
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Seitenzahl: 267
Veröffentlichungsjahr: 2022
Barbara Mürmann (Hg.)
Gesammelt von Barbara Mürmann
So leuchtet die Welt
langsam der Weihnacht entgegen.
Wann kommt endlich der Schnee? Auf dem Weihnachtsmarkt herrscht geschäftiges Treiben. Manchmal fegt eine Windbö durch das bunte Kinderkarussell und reißt die Kapuzen von den Köpfen. Die leuchtenden Sterne schaukeln über den Ständen, und der Regen malt tausend kleine Kreise in die Pfützen. Aber in den Herzen ist es warm. Die Kinder jauchzen, der Punsch taut die steif gefrorenen Hände wieder auf. Und dann freuen wir uns auf das Schönste an der Weihnachtszeit: Omas, Opas, Eltern, Freunde und Kinder! Wir gehen nach Hause, kuscheln uns aneinander und lesen gemeinsam eine Weihnachtsgeschichte.
Der Glanz der Weihnacht in 50 bezaubernden Geschichten.
Für Barbara Mürmann ist als Herausgeberin der «Weihnachtsgeschichten am Kamin» das ganze Jahr Weihnachten. Zum Glück, denn sie liebt dieses besondere Fest. Seit vielen Jahren besorgt sie mit Hingabe und Sorgfalt die Auswahl für die erfolgreiche Anthologie. Barbara Mürmann, geboren in Goslar, lebt in Hamburg. Dort leitet sie den Arezzo Musikverlag.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2022
Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Redaktion Nadia Al Kureischi, Leonie Roth
Covergestaltung any.way, Walter Hellmann
Coverabbildung James Newman Gray/Advocate Art S.L
ISBN 978-3-644-01449-7
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Alle Jahre wieder hole ich voller Vorfreude die Weihnachtsdekoration vom Dachboden. Engel, Weihnachtsmänner, Sterne und alles andere findet einen Platz, und die erste angezündete Kerze auf dem Adventskranz leuchtet die Weihnachtszeit ein. In der leichten Unruhe der Vorweihnachtszeit wird die Gemütlichkeit häufig etwas vernachlässigt. Dafür kehrt bei mir die nötige Ruhe zwischen Heiligabend und dem Dreikönigstag ein, und ich genieße dann wirklich die stille Zeit. Nach dem sechsten Januar wird sämtliche weihnachtliche Dekoration wieder in Kartons und Kisten verstaut. Sämtliche? Ich frage mich jedes Jahr erneut, warum mindestens ein Sternchen irgendwo liegen geblieben ist oder auf dem Bücherbord noch ein Engel auf der Harfe spielt. Aber vielleicht muss das so sein, damit ich mit dem Lesen Ihrer Weihnachtsgeschichten beginne. Doch warum grinst mich zu Pfingsten noch ein vergessener Osterhase an? Sollte ich vielleicht auch einmal Ostergeschichten sammeln? Auf jeden Fall freue ich mich wieder auf Ihre Weihnachtsgeschichten und werde mit Sicherheit dank des vergessenen Sternchens oder Engelchens wieder rechtzeitig mit dem Lesen beginnen.
Barbara Mürmann
Johannes Hilliges
Es gibt Momente im Leben, die vergisst man sein Lebtag nicht. Highlights. Ausnahmeaugenblicke. Sternstunden eben. Nennen Sie es, wie Sie wollen. Von einem solchen Gänsehautmoment muss ich Ihnen erzählen.
Ich heiße Ramona und bin eine Ziege. Keine gewöhnliche Ziege, darf ich in aller Bescheidenheit hinzufügen, sondern eine Hochleistungsziege. Zwischen drei und vier Litern bester Ziegenmilch schaffe ich am Tag – das finden Sie bei uns im Ort selten! Wir sind eine eingeschworene Gemeinschaft, wir Milchziegen von Bethlehem. Jeden Morgen nach dem Melken kommen die Hirten; sie gehen von Haus zu Haus und sammeln uns ein, bis sie eine stattliche Herde zusammenhaben; unter den zufriedenen Blicken unserer Besitzer geht’s dann hinaus auf die saftigen Wiesen, das ist immer ein Fest! Auf dem Weg dorthin tausche ich mit meiner Freundin Tirza von gegenüber unter viel Gemecker den neuesten Tratsch aus – man muss ja auf dem Laufenden sein. Abends sind wir pünktlich zum Melken wieder zurück. Höchste Zeit, ich habe dann schon Hochdruck!
Wir sind der Stolz der Bewohner. Ohne uns gäbe es schließlich nicht den Exportschlager des Ortes: Ziegenkäse aus Bethlehem. Er wird sogar auf dem Wochenmarkt in Jerusalem gehandelt. Exquisit – mild und doch aromatisch im Geschmack. Müssen Sie unbedingt mal probieren. So, das war der Werbeblock. Trommeln gehört schließlich zum Geschäft.
Wenn Sie jetzt meinen, hier würden alle in schicken großen Häusern wohnen mit zwei Eseln statt nur einem davor, dann täuschen Sie sich aber! Es sind harte Zeiten. Seit wir römische Provinz sind, geht’s wirtschaftlich bergab; galoppierende Steuern und steigende Preise, das hält keiner lange durch. Und dazu ständig neue irrsinnige Verordnungen von ganz oben! Erst kürzlich wieder baute sich so ein aufgeblasener römischer Legionär auf unserem Marktplatz auf und kündigte die nächste Steuerschätzung an. Ich hätte ihn mit meinen Hörnern sonst wohin stoßen können. Aber ich will ja nicht als Grillziege enden, also habe ich schwer an mich gehalten. Steuerschätzung! Sie müssen wissen: Anordnungen wie diese lösen immer eine halbe Völkerwanderung aus. Dafür muss jeder in das Dorf reisen, in dem seine Sippe über Grundbesitz verfügt, so läuft das bei uns. Und dann wird abgezockt, ich sag’s Ihnen!
Es dauerte auch nicht lange, und unsere Ziegenherde musste sich morgens und abends auf dem Weg durch den Ort regelrecht ihren Weg bahnen. Am schlimmsten war das Gedränge vor meinem Haus. Kaum zu glauben, dass alle diese Menschen zur Familie gehörten! Ich war froh, am Ende des Tages zurück in meinen Stall verschwinden zu können. Wir leben ja alle unter einem Dach – wir Haustiere im vorderen, etwas tiefer gelegenen Teil, weiter hinten wohnt mein Eigentümer mit seiner Familie. Und dort wurden gerade die letzten Matratzen zusammengetragen. Das war vielleicht ein Gewusel und Stimmengewirr – ich kann’s Ihnen sagen! Ich war nur froh, dass keiner zu uns in den Stall kam, hier war’s eng genug. Neben meiner Wenigkeit wohnt hier noch der Ochse Ruppert, den mein Chef bei der Feldarbeit braucht. Ruppert ist stark, wie ein Ochse nun mal ist, nur ein bisschen wortkarg. Ja, und dann haben wir hier noch den Esel Balduin. Er hat nicht besonders viele PS, aber dafür ist er ausdauernd. Glücklicherweise bleiben die Schafe in der Regel draußen, die schlafen gerne kalt. Wir Ziegen mögen es nachts lieber warm. Ist auch für die Milch besser. Wegen Unterkühlung hatte ich sogar einmal eine Euterentzündung – die wünsche ich nicht einmal meinem ärgsten Feind!
So, jetzt können Sie sich ein Bild von dem Ambiente machen, in dem meine Sternstunde spielt – von der wollte ich Ihnen ja eigentlich erzählen.
Ich musste wohl gerade eingeschlafen sein; die Anna mit den kräftigen Händen hatte mich gemolken, dann noch ein Maul voll Heu als Betthupferl und genüsslich ins Stroh gekuschelt. Da hörte ich Stimmengemurmel. Meine Chefin kam zu uns in den Stall; in der einen Hand eine flackernde Öllampe, an der anderen Hand ein hochschwangeres junges Mädchen, dem man ansah, dass es bald so weit war. Hinter den beiden ging ein Mann, der offensichtlich zu dem Mädchen gehörte. Während ich mich noch etwas schlaftrunken wunderte, was denn diese seltsame Gesellschaft hier bei uns im Stall wollte, kam meine Chefin auch schon auf mich zu und zeigte auf den Strohhaufen neben mir. Im Nu war ich auf den Beinen! Die wollten doch wohl nicht …?! Und ob sie wollten! Sie breiteten Decken aus und machten sich daran, hier im Stall zu schlafen. Anscheinend gab es für diese Nachzügler nicht genügend Platz vorn bei den Menschen – jetzt mussten also schon wir Tiere zusammenrücken!
Okay, ich bin ja kein Untier, also habe ich ein bisschen gemeckert und Platz gemacht. Wurde auch höchste Zeit, das habe ich mit fachkundigem Blick sofort gesehen: Die Geburt war schon voll im Gange. Das Zicklein – Entschuldigung: das Menschenkind – schien es ganz schön eilig zu haben! Meine Chefin legte sich ins Zeug und kümmerte sich professionell um das Mädchen – Maria hieß es, das hatte ich mitbekommen.
«Josef, hol schnell frisches Wasser! Aber warmes vom Ofen!» Tja, die Chefin spannte den Vater gleich mit ein. Und dann war es da, das kleine Menschenkind, und der erste zaghafte Schrei – da geht einer guten Geiß einfach das Herz auf!
Als Maria ihr Baby zum ersten Mal gestillt hatte und ihm ganz wohlig die Augen zufielen, nahm der Josef es vorsichtig auf den Arm. Kurz schaute er sich um – und dann legte er das Windelbündel doch tatsächlich in unsere Futterkrippe! Also, mal ehrlich: Ich wollte erst protestieren. Muss das Kind denn auf unserem Essen liegen? Aber wie es da so gebettet war auf unserem guten Heu, da konnte ich nicht mehr meckern. Es liegt hierauf natürlich unvergleichlich weicher als auf dem Stroh, das wir Tiere des Nachts nutzen. Josef ließ die Öllampe brennen, legte sich neben seine Frau und schmiegte sich an sie, so viel Platz war gerade noch. Nach diesem aufregenden Erlebnis kehrte langsam Ruhe ein. Im Halbschlaf rutschte Maria an mich ran – es geht doch nichts über einen warmen Ziegenbauch.
Es musste schon nach Mitternacht gewesen sein, als wir hochschreckten. Das Licht brannte noch. Das Baby schlief tief und fest. Doch draußen waren Geräusche zu hören: zögerliche Schritte, als würde jemand nach etwas suchen. Und schon ging die Tür einen Spalt weit auf, jemand steckte den Kopf durch die Tür: Es war Ben. Ich kannte den Hirten gut, manchmal bringt er uns Ziegen auf die Weide, meistens ist er aber für die Schafe eingeteilt. Ein gutmütiger Karl, der die Ruhe weghat und sich und uns Zeit lässt, wenn wir unterwegs sind. Das ist wichtig, denn Eile schadet der Milchproduktion. Jetzt schlüpfte Ben also in den Stall, und mit ihm seine Kollegen. Ließen die doch einfach die Schafe draußen alleine … Dafür musste es einen wahrlich triftigen Grund geben, wenn es keinen Ärger geben sollte.
«Da, da ist es!», flüsterte Ben aufgeregt und deutete auf das Baby in der Futterkrippe.
Andächtig und auf Zehenspitzen kamen sie näher und ließen sich leise auf die Knie fallen. Ihre Gesichter schienen irgendwie – zu leuchten. Ja, das ist das richtige Wort: Sie leuchteten, und das kam nicht von der kleinen Ölfunzel, die nach wie vor ruhig vor sich hin brannte. Jetzt wandten sich die Männer schüchtern an Maria und Josef, rangen nach Worten. So verlegen kannte ich die ja gar nicht. Was war denn bloß passiert? Ja, und dann erzählten sie, erst stockend und dann immer lebhafter. Sie berichteten, dass ihnen draußen bei den Schafherden der Engel des Herrn begegnet sei. Vor Schreck seien sie zunächst wie gelähmt gewesen, so etwas erlebe man ja schließlich nicht alle Tage … Aber der Engel hätte sie beruhigt.
«Fürchtet euch nicht», habe er gesagt, «denn siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.»
Wie die Hirten diese fremd klingenden Worte sprachen, feierlich und ohne Stocken, spürte ich unter meinem dichten Fell eine Gänsehaut. Dann berichteten die Hirten weiter von den himmlischen Heerscharen, ganzen Engelschören. Und auch diesen Text hatten die Hirten noch ganz genau im Gedächtnis: «Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.»
Na ja, so richtig habe ich das auf die Schnelle nicht verstanden, aber gespürt habe ich’s, dass hier nämlich etwas ganz Wundersames passiert sein musste. In meinem langen Ziegenleben hab ich schon viel erlebt, aber so etwas Ergreifendes und in jeder Weise Ungewöhnliches ist mir noch nicht untergekommen. Und es ist mir heute noch so, als wenn es erst gestern geschehen wäre. Es gibt Sternstunden, die vergisst man nie. Wir Tiere damals im Stall von Bethlehem gaben keinen Mucks von uns; sogar der ewig wiederkäuende Ruppert hielt sein Maul still.
Viel später wurde mir erst klar, was genau uns so berührt hatte. Es war dieses Leuchten, das die Hirten mitgebracht hatten und das sich im ganzen Stall ausbreitete, dieser ganz besondere Glanz. Ein Leuchten von innen, das das Herz erhellt und erwärmt und die untrügliche Gewissheit gibt, dass alles ein gutes Ende nehmen wird … Ach, Sie verstehen sicher, was ich meine! Es ist das, wonach selbst wir Ziegen uns im Grunde sehnen. Kommt Ihnen vielleicht gar nicht in den Sinn, dass wir Ziegen auch ein Herz haben und nicht nur am Meckern sind, oder?
Ja, so war das mit der Sternstunde, von der ich Ihnen erzählen wollte. Und wann immer ich mich an sie erinnere, ist es wieder da, dieses Leuchten. Und ich bin dankbar und froh, dass ich damals dabei war und hautnah miterlebt habe, wie der Himmel die Erde berührte. Dass der Himmel so nah ist – das werde ich mein Lebtag nicht mehr vergessen.
Also, dann machen Sie’s gut. Und wenn Sie mal nach Bethlehem kommen, schauen Sie gerne vorbei. Und lassen Sie sich den guten Ziegenkäse schmecken!
Ilse Mucks
November 1946. Es war der Samstag vor dem ersten Advent. Typisch herbstliche Witterung mit einem Wechsel von Sonne und trüben, nasskalten Abschnitten. Nichts Ungewöhnliches für die Jahreszeit. Fünfundsiebzig Jahre liegt er zurück und ist dennoch so lebendig, gegenwärtig.
Wir hatten nichts, da alles 1944 verloren gegangen war. Hunger und Kälte waren unsere Begleiter, aus Kerzenstummeln formten wir uns mit einem Baumwollfaden provisorisch ein Licht, das mitunter nur glimmte, leere Zigarettenschachteln, die die nachbarlichen Besatzer fortgeworfen hatten, lieferten Stanniolpapier für silberne Sterne und Herzen. Ein paar Zapfen fanden wir auf dem nahe gelegenen alten Friedhof, so die Eichhörnchen sie nicht vernascht hatten. Da fehlten lediglich die Tannenzweige, um uns ordentlich einzustimmen. Doch wo sollten wir sie hernehmen? Taschengeld gab’s kaum, und Nadelbäume in den Vorgärten von Helmstedt waren rar. Heimliches Stibitzen wäre aufgefallen, und unser schlechtes Gewissen wäre groß gewesen.
So beschlossen wir, ein Spielfreund und ich, auf Schatzsuche zu gehen – heimlich. Niemand wusste davon.
Wir wagten uns vor in Richtung Elz, einen Mischwald, etwa dreißig Minuten von der Stadt entfernt. Am Wege starrten uns unbarmherzig ausgebrannte und völlig zerbombte Ruinen an. Einige hohe Fichten standen davor, die Zweige aber waren für uns nicht erreichbar.
Aufgeben? Ging nicht, denn wir wollten ja etwas heimbringen: ein Zweiglein zum Advent.
Alsbald erreichten wir die Bahnbrücke und näherten uns mehr und mehr der Gleisüberquerung in Richtung Braunschweig. Dabei bemerkten wir, wie unzulänglich unsere Kleidung war. Lange Hosen für Mädchen kannten wir damals noch nicht. Kurze Schnürstiefel, die leicht durchweichten, bedeckten unsere recht motivierten Füße. Uns fröstelte, aber das kannten wir Kriegskinder, damals zwölf- und dreizehnjährig, schon.
Am Bahnwärterhäuschen duckten wir uns, krochen mehr schlecht als recht vorbei, denn der Wärter sollte uns nicht sehen, er würde uns sicher zurückhalten.
Dann hatten wir es geschafft! Die Tannenbaumschonung lag verheißungsvoll vor uns. Im fahlen Novemberlicht sah es hier, wo wir im Sommer Butter- und Steinpilze gesammelt hatten, gar friedvoll aus. Es duftete nach Nadelholz und Moosen. Gräser neigten ihre Spitzen, und durch den Wald zog stille Andacht, das Geheimnis des Advents.
Wir gingen etwas abseits und brachen mit klammen Fingern einige Zweige, die sich unbarmherzig wehrten und durch die Handschuhe stachen, sodass es schmerzte.
Da! Was war das? Ein knackendes Geräusch in der Nähe. Ein aufgescheuchtes Reh, ein Hase oder Kaninchen? Beunruhigt sah ich mich um und starrte entsetzt in die unfreundlichen Augen eines bärtigen Mannes. Dieser furchterregende, wilde Blick! Panik kam in mir auf. War er ein Wilddieb oder Hüter des Gesetzes?
In der Nachkriegszeit war es nicht ungefährlich in den Wäldern. Verbrechen schienen an der Tagesordnung zu sein. Ich zog meinen Spielfreund, der aufgrund der Flucht aus Posen recht furchtsam war, tief in die Schonung hinein, wir irrten im Kreise umher, kauerten uns schutzsuchend nieder. Mein Freund weinte bitterlich, ich musste ihm den Mund zuhalten. Und dann die Dunkelheit! Wir hatten nicht bedacht, dass die Tage kürzer wurden und somit die Dunkelheit früh hereinbrach. Überdies war Nebel aufgekommen. Wie ein milchiger Schleier durchzog er den Fichtenwald – wir hatten die Orientierung verloren, und niemand würde uns hier vermuten.
Nackte Angst lähmte unsere Gedanken, bevor wir die rettende Idee hatten: Irgendwann musste ein Zug passieren, vielleicht konnten wir uns durch den Schall orientieren. Und dann hörten wir das Rattern.
Hand in Hand stolperten wir voran, prallten gegen Bäume, fielen ins weiche Laub des Bodens und rutschten die flache Bahnböschung hinab. Sie wies uns zu den Gleisen und in die Richtung des Bahnwärterhäuschens. Danke, lieber Herrgott, danke!
Erschreckt und dennoch sehr liebevoll versorgte uns der Beamte notdürftig mit warmem Pfefferminztee und einer Taschenlampe mit Funzellicht, mit der wir recht mühsam Helmstedt erreichten.
Erleichtert machten wir die ersten Heimatlichter am Elzweg aus. Völlig erschöpft, aber unendlich glückselig, denn wir hielten doch tatsächlich ein Zweiglein in der Hand, ein Zweiglein zum Advent 1946.
Liebe Leser, dies ist ein Tatsachenbericht zweier Nachkriegskinder, die sich abenteuerlich auf Schatzsuche begaben. Keine Fantasie. Schutzengel standen uns zur Seite – oder?
Uns allen eine friedvolle Weihnacht!
Frank Hiller
Panik ergriff den Weihnachtsmann in der Heiligen Nacht. Er zerrte an den Zügeln, der Rentierschlitten kam vor einem verschneiten Häuserblock zum Stehen. Neben dem Weihnachtsmann auf der Sitzbank stand ein kleiner Käfig, verdeckt von einer wärmenden Wolldecke. Hatte er dem Tier darin ausreichend Futter gegeben? Vor seinem geistigen Auge erschien ein mumifiziertes Fellknäuel in einer der Käfigecken. So etwas konnte er den beiden Kindern wohl kaum unter den Weihnachtsbaum legen. Mit einem mulmigen Gefühl zog er die Decke zur Seite. Der Boden des Käfigs war üppig mit Holzstreu und Zellstoff ausgekleidet. Ein Hamsterrad, ein halb gefüllter Wasserspender und ein hölzernes Häuschen vervollständigten die Ausstattung. Davor hockte der wohlgenährte winzige Käfiginsasse und versuchte mit viel Anstrengung, ein großes Apfelstück in seine rechte Backentasche zu pressen. Der Weihnachtsmann atmete erleichtert auf. Das kleine Tier beendete das kräftezehrende Vorgehen und quetschte das Apfelstück mit einem Speichelfaden wieder heraus.
«Mist, Mist, Mist!», fluchte der Hamster mit hervorquellenden Augen.
Entsetzt warf der Weihnachtsmann die Wolldecke über den Käfig. Das hatte er ja völlig vergessen! Seine Rentiere waren immer sehr schweigsam. Darum war ihm die Fähigkeit, mit Tieren sprechen zu können, kaum mehr präsent. Er räusperte sich, rückte seine rote Weihnachtsmannmütze gerade, atmete tief durch und zog die Wolldecke erneut zur Seite. Der Hamster blickte giftig zu ihm auf.
«Mann, mit diesen Wurstfingern hätte ich auch keine kleineren Apfelstücke hinbekommen!» Der Hamster schaute ihn an und schüttelte den Kopf.
Der Weihnachtsmann stutzte. «Du frecher kleiner Hamster!»
«GOLDHAMSTER! Klar?!», entgegnete das Nagetier gereizt und fuhr fort: «Also nicht Bronze oder Silber, sondern ausschließlich Gold, capito?»
Verwundert betrachtete der Weihnachtsmann das aufmüpfige kleine Wesen.
«Wohin bringst du mich überhaupt?», beschwerte sich der Hamster weiter.
«Zwei liebe und artige Kinder haben sich zu Weihnachten ein kleines, niedliches Haustier gewünscht», erklärte der Weihnachtsmann. Er runzelte die Stirn und schob sein Gesicht näher an den Käfig heran. «Sag mal», sprach er langsam, «steht da GERDA auf deinem linken Ohr?»
«Ja und? Was dagegen? War mal mit ihr zusammen», entgegnete der Hamster mürrisch. «Soll ich dir auch ein Tattoo machen? Ist mein Beruf.»
«Beruf?»
«Ich kann ja nicht den ganzen Tag nur im Rad laufen. Also, willst du?»
Der Weihnachtsmann schüttelte den Kopf. Irritiert stieg er vom Schlitten und klemmte sich den Käfig unter den linken Arm. Mit der rechten Hand griff er nach dem großen Geschenkesack auf der Ladefläche des Schlittens und warf ihn sich über die Schulter. Der Schnee unter seinen Stiefelsohlen knirschte, als er zum Häuserblock ging. Ansonsten herrschte in der Straße nächtliche Stille. Vor dem Fenster einer Erdgeschosswohnung hielt er schließlich inne und stellte den Sack ab.
Dieses kleine Tier ohne Manieren hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Angestrengt suchte er nach einem klaren Gedanken und tastete den Fensterrahmen ab. Vielleicht ließ sich das Fenster öffnen.
«Alter, es ist offen», sagte der Hamster. «Sieh dir den Griff an!»
Tatsächlich. Der Fenstergriff im Zimmer zeigte zur Seite. Nur leicht tippte der Weihnachtsmann gegen den Rahmen, geräuschlos schwang das Fenster auf. Mit betretener Miene blickte er in die unbeleuchtete Erdgeschosswohnung. Ein Nagetiergehirn hatte ihn in seiner Strategie übertrumpft, und das schien buchstäblich an seinem Selbstwertgefühl zu nagen. Er musste sich dieses Weihnachtsgeschenks schleunigst entledigen!
Entschlossen stellte er den Hamsterkäfig auf dem Fensterbrett ab, packte den Geschenkesack und kletterte behände durch das geöffnete Fenster in die Wohnung. Nachdem er den Käfig wieder an sich genommen und den Fensterflügel mit der Schulter sachte zugedrückt hatte, schlich er mit seinen Gaben lautlos durch den Raum bis zu einem schmalen Wohnungsflur. Aus einem Zimmer am anderen Ende des Flures drang das schwache Licht eines festlich erleuchteten Weihnachtsbaums. Mit geübten Bewegungen steuerte der Weihnachtsmann darauf zu. Wohl niemand konnte sich so unbemerkt wie er durch die Häuser bewegen. Kein Schlafender war je von ihm geweckt worden, dem Meister der Lautlosigkeit. Er spürte, wie ihn dieser Gedanke aufbaute.
«Soll ich mal schreien?», flüsterte der Hamster und grinste.
Fast wäre dem Weihnachtsmann der Käfig entglitten. Abrupt blieb er auf zwei Holzdielen stehen, die unter seinem Gewicht leicht nachgaben. Schweiß sammelte sich in seinem Nacken. Ob die Kinder auch mit einem ausgestopften Goldhamster zufrieden wären? Er schaute hinab und bemerkte, dass das Nagetier seine Schläfe im Visier hatte – dort musste eine Ader gefährlich stark pulsieren.
«Na gut! Dann eben nicht.» Der Hamster verdrehte beleidigt die Augen.
Mit mahlendem Kiefer setzte der Weihnachtsmann seinen Weg fort und erreichte ohne weitere Unterbrechung das Wohnzimmer. Erleichtert stellte er den Käfig unter den Weihnachtsbaum und sortierte die übrigen Geschenke aus dem Sack sorgfältig daneben.
«Juhu, jetzt bin ich dich los!», flüsterte er triumphierend in den Käfig hinein. Dann drehte er sich um und ging zur Wohnzimmertür. Doch da drang das Geräusch eines klappenden Gittertürchens an seine Ohren. Er blieb stehen und riss den Kopf herum.
«Hey, Mütze, hier unten», ertönte eine leise Stimme. Da saß er, der Hamster! Auf dem Zimmerboden neben dem Käfig und inspizierte ein Stromkabel. «Ah, lecker. Ein Zweihundertzwanzig-Volt-Kabel!», frohlockte das Tier.
Die Augen des Weihnachtsmannes weiteten sich, das linke Augenlid begann nervös zu zucken. Nun drehte er sich vollständig dem Hamster zu.
«Folgendes Angebot: Ich mach dir ein Tattoo, dann gehe ich auch in den Käfig zurück», schlug das Nagetier vor. Der Weihnachtsmann schüttelte den Kopf. Erpresste dieser Goldhamster ihn etwa? «Wie wär’s, wenn ich dich einfach wieder einfange?», konterte er, obwohl er daran zweifelte, der Aufgabe gewachsen zu sein.
Er machte einen Schritt auf den Hamster zu, doch der hatte bereits seinen Standort gewechselt und lehnte jetzt an einem der Geschenke. Der Weihnachtsmann kam näher. Der Hamster wich zurück und lief links um den Baum. Der Weihnachtsmann folgte. Die Zweige vibrierten, die Kugeln klirrten. Der Baum schwankte gefährlich. Dann blieb der Weihnachtsmann stehen und kratzte sich an der Stirn.
«Und? Überzeugt?» Der Hamster wippte an einem Zweig.
«Kleines Tattoo?», flüsterte der Weihnachtsmann resigniert.
Der Hamster nickte. «Hast du einen Kugelschreiber dabei? Und was Spitzes?»
Als der Weihnachtsmann die Wohnung durch das Fenster verließ, war seine Stimmung am Boden. Noch nie hatte ihn ein Weihnachtsgeschenk so gedemütigt. Er stapfte zum Schlitten zurück und ließ sich unsanft auf die Sitzbank fallen. Eines der Rentiere drehte den Kopf herum und sah ihn schweigend an. Er war Profi, er konnte sich jetzt doch nicht gehen lassen! Die nächsten Geschenke mussten verteilt werden. Tief atmete er durch, drehte sich um und griff nach der Abdeckplane auf der Ladefläche. Einen Augenblick zögerte er, denn eine unheilvolle Vorahnung überkam ihn. Vorsichtig schlug er die Plane zur Seite und erstarrte. Zwischen allerlei Geschenken stand ein weiterer Haustierkäfig. Zwei hübsche Meerschweinchen saßen darin einträchtig nebeneinander und blickten unschuldig zu ihm hoch.
«Das ist der Typ?», fragte das eine Meerschweinchen.
«Jepp, der ist es!», antwortete das andere.
Konzentriert taxierten beide Meerschweinchen den Weihnachtsmann.
Schließlich meldete sich das eine erneut zu Wort. «Krass! Guck dir das an. Da steht GERDA auf der Nase.»
Ingrid Schäfer
Pfarrer Moosbauers ganzer Stolz ist seine Bibel, ein Familien-Erbstück von großem Wert. Mit den Buchdeckeln aus Holz, den kunstvollen Messingbeschlägen und dem satten Goldschnitt ist sie prächtig anzuschauen. Es vergeht kein Tag, ohne dass er darin blättert, sich an ihrer Schönheit erfreut und aus dem Inhalt Kraft und Trost schöpft.
Morgen ist der erste Advent. In dieser weihevollen Zeit liest Pfarrer Moosbauer seine Bibel mit ganz besonderer Andacht, vor allem die Weihnachtsgeschichte. Immer wieder findet er darin Anregungen für bewegende adventliche Predigten.
Leider ist der Advent aber auch die Zeit, in der er alle Jahre wieder mit seinem Küster einen Kampf ausfechten muss. Pfarrer Moosbauer ist ein schwer beweglicher konservativer Geist, der beharrlich an alten Traditionen festhält. Der Küster Florian, ein auffallend attraktiver und charmanter Mann, ist das genaue Gegenteil: geistig beweglich und offen für Neues. Nicht verwunderlich, dass er neben der ewigen «Stillen Nacht» und «O du fröhliche» immer wieder andere schöne Weisen vorschlägt, die den festlichen Gottesdiensten einen frischen Anstrich verleihen könnten. Ganz besonders liegt ihm das Lied «Heiligste Nacht! Finsternis weichet, es strahlet hienieden …» am Herzen, weil er damit die schönsten Erinnerungen an seine Kindheit verbindet.
Solche «revolutionären», weil neuen Gedanken mag Pfarrer Moosbauer gar nicht, und so wird die «Heiligste Nacht» des schönen Florian ebenso beharrlich abgelehnt, wie sie vorgeschlagen wird. In seinem tiefsten Inneren weiß der Pfarrer jedoch, dass seine Ablehnung auf Neid beruht. Mit seinem Engagement, seinem hilfsbereiten Wesen und nicht zuletzt seiner blendenden Erscheinung fliegen Florian die Herzen der Gemeinde zu. All diese Gaben hätte Pfarrer Moosbauer insgeheim auch gerne. Stattdessen erinnert er sich schmerzlich an seine frühe Kindheit, als Onkel Ludwig ihn gemustert und bemerkt hatte: «Nun ja, auch dem lieben Gott gelingen nicht alle Menschen!»
Obwohl er sich für diese Gefühle schämt, schafft Pfarrer Moosbauer es nicht, über seinen Schatten zu springen. Und so hat er die «Heiligste Nacht» auch diesmal wieder schroff abgelehnt, obwohl der schöne Florian am vierten Advent einen runden Geburtstag feiert und es für ihn kein schöneres Geschenk geben könnte. So traurig hat der schöne Florian bei der Absage heute dreingeblickt, dass den Pfarrer das schlechte Gewissen gestreift hat. Aber nur ganz kurz.
Es ist früh dunkel geworden an diesem ersten Advent. Der Frost malt überall seine Eisblumen auf die Fensterscheiben, und bauschige weiße Flocken sinken lautlos aus einem bleigrauen Himmel herab und decken alles zu.
Mit warmen Socken an den Füßen und einem großen Becher, randvoll mit dampfendem Glühwein, dessen würziger Duft den ganzen Raum füllt, lässt sich Pfarrer Moosbauer in seinem gemütlichen antiken Lehnstuhl nieder. Er möchte ein wenig in seiner geliebten Bibel schmökern und sein Herz mit weihnachtlichen Gedanken füllen.
In froher Erwartung greift er nach dem Buch und schlägt es auf. Das heißt – er will es aufschlagen, aber es geht nicht. Der Buchdeckel bewegt sich nicht, keinen Millimeter. Verblüfft zerrt und zieht, dreht und wendet, stemmt und ruckt der Pfarrer an den Deckeln, vergeblich. Es fühlt sich an, als würde eine unsichtbare Schraubzwinge Deckel und Blätter unerbittlich und unlösbar zusammenpressen. Die Bibel bleibt zu.
Pfarrer Moosbauers Verblüffung verwandelt sich zunächst in Ratlosigkeit, dann in Panik. Was, bei allen himmlischen Mächten, geht hier vor?
Fahrig greift er nach dem Glühweinbecher, nimmt einen großen Schluck und verbrennt sich fürchterlich den Mund. Mit einem unweihnachtlichen Fluch setzt er den Becher wieder ab. Dieser XXL-Becher war das Geschenk eines Gemeindemitglieds mit Sinn für Humor, denn auf dem weißen Porzellan steht in schnörkeliger Schrift: Gott sieht alles!
Nach einigen weiteren Versuchen, seine Bibel zu öffnen, gibt der Pfarrer auf. Was nun? Was tut man in einer bizarren Situation wie dieser? Der alte Johannes Batzer fällt ihm ein. Der Buchbinder aus dem Nachbarort kennt sich mit Büchern aus wie kein anderer – jedenfalls technisch. Aber was soll er ihm am Telefon sagen? «Hier ist ein Notfall, kommen Sie schnell! Meine Bibel klemmt!»? Innerhalb weniger Stunden würde er, der ehrwürdige Pfarrer Moosbauer, zum Gespött der ganzen Gemeinde.
Er versucht, sich zu beruhigen, und nimmt – diesmal ganz vorsichtig – einen weiteren Schluck Glühwein, dessen Wärme ihn innerlich wohlig durchströmt. Dabei bleibt sein Blick an der Aufschrift hängen: Gott sieht alles! Zum ersten Mal hat Pfarrer Moosbauer das Gefühl, dass diese fromme Aussage auch eine Drohung sein könnte.
Seine Bibel klemmt. Könnte es sein, dass Pfarrer Moosbauers oberster Dienstherr etwas gesehen hat, wofür dieser seinen Diener jetzt in dieser Form bestraft? Wahrlich, eine schlimmere Strafe kann es nicht geben! Gott sieht alles! Ja, wenn Pfarrer Moosbauer ehrlich zu sich selbst ist, weiß er genau, was Gott heute gesehen hat. Da braucht er nicht lange zu überlegen. Das traurige, enttäuschte Gesicht seines Küsters steht ihm deutlich vor Augen, als er ihm mit nicht sehr weihnachtlicher Nickeligkeit wieder einmal die «Heiligste Nacht!» verweigert hat. Dabei ist das doch nur ein Lied. Und noch dazu ein sehr schönes.
Pfarrer Moosbauer nimmt erneut einen Schluck aus dem Becher mit der schön geschriebenen Drohung drauf. Gott sieht alles! Ja, leider. Deshalb klemmt jetzt auch diese vermaledeite Bibel. Aber wenn er über seinen Schatten springt und ein freundliches Wort mit dem schönen Florian über ein gewisses Weihnachtslied wechselt – vielleicht entriegelt dann die göttliche Hand seine Bibel und macht sie wieder heile …?
Er trinkt den Glühwein aus, seufzt und starrt vorwurfsvoll seine prächtige Bibel an, diese Verräterin, die sich treulos und illoyal auf die Seite des schönen Florian geschlagen hat. Sie lässt ihm keine Wahl. Wenn sie morgen früh immer noch klemmt, weiß er, was er zu tun hat.
Der Gottesdienst am zweiten Adventsonntag wurde sehr festlich begangen. Der Chor und die Posaunenbläser haben die schönen Adventslieder vorgetragen, die der ebenso schöne Florian hat auswählen dürfen. Obwohl es Pfarrer Moosbauer schon ein wenig gefuchst hat, als einige seiner Schäfchen bemerkten: «Endlich mal was anderes als dieses ewige ‹Macht hoch die Tür!›. Das wurde aber auch Zeit!»
Man kann sich die maßlose Verblüffung des schönen Florian kaum vorstellen, als sich der Pfarrer vor einer Woche für seine Unfreundlichkeit entschuldigte («Jeder hat mal eine schlechte Phase!») und ihm vorschlug, nein, ihn eindringlich bat, in der ganzen kommenden Advents- und Weihnachtszeit seine musikalischen Ideen einzubringen. Selbstverständlich auch die «Heiligste Nacht!». Pfarrer Moosbauer bestand geradezu auf diesem Lied – für den überglücklichen Küster, der sich diese Wandlung vom Saulus zum Paulus nicht erklären konnte, ein wahres Weihnachtswunder. In seinem tiefsten Inneren schien ihm Pfarrer Moosbauer wohl doch viel verständnisvoller und gütiger zu sein, als er bisher angenommen hatte.
Direkt nach dem Gottesdienst düst der Pfarrer durch das Schneegestöber wie ein Pfeil nach Hause, lässt sich ganz außer Atem in seinen Lehnstuhl fallen und greift mit bange klopfendem Herzen nach seiner renitenten Bibel. Aber siehe da – sie öffnet sich beinahe von allein, so glatt und mühelos, als hätte sie noch nie geklemmt. Als wären ihr solche Ideen fremd.
Pfarrer Moosbauer stößt einen Seufzer der Erleichterung aus, der vermutlich bis auf die Straße zu hören ist. Dann macht er sich einen Glühwein (in der Kirche war es bitterkalt) und betrachtet nachdenklich den Becher.
Gott sieht alles!
In Zukunft weiß er, dass das wirklich stimmt.
Margret Silvester
Warum sollte man so ein Weihnachtsfest nicht einfach mal auf neue Füße stellen? Was nicht bedeutet, dass der Weihnachtsbaum-Fuß verzichtbar wäre. Und ein Tannenbaum, der in ihm Platz findet. Und etwas Vegetarisches anstatt Kartoffelsalat mit Würstchen. Der eher schwache Protest von Fee, die sich nicht vorstellen konnte, ohne Fleisch am Weihnachtsabend überhaupt zu leben, blieb überstimmt auf der Strecke.
Was, wenn man die Bescherung mal nicht unter dem Weihnachtsbaum machen würde, sondern als Geschenkesuche, ähnlich wie die Suche nach Eiern zu Ostern? Diese Vorschläge stehen nun im Raum. Nicht gänzlich mit Traditionen brechen, nur ein wenig. Sodass es keinem wehtut. Luca und Fee, die ins Streitalter gewachsenen Zwillinge im Hause Hansen, suchen natürlich längst keine Ostereier mehr. Um den Tannenbaum gibt es Debatten.
«Auf keinen Fall soll ein weiterer Baum gekillt werden», meint Luca.
«Aber ein Baum, der ohnehin sein Leben ausgehaucht hat – wozu wäre er gestorben, wenn er seiner festlichen Bestimmung am Ende nicht zugeführt werden würde?» Fees Argument. Und der Tannenbaumverkäufer hat schließlich Familie und muss auch leben. Mit ein wenig Festlichkeit und nostalgischem Hintergrund, vor allem für die Eltern – damit sind alle einverstanden. Mama setzt außerdem ihren Wunsch nach weihnachtlicher Musik durch.