Weihrauch und Rosenduft - Angela Bauer - E-Book

Weihrauch und Rosenduft E-Book

Angela Bauer

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Beschreibung

Julia ist katholische Theologin und mit dem Leben im Nahen Osten vertraut. Nach Scheidung und wirtschaftlichem Zusammenbruch verdient sie ihren Lebensunterhalt als Reiseleiterin. Anfang der 1990er Jahre bricht sie mit einer Gruppe in die große Sandwüste im Süden der arabischen Halbinsel auf. Wind und Sand gestalten die Reise und das, was die abendlichen Gespräche belebt: Von einem Fest ist die Rede. Vieles wurde geplant, was nicht zu verwirklichen war, weil ein Enkel plötzlich ins Kloster ging, weil eine Tochter erkrankte, weil in Berlin über Nacht eine Mauer entstand ... Freimütig berichtet Julia von ihren Fehlern, vom Zweifel an der Kirche, die ihr Leben bestimmt, von der Lust, die sie treibt, und ihrer Liebe, denn unerwartet reist jemand mit, den sie aus ihrer Studienzeit kennt.

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Seitenzahl: 157

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2024 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99146-871-4

ISBN e-book: 978-3-99146-872-1

Lektorat: Vivika-R. Andige

Umschlagfoto: Andrew7726 | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Weihrauch und Rosenduft

Viel zu kurz war die Nacht. Wenigstens habe ich es beim Ruf des Muezzins bis auf die Bettkante geschafft. Warum bin ich nach dem Essen nicht gleich gegangen? Sonst sitze ich doch auch nicht mit den Gästen bis in die Puppen herum – als wären Lammspießchen und Rosinenreis nur Mezze1gewesen, der Hauptgang aber ließe noch auf sich warten. Immerhin habe ich neun Leute durch die Wüste zu bringen.

1 Vorspeise

„Ja, wenn ’s am schönsten ist …“, hatten Köhlers sich schließlich aufgerafft. Auch die anderen schafften es nach und nach auf die Beine – bis auf Herrn Dannenberg, der sich bereits am ersten Tag als künftiges Schlusslicht vorgestellt hatte.

Es ist keine Standardreise, die ich dieses Mal führe. Umfragen bei den Stammkunden hatten den Wunsch nachmehr Wüsteergeben. Einige wollten zum Rosenpflücken. Andere stimmten fürs Weihrauchland. Als der Reiseplan stand, schreckten aber die meisten doch vor einer Buchung zurück, denn inzwischen war der Irak den Amerikanern in ihre kuwaitische Falle getappt: Im Nahen Osten herrscht Krieg. Dennoch, Köhlers haben sich für die Reise entschieden und auch Herr Dannenberg ist wieder mit von der Partie.

Als Ali den Bus vor der Stadtmauer parkt, ist es bereits Mittag und für einen Stadtrundgang viel zu heiß. Der März zählt nicht mehr zu den Wintermonaten im Oman. Ich streiche also mein Programm auf die Besichtigung zweier benachbarter Häuser zusammen, von denen ich glaube, dass sie trotz ihrer Verlassenheit noch ein paar Einzelheiten aus ihrem früheren Leben vermitteln. Doch die Luft steht in den Räumen und der Blutdruck scheint bei vielen im Keller zu sein. Nicht lange und die ersten kündigen ihren Rückzug an, um an einem angenehmeren Plätzchen auf Ali zu warten.

Plötzlich bin ich allein.

Auf den ersten Blick bilden Manahs Straßen ein rechtwinkliges Netz. Wer es verlässt, findet sich bald in einem Gassengeflecht und am Ende vor einer meist verschlossenen Tür. Ein leer stehendes Haus, hatte man mir gesagt, werde von Dämonen bewohnt, was ich zunächst lächelnd zur Kenntnis nahm. Eines Tages aber fand ich mich in einer dieser Ruinen auf seltsame Weise wie angeweht. Von einer Ahnung? Von einem Gedanken vielleicht, der nur darauf gewartet hatte, endlich einmal mit mir allein zu sein?

Das Haus, vor dem ich hier in der Mittagsglut lande, hat keine Tür. Womöglich war sie zu kostbar, um sie verwittern zu lassen. Feuerstelle. Gebetsnische. Eine dunkle Treppe. Ein Gang. Blickfang im angrenzenden Hof ist eine Nische, ein kleiner Liwan. Dort steht eine Bank, auf der ich mich ausstrecken kann.

Nur nicht einschlafen! Doch es tut gut, hier zu liegen – am Rand der Wüste auf einer Steinbank zu liegen, selbst wenn sie drückt wie der Waschstein neulich in Damaskus, im alten Hamam hinter der Umayyadenmoschee. Schon am Eingang hatte mich Huda mit Tee und frischen Datteln begrüßt: Allah sieht ’s gern, wenn man Staub und Schweiß eines Weges hinter sich lässt.

Was mir an diesem Hamam so gefällt, ist die Ruhe, in der dort alles geschieht. Ich bin nicht die einzige Kundin, die Huda in den halbdunklen Hallen verwöhnt. Jede bleibt aber für sich allein. In Aleppo dagegen findet meist schon in der Garderobe eine lärmende Modenschau statt. Und auch sonst wird gealbert, getanzt und gesungen. Unmengen von Süßigkeiten und Früchten werden verspeist. Ganz still geht es auch bei Huda nicht zu. Vom Geklapper ihrer Pantinen bis zum dumpfen Klopfen in meiner Brust finden aber alle Geräusche im Rhythmus des stetig tropfenden Wassers zusammen. Huda stört nicht, diensteifrig wartend an einen Pfeiler gelehnt. Sie treibt einen auch nicht mit ihrer Geschäftigkeit an, sondern findet sich immer erst wie zufällig ein, wenn ich schon eine Weile in einen Pestemal2gehüllt auf dem Waschstein liege. Ob ich eine rituelle Waschung wünsche, wurde ich beim ersten Mal noch gefragt. Aber ich hatte ja keinen Beischlaf gehabt. Seitdem läuft das reguläre Programm für mich ab.

2 Badetuch

Mit sanftem Griff an die Schläfen werde ich müde gemacht. Der Waschstein ist warm. Er wird von Rafi, dem Tellak3, beheizt. Das Feuer hat er immer schon vor dem ersten Gebet mit Holzabfällen aus den benachbarten Handwerksbetrieben geschürt. Wie zu erwarten, lässt er sich in den Hallen der Frauen nicht blicken. Selbst wenn er am Eingang nur den Dampfabzug kontrolliert, kündigt er sich mit einem Flüstergesang an: „Kannst du nicht deine Flügel weiten? Kannst du sie nicht zum Flug ausbreiten?“ Dann geht Huda mal eben – die Seifenschüssel im Arm – hinaus, um ein Schwätzchen mit ihm zu halten, ist aber gleich darauf wieder ganz für mich da, löst, ohne ein Wort zu verlieren, das Badetuch, lässt den Ziegenfellhandschuh auf meinem Körper kreisen – das macht warm und für die Massage bereit – und türmt Seifenschaum auf mir auf, streicht, knetet, dehnt und streckt meine Haut, meine Muskeln und Sehnen, übergießt mich mit warmem Wasser und verteilt neuen, knisternden Schaum auf Bauch, Armen, Brüsten und Beinen. Schließlich liege ich in warme Tücher gewickelt. „In ein paar Stunden“, dringt ihre Stimme wie von weit an mein Ohr, „bist du ein neuer Mensch.“

3 Bademeister

Wie lange ich jedes Mal schlafe, weiß ich nicht so genau, denn mit den Kleidern habe ich auch meine Uhr abgelegt. Manchmal werde ich vom Klappern der Kämme wach. Oder irgendwo surrt ein Föhn. Die Augen geschlossen, warte ich dann, bis Huda mich in den Nebenraum führt, wo Farbtöpfe und Pinsel stehen und das Näpfchen mit der Enthaarungspaste, die sie aus Zitronensaft, Wasser und Zucker zusammenrührt. „Frauen wollen makellos sein, wenn sie den Hamam wieder verlassen.“ Sie lächelt mich über den Spiegel an, will auch noch das Graue an meinen Schläfen tönen, doch ich winke ab.

„Schön“, fasste sie beim letzten Mal das Ergebnis ihrer Mühen zusammen und schenkte mir einen zufriedenen Blick: „Auch glücklich?“

„Ja, also …“ Aber so schnell fiel mir nichts ein. „Schön muss reichen“, sagte ich deshalb auch nur und streifte den Frisierumhang ab.

Im Schatten deiner Flügel, Herr, will ich auf einer Steinbank liegen … Das alte Manah hatte auch mal ein Badehaus. In diesem Hof hier hat es sogar mal ein Bäumchen gegeben, von dem jetzt nur noch ein Gerippe steht. Denn irgendwann wurde das Wasser knapp und reichte schließlich nicht einmal mehr, um zu leben. Die Menschen mussten ihre Häuser aufgeben. Seitdem kümmert sich niemand mehr um den Wüstensand, den der Wind in die Ecken weht. Manah wurde zur Geisterstadt. Seine Bewohner haben sich an anderer Stelle eine Neustadt gebaut, in der Ali jetzt hoffentlich die Fahrer für unsere Wüstenfahrt trifft. Zwei Stunden, meinte er, würden sie brauchen, um das Gepäck umzuladen. Auch die Technik würde noch mal überprüft.

„Auf geht ’s, Ali! Bismillah!“ – Vier Jahre ist es her, dass ich mich wohl doch ein wenig zu unbefangen neben ihn auf den Beifahrersitz schwang. Sofort trat etwas Stählernes in seinen sonst so samtweichen Blick und ich wusste: Der nimmt dir dein „Bismillah!“ nicht ab. Er ließ die Sonne aber über unserem Missklang nicht untergehen und kam gegen Abend noch einmal darauf zurück: „Wenn du aufbrichst, Julia, ohne Gott anzurufen, bewegt sich nichts.“

Bismillah – wenn Ali es sagt, steht die Zeit für mich still. Ja, manchmal fürchte ich sogar, dieser gewitzte Touristenfahrer, Ehemann und fünffache Vater könnte sich für ein Ewigkeitsmomentchen in Allahs Unfassbarkeit auflösen –, bis ich zusammenfahre, weil er den Zündschlüssel dreht: „Ali, bitte!“ Aber er hat die Musik ja schon runtergedreht. Schließlich ist er nicht zum ersten Mal mit mir unterwegs. Ob er weiß, dass Gott auch in meinen Gedanken lebt? Immerhin habe ich Theologie studiert.

„Der Herr sei mit uns“, habe ich vor ein paar Tagen gesagt, „besonders heute, am Ostertag.“

„Wo ist mein Ei?“, fragte er gleich, bog auch wieder mal viel zu schnell in den Highway zum Flughafen ab und hakte, kaum dass er sich eingefädelt hatte, noch einmal nach: „Hast du für mich auch ein Ei?“ „Kriegst ein Grünes“, versprach ich lachend, angelte mir vom Rücksitz die Teilnehmerliste und zählte durch: Frau Britzelberger mit Benny. Dannenberg. Stocker. Zweimal Köhler. Kunze. Wegwert und Ziegler. – Ziegler? Alfred Ziegler. Doch nicht etwa Tante Tines Mann? Seit Tines Tod haben wir nichts mehr von ihm gehört. Geboren? Ist ja egal. Doch er kommt aus Berlin.

Gut, dass er reist, dachte ich noch, falls er es ist. Viele reisen jetzt, nachdem die Mauer gefallen ist. Aber warum in den Oman? Reist er allein? Oder mit dieser Frau Kunze vielleicht? Gebucht ist ein Einzelzimmer, dazu eine Verlängerung. Ob er weiß, wer die Reiseleiterin ist?

So, wie er dann auf mich zukam, schien er keineswegs überrascht zu sein: „Wollte mal sehen, Julia, was du so machst.“ Vielleicht hätte er mich ja umarmt, wären die Damen Wegwert und Kunze ihm nicht auf den Fersen gefolgt. – „Frohe Ostern für alle!“ Kaum hatte jeder sein Ei, rollten Britzelbergers mit ihren Trolleys heran. Ob er zum ersten Mal in einem arabischen Land Urlaub mache, konnte ich gerade noch fragen, bevor Ali mit dem Gepäckträger kam.

Knapp. Viel zu knapp alles. Nur – welcher Anfang lässt sich überhaupt finden nach dreißig Jahren, in denen es zwischen uns kaum eine Verbindung gab? Im Übrigen fehlt mir am Beginn einer Reise für Privates die Zeit. Der Urlaub dieser Leute ist schließlich mein Broterwerb. Früher – ja, da brauchte ich mich ums Planen und Organisieren nicht groß zu kümmern. Das hat Wolferl gemacht. Derweil durfte ich mir ausmalen, wie schön es sein würde. Sobald wir ankamen, habe ich Ansichtskarten gekauft, die ich auch jetzt ab und zu noch betrachte.

Es ging mir gut – damals. Ich glaubte, wir seien eine glückliche, erfolgreiche Familie. Dabei hatte ich aber vor allem meine eigene Arbeit im Blick. Viel Gutes blieb ungeschehen. Es war, als ließen wir Rechnungen liegen. Am Ende, glaube ich, stapelten sie sich – ein Umstand, von dem auch Allah ganz und gar nicht begeistert ist: Und wenn du nur das Fädchen an einem Dattelkern schuldest … Sagt er ’s nicht so? Allah rechnet gut. Und ich habe bezahlt. Inzwischen sind es die Reisen anderer Leute, um die sich mein Leben dreht.

Im Tempelchen über den Teichen im Wadi Bani Khalid – ja, da hätten wir ins Gespräch kommen können: Ali hatte uns durch die Batinah gefahren, das fruchtbare Küstenland. Anschließend bog er, dem Lauf eines Wadis folgend, in südwestliche Richtung ab. Noch bedeckten Sträucher und Grasbüschel das Land, aber schon bald sahen wir nur noch Steine und Sand. Schließlich schlängelte sich die Straße zwischen graubraunen Felsen hinauf. Auf der Passhöhe angekommen, stiegen wir aus, um auf der anderen Seite hinunterzulaufen und Ali samt Bus bei den Teichen zu treffen. – Es war Mittagszeit und zwischen den Felsen gab es kaum Schatten. Nach einer guten Stunde tauchten unter uns ein paar staubige Palmen auf. Überhitzt und natürlich völlig verschwitzt kamen wir endlich auf der Talsohle an, balancierten das letzte Stück zwischen mannshohen Binsen und Gräsern auf den Mauern der Falaji-Kanäle entlang, bis wir ihn vor uns hatten: den ersten jadegrün schimmernden Teich. Nicht einmal der Durst schien jetzt noch von Bedeutung zu sein. Erschöpfte Blicke tauchten ins Wasser ein und irgendwann – ungläubig lächelnd – auch wieder auf. Nur noch sitzen und schauen, meinten die einen. Andere wollten über die Brücke hinüber ins Restaurant. Benny hatte eine Höhle in seinem Programm und Köhlers bummelten längst auf der Suche nach einem geeigneten Badeplatz am Ufer entlang. Die Damen Kunze und Wegwert hatten sich, noch unschlüssig, zu Alfred gesellt. Der zeigte ein Stück das Wadi hinauf: „Zu der kleinen“, sagte er, „ich meine die Insel mit dem Tempelchen drauf.“

„Und was sollen wir da?“

„Weiß nicht. Umschau halten, oder vielleicht über Allah streiten.“ – Der Komik seines Vorschlags schien er sich nicht bewusst zu sein, stand einfach nur und schnürte seelenruhig an seinem Rucksack herum. Leise und wie nebenbei sagte er noch, dass er beim Anblick dieser herrlichen Teiche durchaus die Frage für angebracht halte, warum sich Allah als Fassung für seine Edelsteine einen so schnöden Felsen ausgesucht habe. Schöner als hier, entschied dann aber Frau Wegwert, könne der Blick von dort auch nicht sein, und dieser Meinung schloss sich Frau Kunze an.

1

Durch das kunstvoll geschmiedete Tempeldach – schließlich – warf die Sonne Kringel und Striche auf meine Beine, auf Rucksack und Hüte und auf sein Hemd. Er stand am Geländer und verfolgte den Flug der Libellen, die rot und blau übers Wasser zuckten. Vielleicht zählte er auch die Putzerfischchen, die nur darauf warten, dass sich jemand die Füße kühlt, um sogleich seiner Hornhaut zu Leibe zu rücken.

Smaragdgrünes Glitzern. Türkisfarbiges Leuchten. Am sandigen Ufer blitzte das Wasser wie Aquamarin. Vom Strahlen geblendet, machte ich es mir auf der Eckbank bequem und verlor mich im Anblick der Bögen und Rauten im Dach über mir. Welche Kreise schnitten sich hier? Keine Linie fiel auf. Keine hielt sich zurück. Unendliche Muster, die Ruhe geben, so lange man sie nicht verstehen will. – Hätte ich ’s wagen sollen? Einfach was sagen? Ihn über seine Ehe mit Tine ausfragen in diesem Moment? Über ihre Krankheit und ihren Tod? Und warum sie beide nicht in den Westen gekommen waren, als es noch keine Mauer gab? Aber hatte er denn die Reise gebucht, um mit mir über Dinge zu reden, auf die ich in Deutschland nie neugierig war? Nein, für aufgewärmte Familiengeschichten war es an diesem Nachmittag wirklich zu schön. Ein solches Tempelchen –, doch ich habe Schritte gehört. Es ist Zeit. Ich muss los. Ein letzter Blick noch auf den vertrockneten Baum und dann gehe ich in die Halle zurück. Ein solches Tempelchen würde man hier Janah nennen, hätte ich ihm noch gerne gesagt. Aber da steht er ja – im Eingang, direkt gegenüber, eine dunkle Gestalt vor knalligem Licht.

„Als Tine starb … “, kommt er so unvermittelt auf sein Leben sprechen, dass mir die Zunge am Gaumen klebt, „als sie starb, weißt du, war ich im Grunde genommen …“

„… auch tot?“

Zum Glück schaut er zur Hausnummer über dem Türstock hinauf. So habe ich Zeit, mich zu fassen. „Kein Gefühl“, versucht er, mir seinen Zustand begreifbar zu machen, „kein Gespür, kein Gedanke, kein Sinn … “

Ich weiß, sage ich mir, und zugleich ist mir klar, dass ich überhaupt nicht ermessen kann, was er mit Tine verloren hat, weil – ja, weil nun mal die Gemeinschaft dieser beiden Menschen so etwas ganz Inniges war. Mit Wolferl dagegen –, also, um meine Dämonen zu wecken, hätte Alfred bestimmt keinen besseren Ort als diese Geisterstadt wählen können. Mit Wolferl –, was soll ich sagen? Unsere Ehe hat ein schreckliches Ende gehabt. Und das zählt nun einmal. Vom Ende hängt die Erinnerung ab. Veranstalter wissen das und Mütter, die Kindergeburtstage gestalten.

Es kam wie ein Stich damals – das Ende. Es bohrte sich mit der knarrenden Stimme eines Anwalts in mich hinein, der – langer Rede kurzer Sinn – nach meiner ersten Konsultation feststellte, dass in all den gemeinsamen Ehejahren aus meinem Mann nun mal ein Betrüger geworden sei. Er hätte es anders ausdrücken können. Aber der Sachverhalt stimmte ja. Vielleicht ließ ihm meine Fassungslosigkeit auch keine andere Wahl. Auf jeden Fall habe ich Wolferls Verlust und alles, was damals an Sicherheit und Ordnung für mich zusammenbrach, wie einen gewaltigen Tod erlebt.

Dass wir draufkommen würden, war klar. Irgendwann, hatte ich mir gedacht. Aber hier, schon hier in Manah? Gut dreißig Jahre ist es her, dass wir am Bahnhof Tempelhof einen Abend bei Lutter & Wegner verbrachten. Wir wussten damals noch nicht, dass Tines Krankheit unheilbar war. Er hat sie gepflegt – jahrelang – wenn Schübe kamen und neue Lähmungen blieben, voll Zuversicht und guter Ideen, verlässlich, geduldig und fast immer auch mit Humor. Nach ihrer Silberhochzeit hatten sie noch ein Foto geschickt. Bis zu ihrem Ende ist er bei ihr geblieben. Ob sie Freunde hatten, Nachbarn, die ihnen halfen? Ob er Unterstützung von den Brüdern im Kloster bekam? – Wie viel leichter ich mir seine Situation jetzt ausmalen kann, wo er neben mir geht.

***

Da stehen sie – alle drei in knöchellange Dishdashas4gehüllt, als seien sie einem Werbeplakat entstiegen. Das strahlendste Weiß, das es je gab!

4 Männergewänder

„Marhaba!5As-salâm álaykum!6“

5 Hallo!

6 Friede sei mit dir!

„Wa álaykum as-salâm!7“

7 Der Friede sei auch mit dir!

Talal – groß und hager – kommt mir entgegen. Er wird uns ins Antilopen–Camp bringen und weiter durch die Wüste bis hinunter ins Weihrauchland. Navid und Said, seine Neffen, schauen uns freundlich schweigend der Reihe nach an. Said, das Dickerchen unter den dreien, kann seine überzähligen Pfunde selbst unter einem Dishdasha nicht ganz verbergen. Er ist auch der erste, der wenig später mit uns Manahs „Kitchen and Dining“ betritt. Reis und geröstete Zwiebeln, gebratenes Hähnchen, Salat und Kardamomtee – was für ein üppiges Essen, bevor es in die Einöde geht! Allerdings müssen wir noch Abschied von Ali nehmen:

„Danke für alles, Ali!“

„Ma’a salâma8, Julia. Bleib gesund! Nächsten Winter, so Gott will, sehen wir uns.“

8 Auf Wiedersehen!

„Shukran9, Ali!“ Ich winke – winke noch, als mir der ockerfarbene Dunst schon längst die Sicht auf ihn nimmt. Dann geht es im Eilschritt zurück. Bei drei Fahrzeugen und zehn Leuten wird einer der Gäste keinen Fensterplatz haben: Wer also sitzt wo während der Wüstenfahrt? Erfahrungsgemäß beantwortet sich diese Frage in deutschen Gruppen nicht von allein. – „Dann muss eben jeder mal hinten auf den mittleren Sitz“, schalte ich mich in die Debatte ein: „Am besten, wir wechseln uns täglich ab.“ – Um zu zeigen, wie ernst es mir ist, aber auch, weil Benny bereits – ziemlich keck – vorn neben Talal sitzt, werfe ich meine Tasche zwischen Frau Wegwert und Herrn Dannenberg auf die hintere Bank, mache mich an das Zählen der Wasserkanister, prüfe drei Verbandskästen, verteile saure Drops und Musikkassetten: „Arabian Night. Music for Dreaming“, falls meinen Gästen die Wüste zu langweilig wird. – Ob Benny weiß, dass er der Reiseleiterin den Beifahrersitz streitig macht? Eine Mutter, die ihm in dieser Frage behilflich sein könnte, hat er in Frau Britzelberger jedenfalls nicht. Die nämlich hat sich’s längst bei Navid im Rover auf der Rückbank gemütlich gemacht und so viele Handtaschen zwischen sich und Herrn Stocker gestellt, dass kein Dritter mehr zwischen sie passt.

9 Danke!

„Music for Dreaming“ – ein Lied, das sich wiederkäut, möchte man meinen, und wie geschaffen für einen Verdauungsschlaf. Benny jedenfalls döst bereits, und auch Frau Wegwert ist öfter mal weggesackt. Nur Herr Dannenberg ist hellwach – einer, der sich, wie es scheint, an der Leere ringsum gar nicht satt sehen kann. Eben zieht er ein Schulheft heraus. „Gedanken zur Wüste“ steht drauf. Wer weiß, meinte er gestern, vielleicht würde eine Sammlung wüster Gedanken daraus. – Grau, schreibt er hinein: Grau oder alles, was zwischen Schwarz und Weiß möglich ist, und dann räuspert er sich. Er hätte da noch ein paar Fragen: Zum Beispiel, wie sich das mit den Preisen für ’s grüne und gelbe Rosenwasser verhält. Da habe er gestern in der Fabrik leider nicht zugehört.