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Weil dein Herz noch immer schlägt E-Book

Susy McPhee

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Beschreibung

Manchmal ruht die Hoffnung dort, wo du sie am wenigsten erwartest!

Marions Leben fällt wie ein Kartenhaus in sich zusammen: Ihre zehnjährige Tochter Hope kam vor sechs Monaten bei einem Autounfall ums Leben, ihre Ehe mit Sam zerbrach an diesem Schicksal. Vollkommen allein in ihrer tiefen Trauer und Hoffnungslosigkeit beschließt Marion, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Doch eine zufällige Begegnung ändert ihr Leben auf eine Art und Weise, wie Marion es sich niemals hätte vorstellen können. Aber wird sie Sam davon überzeugen können, ihrer Liebe eine zweite Chance zu geben?

Ein einfühlsamer und emotionaler Roman voll herzzerreißender Momente und fesselnder Charaktere!

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Seitenzahl: 453

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Danksagung

Widmung

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Epilog

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

Leseprobe

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Über dieses Buch

Manchmal ruht die Hoffnung dort, wo du sie am wenigsten erwartest!

Marions Leben fällt wie ein Kartenhaus in sich zusammen: Ihre zehnjährige Tochter Hope kam vor sechs Monaten bei einem Autounfall ums Leben, ihre Ehe mit Sam zerbrach an diesem Schicksal. Vollkommen allein in ihrer tiefen Trauer und Hoffnungslosigkeit beschließt Marion, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Doch eine zufällige Begegnung ändert ihr Leben auf eine Art und Weise, wie Marion es sich niemals hätte vorstellen können. Aber wird sie Sam davon überzeugen können, ihrer Liebe eine zweite Chance zu geben?

Susy McPhee

Weil dein Herznoch immer schlägt

Aus dem Englischen von Margarethe van Pée

Roman

Danksagung

Schreiben ist eine einsame Beschäftigung. Man verbringt endlose Stunden in einem stillen Raum, als Gesellschaft nur die Figuren, die man erfunden hat, knurrt jedes Mal ungnädig, wenn die Tür aufgeht und ein Mensch aus Fleisch und Blut einem eine Tasse Tee anbietet, weil es die Konzentration stört und man jetzt wieder Stunden braucht, um sich von Neuem auf die Handlung einzustellen. Und wie Iain Ihnen bestätigen kann, sind die Handlung und ich uns nie wirklich nahegekommen.

Trotz dieser Einsamkeit beim Schreiben wäre das Endresultat jedoch nie ohne die Hilfe und Ermutigung zahlreicher Personen hinter den Kulissen zustande gekommen, die ihre Zeit, ihr Wissen und zumindest bei zwei bemerkenswerten Gelegenheiten ihre Gästezimmer zur Verfügung stellten, damit ich meiner Schöpfung Leben einhauchen konnte.

Wie immer gilt mein Dank Alice Lutyens bei Curtis Brown und Gillian Green bei Ebury, dem besten Team aus Agentin und Lektorin, das ich je bekommen konnte. Weiß der Himmel, wo ich ohne eure Anleitung und eure Unterstützung wäre. Danke auch an Felicity Blunt, die in die Bresche gesprungen ist, als Alice FÜNF MONATE LANG eine Weltreise gemacht hat: Die kleinen Kuchen im Haymarket Hotel waren legendär. Danke an Hannah Robinson bei Ebury für ihre unermüdliche Pressearbeit und ein großes Dankeschön, dank u, dekuji za pozornost und Köszönöm (zum Glück gibt es Babelfisch!) an Kate Cooper bei Curtis Brown, die ständig Leute überredet, mein erstes Buch in viele verschiedene Sprachen zu übersetzen.

Danke an die besten Freundinnen, die eine Frau haben kann, Fiona Airey, Lesley Campbell, Jane Prior und meine Schwester, Dale Hobbs, die mich am Abend vor dem Erscheinen von Eine Frau für meinen Mann entführt hat, damit wir Champagner unterm Sternenhimmel trinken konnten. Dank an Angela und Sean O'Reilly, die mein Werk völlig fremden Leuten in den Flughafen-Buchläden aufgeschwatzt haben. Und an Dr. Gail Orme, die mir erklärt hat, mit welchem Medikament man seinem Leben am besten ein Ende setzen kann – und die mich nicht gleich umgebracht hat, als ich sie danach gefragt habe. An Denise und Ewan Baxter, in deren Haus in Tobermory Mishka und ich wohnen durften und die mich bei meinen Versuchen, einen Fuß in die Tür der literarischen Welt zu bekommen, so unterstützt und ermutigt haben. Euer Glaube an mich ist nicht mit Geld zu bezahlen, und ich stehe tief in eurer Schuld. Danke auch an Chris und Ian Rhodes, die Iain und mich in Harrogate so freundlich aufgenommen haben, als ich Marions Tummelplatz recherchiert habe. Ein netteres Paar, um Gräber auszurauben, gibt es nicht.

Danke an Julie Donnelly vom Harrogate A&E, die sich extra freigenommen hat, um alle meine blöden Fragen zu beantworten. Danke an Dr. Alan Wright, der mir so bereitwillig erzählte, wie es war, im Haus des Leuchtturmwärters in Rubha nan Gall zu wohnen, und der mit Sicherheit den besten Tee an der Westküste macht. Danke auch an meine Mum, Joan Harrison, die wieder einmal so hartnäckig wie ein Terrier, der sich in eine Ratte verbissen hat, bei jedem, der auch nur das leiseste Interesse zeigte, mein Loblied gesungen hat. Äußern Sie sich bloß nicht abfällig darüber, sie wird Ihnen alle Gliedmaßen einzeln ausreißen. Ich habe Sie gewarnt! Danke an meine Schwester, Kerry Bussell, die sich die Zeit genommen hat, die ersten Kapitel von Marions Saga zu lesen und mir ihre Meinung dazu zu mailen, obwohl sie damals in Südkorea gewohnt hat. Entfernung ist für schwesterliche Unterstützung kein Hindernis. Und ich danke euch allen, Familie und Freunden, die mir freudige E-Mails und SMS geschickt haben, wann immer ihr eine Ausgabe von Eine Frau für meinen Mann in den Buchhandlungen gesehen habt. Es freut mich sehr, dass ihr auf meiner Reise dabei seid.

Ganz großer Dank gilt meiner Familie, die meine Launen ertragen hat, meine schlechte Zeitplanung und meine noch schlechtere Küche (hier müsst ihr jetzt alle wie ein Mann aufschreien: »Nein, nein! Du bist eine großartige Köchin!« Wenn es sein muss, müsst ihr eben lügen). Danke an David, der schon früh gelernt hat, dass man als Kind am besten überlebt, wenn man ständig fragt: »Möchtest du eine Tasse Tee?« Danke an Lauren, die gelernt hat, Pfannkuchen zu backen, um uns alle vor dem Verhungern zu bewahren, und die mich auch nach neunzehn Jahren, in denen sie mich als Mutter erträgt, immer noch zum Lachen bringen kann. Zwar oft aus Hysterie, wie ich zugeben muss, aber trotzdem. An Carolyn, die zulässt, dass ich sie mitten in Seminar-Vorbereitungen und Examens-Nachbereitungen anrufe, um ihren beachtlichen Verstand anzuzapfen. An Helen, deren gesunder Menschenverstand und gutmütige Ausgeglichenheit mir Kraft geben, wenn ich schon das Handtuch werfen will. An Olly, der sich überlegt, ob er seinen Malamut-Welpen Hector nennt; ein größeres Kompliment gibt es nicht. Und natürlich danke ich Iain, meinem ersten und einzigen Ehemann, der mich wahnsinnig macht, weil er ständig im Internet nach mir sucht, aber zumindest den Anstand besitzt, mir Gesellschaft zu leisten, wenn ich es ebenfalls tue. Ich würde dir ja jedes einzelne Wort widmen, das ich schreibe, aber wir wissen beide, dass das nach traurigem Misserfolg klingen würde.

Und schließlich (Carolyn bringt mich um, weil das ganz bestimmt nach traurigem Misserfolg klingt) Danke an Mishka, der mein ständiger Gefährte, Fußwärmer und Personal Trainer während der Entstehungsphase dieses Buches war und nichts dafür verlangt hat außer gelegentliche Streicheleinheiten und ab und zu einen Hundekuchen. Du bekommst auch keine Widmung, aber nur, weil du nicht lesen kannst.

Für meine schönen Töchter Helen, Carolyn und Lauren, deren Lachen und Fähigkeit, Aladdin Wort für Wort auswendig rezitieren zu können, irgendwie bis in meine verrückte Welt reicht und mich daran erinnert, warum ich all das tue. Dieses Buch ist für euch, mit all meiner Dankbarkeit und viel Liebe.

1

Ich, Marion Bishop, im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, habe beschlossen, mich heute Abend, Donnerstag, den 24. April 2008 umzubringen.

Das klingt wie ein Abschiedsbrief, ist aber nicht so gemeint. Ich gestehe mir – hauptsächlich mir – nur ehrlich ein, wie sehr mein Leben aus dem Ruder gelaufen ist. Vor allem, wenn ich daran denke, was ich Sam antue. Sam angetan habe, sollte ich wohl besser sagen. Sam, der mich monatelang zusammengehalten hat, der mich aber einfach nicht wieder heil machen kann, wie sehr er es auch will. Ich bin nicht mehr zu reparieren.

Vierundzwanzigster April. An dem Datum ist nichts besonders Bemerkenswertes. Außer mir, natürlich. Wenn alles nach Plan läuft, wird auf meinem Grabstein stehen 14. Oktober 1973 bis 24. April 2008. Friedhofsbesucher werden kurz nachrechnen, so wie ich das bei Grabsteinen immer tue, und zu dem Ergebnis kommen, dass ich vierunddreißig war, als ich gestorben bin. Sie schnalzen vielleicht mit der Zunge, so wie ich es immer tue, wenn jemand unter vierzig stirbt. Wahrscheinlich sagen sie »Die arme Frau« oder so etwas in der Art, auch wenn das gar nichts mehr ändert: Ich werde jetzt schon seit einiger Zeit mit Mitleid bedacht. Wenn Leute mich kommen sehen, wechseln sie lieber auf die andere Straßenseite, als mit mir zu reden. Leute wie Heather, meine Nachbarin, zum Beispiel: Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie sie nach dem Ballettunterricht auf dem Heimweg immer noch mit zu mir kam. Wir zwei haben in der Küche gesessen und uns bei einem Glas Wein unterhalten, während Poppy, Hope und Poppys kleiner Bruder Liam dem Abend noch die letzten Minuten zum Spielen abgerungen haben. An manchen Tagen musste ich sie regelrecht hinauswerfen, bevor Sam nach Hause kam. Wenige Wochen nach dem Unfall wurde sie fast von einem Lieferwagen überfahren, als sie über die Parliament Street schoss, nur um mir aus dem Weg zu gehen. Oder Martin, ihr Mann, der letzten Monat lieber wieder im Haus verschwand, als das Risiko einzugehen, mir in die Arme zu laufen. Die Aura der Tragödie umgibt mich wie eine Seuche, und die Leute weichen erschreckt vor mir zurück, um sich nicht anzustecken. Außer Esme McFarland aus dem Blumenladen, die vielleicht selbst genug Tragödien erlebt hat, um von ihrer Immunität überzeugt zu sein; sie bleibt immer stehen, wenn sie mich sieht, legt ihren Kopf schräg und sagt so etwas Plattes wie: »Marion. Sie Ärmste. Sie sind in meinen Gebeten.« Na ja, vielleicht betet sie wirklich für mich. Ach, du lieber Himmel, ich hoffe nicht. Bei dem Gedanken, Esme McFarland könnte für mich beten, läuft es mir kalt den Rücken herunter.

Ich gebe zu, das klingt ziemlich grob. Ich kann Gebete weiß Gott gebrauchen, und es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass Gott Esme weniger aufmerksam zuhören würde als irgendjemand anderem.

Heute Nachmittag war ich auf dem Friedhof, irgendwie schon komisch, nachdem Sam mich gerade erst verlassen hatte. Nein, eigentlich nicht besonders komisch: Ich bin jetzt an den meisten Tagen dort. Heute allerdings habe ich mir überlegt, wie es wohl wäre, für immer hierherzuziehen. Die anderen Grabsteine schaue ich mir nicht mehr so genau an; in der letzten Zeit zieht mich nur noch ein Grab an, und wenn Sie es sehen könnten, würden Sie feststellen, dass die Verstorbene noch nicht einmal annähernd vierzig Jahre alt geworden ist. »HOPE BISHOP«, steht auf dem Grabstein, »27. Juni 1998 – 18. September 2007«.

Und jetzt rechnen Sie mal.

Ich hatte einen Zweig mit fast verblühten Kirschblüten vom Baum am Eingangstor mitgebracht und mich auf dem verlassenen Friedhof auf den Rücken gelegt, wie ich es immer mache, wenn nichts los ist. Mein Kopf lag auf der frisch aufgeschütteten Erde um den gerade erst aufgestellten Grabstein, ich blickte in den klaren blauen Himmel und redete mit Hope. Der Stein war erst jetzt aufgestellt worden, weil man das anscheinend erst machen kann, wenn die Erde sich gesetzt hat. Der Steinmetz hatte acht Monate empfohlen, aber ich hatte ihn auf sieben heruntergehandelt. Ein Grab ohne Grabstein wirkt so anonym, und das ist schwer zu ertragen, wenn dein Kind unter der Erde liegt. Neben meinem Kopf wippten und nickten die Blüten in der leichten Brise. Sie standen sicher in der antiken silbernen Grabvase, die ich ausgesucht hatte (mit Silber beschichtet, leicht zu installieren, pflegeleichte Zinkbasis: Die Begriffe aus der Welt der Gräber gingen mir überraschend leicht über die Lippen). »Vierzehn Päckchen!«, hatte ich gerade zu Hope gesagt. »Und ich kann das Zeug nicht ausstehen. Ich habe es nur geholt, weil du es gerne magst.« Ich korrigierte mich. »Gemocht hast.« Ich hatte mich grummelnd bei ihr beschwert, weil ich seit dem Unfall die ganze Nacht über im ganzen Haus das Licht anlassen muss. Ich kann die Dunkelheit nicht mehr ertragen. Auch in ihrem Zimmer lasse ich ständig das Radio laufen, damit es wenigstens den Anschein von Leben hat. Die vierzehn Päckchen bezogen sich auf den Büffel-Mozzarella, den ich gekauft hatte (Hope hatte ihn immer besonders gerne gemocht, und ich war gestern Morgen bei Waitrose leicht verwirrt gewesen). Ich hatte die Päckchen in die Salatschublade gestopft und dann vergessen, die Kühlschranktür zu schließen. Ich fahre mittlerweile auch überall mit dem Auto hin – sogar ins Einkaufszentrum, was jämmerlich ist, wenn man bedenkt, dass es nur drei Straßen weit entfernt ist –, nur um die Esmes, Martins und Heathers zu meiden. Einen ganzen Katalog von Umweltsünden hätte Sam es genannt, bevor er aufgegeben hat, mir ein Lachen (oder ein Lächeln oder auch nur Blickkontakt) zu entlocken. Der Himmel weiß, was ich damit der Ozonschicht antue. Ich habe mich eigentlich nicht wirklich bei Hope beklagt: Ich habe mir diese Art, mit ihr zu reden, angewöhnt, aber sie hat nichts mit unseren Gesprächen zu tun, als sie noch lebte. Um ehrlich zu sein, habe ich mich in den letzten sieben Monaten so von allen zurückgezogen, dass Hope die einzige Person ist, die noch mit mir redet.

Na ja, hauptsächlich rede natürlich ich.

Als mir das klar wurde, richtete ich mich auf und drehte mich um, um die Gravur auf dem Grabstein zu betrachten. Ich fuhr mit dem Finger über die Umrisse von Hopes Namen. Und als ich sie so klar in Stein gemeißelt sah, traf mich die Erkenntnis, dass sie nie mehr zurückkommen würde, wie ein Schlag in den Solarplexus. Ich keuchte auf. Und dann lehnte ich den Kopf gegen den kühlen Marmor und lauschte.

Auf einem Ast irgendwo über meinem Kopf markierte eine Drossel lärmend ihr Territorium, und irgendwo in der Ferne rauschte der Verkehr auf der Wetherby Road. Ich hielt die Augen fest geschlossen, um die Außengeräusche auszublenden, und lauschte noch angestrengter.

Da war nichts: kein Flüstern aus dem Grab; kein Gefühl dafür, dass ich hier auf diesem Grab das, was ich verloren hatte, wiedergewinnen könnte.

Und in diesem Augenblick wurde mir klar, dass es keine Rolle spielte, wie oft ich mit Blumen hierherkam, als ob ich irgendwie für das Geschehene verantwortlich wäre, und mich auf dem Grab ausstreckte wie ein Märtyrer für eine Sache, an die niemand sonst glaubte. Wen kümmerte es schon, ob ich meinen Kühlschrank mit Essen füllte, das niemand aß, ob die Sugababes rund um die Uhr sangen oder ob ich feuerverzinkte Silbervasen und weißen Marmor über poliertem Granit aussuchte? Ob ich atmete oder nicht atmete? (Mir war auch klar geworden, dass ich nur weitermachte, weil es mir noch nicht in den Sinn gekommen war, dass es eine Alternative für mich gab.) Mein Leben war vorbei. In den vergangenen sieben Monaten hatte ich mich nur rein mechanisch bewegt.

Ehrlich gesagt empfand ich Erleichterung.

Ich weiß, das klingt wahrscheinlich verrückt. Ich höre Sie förmlich denken: Die hat sie nicht mehr alle. Aber das Gegenteil war der Fall. Heute Nachmittag war ich wesentlich klarer bei Verstand als jemals seit diesem schrecklichen Abend, an dem die Polizei uns die Nachricht überbracht hatte. Allerdings muss das nicht unbedingt viel heißen, wenn ich so darüber nachdenke. Vielleicht sollte ich den ersten Satz etwas umformulieren.

Ich, Marion Bishop, unter den gegebenen Umständen im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, habe beschlossen, mich heute Abend, Donnerstag, den 24. April 2008 umzubringen.

Jetzt zufrieden?

2

Hope gegenüber erwähne ich nichts davon. Ich fahre einfach zurück in das leere Haus und beginne, alles für meine bevorstehende Abreise vorzubereiten. Ich staubsauge von oben bis unten alle drei Stockwerke, wobei ich den Staubsauger hinter mir herziehe wie ein bockiges Kind. Dann putze ich die Badezimmer, lege frische Handtücher hin und poliere die Armaturen, bis sie glänzen. Danach nehme ich mir die Küche vor, wische den Boden und wienere den Aga, bis ich mich darin spiegeln kann. Früher habe ich immer geglaubt, ein Aga gäbe einem Haus ein Herz, aber glauben Sie mir, es ist nur so stark, wie die Leute, die darin wohnen. Ich werfe die ungeöffneten Päckchen Mozzarella und alle verderblichen Lebensmittel aus dem Kühlschrank in die Mülltonne, die am kommenden Donnerstag geleert wird, und behalte nur eine fast volle Flasche Wodka und ein Paket Lammgehacktes für später zurück.

Kurz bleibe ich neben der Tonne stehen und denke über jenen Donnerstag nach, über jenen Punkt in naher Zukunft, an dem ich nicht mehr sein werde. Ich warte darauf, ob sich ein Funke Bedauern einstellen will, aber natürlich empfinde ich nichts; ich habe einfach vergessen, wie es ist, Bedauern zu empfinden. Der Trauerberater, den Sam für uns beide organisiert hatte, hat mir gesagt, ich würde in der »Ablehnungsphase« der Trauer stecken. Ich würde mich weigern, meinen Verlust wahrnehmen zu wollen, indem ich alle Emotionen einfach ausschließe.

Ich wünschte, das ginge so einfach. Ehrlich gesagt wäre ein Ausschließen aller Gefühle eine Erleichterung, verglichen mit der Wut, die meinen Körper wie ein Fieber verzehrt und die wenigen Unseligen ansteckt, die mir zu nahe kommen. Das heißt, abgesehen von Esme. Wie bereits erwähnt, scheint sie immun zu sein.

Zuerst war es Panik. Jeden Morgen in den Wochen nach dem Unfall erwachte ich aus unruhigem Schlaf mit Kopfschmerzen und einer eisernen Klammer ums Herz. Und jeden Morgen fiel es mir wieder ein, und es traf mich jedes Mal aufs Neue wie ein Schlag, dass sie weg war; sie kam nicht wieder, und ich fiel in ein tiefes Loch, so voller Einsamkeit, dass ich zu den einfachsten Verrichtungen nicht mehr fähig war. Sogar das morgendliche Aufstehen war ein einziger Kampf.

In diesen ersten Wochen war ich von wohlmeinenden Freunden und Angehörigen umgeben, die ständig versuchten, mich vom Abgrund wegzuziehen und mich an der Küste derjenigen, die nicht trauerten, in Sicherheit zu bringen. Aber ich konnte sie nicht erreichen, und ehrlich gesagt war ich mir auch nicht sicher, ob ich es überhaupt wollte. Und schließlich kam es, wie es kommen musste, ich vertrieb sie, einen nach dem anderen. Heute frage ich mich, ob ich mich absichtlich von ihnen zurückgezogen habe, um mir die Entscheidung dieses Nachmittags zu erleichtern. Wenn man so will, habe ich einen Freund nach dem anderen abgeschossen wie Enten in einer Schießbude. Lass dir Zeit, sagten sie, hin- und hergerissen zwischen Zögern und Erleichterung bei dem Gedanken, mich mit meiner Trauer allein zu lassen. Versuch, einen Tag nach dem anderen zu leben. Selbst das konnte ich nicht. Das Elend hielt mich so fest in seinen Klauen, dass ich mich noch nicht einmal langsam, von einem Tag zum anderen, von einer Minute zur anderen, bewegen konnte. Ich sah ihnen nach, als sie gingen, und etwas in mir wollte sie anflehen zurückzukommen, um mit mir zu schreien, zu treten, um mich zu schlagen und zu weinen, mit mir zu trauern, wie ich trauerte, aber es war unmöglich. Keiner von ihnen steckte in meiner Haut.

Die Glücklichen.

In der letzten Zeit ist es mir ziemlich gut gelungen, meine Wut in Schach zu halten, obwohl sie trotz all meiner Bemühungen manchmal immer noch durchbricht. Diejenigen, die mir am nächsten stehen, kriegen am meisten ab; Sam das allermeiste. Seine Portion war so groß, dass er sie am Ende nicht mehr schlucken konnte. Die Wut und ich, wir sind gute Kumpels geworden, und es ist kein Wunder, dass Hope die einzige Person ist, die mich überhaupt noch ertragen kann.

Obwohl sie ja möglicherweise sowieso nicht entkommen kann.

Ich gehe wieder ins Haus und schaue mir das Ergebnis meiner Säuberungsaktion an. Es ist bei Weitem nicht perfekt. Die Handtücher im Badezimmer stören mich: Wozu sollen sie gut sein? Ich falte sie und lege sie zurück in den Wäscheschrank, aber sofort ändere ich meine Meinung wieder und hänge sie erneut auf. Ich trete einen Schritt zurück, mustere sie, und dann ändere ich noch einmal meine Meinung und lege sie wieder in den Schrank. Ich schwöre bei Gott, die Entscheidung, mich umzubringen, ist mir leichter gefallen. Die Bettwäsche ist auch ein Problem. Wenn ich sie wechsle, hinterlasse ich einen Haufen schmutziger Wäsche, und wenn nicht, muss ich in schmutziger Bettwäsche sterben. Will ich das? In schmutziger Bettwäsche sterben, meine ich.

Am Ende wechsle ich sie doch, obwohl es eigentlich keine Rolle spielt. Wer auch immer mich findet – vermutlich Sam –, wird wahrscheinlich sowieso das ganze Haus leer räumen lassen. Das letzte Zerschlagen eines Lebens, das bereits in Scherben liegt.

Aber zumindest ist es jetzt überall sauber. In der Küche rufe ich Hector und sperre ihn in die Waschküche. Ich nehme das Lammgehackte und brate es auf dem Aga, wobei ich es sorgfältig umrühre, damit es nicht zusammenklebt. Als es fertig ist, gebe ich es in Hectors Schüssel, schütte Trockenfutter dazu und füge noch eine gute Handvoll Hundekuchen hinzu, um das Ganze ein bisschen anzureichern. Normalerweise achte ich sehr auf seine Ernährung – er nimmt schon zu, wenn er einem bloß dabei zuschaut, wie man eine Scheibe Toast isst –, aber ich weiß nicht genau, wie lange er mit dieser Mahlzeit auskommen muss. Sam will eigentlich morgen einige seiner Sachen holen, aber vielleicht kommt er erst nach Hectors Fütterungszeit, und es wäre unfair, den Hund leiden zu lassen, nur weil ich beschlossen habe, meinem Leben ein Ende zu setzen. Den beunruhigenden Gedanken, dass Sam aus dem einen oder anderen Grund vielleicht gar nicht auftaucht, schiebe ich energisch beiseite: Wenn es zum Schlimmsten kommt, ist Hector durchaus in der Lage, mit seinem Heulen die ganze Nachbarschaft zu alarmieren, um an sein Fressen zu kommen.

Er wirft mir einen fragenden Blick zu, als ich den Fressnapf vor ihn hinstelle, und zieht sich in eine Ecke der Waschküche zurück. Das sorgfältig vorbereitete Futter ignoriert er, als ob er mich verdächtigte, ihn hereinlegen zu wollen. Ich sehe ihn nicht an, um mir seinen vorwurfsvollen Blick zu ersparen, als er mir nachschaut, wie ich aus seinem Leben verschwinde.

Mittlerweile ist es halb zehn. In der Küche schenke ich mir ein Glas Wodka ein. Dann hole ich die Blechdose, die meine Medikamente enthält, aus dem Schrank über dem Brotbackgerät und schütte sie aus. Ich krame zwischen Verbänden und Winnie-Puuh-Pflastern nach den Antidepressiva, die mir nach dem Unfall verschrieben worden waren. Sam war wütend geworden, als er das Rezept gesehen hatte – mit diesen Tabletten brachten sich die Leute gerne um –, aber ich hatte kaum die erste genommen, da wurde ich schon so lethargisch, dass ich keine weitere mehr nahm. Meinem Hausarzt log ich vor, sie würden helfen, und daraufhin verschrieb er sie mir noch einmal für vierzehn Tage. Danach bekam ich noch weitere Rezepte, bis ich dann schließlich damit beginnen musste, mich von einem Medikament zu entwöhnen, das ich so gut wie nie genommen hatte.

Allerdings hat mein Gedächtnis mich wohl ein wenig getrogen, denn als ich die Schachtel schließlich finde, sind nur noch neun Tabletten darin. Wird das überhaupt ausreichen? Ich versuche, mich zu erinnern, was Sam darüber gesagt hat – hat er irgendetwas über die Dosis gesagt? Die neun Tabletten sehen so harmlos aus in ihrer Folienverpackung; es ist schwer, sich vorzustellen, dass sie wirklich so großen Schaden anrichten, wie er damals behauptet hat.

Ich könnte mir natürlich auch einen Tabletten-Cocktail mischen. Abgesehen von den Antidepressiva habe ich noch zwei Schachteln Paracetamol. Bei näherer Betrachtung stellt sich allerdings heraus, dass sich in der einen Schachtel nur noch eine Tablette und in der anderen zwei befinden. Das einzige andere Schmerzmittel, das ich entdecken kann, ist eine angebrochene Flasche Calpol Sechs-Plus, aber das kommt nicht infrage. Ich finde es irgendwie geschmacklos, die Medizin, mit der man die Schmerzen der toten Tochter gelindert hat, dazu zu verwenden, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen. Die anderen Optionen allerdings – sich die Pulsadern aufschneiden, einen Autounfall provozieren oder sich von der Klippe stürzen – machen mir viel zu viel Angst. Nicht das Sterben, darauf freue ich mich beinahe schon. Nein, es ist diese Plötzlichkeit – die Vorstellung dieses einen Moments, in dem man entschlossen handeln muss –, mit der ich nicht umgehen kann. Wahrscheinlich bin ich einfach eher der Typ für eine Überdosis.

Ich krame noch ein bisschen in unserer Notfallkiste und finde eine Schachtel mit einem abgelaufenen Abführmittel und einige Kapseln eines Antibiotikums, das Sam nie zu Ende genommen hat. Seufzend betrachte ich die jämmerliche Ausbeute an Medikamenten. Da habe ich ja schon während einer Partynacht mehr an Giften zu mir genommen.

Ich überlege, wie ich den Mangel an Medikamenten beheben soll, und dann habe ich einen Geistesblitz. Ich bin ziemlich sicher, dass irgendwo noch die Rezepte herumliegen müssen. Wenn ich mich beeile, schaffe ich es noch zur Apotheke an der Station Parade, die bis spätabends geöffnet hat. Ich durchwühle meine Schubladen und finde sie unter einer Tüte mit Gummibändern und der Speisekarte eines Pizzadienstes in der Kramschublade in der Küche. Ich suche mir das neueste Rezept heraus. Dann nehme ich meine Schlüssel vom Haken an der Haustür, schnappe mir meine Handtasche und verlasse das Haus.

Ich parke direkt neben dem Busbahnhof und gehe über die Straße. Aber dann bleibe ich verblüfft stehen. Die Apotheke gibt es nicht mehr. An ihrer Stelle steht ein prächtiger Laden von Sony mit Fernsehern und Hi-Fi-Anlagen im Schaufenster. Wann ist das denn passiert? Ich könnte schwören, dass ich erst vor ein paar Wochen hier war, um Vitaminpillen für Hope zu kaufen. Aber wenn man etwas Kostbares verloren hat (den Verstand zum Beispiel oder ein Kind), dann spielt die Zeit einem Streiche und man marschiert zu einer Melodie, die niemand sonst hören kann.

Ich eile zurück zum Auto und murmele vor mich hin. Soll ich das Ganze aufschieben, bis ich das Rezept einlösen kann, oder soll ich es einfach mit den neun Tabletten versuchen? Plötzlich stellt sich mir jemand in den Weg.

Ich sehe ihn zuerst nicht. Als ich merke, dass da jemand steht, senke ich den Kopf und tue so, als ob ich ihn nicht sähe. Darin bin ich letzter Zeit ziemlich gut geworden, und ehrlich gesagt, sind die meisten Leute froh darüber, ignoriert zu werden. Aber als ich an ihm vorbeigehen will, tritt er direkt vor mich und murmelt etwas, was ich nicht ganz verstehen kann.

Ich schnalze verärgert mit der Zunge. »Was ist?« Im Schein der Straßenlaterne versuche ich, sein Gesicht unter der Kapuze zu erkennen.

Er tritt näher, und ich spüre seinen Atem warm an meinem Nacken. Plötzlich streckt er seine nicht allzu saubere Hand aus und packt mich an den Haaren. Ich keuche vor Schmerz auf. Aber erst, als ich das kalte Metall von etwas Scharfem an meinem Hals spüre, dämmert es mir, dass er kein besorgter Freund oder Nachbar ist, der sich nach meinem emotionalen Wohlbefinden erkundigen will. Während mein Kopf noch zu verstehen versucht, was hier vor sich geht, rast mein Herz bereits, und mir wird klar, dass ich all die anderen Gefühle doch nicht vergessen habe. Nach Monaten der Trauer und der Therapie, in denen die Leute vorsichtig um mich herumgeschlichen sind, während in mir die Wut kochte, muss mir erst ein stinkender Junge ein Messer an die Kehle halten, damit mir – ein bisschen spät vielleicht – klar wird, dass ich vielleicht doch noch nicht bereit bin zu sterben. Jedenfalls nicht so, nicht zu seinen Bedingungen.

Der Junge drückt das Messer fester an meinen Hals. »Ich hab gesagt, gib mir dein Geld.«

»Was?« Ich wiederhole mich; wahrscheinlich nicht die beste Strategie, um die Situation zu entspannen.

»Ich mache keine Witze.« Er drückt mich mit seinem mageren Körper an die Mauer hinter mir. Auf einmal lässt er meine Haare los und beginnt, in meiner Handtasche zu kramen. Er zieht mein Portemonnaie heraus, und das Rezept, das ich in der Hand halte, flattert zu Boden.

»Hey!« Der Verlust des Rezepts bereitet mir mehr Sorgen als alles andere.

Er hält mir das Portemonnaie unter die Nase. »Dein Geld. Hol es raus.«

Erstaunt schaue ich ihn an, und dann trifft mich die Ironie der Situation, und ich muss unwillkürlich lachen. »Ist das ... ist das ein Überfall?«

Er sieht mich an, als ob ich geisteskrank wäre. »Nee, ich will mich mit dir verabreden.« Unter diesen Umständen fast eine witzige Bemerkung. Ohne das Messer von meinem Hals zu nehmen, öffnet er mit einer Hand mein Portemonnaie und blickt hinein. Er wirft mir einen verächtlichen Blick zu.

»Ist das alles?« Er dreht das Portemonnaie um, und ein Fünf-Pfund-Schein und ein paar Münzen fallen heraus.

»Ja, nun«, verteidige ich mich. »Ich wollte nur eine kleine Besorgung machen.«

»Verdammte Scheiße.« Angewidert spuckt er mir vor die Füße und drückt mir das Messer fester an den Hals. »Also gut«, haucht er und beugt sich wieder näher zu mir. Jemand sollte ihm mal sagen, dass er Mundgeruch hat. »Hol deine Karte raus, und wir gehen zum Geldautomaten. Und versuch bloß nicht abzuhauen.«

»Was?« Ich starre ihn empört an. »Nein – ich kann jetzt nicht zum Geldautomaten. Ich habe heute Abend etwas vor.« Mein schönes sauberes Haus steht mir plötzlich vor Augen. »Ich habe sogar schon die Bettwäsche gewechselt.«

»Was?« Ihm fällt der Unterkiefer herunter, und ich nutze sein kurzes Zögern aus, um zurückzuweichen und ihm mein Portemonnaie aus der Hand zu reißen.

»Ich habe Nein gesagt.« Gereizt schließe ich das Portemonnaie wieder. Wut steigt in mir auf – ich bin wieder auf vertrautem Territorium. Es ist eine Sache, selbst die Entscheidung zu fassen, dass ich mir das Leben nehme, aber ich lasse mich nicht von einem pickeligen Jugendlichen mit schlechten Zähnen und abgekauten Nägeln bedrohen. »Für wen hältst du dich? Wer bist du überhaupt?«

Der Junge runzelt die Stirn, und alarmiert stelle ich fest, dass in seinen Augen Lust aufleuchtet. Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, aber bevor ich einen Satz herausbringe, drängt mich der Jugendliche erneut an die Wand, fährt mit der Zunge lasziv über seine Lippen und prüft die Spitze des Messers mit kaltem Lächeln an der Spitze seines Zeigefingers.

»Ich sag dir, wer ich bin, Liebchen.« Beinahe verführerisch lässt er das Messer über meine Wange gleiten, beugt sich vor, und einen Moment lang denke ich, er will mich küssen. Aber dann haucht er mir seinen nächsten Satz direkt in den Mund.

»Ich bin dein schlimmster Albtraum.«

3

Das ist eigentlich ein bisschen anmaßend von ihm. Ich kann mich nur zu gut an meinen schlimmsten Albtraum erinnern, ganz abgesehen von dem Albtraum, zu dem mein Leben in den letzten Monaten geworden ist. Er ist es also ganz bestimmt nicht.

Während er da steht und mir das Messer an die Kehle drückt, warte ich darauf, dass mein Leben an mir vorbeizieht. Aber nur ein einzelnes Bild steht mir vor Augen. Eine Erinnerung, so klar wie eine Fotografie von Hope, Sam und mir an einem Winternachmittag. Wir waren irgendwo gewesen – im Supermarkt wahrscheinlich –, und ich stand an der Haustür, umgeben von Einkaufstüten. Sam und Hope bewarfen sich mit Schnee, während ich grummelte, sie sollten endlich hereinkommen, es sei kalt. Daraufhin drehten sie sich beide genau gleichzeitig um, streckten mir die Zunge heraus und veranstalteten lachend eine wilde Schneeballschlacht. Und an diesem Punkt erstarrt das Bild. Lachend balgen sich die beiden im Schnee, und ich meckere und beschwere mich und versuche, sie zu disziplinieren. Sie haben viel miteinander gelacht, stelle ich jetzt fest. Sie waren Komplizen, die fröhlich jede meiner Bemühungen sabotierten, das Leben ernster zu nehmen.

Früher hat mich das immer wahnsinnig gemacht. Warum musste immer ich der Erwachsene in der Familie sein? Manchmal war es schwer zu sagen, wer das größere Kind war: Sam oder Hope. Es machte mich nervös, wenn sie ihre Spielchen spielten, wobei ich halb wünschte, ich könnte mich einfach daran beteiligen, während meine andere Hälfte sie mit missbilligenden Blicken bedachte. An einem guten Tag konnte ich nachsichtig lächeln und mein Missfallen hinter wohlwollendem Kopfschütteln verbergen. »Es ist so schön zu sehen, was für eine gute Beziehung die beiden haben«, hatte Heather einmal gemeint, als Sam nach Hause gekommen war, bevor ich sie hinauskomplimentieren konnte. Mit einem fast wehmütigen Gesichtsausdruck hatte sie durchs Küchenfenster beobachtet, wie Sam mit Hope, Poppy und Liam im Garten in irgendein Spiel vertieft war, das sie sich ausgedacht hatten. »Martin ist abends immer viel zu erschöpft, um sich noch mit den Kindern zu beschäftigen. Und am Wochenende, wenn er Zeit dazu hätte, verschwindet er für gewöhnlich auf dem Golfplatz.« Ich hatte mich insgeheim ausgeschimpft und versucht, dankbar für einen Ehemann zu sein, der so gern mit seiner Tochter zusammen war, aber trotzdem wurde ich das nagende Gefühl nicht los, ich könnte tief im Innern eifersüchtig auf sie sein.

Einmal hatte ich das Thema in einem der seltenen Gespräche mit meiner Schwester Charlie angesprochen, die Psychologie an einem entlegenen College in Michigan lehrt. Sie hatte nur gelacht und geantwortet: »Oh Marion, natürlich bist du eifersüchtig, aber das muss auch so sein. Das ist Freud: ein klassisches Beispiel für den Elektra-Komplex. Hope ist wütend auf dich, weil du sie nicht mit einem Penis ausgestattet hast, und hat ihre Zuneigung auf Sam übertragen, weil er genau das besitzt, was sie haben will.«

»Erzähl mir nicht so einen Psychoscheiß, Charlie«, hatte ich empört gesagt. Ich war mir nicht sicher, welcher Teil ihres Kommentars mich mehr aufwühlte: die Bestätigung meiner Ängste, eifersüchtig zu sein, oder ihre Vermutung, dass Hope sich insgeheim einen Penis wünschte. »Jeder weiß doch, dass Freud ein Idiot war. Hope will gar keinen Penis.«

»Doch ganz bestimmt sogar!« Charlie ließ sich nicht beirren. »Wollen wir das nicht alle? Unbewusst natürlich nur.«

»Du vielleicht«, hatte ich erwidert. »Ich nicht.« Oder doch? Plötzlich schoss mir durch den Kopf, wie es wohl sein mochte, und heiße Abneigung stieg in mir auf.

Charlie lachte nur. »Du kannst sagen, was du willst, Marion, aber ich kann mich noch gut erinnern, dass du buchstäblich grün vor Neid geworden bist, als Christopher Greenwood in der Grundschule über das Klettergerüst gepinkelt hat, und da warst du erst sechs. Das gleiche Syndrom, eine andere Generation. Ich zitiere dich sogar bei meinen Studenten, wenn wir die Psychoanalyse durchnehmen.«

Ich wurde rot. »Ich war nicht grün vor Neid!« Doch das war ich sehr wohl gewesen – ich erinnerte mich noch gut daran, wie sehnsüchtig ich zugeschaut hatte, als er sein Pipi in hohem Bogen über den Kopf des Kindes zielte, das ganz oben auf dem Klettergerüst stand –, aber um nichts in der Welt würde ich das vor meiner überanalytischen großen Schwester zugeben.

Charlie prustete vor Lachen. »Der arme Christopher – du bist ihm die ganze Woche über nachgerannt und hast von ihm verlangt, dass er über immer noch höhere Hindernisse pinkeln solle. Du warst ein richtiger kleiner Diktator und hast erst aufgehört, als er bei einem seiner Versuche ins offene Fenster des Lehrerzimmers gepinkelt hat und von der Schule geflogen ist. Na ja.« Bevor ich meine frühkindlichen sexuellen Verirrungen weiter leugnen konnte, fuhr sie fort: »Ich würde mir um Hope keine Sorgen machen. Irgendwann wird sie merken, dass sie nicht haben kann, was Sam hat, und mit sich als Person glücklich sein.«

In jener Nacht damals war ich schweißgebadet aus einem Albtraum aufgewacht, in dem Hope an einer Aufführung ihrer Ballettklasse teilnahm und in einem rosa Tutu mit einem riesigen Suspensorium darunter über die Bühne hüpfte. Der Entsetzensschrei, den ich ausstieß, hatte Sam geweckt. Er brüllte vor Lachen, als ich ihm erzählte, was mir Sorgen bereitete. Noch mehr hatte er gelacht, als ich ihm Charlies Theorie darlegte. »Weißt du was«, hatte er gesagt, »wenn du wirklich die ganze Zeit über eine geheime Sehnsucht nach einem Penis gehabt hast, könnte ich dir möglicherweise ein bisschen von meinem überlassen ...« Er hatte sich die Lachtränen aus den Augen gewischt und sich dann voller Enthusiasmus meiner linken Brust gewidmet, und damit hatten wir das Thema von Hopes verborgenen Sehnsüchten erst einmal ad acta gelegt, um unsere eigenen zu erfüllen, wobei mein schamloser Ehemann jedoch zwischendurch immer noch ein Lachen unterdrücken musste.

Vielleicht läuft mein gesamtes Leben tatsächlich vor meinem geistigen Auge ab, weil die rosige Erinnerung verblasst und ich plötzlich schmerzhaft weitergezerrt werde. Die Wut, die seit dem Unfall in mir gewesen war, war plötzlich ausgebrochen, und ich hatte Sam mit einer Flut von Vorwürfen überschüttet, als wir am Frühstückstisch saßen und so taten, als seien wir ein glücklich verheiratetes Paar (na ja, zumindest verheiratet) und nicht zwei Menschen, die den Anblick des anderen nicht mehr ertragen können.

Sam hatte weiß Gott sein Bestes getan, um mich in den Monaten nach Hopes Tod zu stützen, aber jede seiner Bemühungen, jeder Versuch, mich zum Lächeln zu bringen, hatte mich nur noch wütender gemacht. Ich hatte jede Waffe ausprobiert, um ähnliche Gefühle der Wut bei ihm zu wecken, damit wir uns wenigstens auf gleicher Ebene begegnen konnten, aber seine Fähigkeit, nach dem Unfall normal zu agieren, zu lächeln, zu sprechen, zu schlafen, weiterzuleben, machte mich zunehmend wütender. Er nahm alles einfach so hin. Ich konnte es nicht ertragen.

Und schließlich kam es, wie es kommen musste, und er hielt es nicht mehr aus.

»Der Kaffee ist kalt«, beschwerte ich mich, als ich den ersten Schluck aus der Tasse trank, die er gerade vor mich hingestellt hatte.

»Dann stell ihn in die Mikrowelle und wärm ihn auf«, hatte er freundlich gesagt. Er hatte Hectors Hundekuchen vom Schrank genommen und ein halbes Dutzend in seinen Napf gegeben. Hector wedelte erwartungsvoll mit dem Schwanz.

Seufzend erhob ich mich. »Es ist wohl zu viel der Mühe, Kaffee zu kochen und ihn heiß auf den Tisch zu bringen«, murmelte ich, laut genug, dass er mich hören konnte. Er überhörte meinen Kommentar. »Aber dir ist ja sowieso alles zu viel, oder?« (Das war schon ein starkes Stück von jemandem, der seit Monaten keinen Finger mehr im Haushalt gerührt hatte.) Auch diese Bemerkung ignorierte er. Ich trat an die Mikrowelle. »Seien wir doch mal ehrlich, wenn du dich bequemt hättest, nachzusehen, ob die Brownies überhaupt stattfinden, als du Hope abgesetzt hast, wäre sie noch am Leben, statt unter einem verdammten Marmorgrabstein zu liegen und die Würmer zu füttern.«

Es wurde plötzlich ganz still in der Küche, und in diesem Moment wusste ich, dass er meine letzte Bemerkung nicht ignorieren würde.

Einen Moment lang bewegte sich keiner von uns. Ich konnte die Bitterkeit dessen, was ich gerade gesagt hatte, noch auf der Zunge spüren. Dann stellte Sam ganz ruhig den Fressnapf vor Hector auf den Boden und drehte sich zu mir um. Wenn ich gehofft hatte, dass er sich jetzt mit mir streiten würde, hatte ich mich getäuscht. Er sah nicht nach Streit aus. Der Blick, den er mir zuwarf, war niedergeschlagen, nicht wütend. Seine Schultern sanken nach vorne, und er schlug die Augen nieder. Dann seufzte er und ließ eine Bombe platzen, die ich offen gestanden, seit einiger Zeit schon kommen gesehen hatte.

»Ich kann nicht mehr mit dir leben.«

Erneut blickte er mich an – wahrscheinlich erwartete er eine Reaktion von mir, die ich ihm jedoch verweigerte –, dann verschwand er nach oben und kam kurz darauf mit der Reisetasche zurück, die er sonst immer zum Squash-Training mitnahm. Einen Moment lang stand er in der Küchentür und blickte mich an. Vermutlich wartete er darauf, dass ich das, was ich gesagt hatte, zurücknahm. Einmal öffnete er den Mund, um etwas zu sagen, aber dann besann er sich und schloss ihn wieder. Schließlich schüttelte er enttäuscht den Kopf.

»Es tut mir leid, Marion. Ich kann nicht mehr dein emotionaler Punchingball sein. Du bist nicht die Einzige, die trauert.«

Ich starrte auf die Reisetasche, als habe ihr plötzliches Auftauchen zum Zusammenbruch meiner Ehe beigetragen. »Du hast das die ganze Zeit schon geplant, oder?«

Er zögerte und sah einen Augenblick lang so aus, als wolle er mir widersprechen, aber dann schüttelte er wieder den Kopf und sagte, er käme morgen Abend nach der Arbeit, um weitere Sachen zu holen. Ehrlich gesagt hörte ich gar nicht richtig zu: In meinem Kopf hallte nur das nach, was er gerade zu mir gesagt hatte. Einen Moment lang stand er noch da und wartete anscheinend immer noch auf eine Reaktion von mir. Als nichts kam, drehte er sich schließlich um und ging, und ich blöde Kuh machte keine Anstalten, ihn aufzuhalten.

Und während ich jetzt frierend auf der Straße stehe und ein hygienisch bedenklicher Jugendlicher mir ein Messer an die Kehle hält, fällt mir sein Satz wieder ein.

Ich kann nicht mehr mit dir leben.

Nun, es sieht so aus, als hätten wir doch noch etwas gemeinsam. Ich kann auch nicht mehr mit mir leben.

4

Ach ja, zurück zu dem Jungen mit dem Messer. Ich weiß, ich bin sprunghaft. Meine Gedanken springen herum wie Grashüpfer. Aber von jemandem, der an Selbstmord denkt, können Sie kaum rationales Denken erwarten, und außerdem erzähle ich es nur so, wie es war. Hier stehe ich also, während mir ein paar Begebenheiten aus meinem Leben durch den Kopf gehen, und es kommt mir so vor, als stünden der Junge und ich schon seit einer Ewigkeit in dieser unbequemen Umarmung zusammen, obwohl es in Wirklichkeit wahrscheinlich nur ein paar Sekunden waren (ich meine, ein Mann, der mit einem Messer durch dunkle Straßen schleicht, wird sowieso nicht allzu viel Geduld besitzen). Und plötzlich überfällt mich ein schreckliches Gefühl der Hoffnungslosigkeit; ich muss an den Ausdruck auf Sams Gesicht denken, als er ging, und mir wird schlagartig klar, dass ich wirklich nicht mehr mit mir leben kann.

Zum Glück hatte ich das ja auch gar nicht vor. Und was spielt es schließlich für eine Rolle, ob es nun durch ein Messer auf der Straße passiert oder durch ein paar Tabletten in meinem schönen, frisch bezogenen Bett zu Hause? Eine Nanosekunde lang bedauere ich, dass mich zu Hause auf dem Küchentisch eine eisgekühlte Flasche Wodka erwartet, aber dann schüttele ich den Kopf. Entweder bin ich bereit oder nicht. Ich blicke fest in die dunklen Augen des Jungen.

»Na los, mach schon.« Ich nicke kurz zustimmend und wappne mich für das Ende.

Er sieht mich irritiert an. »Was?«

»Tu es.« Ich winde mich ein bisschen. »Und beeil dich. Die Mauersteine drücken mich in den Rücken.«

Ich spüre, wie seine Finger um den Griff des Messers schlaffer werden, aber dann packt er es wieder fester. Gott, ich wünschte, er würde endlich weitermachen. Die Spannung bringt mich um. (Allerdings nicht im wörtlichen Sinn. Wäre das nicht ironisch?)

»Was zum Teufel – ich mache keine Witze, verstehst du?« Er leckt sich nervös über die Lippen.

»Hör mal, würde es helfen, wenn ich mich wehre oder so?« Ich schubse ihn ein bisschen, und er taumelt rückwärts und wäre fast hingefallen. »Uh – Entschuldigung.« Ich strecke die Hand aus, um ihn festzuhalten.

»Hör mal, du Miststück ...«

»Nenn mich nicht so.«

»Was?«

»Miststück. Sag das nicht zu mir. Ich meine, ich weiß, dass ich das bin, aber ich habe keine Lust, das als letztes Wort zu hören, bevor du mich umbringst.«

Ich könnte schwören, dass sich auf seiner Stirn Schweißtropfen bilden. Nervös blickt er die verlassene Straße entlang, als ob er hoffen würde, dass ihm jemand zu Hilfe kommt. Dann sieht er wieder auf das Messer in seiner Hand, tritt dicht an mich heran und ritzt mir tatsächlich die Haut am Hals. Aber im gleichen Moment springt er erschreckt zurück, als ob er sich verbrannt hätte.

»Scheiße! Scheiße! Wie bist du denn drauf? Con!«, schreit er plötzlich und schaut sich wild um. Aber wer auch immer Con ist, antwortet nicht. Wieder tritt er auf mich zu, und dann marschiert er einmal im Kreis herum. Mittlerweile ist er so aufgewühlt, dass man es förmlich riechen kann.

»Hör mal, wenn du das tun willst, würdest du dann endlich mal zur Sache kommen?« Ich zeige auf die leere Straße. »Jeden Moment könnte jemand vorbeikommen und um Hilfe rufen oder so, und dann werden wir nie fertig.«

Erneut kommt er auf mich zu, aber dieses Mal hat er das Messer an meinem Hals durch seine Hand ersetzt. Ich bin seltsam enttäuscht. »Weißt du was? Du bist ja völlig durchgeknallt.«

Ich seufze geduldig. »Willst du mich jetzt umbringen, oder nicht?«

Er sieht mich an, als ob ich geistesgestört wäre, dann reißt er mir die Handtasche von der Schulter, schwenkt sie drohend vor meiner Nase, während seine Gesichtsmuskeln einen Entfesselungsakt darbieten, auf den Houdini stolz gewesen wäre. Dann drückt er mich erneut so hart an die Mauer, dass mir die Luft wegbleibt.

Ich halte mir keuchend den Bauch und ringe noch nach Luft, als ich feststelle, dass er verschwunden ist und ich alleine auf der verlassenen Straße stehe. Alleine, ohne Handtasche, ohne Schlüssel, ohne Geld. Allerdings auch nicht mit durchgeschnittener Kehle. Sieht so aus, als ob der Selbstmordball wieder in meiner Hälfte gelandet ist. Er hat sogar mein Handy, das in einer der Innentaschen der Handtasche steckt. Und meinen Führerschein. Mitsamt meiner Adresse.

Er hat also die Schlüssel zu meinem Haus. Und er weiß, wo es ist.

Die Münzen liegen noch auf dem Pflaster – anscheinend zu wenig Geld für einen Dieb mit Selbstwertgefühl, um sich danach zu bücken, aber der Fünf-Pfund-Schein und das Rezept sind nirgendwo zu sehen. Vielleicht hat der Wind sie ja weggeweht. Es sieht so aus, als ob die neun Tabletten doch ausreichen müssten.

Einen Augenblick lang bleibe ich stehen und überlege, was gerade passiert ist. Ich versuche herauszufinden, ob ich immer noch bereit bin, meinem Leben ein Ende zu setzen, oder ob ich neue Freude am Leben gefunden habe, weil jemand mich bedroht hat (auch wenn er sich als Schwächling erwiesen und die Drohung nicht wahr gemacht hat). Ist der Abend plötzlich klarer geworden, die Sterne heller, die Gebäude um mich herum schöner als eben?

Möglich; es ist schwer zu sagen. Aber ganz gleich, ob die Welt schöner geworden ist, es ist immer noch eine Welt ohne Hope. Und Sam hat mich auch verlassen. Und als die Trauer sich von Neuem auf meine Schultern legt, werde ich auf einmal von tiefer Müdigkeit überwältigt. Am liebsten möchte ich mich irgendwo hinlegen und sehr, sehr lange schlafen.

Was ich ja eigentlich auch vorgehabt habe.

Und so laufe ich durch die stillen Straßen nach Hause und überlege, ob der Junge wohl zu mir kommen wird, wenn er sich erst mal beruhigt hat. Dieser Ausdruck in seinem Gesicht, als ich ihm gesagt habe, er solle sich beeilen! Er muss doch eigentlich zurückkommen, und wenn auch nur, um seinen Stolz zu retten, der wahrscheinlich mit meinem Rezept und meinem Fünf-Pfund-Schein in irgendeinem Gully liegt. Wäre es nicht irre, wenn er derjenige wäre, der mich entdecken würde? Die Erfahrung würde ihn wahrscheinlich für sein ganzes Leben zeichnen.

Im Haus herrscht eine seltsam erwartungsvolle Atmosphäre, als ich mit dem Ersatzschlüssel aufschließe, den wir – Entschuldigung, ich, ich habe einen Moment lang vergessen, dass es ja kein Wir mehr gibt – unter einem losen Stein neben dem Küchenfenster aufbewahren. Man sollte fast meinen, im Wohnzimmer verstecken sich zahlreiche Leute, die alle aufspringen und »Überraschung!« schreien, sobald ich die Tür aufschließe. Aber es ist natürlich niemand da. Das einzige Lebenszeichen ist das rote Lämpchen des Anrufbeantworters, das in der Ecke vor sich hin blinkt. Sam, denke ich, aber als ich den Abspielknopf drücke, sagt die Stimme meiner Schwester: »Marion, ich habe Neuigkeiten. Ruf mich an!«

Ihre Stimme hallt hohl im Wohnzimmer und betont noch, wie leer es ist. Abgesehen davon gibt es kein Zeichen, dass hier überhaupt jemand lebt. Und doch kommt es mir vor wie bei Dreharbeiten, wo alle den Atem anhalten, bis der Regisseur die ersten Anweisungen gibt.

Ich will niemanden enttäuschen. Ich hole meine Tabletten und den Wodka aus der Küche und gehe ins Schlafzimmer. Unentschlossen stehe ich einen Moment lang vor dem Bett, entscheide mich aber dann für die Kissen und die Decke auf Sams Seite. So kann ich wenigstens so tun, als ob ich in seinen Armen sterben würde. Gott, ich bin jämmerlich. Aber ist es nicht das, was wir am Ende unserer Tage eigentlich alle wollen – in den Armen eines geliebten Menschen sterben? Ist es meine Schuld, dass sie heutzutage so dünn gesät sind?

Das war übrigens eine rhetorische Frage.

Ich lasse die Schlafzimmertür offen, damit ich die Musik aus Hopes Zimmer hören kann, und ziehe die Vorhänge auf, damit der Schein der Straßenlaterne vor dem Vorgarten ins Schlafzimmer dringen kann.

Scheinwerfer.

Ich gehe ins Bett, gieße mir ein großes Glas Wodka ein und drücke alle Tabletten aus ihren kleinen Plastikblasen. Dann hebe ich das Glas und proste dem Foto von uns vier zu, das an der Wand über der Kommode gegenüber vom Bett hängt.

Kamera.

Ich packe eine Handvoll Tabletten und stopfe sie mir in den Mund. Dann spüle ich sie mit einem großzügigen Schluck Wodka hinunter. Sie rutschen schlecht, und ich würge ein bisschen, aber ich trinke einfach noch einen Schluck Wodka, und sie sind weg.

Action.

Ich sinke zurück in die Kissen und schließe die Augen.

5

Früher einmal hatte ich ein Leben, ich hatte sogar einen richtigen Job als Spieltherapeutin. Ich hatte an der Manchester University auf Lehramt studiert, aber nach meinem Referendariat stellte ich fest, dass ich mich mehr für die Kinder in der Klasse interessierte, die nicht mit ihren Klassenkameraden zurechtkamen. Die anderen – die klugen, leicht zu lenkenden – machten es mir einfach zu leicht: Ich entwarf detaillierte Unterrichtspläne und überließ sie dann meiner fähigen Klassenzimmerassistentin. Dadurch schuf ich mir einen Freiraum, um mich mit der kleinen Gruppe von Außenseitern zu befassen, die sich einfach nicht in die Gemeinschaft einfügen wollten. So mogelte ich mich zwei Jahre lang durch, bis ich schließlich beschloss, aus meiner Vorliebe einen Beruf zu machen. Innerhalb von vierzehn Tagen kündigte ich meine Stelle als Lehrerin, sehr zum Entsetzen meiner Eltern, mietete für sechs Monate eine Wohnung in einem heruntergekommenen viktorianischen Gebäude in einem der schäbigeren Teile von York und bewarb mich um einen Studienplatz für Non-direktive-Spieltherapie an der dortigen Universität. Vor allem das non-direktive Element gefiel mir. Es besagt, dass das Verhalten eines Kindes immer darauf beruht, dass es versucht, sein eigenes Potenzial zu erfüllen, und deshalb soll man nicht eingreifen oder es verändern wollen. Ich fand dieses Konzept aufregend: die Vorstellung, dass Kinder tief im Innern besser als alle Erwachsenen um sie herum wissen, was gut für sie ist. Mit dem Schulunterricht, bei dem der Fokus auf Ordnung und Disziplin und dem Durchpauken des Lehrplans gerichtet war, hatte das kaum noch etwas zu tun. Die Ausbildung hatte auch eine praktische Komponente, weil ich ein Praktikum in einer lernunterstützenden Einrichtung in der Nähe des Krankenhauses machen musste. Dort wurde Kindern geholfen, sich besser in den Umgang mit Gleichaltrigen in der Schule einzufügen. Ich liebte meine Tätigkeit leidenschaftlich.

Und dort lernte ich auch Sam kennen. Eines Morgens arbeitete ich in der Einrichtung mit einem Kind namens Annie, das wegen seines unvorhersehbaren Verhaltens von der Schule gewiesen worden war. Wir machten gerade eine Collage, schnitten Fotos von Leuten aus Zeitschriften aus und klebten sie auf ein großes Stück rosa Pappe, als sie plötzlich aus heiterem Himmel einen frisch gespitzten grünen Buntstift ergriff und ihn mir durch die Jeans direkt in den Oberschenkel rammte. Danach nahm sie wieder die Schere (zum Glück war es eine abgerundete Kinderschere) und schnitt seelenruhig das nächste Bild aus, während ich mir das Bein hielt und vor Schmerz fast geschrien hätte. Eine von den anderen Lehrkräften fuhr mich ins Krankenhaus, wo ich von einem erschreckend jungen und attraktiven Dr. Bishop behandelt wurde. Er zog sich einen Stuhl neben die Untersuchungsliege, beugte sich über mein Höschen, runzelte konzentriert die Stirn und zog die abgebrochene Spitze des Buntstifts aus der Innenseite meines Oberschenkels. Für jemanden, der auf diesem Gebiet noch nicht viel Erfahrung gesammelt hatte (die Anforderungen des Referendariats ließen kaum Zeit für ein Privatleben), war diese plötzliche Intimität ein wenig verstörend.

»So«, sagte er nach ein paar Minuten. Er wischte die Klinge des Skalpells, das er benutzt hatte, an einem Papiertuch ab und stand auf. »Ich mache die Wunde schnell noch sauber und lege einen Verband an. Wie, haben Sie gesagt, ist das passiert?«

»Eines der Kinder in der Einrichtung, in der ich arbeite.« Ich zuckte zusammen, als er Desinfektionsmittel auf die Wunde träufelte. »Sie hat Schwierigkeiten, innerhalb der vorgegebenen Linien zu bleiben, wenn sie malt.«

Er blickte mich an und schürzte anerkennend die Lippen, bevor er sich wieder über meine Beine beugte und die Wunde verband. »Sie müssen noch einmal wiederkommen«, sagte er, ohne aufzublicken.

»In Ordnung«, erwiderte ich. Seine Haare hatten eine Farbe wie dunkle Schokolade. Die mit fünfundachtzig Prozent Kakaoanteil. Mich überkam plötzlich das Verlangen, mich vorzubeugen und sie abzulecken. »Äh ... wann?«

»Morgen.« Er drückte die Enden des Verbands mit dem Daumen zusammen, und ich stellte erschreckt fest, dass es in meinem Bauch zu prickeln begann. »Ich möchte sichergehen, dass die Wunde sich nicht entzündet.«

»Okay.« Ich errötete heftig. Du liebe Güte, Marion, sagte ich mir, reiß dich zusammen.

»Gut.« Er stützte sich mit den Händen zu beiden Seiten meines Oberschenkels ab und richtete sich auf. Ich schwöre, mir wurden die Knie weich. Was war nur los mit mir? »Lassen Sie sich am Empfang einen Termin geben.«

Als ich am nächsten Nachmittag wiederkam, war er gerade mit einem anderen Patienten beschäftigt, und so entfernte eine Krankenschwester den Verband und schaute sich die schnell heilende Wunde an. »Nun, es scheint ja alles schön sauber zu sein«, sagte sie. »Kein Zeichen für eine Infektion. Ich glaube nicht, dass Sie noch einmal wiederkommen müssen.«

Mir wurde übel vor Enttäuschung. »Oh – okay. Na, das sind ja ... gute Nachrichten.« Ich lächelte sie strahlend an, um meine Frustration zu verbergen.

»Ich hole Dr. Bishop, damit er sich die Wunde rasch noch einmal anschauen kann«, fuhr sie fort. »Er entscheidet, ob sie noch einmal wiederkommen müssen.«

Ich hätte sie küssen können.

Kühl und geschäftsmäßig trat er in die Kabine und betrachtete meine nackten Beine wie ein Bauer, der eine besonders unansehnliche Kuh auf dem Markt mustert. Er machte sich an die Arbeit und tastete den Bereich, der direkt neben meinem Schritt lag, ab. »Wie fühlt sich das an?«, fragte er. Im letzten Moment schluckte ich das Fantastisch!, das mir auf der Zunge lag, herunter. »Äh – ein bisschen empfindlich«, stieß ich hervor.

»Hmm.« Stirnrunzelnd blickte er auf mein Bein. »Können Sie bitte die Entlassungspapiere vorbereiten?«, sagte er zu der Krankenschwester. Sie nickte und verschwand hinter dem Vorhang.

Er trat an das kleine Waschbecken in der Ecke und begann, sich die Hände zu waschen. »Ich möchte Sie gerne wiedersehen.«

»Oh.« Hatte er nicht gerade der Krankenschwester gesagt, sie solle die Entlassungspapiere vorbereiten? »Aber ich dachte ...« Verwirrt brach ich ab. »Soll ich wieder einen Termin an der Rezeption machen?«

»Nur, wenn Sie möchten, dass die Damen dort uns begleiten.«