Weiß - Markus Günther - E-Book

Weiß E-Book

Markus Günther

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Das Schmerzhafteste war: sein Gesichtsausdruck, der von so einer erschütternden Intensität war, von einer Gefühlskraft, die sie an Jo nie gesehen hatte. Es war ein Ausdruck tief empfundenen Glücks.«Hannah führt mit Jo ein glückliches Leben und teilt mit ihm die Begeisterung für moderne Kunst und Architektur, für alles Schöne und Feinsinnige. Doch eines Tages macht Hannah eine Entdeckung, die alles in Frage stellt, was zwischen ihr und Jo an Nähe und Vertrauen gewachsen ist.Ein Roman über Täuschung und Selbsttäuschung, über die Grenzen des Verstehens und über eine eigenartige Obsession: Weiß.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 201

Veröffentlichungsjahr: 2017

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Markus Günther

Weiss

Roman

DÖRLEMANN

Alle Rechte vorbehalten© 2017 Dörlemann Verlag AG, ZürichSatz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, LemfördeISBN 978-3-03820-943-0www.doerlemann.com

Inhalt

CoverTitelei und ImpressumWeißZum AutorZum Buch

Weiss

Unmöglich, die Tür geräuschlos zu öffnen. Hannah dachte nach. Sie hielt den Schlüssel in der Hand, den sie gerade aus der Manteltasche gezogen hatte, und blickte auf das Schloss. Fast hätte sie, ohne jedes Zögern oder Nachdenken, einfach in der routinierten Bewegung ihres Alltags, in einem Schwung den Schlüssel eingeführt, umgedreht, die Tür herangezogen und mit einem kleinen Ruck geöffnet. Doch als sie den Schlüssel in die schmale Zylinderöffnung schieben wollte, hielt sie inne. Jo hatte sich bestimmt hingelegt, er war müde gewesen und schlief nun, vermutlich auf seinem Lieblingsplatz unter der Lichtkuppel im Foyer. Sie würde ihn wecken. Hannah überlegte, steckte den Schlüssel, der an einer weißen Filzschlinge hing, wieder in die Tasche und ging zum Gartentor hinüber. Wollte sie sicher sein, Jo nicht zu wecken, müsste sie das Haus von hinten betreten. Es würde ohnehin nur wenige Augenblicke dauern. Ein Aspirin gegen die beginnenden Kopfschmerzen, besser jetzt gleich, und dann rasch wieder hinaus. Das Wetter sollte noch schlechter werden, es hieß, es werde sogar schneien, kaum zu glauben nach den warmen Tagen. Schon jetzt war es kühl geworden, der Himmel hatte sich zugezogen, sie wollte dennoch die kleine Runde gehen, wie sie und Jo die Strecke nannten, vielleicht sechs Kilometer, über den Feldbach bis zur Stiftskirche und dann durch den Wald über den Dachsberg zurück. Jo wäre mitgegangen, wie fast immer, hatte aber offenbar wieder eine unruhige Nacht gehabt, was sie gar nicht bemerkt hatte, und nun war er zu müde, wie er sagte. Er wollte sich lieber ausruhen, um später an den Entwürfen für die Neue Kunsthalle arbeiten zu können.

Hannah hielt das Gartentor aus grau lackiertem Stahlgeflecht fest in der Hand, ließ es vorsichtig zurückgleiten und ging beinahe lautlos den leicht abschüssigen Weg an der Westseite des Hauses hinab zu der verzinkten Stahltreppe, die in einem rechten Winkel am Gästezimmer vorbeiführte. Dort wohnte Eve in diesen Tagen, aber sie war gleich nach dem Frühstück aus dem Haus gegangen und in die Stadt gefahren, um sich mit einer Freundin zu treffen, und würde erst am frühen Abend zurück sein. Hannah achtete bei jedem Schritt darauf, bloß keinen Lärm zu machen, als sie die Treppe auf Zehenspitzen hinaufging, auf die Küche zu, vorbei an dem schmalen Oberlicht und der Dachkante. Ihr Blick fiel ganz ohne Absicht, ja gedankenlos, vermutlich überhaupt nur wegen der ungewohnten Langsamkeit ihrer Bewegungen durch das Fenster, das sie sonst nicht weiter beachtete. Hannah erschrak. Sie fuhr zurück, noch bevor sie einen Gedanken fassen konnte. Sie hatte jemanden gesehen, unten, im Gästezimmer, obwohl das gar nicht sein konnte. Eve war nicht da, und Jo schlief. Oder war das tatsächlich Jo gewesen? War da überhaupt jemand? Der erste Schrecken warf sie zurück, beinahe so, als suchte sie sich rasch zu verstecken. Doch so weit hatte sie gar nicht gedacht. Es war eine unwillkürliche Reaktion gewesen, ein Zurückweichen wie beim Überqueren einer Straße, wenn man plötzlich die Gefahr spürt, die von einem herannahenden Fahrzeug ausgeht, das man nicht wahrgenommen hatte und jetzt in letzter Sekunde im Augenwinkel näher kommen sieht.

Nun stand sie zwei Stufen tiefer auf der Treppe, gerade so, dass sie nicht durch das Fenster hindurchsehen, aber auch selbst nicht gesehen werden konnte. Hannah war verwirrt und stand für einen Augenblick unbewegt da. Schon im nächsten Moment war sie gar nicht mehr sicher, was sie denn eigentlich gesehen hatte. Vermutlich, sagte sie sich, hatte sie sich von ihrem eigenen Schatten oder einer Reflexion auf dem Fensterglas täuschen lassen. War das denkbar? Aber sie hatte sich die Bewegung unten im Zimmer doch nicht eingebildet. Nein, sie hatte jemanden gesehen. Hannah lehnte sich wieder nach vorn, stieg mit einem Fuß eine Stufe hinauf, machte sich groß, ganz langsam, schob ihre Augen über die Kante des Fensters und versuchte, noch einmal hineinzuschauen. Als sie sich jetzt mit ihren Blicken allmählich vortastete, wich der Zweifel, und sie sah schräg unter dem Fenster Jo, der auf dem Fußboden saß. Sie erschrak noch einmal und wäre beinahe wieder zurückgewichen, schon weil sie befürchten musste, dass er sie bemerken würde. Was sie sah, fesselte nun für eine Sekunde oder zwei ihren Blick, auch wenn sie immer noch Mühe hatte zu begreifen, was genau sie sah. Es war Jo, natürlich war er es, daran konnte sie nicht mehr zweifeln, er saß auf dem Boden, oder nein, er kniete direkt vor einem offenen Koffer und drückte etwas Weißes, ein Tuch vielleicht, einen Stoff, ein Stück Wäsche, mit beiden Händen in sein Gesicht, die Augen geschlossen, den Kopf leicht vorgebeugt. Hannah sah Jos Hände in diesem Weiß, die Fingerspitzen, die sich tief in den Stoff hineingruben und darin unsichtbar wurden. Mund und Nase sah sie nicht, sie lagen verborgen unter diesem Weiß, doch sie sah seine geschlossenen Augen und was sonst von seinen Gesichtszügen sichtbar war, ganz fremd und ganz vertraut, Jos gutes Gesicht, wie schlafend, wie immer, aber auch wie verwandelt, wie entrückt, wie das Gesicht eines unbekannten Mannes, den sie jetzt und hier zum ersten Mal in ihrem Leben sah. Es schien, als konzentriere er sich auf etwas oder atme tief ein oder … – Hannah fuhr wieder zurück, von neuem erschrocken, sie stand wieder eine Stufe tiefer, außerhalb seines Blickfeldes, sie spürte, wie ihr Herz bis in den Hals hinein heftig schlug, wie Gedanken ungeordnet durch ihren Kopf jagten. Sie strich mit den drei mittleren Fingern ihrer rechten Hand erst über ihre Stirn und dann über ihre rechte Wange, legte die ganze Hand für einen kurzen Moment auf den Mund und ließ sie dann langsam über ihr Kinn und ihren Hals hinabgleiten, bis sie auf der Brust zum Liegen kam. Jo hatte also …? Er war …? Aber das konnte ja gar nicht sein. Er schlief doch. Deshalb war er hiergeblieben. Und er würde nicht heimlich in Eves Zimmer schleichen und dort …

Noch einmal tastete sich ihr Blick vor, sie war jetzt sehr erregt und atmete schnell, sie schluckte mehrfach hintereinander vor Aufregung, sah von neuem über die Kante des schwarzen Fensterrahmens und erblickte unten im Zimmer – nichts. Eves Koffer lag aufgeklappt dort, ein Durcheinander aus Wäsche, Heften, Haarklammern, Kosmetik und Büchern, ein unübersichtliches Bild aus vielen Einzelheiten, aber Jo war nicht zu sehen. Hatte er sie bemerkt? Wo war er? Versteckte er sich oder war er auf dem Weg zu ihr? Was würde er jetzt sagen? Und was sollte sie sagen? Sie musste fort. Nein, sagte sie sich, sie sollte besser hier stehen bleiben und warten und nicht das Risiko eingehen, dass er sie bemerken würde. Aber nein, lieber fort! Nach ein paar Augenblicken hatte Hannah sich wenigstens so weit gefasst, dass sie sich zu einer Entscheidung durchringen konnte: Fort! Heraus aus diesem Augenblick, aus dieser Unerträglichkeit, aus dieser Verwirrung. Sie nahm den Rückweg, so, wie sie gekommen war, genauso leise, auf Zehenspitzen, was ihr jetzt in der Erregung viel schwerer fiel, die Treppe hinab, fast wäre sie sogar gestolpert, und dann vorbei an der fensterlosen Westseite des Hauses bis hinauf zum grauen Gartentor, das sie jetzt nicht mehr langsam und geräuschlos schloss, sondern rasch zuzog. Sie lief hinaus auf die Straße.

Hannah ging schnell, und sie blickte kein einziges Mal zurück, bis sie sicher war, sich so weit vom Haus entfernt zu haben, dass Jo sie nicht mehr sehen konnte, sollte er etwa von einem Fenster aus ihr nachschauen. Erst jetzt traute sie sich, stehen zu bleiben. Ihr Herz raste immer noch, sie war außer Atem. Als Erstes schaute sie auf die Uhr. Warum, wusste sie selber nicht. Die Uhrzeit tat gar nichts zur Sache. Kurz nach zwei, stellte sie fest, so, wie man in den ersten Momenten nach einem Unfall das Gefühl hat, alle Informationen sammeln zu müssen und auch die Zeit zu notieren, nach der man später sicher gefragt wird. Kurz nach zwei. Sie sah auf das Ziffernblatt mit den römischen Ziffern und den winzigen Fenstern mit der 21 und dem MAR für den Monat, am oberen Rand die Mondphase mit dem lächerlichen runden Gesicht, das ihr jeden Monat so kitschig vorkam. Aber das alles war ja ganz bedeutungslos. Die Bilder, oder genauer: das eine Bild, stand nun in ihrem Kopf wie eine großformatige, sperrige Leinwand im Atelier, sie konnte nicht daran vorbeisehen, und sie konnte sie nicht zur Seite schieben. Sie konnte nur ratlos und verzweifelt um diese Leinwand herumlaufen, wie um einen Brand, der nicht mehr zu löschen war, wenn nicht ein Wunder passierte und ein gewaltiger Regen hereinbrach oder eine himmlische Feuerwehr den Schauplatz betrat, ein unerwarteter Retter, ein Zauberer, ein Held, der das alles ungeschehen machen oder ins Gute wenden könnte. Alles nur ein böser Traum. Ja, so fühlte es sich an, ein Traum, der noch nicht ganz verklungen war, sondern im ersten Wachzustand nachwirkte und die Gedanken immer noch durcheinanderwarf, bis sich endlich das klare Bewusstsein durchsetzte, dass es eben nur ein Traum war und man erleichtert die Sache auf sich beruhen lassen konnte.

Aber nein, kein Traum, kein Wunder, keine Rettung. Es war wirklich geschehen. Die Zerstörung war nicht mehr aufzuhalten, sie hatte stattgefunden, in diesem einen Augenblick oder in dem, was dieser Augenblick hatte sichtbar werden lassen, Verrat und Heimlichkeit, Abartigkeit und Abgrund. In jeden Gedanken, was nun zu tun sei, ob sie die kleine Runde doch noch laufen wolle, ob sie jetzt gleich wieder nach Hause gehen würde und was denn nun geschehen solle, mischte sich dieses eine Bild: Jo, der – aber was genau hatte er da getan? Was genau hatte sie gesehen? »Ruhe!«, sagte sie zu sich selbst, atmete, so gut es in der Aufregung eben ging, tief durch und ging langsam weiter, die Hände in den Manteltaschen.

Zunächst der Tathergang, dachte Hannah. Sie musste an die Zeugen vor Gericht denken, die von dem erzählten, was sie gesehen hatten oder meinten, gesehen zu haben. Nicht alle waren glaubwürdig, das verstand sich von selbst, und sie hatte mit den Jahren einen guten Blick dafür entwickelt, wer die Wahrheit sagte und wer nicht. Man konnte sich trotzdem irren, da durfte man sich nichts vormachen, auch sie hatte sich oft geirrt, das war unbestreitbar, aber es gab eindeutige Fälle. Es gab die, deren Eifer sie gleich als unzuverlässige Zeugen verriet, und die, die offenkundig auf die vorbereiteten Formulierungen anderer zurückgriffen und gar nicht mit eigenen Worten das Geschehen beschrieben. Es gab die, die nach Worten suchten und um Worte rangen, und die, die sich am Ende selbst nicht mehr sicher waren, was sie gesehen hatten, deren Geschichte nach einigen skeptischen Nachfragen und Einwänden ganz woanders endete, als sie begonnen hatte. Vor allem gab es auch die, die ständig über die Motive und Gründe und Zusammenhänge spekulierten, die nicht über die Tat, sondern den Täter sprachen und ihre Rolle mit der des Richters oder Anklägers verwechselten und deshalb nicht voneinander trennen konnten, was sie mit eigenen Augen gesehen hatten und was sie mit Blick auf den Beschuldigten für logisch und plausibel hielten.

Sagen Sie uns einfach, was Sie beobachtet haben! Wie oft war dieser Satz vor Gericht gefallen, die unterbrechende, manchmal energische Ermahnung von Richtern oder Staatsanwälten oder Verteidigern, die sie tausendfach im Gerichtssaal beobachtet hatte. Und wie oft hatte sie selbst diesen Satz gesagt? Doch während ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging, schob sich die große Leinwand wieder in die Mitte aller unzusammenhängenden Überlegungen und zeigte dieses unfassbare, dieses ungeheuerliche Bild: Jo, am Boden, kniend, seine großen Hände, die ihr immer so gut gefallen hatten, die immer kräftig, warm und trocken waren, wenn er sie berührte, beim Spaziergang ihre Hand nahm oder ihr über die Wange strich. Sie sah seine Hände und das weiße Stück Stoff, in dem sich sein Gesicht verbarg, Stoff, oder was immer es gewesen sein mochte, seine geschlossenen Augen, die sie noch nie so gesehen hatte, so glücklich entspannt, so voll innerer Bewegung, als wäre er von einer unerwarteten Nachricht überwältigt oder tief ergriffen von einer Musik, die er gerade in diesem Augenblick hörte, oder niedergeworfen bis zur Bewusstlosigkeit von einer unsichtbaren Macht.

Der Fall war eindeutig. Sie wusste ja, was es war und was es zu bedeuten hatte. Sich jetzt noch etwas vorzumachen oder nach anderen Erklärungen zu suchen, war aberwitzig. So naiv war sie nicht. Sie würde sich nichts vormachen lassen, auch nicht von ihrem eigenen Mann. Jo war also – aber die Begriffe, die hier in Frage kamen, wollte sie nicht einmal mit der lautlosen Stimme ihrer Gedanken aussprechen. Es waren hässliche Wörter, es waren Wörter, die sie gar nicht kennen und weniger noch in den Mund nehmen wollte. Warum tut ein Mensch so etwas? Das war doch – krank. Dieses Wort, immerhin, erlaubte sie sich. Krank! Sie hatte von solchen Menschen gehört, sicher, man liest so etwas, vielleicht war es mal in einem Film vorgekommen, nicht ganz derselbe Fall, aber ein ähnlicher Fall. Bestimmte Dinge halt, Gegenstände, Schuhe, Socken oder was auch immer. So etwas gab es. Aber natürlich nur im Film oder unter irgendwelchen gestörten Menschen, die sie Gott sei Dank nie kennengelernt hatte oder wenn, dann aus der kommoden Distanz ihrer beruflichen Aufgabe, in der geordneten Rollenverteilung ihrer kleinen Welt, in der sie in nüchterner Arbeit ermitteln und bewerten musste, was andere getan und welche Strafe sie verdient hatten. Sie richtete oft über einen Menschentyp, den sie in ihrem eigenen Leben niemals vermutete, so wie der Mediziner, der den Krankheitserreger Tag für Tag im Labor untersucht oder bei seinen Patienten behandelt, ihn in seinem eigenen Körper keinesfalls erwarten würde. Doch hinkte der Vergleich, denn wenigstens theoretisch musste dem Mediziner klar sein, dass er nicht per se gegen den Krankheitserreger immun war, während es hier um Dinge ging, die nicht einfach wie Bazillen durch die Welt geisterten und in diesem Sinne jedermann treffen konnten, sondern Folgen einer bestimmten biographischen und sozialen Entwicklung waren, die sie für sich, aber mit gleicher Entschiedenheit auch für Jo grundsätzlich ausschließen konnte.

In hohem Maße therapiebedürftig – die Wendung war ihr so vertraut wie der Hinweis auf einschlägige Neigungen und tiefgreifende Störungen, Vorbelastungen, uneindeutige Prognosen, bedenkliche Persönlichkeitsmerkmale. Ja, das war der Jargon vor Gericht, so sprachen sie über die entsprechenden Täter. Nur gehörte das alles nicht hier hin, nicht in diesen Teil ihrer Welt, nicht in ihr eigenes privates Leben. So war ihr Leben nicht, und so war Jo nicht.

Gleich darauf bewegten sich ihre Gedanken wieder in eine andere Richtung, und sie versuchte, das Geschehen zu bewerten, ohne etwas zu beschönigen. Sie verlangte von sich einen nüchternen, möglichst emotionslosen Blick auf die Lage, wie sie sich nun darstellte. Jo führte ein Doppelleben, er war gar nicht der Mensch, den sie kannte oder zu kennen glaubte. Er hatte ein zweites, heimliches Leben, das er vor ihr verbarg. Wie oft machte er so etwas? Was genau geschah dabei? Was sie gesehen hatte, war ja nur ein Bildausschnitt, ein winziger Moment seines verborgenen Lebens, den ihr der Zufall enthüllt hatte, aber tatsächlich gab es in diesem verborgenen Leben sicher viel mehr, bestimmt noch Hässlicheres, Schlimmeres. Undenkbar, dass dieser eine Augenblick das ganze verborgene und verheimlichte Leben gezeigt hatte. Sie hatte aus einem langen Film nur eine einzige Szene, weniger noch, ein einziges Standbild gesehen, das wusste sie doch. Bestimmt hätte ihr ein anderer Zufall eine andere und womöglich noch viel widerlichere Szene aus Jos geheimem Leben vorgeführt. Es war nicht schwer, sich das alles auszumalen. Im Gegenteil, die Bilder von Jo in seinem anderen, verheimlichten Leben standen ihr unwillkürlich vor Augen, ohne dass es ihr gelungen wäre, diese Bilder beiseitezuschieben. Es waren unerhörte Bilder, es waren Szenen schamloser Triebhaftigkeit. Hannah spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen und ihre Muskeln am Kinn und links und rechts vom Mund leicht zuckten, wie sie es immer taten, kurz bevor sie zu weinen begann.

Alles war zerstört, alles. Was blieb anderes als die Trennung? Das war das Ende. Keinen weiteren Tag mehr könnte sie es mit Jo, mit so einem Menschen aushalten. Jo hatte ihr immer etwas vorgemacht, er hatte sich so vernünftig und geistvoll gegeben, immer schon, von Beginn an, so ruhig, so liebevoll, so treu. Er, der feinsinnige, gebildete Mann, der so viele Bewunderer hatte. Dabei war er so ordinär. Das Wort war viel zu harmlos. Er war animalisch, abartig. Er war das Gegenteil von allem, was er alltäglich zur Schau stellte, ein Gestörter, ein Irrer, einer, vor dem man sich fürchten musste, weil er mit großer krimineller Energie seinen fehlgeleiteten Neigungen nachging und dabei vor nichts zurückschreckte. Gingen ihre Gedanken nun viel zu weit? Tat sie ihm unrecht? Vielleicht. Vermutlich. Ganz sicher sogar. Sie kannte ihn doch so gut. Sie wusste, dass er nicht so sein konnte, wie es jetzt schien. Es war, wie auch immer, ein ganz falscher Eindruck entstanden, ein Zerrbild, eine Täuschung. Jeder, aber nicht Jo, dachte sie. Eher würde er eine Bank überfallen, als solche Dinge zu tun. Und natürlich würde er keine Bank überfallen! Das hatte er ja auch gar nicht nötig.

Es konnte, wenn sie es genau bedachte, nicht wahr sein, das wusste sie jetzt endlich wieder mit der selbstverständlichen Gewissheit, die sie immer in diesen Fragen hatte und die unabdingbar war für sie und ihr Zusammensein mit Jo. Sie konnte sich auf Jo verlassen! So einfach war das. Es konnte also schlicht nicht so sein, wie es schien. Es musste andere Erklärungen geben. Es würde schon noch alles verständlich werden. Wichtig war nun aber, sich zu fassen und die innere Ruhe zu gewinnen, die ihr so oft in schwierigen Momenten geholfen hatte und die sie, beruflich wie privat, ja gerade auszeichnete. Hannah blieb kurz stehen, zog ein Taschentuch aus der Manteltasche und fuhr sich damit zweimal kurz über die Nasenspitze. Die Natur um sie herum nahm sie nicht wahr, weder die Bäume, die heute karg und winterlich aussahen und vom Wind nur an den äußersten Spitzen bewegt wurden, noch die Vögel, die dem Wetter zu misstrauen schienen und mit aufgeregten Lauten hin und her flogen. Hannah würde das alles auch an einem anderen Tag nicht bemerken. Die häufigen Spaziergänge mit Jo auf diesem vertrauten Weg waren keine Naturerlebnisse, sondern Zeiten des Austausches und des Gesprächs, und wenn sie hier allein ging, war es vor allem die Gelegenheit, die Fragen, die sie gerade beschäftigten, gründlicher zu bedenken.

Die Kammer sieht noch erheblichen Aufklärungsbedarf in tatsächlicher Hinsicht. Beschreiben Sie den Tathergang mit Ihren eigenen Worten, so, wie Sie es beobachtet haben, und verzichten Sie auf Rechtsmeinungen und Schlussfolgerungen! Hannah ärgerte sich über die juristischen Floskeln in ihrem Kopf und über das Durcheinander ihrer Gedanken, darüber, dass ihre inneren Selbstgespräche so erregt und ziellos waren und zu nichts führten. Gerade das war doch ihre Stärke: dass sie konzentriert denken konnte, wenn andere kopflos durcheinanderredeten, dass sie sich von den Gefühlswallungen der Beteiligten nicht aus der Ruhe bringen ließ, sondern unbeirrt ihre eigene Ordnung in die bisweilen nur schwer verständlichen Vorgänge hineinbrachte. Kaum jemand konnte so gut wie sie einen verworrenen Fall, zumal wenn die Emotionen der Beteiligten die Sache zusätzlich verdunkelten, sachgerecht und differenziert bewerten. Auf diese Gabe, sagte sich Hannah, komme es auch jetzt an, und sie werde sich von den eigenen Gefühlen nicht den nüchternen Blick auf die Dinge verschleiern lassen. Sie werde nun, auch unter schwierigen Bedingungen, die innere Ruhe zurückgewinnen und sich Schritt für Schritt das Verständnis für die Sache und die handelnden Personen erarbeiten. Das tat sie nicht nur vor Gericht, sondern auch in jedem anderen Moment ihres Lebens. Ihrer äußeren Disziplin stand eine innere Ordnung gegenüber, die sie selbst dann aufrechterhielt, wenn völlig unerwartet irrationale Regungen, auch ihre eigenen Emotionen, ins Spiel kamen. Gerade dann ließ sie sich nicht hinreißen zu unüberlegten Entschlüssen oder spontanen Reaktionen. Gefühle gehörten zum Leben selbstverständlich dazu, nicht aber Affekte. Die ließen sich mit gedanklicher und emotionaler Disziplin verhindern oder, im Ausnahmefall, rasch wieder unter Kontrolle bringen. Von seltenen Augenblicken der Schwäche abgesehen, führte Hannah ihre inneren Selbstgespräche mit derselben Präzision und Differenzierung, mit der sie ihre Urteilsbegründungen schrieb.

Allerdings waren dies, jetzt und hier, keine normalen Bedingungen mehr. Die Erfahrung, die sie gerade gemacht hatte, ließ sich mit keiner anderen Erfahrung in ihrem Leben vergleichen und widersetzte sich, jedenfalls in diesen ersten Minuten unter dem unmittelbaren Eindruck des Geschehens, einer durchgreifenden Rationalisierung. Sie sagte sich, dass sie erst einmal wieder zur Ruhe kommen müsse und es ihr dann auch bald wieder gelingen werde, klar und kontrolliert diese auf den ersten Blick beunruhigende Erfahrung nüchtern zu bewerten. Emotionen, die unbeherrschbar waren, gab es nicht. Das hatte sich in vielen Momenten ihres Lebens gezeigt.

Ihr fiel Eve ein, und der Gedanke an sie ließ alles gleich weniger dramatisch erscheinen. Denn was immer genau geschehen war, es konnte unmöglich etwas mit Eve zu tun haben, sagte sich Hannah und erlaubte sich keinerlei Zweifel. Im Gegenteil, Eve gab diesem schlimmen Augenblick eine Art von lächerlicher Nichtigkeit. Wäre hier eine andere Frau im Spiel, dann wäre alles ganz anders, dann wäre vielleicht manche der Befürchtungen, die ihr in den ersten Minuten durch den Kopf gegangen waren, berechtigt gewesen. Aber so war es eben nicht, und dieser Gedanke verschaffte Hannah jetzt ein Gefühl der Erleichterung, wenngleich sie wusste, dass dieser Gedanke allein noch nicht alles harmlos erscheinen ließ. Eve war kein Kind mehr, sicher, sie war jetzt neunzehn, oder nein, in ein paar Tagen schon zwanzig, aber sie war für sie und Jo eben doch noch ein Kind, wenn auch nur ihr Patenkind. Sogar Jo kannte Eve, seit sie ein Baby war. Hannah rechnete genauer nach: Eve war gut ein Jahr alt gewesen, ja, so musste es gewesen sein, als sie Jo gerade kennengelernt hatte. Da nannten alle das Kind noch Eva-Maria, so wie ihre Schwester sich das ausgedacht hatte, seltsam genug, aber kurz darauf begann es, dass alle nur noch Eve sagten, und dabei blieb es. Jo und sie hatten Eve viel bei sich gehabt, auch wenn sie sich beide nie sehr für Kinder interessiert hatten, Jo noch weniger als sie selbst. Als Eve klein war, blieb Jo oft ganz unbeteiligt. Nur zum Zeichnen oder Malen setzte er sich manchmal mit ihr hin und versuchte, ihr etwas beizubringen. Viel Geduld oder Einfühlungsvermögen zeigte er aber auch dabei nicht. Er erwartete Wunder von einem kleinen Mädchen mit dem Buntstift in der Hand und konnte seine Enttäuschung kaum verbergen, wenn Eve keine Wunder, sondern trotz seiner großartigen Anregungen und Vorzeichnungen nur ungelenke Kinderkritzeleien zu Papier brachte. Dann wandte er sich mit einem freundlichen, floskelhaften Wort lächelnd ab und überließ Hannah das Kind. Und als sie etwas älter war, zwölf und dann vierzehn und sechzehn, da hatte Jo erst recht keinen Sinn für dieses Kind und versteckte sich hinter seiner tadellosen Höflichkeit, ohne jemals ernstlich auf Eve einzugehen. Hätte Eve ein Musikinstrument gespielt, wäre das ein guter Anknüpfungspunkt gewesen, und sie hätten zu dritt musizieren können. Doch Eve war recht unmusikalisch, jedenfalls hatte sie kein Instrument gelernt und verstand wenig von guter Musik. Kleine Ausflüge waren am besten, mit dem Rad durch den Wald oder Ruderboot fahren, aber am liebsten war es Jo, wenn Hannah sich um Eve kümmerte. Die wenige Mühe, die er sich gab, war vermutlich gar nicht Eve geschuldet, sondern der Gewissheit, dass er Hannah eine Freude machte, wenn er sie nicht ganz allein ließ und sie die wenigen Stunden, in denen sie fast wie eine kleine Familie zusammen waren, gemeinsam erlebten.

Es war auch die Zeit gewesen, in der er sich besonders in die Arbeit vertiefen wollte, in der er die ersten großen Prestigeprojekte baute, die ihn viel stärker forderten als alles Frühere und die ihn immer bekannter machten. Außerdem war es die Zeit, in der Eve für die Kinderunterhaltung zu groß und die interessanten Gespräche zu klein war, so dass sie Jo in seinem Desinteresse im Grunde gut verstanden hatte. Ihm fehlte auch jede emotionale Bindung an Eve. Familie war für ihn nicht viel mehr als eine Pflichtübung, wenn auch eine, die er ernst nehmen und, wie alles, was er tat, einwandfrei absolvieren wollte.