Weil du mich liebst - Shannon Greenland - E-Book

Weil du mich liebst E-Book

Shannon Greenland

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Beschreibung

Ein einziger Mensch kann deine ganze Welt verändern. Und seine Liebe macht dich stärker, als du je für möglich gehalten hast. Nichts auf der Welt hat Eve darauf vorbereitet, sich so zu verlieben. Sie hat es bis hierhin geschafft, indem sie sich strikt an ihre eigenen Regeln gehalten hat: 1. Verändere dein Aussehen. 2. Benutze nur Bargeld. 3. Bleib immer in Bewegung. Als sie einen Job bei einer Indie-Band-Tour bekommt, fühlt sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben sicher. Doch dann lernt sie West kennen – und keiner der beiden kann seine Gefühle verbergen. Aber Gefühle sind gefährlich: Mit jedem Blick aus Wests dunklen Augen, mit jeder seiner Berührungen beginnt Eves Schutzmauer weiter zu bröckeln. Und Eve weiß nicht, ob Liebe allein reicht, um sie vor den Schatten ihrer Vergangenheit zu schützen … "Ist dir kalt?", fragt er und öffnet gleichzeitig schon den Reißverschluss seiner Kapuzenjacke."Ein bisschen", gebe ich zu und beobachte ihn.Er zieht die Jacke aus und legt sie mir über die Schultern, dann springt er von der Bühne und geht in Richtung Ausgang.Einen Augenblick schaue ich ihm nach, eingehüllt in seine Wärme und seinen Duft, und will nichts mehr als mich darin einkuscheln. Niemand hat je so etwas für mich getan, hat gefragt oder sich überhaupt nur dafür interessiert, ob mir kalt ist. Niemand hat mir je etwas von sich gegeben. "West?", rufe ich ihm hinterher. Er dreht sich um. "Warum bist du überhaupt hier? Der Soundcheck fängt erst in zwei Stunden an."West lächelt und etwas passiert in mir. "Ich wusste, dass ich dich hier finden würde."Shannon Greenland zu diesem Buch:Viele Autoren sprechen vom "Buch ihres Herzens", was ich immer für eine ziemlich schmalzige Formulierung gehalten habe – bis ich anfing, "Weil du mich liebst" zu schreiben. Normalerweise schreibe ich sehr schnell, doch an diesem Buch habe ich Jahre gearbeitet, bis endlich alles zusammenpasste.Angst ist ein zweischneidiges Gefühl. Sie macht schwache Menschen stark, starke Menschen schwach, zerbrechliche Menschen zu einem Schatten ihrer selbst … Wie man mit der Angst umgeht, ob man sich von ihr befreit und sein Leben selbst in die Hand nimmt, entscheidet, wer man ist und welches Leben man führen will.An jeden, der im Leben zu kämpfen hat: Es ist gut, aufzubegehren und sich Hilfe zu suchen. Es gibt Menschen und Institutionen, an die du dich wenden kannst. Lass die Angst nicht dein Leben bestimmen.

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2018Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbHPostfach 2460, D-88194 Ravensburg© 2018 Ravensburger Verlag GmbHDie Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »SHADOW OF A GIRL«Copyright © 2016 by Shannon Greenland.This translation was published by arrangement with Entangled Publishing, LLC through RightsMix LLC.All rights reserved.Lektorat: Carla FelgentreffUmschlaggestaltung: Anna Rohner unter Verwendung von Bildern von © MJTH/Shutterstock; © Evgeniia Speshneva/Shutterstock; © suwi19/FotoliaÜbersetzung: Maren IllingerAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbHISBN 978-3-473-47887-3www.ravensburger.de

Dieses Buch ist ein Werk der Fiktion.Namen, Figuren, Orte und Ereignisse entspringen der Vorstellungskraft der Autorin oder werden auf fiktive Weise verwendet.Jegliche Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen, Orten oder Personen ist rein zufälliger Natur.

Erstes Kapitel

Vor dem Guckloch in meiner Tür bewegt sich ein Schatten und ich weiß, dass Gideon gleich reinkommen wird. Ich stelle mir sein Auge vor, wie es mich beobachtet, wie es kontrolliert, ob ich bekleidet, ob ich makellos bin. Er klopft leise und ich reiße mich zusammen, um den Schauder zu unterdrücken.

Abscheu, Panik und eine Welle böser Vorahnungen steigen in mir auf, als ich leise sage: »Herein.«

Die Tür öffnet sich und das Zimmer scheint zu schrumpfen. Ich erhebe mich von meinem Platz am Fenster, falte die Hände vor dem Bauch und blicke unterwürfig auf meine Sandalen.

Er kommt näher und fährt sich mit einem Seufzer durch die zurückgekämmten schwarzen Haare. »Es tut mir leid wegen vorhin. Aber du weißt selbst, dass es sein musste, nicht wahr?«

»Ja«, flüstere ich und versuche, nicht daran zu denken, welche Demütigung ich vor ein paar Stunden über mich ergehen lassen musste. Die gynäkologische Untersuchung, zu der er mich gezwungen hat.

Gideon streckt die Arme aus und nimmt meine Hände. »Sieh mich an.«

Langsam hebe ich den Blick, lasse ihn über seinen dunkel­blauen Anzug gleiten, meine Hände in seinen, sein glattrasiertes Kinn, bis hin zu seinen braunen Augen. Nur noch wenige Stunden, dann muss ich sie nie wieder sehen.

Mit einem zärtlichen Lächeln streicht er über meine Fingerknöchel. »Du bist mein gutes Mädchen. Perfekt.«

Ich nicke und hoffe, dass er nichts merkt, dass er die Anspannung nicht sieht, die mich die Zähne zusammenbeißen lässt. Bald werde ich nicht mehr sein gutes Mädchen sein.

»Es tut mir leid, dass ich morgen früh weg muss. Wirst du mich vermissen?«

»Ja«, sage ich, weil er das hören will. Obwohl ich am liebsten das Gegenteil schreien würde.

Ich liege in meinem Bett und starre den Wecker auf meinem Nachttisch an. Jeder meiner Sinne ist in höchster Empfangsbereitschaft. 22:58. Punkt 23:00 Uhr wird Gideon das Licht ausschalten, nachdem er ein letztes Mal nach mir gesehen hat.

Seine Schritte wandern über den Dielenboden im Flur, der sein Zimmer von meinem trennt, und ich schließe die Augen und tue so, als würde ich schlafen, so wie er es um diese Uhrzeit von mir erwartet.

Die Tür öffnet sich einen Spalt. Tief und gleichmäßig atme ich ein und langsam wieder aus. Er rührt sich nicht, steht nur da und beobachtet mich, ich wiederhole den tiefen Atemzug, ein und langsam wieder aus, und bete, dass er es glaubt. Bete, dass dies nicht einer der Abende ist, an denen er beschließt, mich zu züchtigen.

»Schlaf gut«, flüstert er schließlich.

Ich nehme nur noch meinen wilden Herzschlag wahr, als sich die Tür schließt, und bin plötzlich überzeugt, dass er das laute Hämmern ebenfalls hören muss. Ich öffne die Augen einen Spalt und starre auf das Licht unter der Tür, warte, warte, warte, dass es erlischt.

Endlich ist es so weit. Gut. In spätestens fünf Minuten wird er schlafen.

Mittlerweile wird meine beste Freundin Bluma schon auf der anderen Seite des Waldes auf mich warten, in der Richtung, in der Gideon mich am wenigsten vermuten wird. Noch ein Blick auf die Uhr. 23:06. Es ist Zeit.

Ich rolle mich aus dem Bett. Bevor ich das Fenster öffne und den stillen Alarm auslöse, spähe ich durch die Vorhänge zur Außenkamera, die ich vorsichtig einige Zentimeter zur Seite gedreht habe. Sie ist immer noch in derselben Position.

Zwei Stockwerke unter mir liegt das Gebüsch, in dem ich landen werde, und ich bete, dass ich mir beim Sprung nichts breche. Aber eigentlich spielt es kaum eine Rolle. Selbst wenn, ich werde trotzdem rennen.

Ich hole tief Luft und bevor ich noch weiter darüber nachdenken kann, was ich da tue, drehe ich den Fenstergriff, schiebe die Scheibe nach oben und springe. Mit einem leisen Ächzen lande ich, den Hintern voran, im Gebüsch. In dem Moment, in dem meine nackten Füße das feuchte Gras berühren, renne ich los. Ich habe nur das spärliche Mondlicht, um mich zurechtzufinden.

Hinter mir geht der stille Alarm in ein lautes Summen über und mit einem Schlag schalten sich die Außenlichter an. Adrenalin rauscht durch meinen Körper, als ich den Waldrand erreiche. Zweige schlagen mir ins Gesicht, während ich mir den Weg in die Freiheit erkämpfe. In der Ferne höre ich Gideons Schreie. Seine zornige Stimme verleiht mir nahezu Lichtgeschwindigkeit.

Eine Viertelmeile später springe ich keuchend über einen umgestürzten Baum und stolpere aus dem Wald auf eine Schotterstraße. Blumas Auto steht schon da, die Lichter sind aus und die hintere Tür ist für mich geöffnet. Ich springe hinein und ohne ein Wort fährt sie los.

Nach einigen Meilen stellt sie die Scheinwerfer an. »Niemand folgt uns.«

Ich hole tief Luft, setze mich aufrecht hin und schaue aus dem Fenster.

»Alles in Ordnung«, versichert sie mit ruhiger Stimme, die offensichtlich gespielt ist. So, wie sie das Lenkrad umklammert, hat sie genauso viel Angst wie ich. Ich werfe einen Blick auf ihr vertrautes rundes Gesicht im Rückspiegel und sie ringt sich ein gezwungenes Lächeln ab, bei dem sich ihre Grübchen vertiefen. »Alles in Ordnung«, wiederholt sie.

Ich schließe eine Sekunde die Augen. Ich muss mich konzentrieren. Für Angst habe ich keine Zeit.

»Ich hab die Jeans in Größe 36 mit langem Bein gekauft und das T-Shirt in S«, sagt sie. »Ich hoffe, es passt alles.«

Ich öffne den Reißverschluss des Seesacks, den sie auf den Rücksitz gelegt hat. Eine Jeans, ein T-Shirt und Sneakers liegen darin. Ich ziehe mich schnell um. »Passt.«

Bluma fährt weiter und weiter und weiter, sie nimmt so viele Abzweigungen und Nebenstraßen, wie sie nur kann. Keine von uns sagt etwas. Es ist, als fürchteten wir, jemand könnte uns hören, finden und zurückbringen. Angespannte Sekunden dehnen sich zu Minuten und Stunden später biegt sie auf den Parkplatz eines Greyhound-Busbahnhofs.

»Dein Bus geht um 4:30 Uhr.« Sie dreht sich zu mir um und reicht mir mein Ticket. Ich merke, dass ihre Hände zittern. »Du fährst am besten Richtung Boston und steigst unterwegs so oft wie möglich um.«

Ich nehme ihre Hand und drücke sie. »Wird schon schiefgehen«, sage ich, obwohl ich mir da selbst nicht so sicher bin.

Sie nickt. »Ich hab dir einen Job als Roadie besorgt. Da kriegst du deinen Lohn in bar und bleibst immer in Bewegung. Außerdem … hat es was mit Musik zu tun.«

»Musik …« Ich frage nicht, welche Art Musik. Es ist völlig egal. Schon beim Gedanken daran entspanne ich mich ein bisschen.

Bluma gibt mir einen Umschlag. »Da sind dein neuer Ausweis und zweihundert Dollar drin. Tut mir leid, dass es nicht mehr ist.«

»Bluma, mit dem Geld wolltest du doch –«

Sie winkt ab. »Du bist wichtiger.«

»Ich zahle es dir zurück, versprochen.«

Sie winkt wieder ab und zeigt mit einem Nicken auf den Umschlag. »In meinen Augen sieht der Ausweis echt aus, aber was weiß ich schon? Sei lieber vorsichtig damit. Benutz ihn so wenig wie nötig. Geh kein Risiko ein. Denk dran, immer nur bar zahlen. Eine Schere und Haarfärbemittel sind in der Tasche. Mach dir so schnell wie möglich eine neue Frisur, damit sie zum Foto auf dem Ausweis passt.«

Im Halbdunkel des Autos starre ich Bluma an, ihre dunklen Locken und ihr sanftes Gesicht. Mein ganzer Körper schmerzt, als ich mich frage, ob ich sie je wiedersehen werde. »Danke, Bluma. Für alles. Ich hab dich lieb.« Es fühlt sich an, als hätten die Worte Krallen, die an meiner Kehle kratzen.

»Ich dich auch. Und jetzt los«, sagt sie, beugt sich vor und schiebt mich sanft zur Tür. »Die ganze Planung soll doch nicht umsonst gewesen sein.«

Ich würde sie am liebsten umarmen, aber ich weiß, wenn ich es täte, würde ich sie wahrscheinlich nicht mehr loslassen. Ich bin sicher, dass es ihr genauso geht. Also nehme ich den Seesack und steige schnell aus.

Sie streckt den Kopf aus dem Fenster. »Schau mal in den Kofferraum. Da ist eine Überraschung für dich.«

Ich sehe sie verwirrt an. »Aber du hast doch schon so viel für mich getan!«

Sie lächelt und ich gehe ums Auto herum, öffne den Kofferraum und finde darin ihre Gitarre. Ich schnappe nach Luft.

Bluma lacht. »Nimm sie mit. Bitte. Du hast viel öfter darauf gespielt als ich.«

Ich nehme sie heraus, drücke sie an mich und schließe den Kofferraum. »Bist du sicher?«

»Natürlich bin ich sicher.« Sie nickt bekräftigend. »Das ist deine Gitarre.«

Ich umklammere die Gitarre noch fester und denke an die vielen Male, die ich in Blumas Zimmer darauf gespielt habe, denke an den Tag, als ich sie zum ersten Mal in die Hand genommen, an ihren Saiten gezupft und mich darin verloren habe. »Oh Bluma!« Meine beste Freundin, meine einzige Freundin, ist einfach unglaublich.

»Und jetzt hör gut zu. Das ist deine Chance auf ein neues Leben. Du musst lächeln. Den Leuten in die Augen sehen. Und nicht vergessen, Gideon hat keine Macht mehr über dich.« Mit einem letzten Winken fährt sie los.

Da stehe ich nun, den Seesack in der einen Hand, die Gitarre in der anderen. Mein Magen krampft sich zusammen, während ich zusehe, wie meine Rettungsleine davonfährt.

Minuten später, als die Rücklichter ihres Autos längst verschwunden sind, gehe ich in den hell erleuchteten Busbahnhof und husche mit eingezogenem Kopf zu den Toiletten. Es gibt nur zwei Kabinen. Ich nehme die für Rollstuhlfahrer, um etwas mehr Platz und Privatsphäre zu haben.

Bluma, meine Rettungsleine, ist weg. Jetzt bin ich auf mich gestellt. Der Rest liegt nur bei mir. Mein Spiegelbild sieht ängstlich aus, aber auch erwartungsvoll. Und diese Erwartung stärkt mich für das, was kommt. Ich nehme die Schere in die rechte Hand, in die linke eine lange Strähne und …

Deine Haare sind so schön. So lang. Du darfst sie dir niemals abschneiden.

Ich beiße die Zähne zusammen, hebe die Schere auf Kinnhöhe und Ratsch. Unwillkürlich stoße ich ein raues Lachen aus. Ich halte die lange blonde Strähne vor mich und ein winziges Lächeln kräuselt meine Lippen. Wenn Rebellion sich so anfühlt, ist es kein Wunder, dass Gideon solche Angst davor hat.

Ich schneide mir auch die restlichen Haare kinnlang und verteile die rote Farbe darauf. Eine halbe Stunde bleibe ich in der Kabine. Jemand kommt herein, benutzt die Toilette neben mir und geht wieder. Ich bin so still wie möglich, als könnte Gideon etwas mitkriegen, wenn ich mich bewege. Schließlich ist es Zeit, die Farbe auszuspülen, und während ich den Kopf unter den Wasserhahn halte, höre ich die Ansage für meinen Bus nach Boston.

Ich stopfe alles in den Müll, ziehe mir eine Baseballkappe über die nassen Haare, packe meinen Seesack und meine Gitarre und eile durch den hell erleuchteten Bahnhof zum Bussteig. Ich glaube, ich hole die ganze Zeit über kein einziges Mal Luft. Ich hebe auch den Kopf nicht, aber unter dem Schirm meiner Kappe gleitet mein Blick über das Gelände und sucht alles ab.

»Ausweis und Fahrkarte, bitte«, sagt der Fahrer.

Mit klammen Fingern halte ich ihm beides hin. Falls er meine zittrigen Hände bemerkt, so sagt er nichts dazu. Er winkt mich weiter und ich steige in den Bus. Ich steige in den Bus!

Ich setze mich auf einen freien Platz in der Mitte, ziehe meine Kappe noch tiefer und starre verstohlen aus dem Fenster. Nach und nach steigen weitere Leute ein, aber ich nehme mit niemandem Augenkontakt auf. Ein älterer Herr setzt sich neben mich und schläft sofort ein.

Schließlich sind alle im Bus. Der Fahrer setzt sich an seinen Platz und langsam fahren wir los. Als der Bus den Bahnhof verlässt, hole ich, so fühlt es sich jedenfalls an, zum allerersten Mal Luft. Mein neuer Name ist Eve und von jetzt an bin ich offiziell auf der Flucht.

Zweites Kapitel

Ein Monat später

Man braucht keinen Psychologen, um zu erklären, warum ich es nicht mag, wenn andere Leute mir zu nahe kommen oder mich anfassen. Es ist, als käme jede Berührung von Gideon.

Das macht mir die Arbeit als Roadie nicht gerade leicht, schon gar nicht an einem engen, überfüllten Veranstaltungsort wie heute Abend, mit all den zappelnden Körpern im Stroboskoplicht.

Ich stehe oberhalb der Tanzfläche an der Wand, lasse den Blick durch den Raum schweifen und präge mir alle Ausgänge ein.

Ich weiß, dass Gideon nie auf die Idee kommen würde, in der Crew der Raking Nails nach mir zu suchen, aber trotzdem habe ich Angst. Manchmal habe ich in solchen Momenten das Gefühl, dass ich ihn sehe, dass er mir aus der Menge entgegenstarrt und seine braunen Augen vor Zorn blitzen und mir Schmerzen androhen.

Mit einem Schaudern ermahne ich mich, mich zusammenzureißen.

Der Sänger brüllt ins Mikrofon und ich schiebe meine Ohrstöpsel noch etwas tiefer. Die Musik ist echt mies. Warum hat Bluma ausgerechnet eine Heavy-Metal-Band für mich ausgesucht? Ich muss mir dringend eine neue Crew suchen. Ich will wenigstens die Musik hören, die mir gefällt.

Ich drehe mich zum Ausgang, als einer der herumspringenden Körper mich anrempelt und ich mit einem wildfremden Typen zusammenstoße. »Tut mir leid«, sage ich, schwanke und halte mich kurz an ihm fest.

Er legt mir die Hände auf die Hüfte, um mich zu stützen, und lacht freundlich. »Alles okay?«

Ich blicke in ein vom Stroboskoplicht erleuchtetes Gesicht. Selbst in der Dunkelheit des Clubs kann ich erkennen, dass seine Augen schwarz sind. Aber kein seelenloses Schwarz. Eher so wie die dunkle Schokolade, die Bluma und ich immer aus der Geheimschublade ihrer Mutter stibitzt haben … Während ich daran denke, merke ich, dass wir immer noch dicht voreinander stehen. Zu dicht. Wir berühren uns. Plötzlich ist meine Kehle wie zugeschnürt und ich ringe schmerzhaft nach Luft. Ich bin nicht hilflos, rede ich mir zu. Ich bin nicht gefangen. Trotzdem drehe ich mich mit einem Ruck aus seinem Griff.

Er hebt sofort die Hände. »He, he, langsam!«

Ich weiche zurück, mein Herz hämmert und ich fühle mich seltsam benommen.

»Alles in Ordnung?«, fragt er.

Ich schüttele den Kopf, aber eher, um wieder klarzukommen, als um seine Frage zu beantworten. Es ist jetzt einen Monat her und es geht mir gut. Gideon hat keine Ahnung, wo ich bin.

Der Typ beugt sich vor und versucht, meinen erstarrten Blick einzufangen. »Hallo?«

»Sorry«, murmele ich, nehme die Ohrstöpsel raus und halte sie hoch, als wären sie die Erklärung für alles.

Er lächelt ein bisschen. »Schon gut.«

Aus dreißig Zentimetern Abstand betrachte ich ihn zum ersten Mal richtig. Er ist groß, hat schwarze Haare, einen schwarzen Hut und dunkle Stoppeln auf den Wangen. Und er lächelt nicht, sondern grinst eher. Er erinnert mich an einen Typen aus einer Unterwäschewerbung, den Bluma und ich mal angeschmachtet haben, und die Erinnerung daran lässt meine Wangen warm werden.

»Sorry«, sage ich wieder, diesmal lauter. »Das Publikum ist heute Abend ganz schön wild.«

»Liegt an der schlechten Musik«, scherzt er. »Die Mädels werfen sich mir schon in die Arme, damit ich sie erlöse.«

Ich lache und das Geräusch kommt mir komisch vor. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal gelacht habe. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht mal, wann ich das letzte Mal gelächelt habe.

»Keine Sorge«, sagt er. »Es war mir ein Vergnügen.«

Jetzt brennt mein ganzes Gesicht und ich danke Gott, dass der Club so dunkel ist und er es nicht sehen kann. Ich glaube, der Typ flirtet mit mir. Mit mir hat noch nie jemand geflirtet. Ich weiß nicht, was ich als Nächstes tun oder sagen soll. Ich bin hin- und hergerissen. Einerseits würde ich mich am liebsten umdrehen und weggehen, andererseits will ich unbedingt dableiben, so unbeholfen ich mich auch anstelle.

Er streckt die Hand aus. »Ich bin West.«

West. Der Name gefällt mir.

»Eve«, sage ich und schüttele seine Hand. Komisch, ich habe mich im letzten Monat so sehr an meinen falschen Namen gewöhnt, dass ich nicht mal mehr zögere, wenn ich ihn ausspreche. Eve geht mir ganz natürlich über die Lippen. Ich mag die Anonymität, die der Name mir schenkt.

Er legt den Kopf schief. »Erzähl mal, Eve. Was machst du hier?« Er deutet mit einem Nicken auf meine Ohrstöpsel. »Wegen der Musik bist du ja anscheinend nicht da.«

Ein hübsches Mädchen, das ein bisschen aussieht wie Lucy Liu, schiebt sich durch die Menge und stellt sich neben West. Sie beugt sich zu ihm, ohne mich eines Blickes zu würdigen. »Hey. Tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe.«

West lächelt ihr kurz zu. »Kein Problem.«

Oh, das scheint seine Freundin zu sein. Natürlich ist das seine Freundin. Er hat nicht mit mir geflirtet. Er war einfach nur nett.

»Also dann«, sage ich und nehme das als Stichwort für meinen Abgang.

»Warte«, ruft West, aber ich winke ihm nur kurz zu und gehe weiter. Er hat eine Freundin und ich bin sowieso nicht in der Situation, über solche Dinge nachzudenken.

Ich stoße die Tür auf, gehe nach draußen in den Nieselregen von Nashville und verziehe mich in den Schatten des Gebäudes. Ein paar Sekunden lang stehe ich da, lasse den leichten Septemberregen auf mein Gesicht fallen und gehe im Kopf noch einmal durch, was gerade passiert ist. Ich zittere beim Gedanken an Gideons Strafe, hätte er mich mit ihm reden sehen. Doch dann spüre ich, dass ich grinsen muss, gerade weil er mich nicht gesehen hat.

Die Tür schwingt auf. Ich drehe mich um und Anne kommt heraus.

»Da bist du ja«, sagt sie und mustert mich schnell von oben bis unten. »Was machst du hier im Regen?«

»Musste mal an die Luft.«

Anne ist das einzige andere Mädchen in der Crew. Sie ist neunzehn und lesbisch. Die meisten halten uns für ein Paar. Es ist witzig, wie schnell das geht. In meinem alten Leben hätte ich nicht mal in ihre Nähe gedurft. Anne hat irgendetwas an sich, das ich mag. Manchmal erinnert sie mich an Bluma und sie versteht meine Macken. Sie stellt sich unter den Vorsprung des Dachs, zündet sich eine Zigarette an und nimmt einen tiefen ersten Zug, so wie immer. »Angeblich war West Wolf heute Abend hier.«

Die Erkenntnis dämmert in mir, während ich mich neben sie unters Dach stelle. »Der West Wolf? Der Sänger von Bus Stop?«

Anne zieht neugierig die Augenbrauen hoch. »Ja, warum?«

Mein Gesicht wird wieder ganz heiß. »Groß, dunkle Haare, Hut?« Ich zeige auf die Wangen. »Dreitagebart?«

Annes Augen blitzen belustigt. »Hast du ihn etwa gesehen?«

»Also, äh …« Ich muss einen nervösen Kloß im Hals hinunterschlucken, als ich an seine Hände auf meiner Hüfte und sein unwiderstehliches Grinsen denke. »Wir haben uns gerade kennengelernt. Besser gesagt, ich bin mit ihm zusammengestoßen.«

Anne lacht. »Himmel, Eve, den finde ja sogar ich scharf!«

»Ich hab nicht gesagt, dass er scharf ist«, murmele ich, obwohl ich natürlich genau das finde.

Sie lacht wieder und schnippt die Asche von ihrer Zigarette. »Musstest du auch nicht. Ich kenne dich jetzt seit einem Monat und das ist das erste Mal, dass du einen Typen überhaupt registriert hast.«

Ich wende verlegen den Blick ab und fühle mich auf jede erdenkliche Art unbehaglich.

»Und als du mit ihm zusammengestoßen bist, hat sich da was in seiner Hose geregt?«

»Anne!«

Sie kichert. »Alter, ich würde meine linke Brust hergeben, um mit dem auf der Bühne zu stehen!«

Halb lache, halb würge ich.

Sie wird nüchterner und nimmt einen weiteren langen Zug. »Ich hab gehört, dass er einen ziemlichen Ruf hat, nichts anbrennen lässt und so. Angeblich ist er ein netter Kerl, aber sei vorsichtig, okay?«

»Oh.« Ich runzle die Stirn. Ich weiß nicht, warum ihre Bemerkung meiner Stimmung einen Dämpfer versetzt. Ich werde ihn doch sowieso nicht wiedersehen.

Im Club ebbt die Musik ab, die Menge jubelt. Das ist unser Einsatz. Noch fünf Minuten, bis wir mit dem Abbau beginnen.

»Ich weiß ja nicht, wie es dir geht«, sage ich. »Aber ich hasse diese Band. Ich hab auf der Toilette einen Flyer gesehen, für die Indie-Tour werden noch Helfer gesucht. Die Vorstellungsgespräche sind morgen im Amphitheater.« Außerdem bleibe ich so in Bewegung. »Bist du dabei?«

Anne drückt ihre Zigarette an der Backsteinmauer aus. »Scheiße, ja, ich bin dabei!«

Drittes Kapitel

Am nächsten Morgen nehmen Anne und ich ein Taxi rüber zum Nashville Amphitheater, wo nicht nur die Vorstellungsgespräche für die Indie-Tour abgehalten werden, sondern wo auch das erste Konzert der Tournee stattfinden soll. Es ist so früh, dass außer uns kaum jemand unterwegs ist, aber ich mustere trotzdem jedes Gesicht. Ausschau halten, beobachten, wachsam sein. Immer auf der Hut …

Anne ertappt mich dabei. »Ich schwöre, du warst in deinem letzten Leben ein Bulle.«

»Warum?«

»Mein Dad ist einer und der hat auch immer alles im Blick. Macht uns verrückt, indem er uns die Notausgänge zählen lässt.«

Ich lache, trotz des Knotens in meinem Bauch. »Vielleicht hab ich meine Berufung verfehlt.«

Anne lacht ebenfalls. »Vielleicht.«

Wir gehen durch das offene Tor und rüber zum Ticketschalter. Ich klopfe ans Fenster und ein junges Mädchen blickt auf. »Hallo«, sage ich durch die Sprechöffnung. »Wo finden die Bewerbungsgespräche für die Roadies statt?«

Sie zeigt mit dem Daumen über die Schulter. »Geht mal rüber zum Mischpult und fragt nach Ford.«

»Danke.«

Die Open-Air-Bühne ist überraschend leer. Wir gehen über den Rasen zu dem Sonnensegel, unter dem das Mischpult steht, und ich muss an historische Theaterbauten wie das Opry House denken und frage mich, ob diese Tournee auch solche Spielstätten ansteuert. Das wäre echt cool.

Wir finden einen Mann mit blonden Haaren und einem Kinnbart, der etwa Mitte dreißig sein muss. Ich kann erst mal nur entgeistert das Mischpult anstarren. Es ist viel größer als das in unserer Kirche, an dem ich manchmal herumgespielt habe, und hat bestimmt über zweihundert Kanäle. Es ist das größte Mischpult, das ich je gesehen habe. Mit dem Ding ein Livekonzert abzumischen, muss ein Wahnsinnserlebnis sein.

Anne stößt mich an und ich mache schnell einen Schritt nach vorn. »Hallo! Bist du Ford? Führst du die Gespräche für die Indie­-Tour?«

Er blickt auf. »Ja.«

»Wir möchten uns als Roadies bewerben«, sage ich.

Er mustert uns kurz, erst Anne mit ihrem schwarzen Irokesenschnitt, ihren diversen Piercings und Tattoos, und dann mich, die rot gefärbten Haare, mein piercingfreies Gesicht und meine untätowierte Haut.

»Ist ’n harter Job«, sagt er. »Ausrüstung schleppen, Kabel verlegen, Drähte verlöten und was ich euch sonst gerade zuwerfe. Schon mal als Roadies gearbeitet?«

»Ja«, sagt Anne und listet ihre bisherigen Stationen auf.

»Kennt ihr euch mit Indie Rock aus?«

»Klar«, sage ich.

»Das ist eine Festival-Tour. Ihr werdet die ganze Zeit unterwegs sein. Die Bezahlung ist mies, nur zehn Mäuse die Stunde, aber dafür sind Essen und Unterkunft gratis.« Er zeigt mit dem Finger auf uns. »Ihr zwei würdet euch ein Zimmer teilen.«

»Klingt super«, sage ich sofort. Das ist genau das, was ich brauche.

Ford nickt. »Also gut. Hier sind die Regeln: Ihr kommt zur Arbeit, wenn ich es sage, und ihr geht, wenn ich es sage. Wenn ihr zu verkatert seid, um zu arbeiten, seid ihr gefeuert. Wenn ihr mal krank seid, ist das in Ordnung, aber dann rate ich euch, auch wirklich krank zu sein.« Er sieht uns nacheinander ernst in die Augen. »Alles klar?«

Wir erwidern seinen Blick. »Alles klar.«

»Wenn ihr es verkackt, seid ihr raus. So einfach ist das. Ich hab keine Zeit, mich mit Losern abzugeben.«

Anne nickt. »Du wirst sehen, dass wir alles andere als Loser sind.«

»In Ordnung. Dann kommt übermorgen wieder, gleich nach dem Aufstehen.« Damit dreht er sich um und fährt fort, Kabel in das Mischpult zu stecken.

Wir wenden uns zum Gehen und Anne grinst mir zu. »Das war ja leicht«, flüstert sie.

Kurz vorm Ausgang biegt sie zur Toilette ab und zieht dabei ihr Handy aus der Tasche. »Ich besorg uns ein Taxi zum Hotel. Warte auf dem Parkplatz auf mich, okay?«

Ich nicke, gehe nach draußen, scanne die Umgebung und setze mich auf eine Bank. Währenddessen fährt ein schwarzer Sportwagen vor und bleibt abrupt stehen. Auf der Fahrerseite senkt sich ein dunkles Fenster und West Wolf grinst mich hinter seiner Pilotenbrille an. »Na, so was! Hallo, Eve!«

Ich bemühe mich, normal zu wirken, aber mein Herz beginnt so fest zu schlagen, dass ich es im Hals spüre. »Hi, West.« Ha, das klang ganz normal. Nicht komisch oder heiser oder piepsig.

Er stellt den Motor ab und steigt aus, und ich muss darauf achten, das Atmen nicht zu vergessen. Er nimmt die Sonnenbrille ab und dreht sie am Bügel, während er sich an sein Auto lehnt und die Knöchel verschränkt. »Ist ja toll, dass ich dich hier treffe«, sagt er.

»Ja«, stimme ich zu, während ich auf die Ranke starre, die auf seinen Arm tätowiert ist.

Er sagt nichts mehr, also sage ich auch nichts. Mein Blick verlässt sein Tattoo, gleitet über seine Brust und den anderen Arm entlang bis zum Handgelenk, an dem er eine silberne Uhr trägt. Dann fällt mein Blick auf seine ausgewaschene Jeans und ich stelle fest, dass sie an manchen Stellen heller ist als an anderen. Gerade als mir aufgeht, wo genau, höre ich ihn lachen.

Mein Gesicht wird heiß und ich wende schnell den Blick ab. Oh Gott, was mache ich da? Ich habe noch nie einem Typen auf den Schritt gestarrt.

»Rot bringt deine grünen Augen so richtig zur Geltung. Tolle grüne Augen, muss ich sagen.«

»Danke«, murmele ich, bodenlos verlegen.

»Also, was machst du hier?«, fragt er, als hätte er mich nicht gerade dabei erwischt, wie ich ihn angegafft habe.

»Vorstellungsgespräch für einen Job«, erkläre ich und hoffe, dass Anne endlich kommt und mich davor bewahrt, mich weiter zur Idiotin zu machen.

»Was für ein Job?«

»Roadie für die Indie-Tour.«

Seine Lippen zucken, als wüsste er etwas, was ich nicht weiß. »Und, hast du ihn bekommen?«

»Ja.«

»Gut«, sagt er und grinst.

Ich merke, dass ich auch grinse. »Gut?«

»Und«, fährt er fort, ohne mir zu antworten, »was machst du jetzt?«

»Ich gehe. Warum?«

Er klopft auf sein Auto. »Dann steig ein. Wo willst du hin?«

Wärme durchströmt mich auf zugleich unangenehme und verwirrende Weise. Zu ihm ins Auto steigen? Bestimmt nicht! Ich halte es ja schon unter freiem Himmel kaum mit ihm aus. Wie es wäre, mit ihm in einem Auto eingeschlossen zu sein, will ich mir lieber gar nicht vorstellen.

West lacht und ich beschließe, dass ich das Lachen mag. Es ist tief und melodisch. »Dann eben ein andermal«, sagt er. »Keine Sorge. Ich bin nur froh, dass ich die Chance bekommen habe, dich wiederzusehen.«

»Wirklich?«, frage ich ungläubig, bevor ich merke, wie lächerlich die Frage ist.

Er schaut mich belustigt an. »Ja, wirklich.«

Ich fühle, dass ich schon wieder rot werde, als ich leise zugebe: »Ich bin auch froh, dich zu sehen.«

West grinst. »Na, das ist doch was, oder?«

Endlich taucht Anne neben mir auf und ich zucke zusammen. Plötzlich habe ich Schuldgefühle, als hätte Gideon mich beim Flirten erwischt. »Bist du … bist du fertig?«

Sie ignoriert mich und streckt West die Hand entgegen. »Ach du dickes Ei, schau mal einer an. Das ist ja West Wolf! Wie schön, dich kennenzulernen. Ich liebe deine Musik!«

In dem Augenblick fährt unser Taxi vor und ich winke West zu, bevor ich einsteige. Wie hoch stehen die Chancen, dass ich ihm noch einmal über den Weg laufe?

Eine Minute später öffnet Anne die Tür und rutscht neben mich. »Rate mal, wer der Haupt-Act auf der Tour ist?«

Ein Taubheitsgefühl legt sich über mich, während mir klar wird, mit wem ich gerade geflirtet habe. »Bus Stop?«

Anne johlt. »Mädchen, du bist das ganze nächste Jahr mit dem Knackarsch auf Tour!«

Ich schließe die Augen und stöhne auf.

Viertes Kapitel

Zwei Tage später fahren Anne und ich zu unserem ersten Arbeitstag ins Amphitheater. Wir fangen sofort an, befolgen Fords Anweisungen, schleppen die Ausrüstung, verkleben Drähte, wickeln Kabel auf. Wir ignorieren die Blicke und das Getuschel der anderen Roadies. Die werden schon sehen, dass wir anpacken können. Außerdem dauert es nie lange, bis Anne alle Herzen erobert hat. Sie ist eben cool. So einfach ist das.

Ford bleibt den ganzen Tag in unserer Nähe und überwacht jeden unserer Handgriffe, damit wir auch ja alles nach seinen Vorstellungen machen. Hoffentlich merkt er bald, dass er uns nicht so kontrollieren muss.

Um achtzehn Uhr stöbert er mich im Backstage-Bereich auf, als ich gerade dabei bin, mir einen stoppeligen Pferdeschwanz zu binden. »Ms Kelly braucht noch jemanden für die VIP-Lounge«, erklärt er.

Ich schiebe mir den Pferdeschwanz hinten durch die Baseballkappe. »Ms Kelly?«

»Die Managerin. Sie ist hier der Boss, auch meiner. Komm mit.« Ford nickt mir zu und ich folge ihm zu einer Art privatem Partyraum.

Eine Frau im roten Hosenanzug kommt auf uns zu. Ich würde sagen, sie ist Mitte vierzig. Sie lächelt zwar nicht, scheint aber ganz in Ordnung zu sein. Sehr chic und geschäftsmäßig mit den hochgesteckten dunklen Haaren, der schwarzen Sonnenbrille und dem dunkelroten Lippenstift.

»Hallo, Ford«, sagt sie mit klarer Stimme und einem leichten Akzent, den ich nicht gleich einordnen kann. »Danke, dass du uns so kurzfristig aushilfst. Eigentlich sollte der Cateringservice die Kräfte für den VIP-Bereich stellen, aber«, sie zeigt um sich, »wie ihr seht, sind es nicht gerade viele.«

Australisch, das ist der Akzent.

Ford lächelt. »Kein Problem. Das ist Eve. Sie ist neu. Sie hat heute sehr hart gearbeitet. Ich bin sicher, dass sie das gut hinkriegt.« Ford dreht sich zu mir. »Ich muss zurück. Sorry für die kurzfristige Änderung.«

»Kein Problem.« Ich lächle. »Alles in Ordnung.«

Ford geht wieder und ich drehe mich zu Ms Kelly, die mich von oben bis unten mustert. »Hast du Lippenstift oder so was?«

Lippenstift? Gideon würde einen Anfall kriegen. »Nein.«

Sie gibt mir eine blaue Schürze und deutet mit dem Kinn auf meine Baseballkappe. »Nimm die Mütze ab und kämm dir die Haare mit den Fingern.« Dann dreht sie sich auf dem Absatz um. »Komm bitte mit.«

Sie bringt mich zu einem Tisch mit Wraps und belegten Broten. »Da ist eine Box mit Plastikhandschuhen. Du solltest etwa alle dreißig Minuten ein frisches Paar nehmen.« Sie lächelt mich an. »Eigentlich musst du nur freundlich sein und den Leuten geben, worum sie dich bitten.«

Ich nicke. »Okay. Keine Sorge. Dieser Sandwich-Tisch ist offiziell versorgt.«

Sie lacht. »Danke, Eve.«

Mir gefällt, dass sie sich an meinen Namen erinnert.

Von draußen höre ich das Konzert, das gerade so richtig abgeht, die Musik dröhnt und die Menge jubelt. Ich stehe eine gefühlte Ewigkeit hinter diesem Tisch und bediene gelegentlich Leute mit VIP-Status: Sponsoren, Musiker, Familienmitglieder, Journalisten.

Aber ich würde alles darum geben, jetzt da draußen zu sein und die Musik zu hören oder wenigstens in der Nähe eines Verstärkers zu stehen und das Wumm-Wumm-Wumm im Blut zu spüren. Ich muss an die vielen Male denken, die ich bei Bluma die Musik aufgedreht habe und einfach … geschwebt bin.

Schließlich ist das Konzert vorbei, die Türen gehen auf und der VIP-Raum füllt sich. Die Leute lachen, der Geräuschpegel steigt und Eifersucht windet sich durch meinen Körper. Mit einem Mal fühlt sich mein kleiner sicherer Bereich öde und kalt an, während es auf der anderen Seite des Sandwich-Tischs so aufregend und warm zu sein scheint. Werde ich je wie diese Menschen sein – mich amüsieren, ohne darauf zu achten, wer mich sehen, wer mir folgen könnte?

Die Leute schwirren durch den Raum, reden, essen, trinken. Irgendein Typ sinkt lachend auf ein Ledersofa und zieht eine blonde Frau mit sich. Sie küsst seinen Hals und ich wende den Blick ab. Ich kann mir nicht vorstellen, vor allen Leuten den Hals irgendeines Typen zu küssen. Ich kann mir nicht vorstellen, überhaupt den Hals eines Typen zu küssen, Punkt.

Sodom und Gomorrha kommt mir in den Sinn, aber ich schiebe den Gedanken schnell wieder weg. Ich bin fertig mit Gideon und seinen Predigten.

Ich höre West, noch bevor ich ihn sehe – sein Lachen, seine Stimme –, und mein Puls vollführt einen seltsamen Tanz. Vor Vorfreude und Aufregung sackt mein Magen ein paar Zentimeter tiefer, während ich die Menge nach ihm absuche. War ja klar, dass er hier auftaucht.

»Einen Gemüse-Wrap, bitte«, sagt eine Frau. Ich richte meine Aufmerksamkeit auf sie und reiche ihr einen Teller und eine Serviette.

»Hey, Grünauge, was hast du zu bieten?«

Ich zucke zusammen, als ich aufblicke und direkt in Wests Augen sehe. »Sandwiches«, erkläre ich das Offensichtliche.

Er sieht verändert aus. Verschwitzt. Heiß. Also, heiß im Sinne der Temperatur, nicht im Sinne von sexy. Obwohl auch das passt.

Er trinkt einen Schluck aus seiner Wasserflasche. »Hast du auch Truthahn?«

Ich gebe ihm einen Teller mit einem Truthahn-Sandwich auf einem Salatblatt und versuche, meine Verlegenheit hinunterzuschlucken. Er soll nicht wissen, dass er mich nervös macht.

Immer noch lächelnd beißt er hinein. »Deine erste After-Show-Party?«

»Im VIP-Bereich schon.«

»Soll ich dir einen Rat geben?«

Ich lächle. »Klar.«

Er zeigt auf den Tisch, auf dem die Platten mit Gemüse und Käse stehen. »Iss niemals die Käsewürfel. Die sind dubios.«

Ich lache. »Dubios?«

West zieht die Augenbrauen zusammen und beißt wieder in sein Sandwich. »Ich hab dich gewarnt.«

Ein vor Energie überschäumendes Mädchen taucht neben ihm auf. »Hi!«

Er lächelt. »Hi.«

»Ich wollte dir nur sagen, dass ich deine Musik liebe!«

West nickt. »Danke.«

Sie hält ihm einen Filzstift hin und legt den Kopf zur Seite. »Gibt du mir ein Autogramm?«

Er lacht. »Auf deinen Hals?«

Sie zwinkert. »Ja, bitte.«

»Okay«, sagt er, stellt seinen Teller ab und unterschreibt auf ihrem Hals.

»Danke!« Sie setzt die Kappe auf den Filzstift und hüpft davon.

West nimmt seinen Teller wieder auf. »Tut mir leid.«

Ich starre dem Mädchen nach. »Passiert dir das öfter?«

Er verdreht scherzhaft die Augen. »Die ganze Zeit!«

»Hey, Alter.« Ein Typ mit braunen Haaren stellt sich neben West. »Roastbeef, bitte«, sagt er zu mir.

Meine Mundwinkel wandern nach oben, als ich ihm sein Sandwich reiche. Ich weiß, wer er ist. Simon. Wests bester Freund und Bassist bei Bus Stop.

»Simon, das ist Eve. Neu bei den Roadies. Wir sind uns schon ein paarmal über den Weg gelaufen.« West beißt wieder in sein Sandwich.

Simon schenkt mir ein breites Lächeln. »Hallo! Kommt nicht oft vor, dass West sich den Namen eines Mädchens merken kann.«

West verschluckt sich fast. »Ernsthaft?«

Simon lacht.

Grinsend ziehe ich einen Gummihandschuh aus und gebe ihm die Hand. »Freut mich.«

»Mich auch«, sagt er und schüttelt sie. »Wie fandst du das Konzert?«

»Keine Ahnung, ich war die ganze Zeit hier drinnen.«

»Wie schade! In Memphis bist du aber hoffentlich dabei.«

»Das hoffe ich auch«, stimme ich zu.

Hinter Simon sehe ich, wie zwei Mädchen, anscheinend Zwillinge, die Finger verhaken und auf ihn zu gehen. Stolzieren, besser gesagt. Jede von ihnen legt einen Arm um Simon und macht eine sexy Schnute. Er blickt von einer zur anderen, während eine der beiden ihre künstlichen roten Fingernägel über seine Brust wandern lässt.

Erst West und jetzt Simon. So was scheint ihnen wirklich die ganze Zeit zu passieren.

Eins der Mädchen stellt sich auf die Zehenspitzen und flüstert ihm etwas ins Ohr. Er schiebt sie sanft weg. »Vielen Dank, Ladys, aber ich bin schon vergeben.« Er wirft einen Blick auf die Uhr. »Apropos, ich sollte Kirstie mal anrufen.«

»Kirstie, Kirstie, Kirstie«, neckt West ihn.

»Was denn? Sie hält mich am Boden.« Simon nickt mir zu. »Wir sehen uns, Eve.«

Ich lächle. »Ganz bestimmt.«

In dem Moment piepst Wests Handy und er schaut auf das Display. »In einer Stunde gehe ich noch mit ein paar Freunden aus. Kommst du mit? Deine Freundin kann auch mitkommen, wenn sie mag. Anne, richtig?«

Ich nicke, was Anne angeht, schüttele aber zum Rest der Frage den Kopf. Ein Teil von mir will, ein anderer nicht. Also sage ich: »Danke, aber heute nicht.«

Er zieht die Augenbrauen hoch. »Bist du sicher?«

»Ja, ich bin sicher.«

»Okay, dann vielleicht ein andermal.«

»Vielleicht«, sage ich und frage mich, ob er das ernst meint. Mit West und seinen Freunden ausgehen? Das kann ich mir echt nicht vorstellen.

Er grinst. »Das sagst du nur so, oder?«

»Ja«, gestehe ich.

Seine Augen weiten sich, dann lacht er und mein Magen schlägt einen Purzelbaum.

»Ganz schön ehrlich. Hm. Du gefällst mir immer besser, Grünauge.«

Meine Wangen werden wieder heiß, doch zum Glück kommt in dem Moment Ms Kelly an den Tisch. »West, hast du kurz Zeit?«

Er winkt mir zu und ich winke kurz zurück, während ich ihnen hinterherschaue. Unwillkürlich entweicht mir ein Seufzer, als ich ihn durch die Tür gehen sehe.

Tja, jetzt bin ich wohl offiziell in West Wolf verknallt.

Zwei weitere Stunden vergehen und ich bin eindeutig enttäuscht, dass West nicht noch mal vorbeischaut. Beim Aufräumen bekomme ich eine Nachricht von Anne.

FAHRE JETZT INS HOTEL. ALLES KLAR BEI DIR?

ALLES KLAR, schreibe ich zurück, doch dann sehe ich eine Nachricht von Blumas falschem E-Mail-Account. Ich kriege einen Kloß im Hals, als ich auf das Symbol tippe. Wir haben abgemacht, uns nur in Notfällen zu schreiben. Das kann nichts Gutes bedeuten.

Der Kloß wird immer größer und dicker und ich habe das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen, als ich mit dem Finger über das Display fahre und lese:

SEINE LEUTE HABEN DEINE HAARE BEIM BUSBAHNHOF IM MÜLL GEFUNDEN. SIE WISSEN, DASS DU EINEN BUS GENOMMEN HAST!

Fünftes Kapitel

Wie betäubt gehe ich nach draußen. Ich umklammere das Handy, stehe mehrere Minuten einfach nur da und lasse den Blick über das weitgehend leere Amphitheater schweifen. Auf dem Rasen liegen leere Pappbecher und ein paar ausgeknockte Nachzügler auf Picknickdecken.

Ich blinzle mit müden Augen. Ich weiß jetzt schon, dass das wieder