Weiße Katze auf weißem Grund - Ralf Steinit - E-Book

Weiße Katze auf weißem Grund E-Book

Ralf Steinit

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Beschreibung

Drei Kater. Eine Neogräzistin. Eine malende Katze. Ein aus einer Hainbuchenhecke ragendes Bein. Die drei Kater diskutieren eine merkwürdige Mordserie, während sie von einer Parkbank aus über den Fluss schauen, gebratene Eismeergarnelen verputzen und die Frage klären, ob man Katzen zu den Tieren zählen kann.

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Seitenzahl: 266

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Ralf Steinit

Weiße Katze auf weißem Grund

Der zweite Band der Reihe

Drei Kater. Eine Neogräzistin. Eine malende Katze. Ein aus einer Hainbuchenhecke ragendes Bein. Die drei Kater diskutieren eine merkwürdige Mordserie, während sie von einer Parkbank aus über den Fluss schauen, gebratene Eismeergarnelen verputzen und die Frage klären, ob man Katzen zu den Tieren zählen kann.

Der Autor wurde in Berlin geboren, studierte Klassische Philologie und Religionswissenschaft und lebt heute mit seiner Familie, einigen Ziegen und drei Katern im Süden der Insel Kreta auf dem Land.

Ralf Steinit

Weiße Katze auf weißem Grund

Roman

Facebook: Ralf.Steinit.Autor

Internet: ralfsteinit.de

Zitat Übersprunghandlung: Die Definition der Übersprunghandlung wird zitiert nach: Lindner, Inge, Art. Übersprunghandlung, in: Lexikon der Psychologie, Band III, hrsg. von Wilhelm Arnold, Hans Jürgen Eysenck und Richard Meili, Freiburg im Breisgau 81991, Sp. 2384.

1. Auflage der eBook-Ausgabe August 2020

Copyright © Ralf Steinit

Umschlaggestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München,

Konvertierung: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Ralf Steinit

c/o AutorenServices.de

Birkenallee 24

36037 Fulda

Für Nina, meine Königin

Eins

Der Junikäfer kam mit der Morgendämmerung. Das Brummen des Käfers beunruhigte den Kater. Er hätte sich gern ein Stück vom Rand der Balkonbrüstung zurückgezogen, fürchtete aber, er könnte dabei beobachtet werden, wie er sich vor einem Käfer zurückzog. Es war niemand da, der ihn hätte beobachten können. Niemand befand sich auf dem Weg, der zum Ufer führte, und es stand auch niemand hinter einem der Fenster, die von der Brüstung des Balkons aus einzusehen waren.

Auf der Balkonbrüstung des Hauses, das jenseits des Weges lag, erschien um diese Zeit gewöhnlich die weiße Katze. Eine weiße Katze mit blauen Augen und auffallend großen Ohren. Noch war die weiße Katze nicht auf die Brüstung des Balkons gesprungen. Sie konnte ihn nicht beobachten, wenn sie nicht auf die Brüstung sprang.

Das Problem des Rückzugs vor dem Käfer barg für den Kater nicht allein die Gefahr, sich dem Hohnlachen eines möglichen Beobachters ausgesetzt zu sehen. Die Balkonbrüstung war die Länge eines Ziegelsteines breit. Ein Rückzug hätte bedeutet, mit den Hinterbeinen von der Brüstung zu rutschen. Er würde an der Innenseite der Balkonbrüstung hängen. Es war eine Frage des Hohnlachens und der Bequemlichkeit.

Der Kater überlegte, ob sich ein Ausweichen zur Seite mit seiner Würde vereinbaren ließ. Es konnte keine geeignete Lösung sein, weil der Junikäfer inzwischen in einem unkalkulierbaren Schlingerkurs in Richtung der Brüstung flog. Er war nun so nah, dass der Kater die dreigliedrigen Fühler erkennen konnte, die Haare am Bauch und das unverschämte Grinsen unter den schwarzen Kulleraugen.

Der Kopf des Katers wich vor dem anfliegenden Käfer zurück, während sich seine nach hinten gedrehten Ohren legten. Er bemerkte, dass sein Mund offen stand, wobei ihm das Entsetzen bei dem Gedanken, der Käfer könnte in seinem Mund landen, den Mund noch weiter öffnete. Der Junikäfer vollzog einen unvermittelten Kurswechsel, prallte gegen den Balkonpfeiler und stürzte auf die Brüstung, wo er wenige Zentimeter neben der Pfote des Katers liegen blieb.

Wenn er die Pfote bedächtig gehoben hätte, um sie in aller Ruhe aus der Reichweite des Käfers zu bringen, würde ihm wohl niemand den Vorwurf machen können, er fürchte sich vor einem Junikäfer. Er wollte in dieser Hinsicht kein Risiko eingehen, möglicherweise saß die weiße Katze inzwischen auf der Brüstung und schaute zu ihm herüber. Aus den Augenwinkeln war der Balkon des Hauses auf der anderen Seite des Weges nicht deutlich zu erkennen. Er hätte den Kopf wenden können, doch er wollte den Käfer neben seiner Pfote nicht unbeobachtet lassen. Der Käfer lag auf dem Rücken. Es war ein Käfer von enormen Ausmaßen. Er schaukelte bei dem Versuch, sich zu drehen, und bewegte seine sechs Beine gleichzeitig. An den Schenkeln hatte er Borsten und etwas, das Zähnen ähnelte, ragte nahe des Gelenks aus den vorderen Schienen, während sämtliche Fußglieder in Doppelkrallen endeten.

Der Kater wollte sich die Details des Körperbaus nicht einprägen. Er fürchtete, den grässlichen Schenkelborsten des Käfers in seinen Träumen zu begegnen. Solange sich der Käfer bewegte, konnte er den Kopf nicht in die andere Richtung drehen. Es war denkbar, dass der Junikäfer auf die Beine kam und mit seinen in Doppelkrallen endenden Fußgliedern über die gepflegte Pfote des Katers krabbelte, wobei der Kater die Gefahr zu spät bemerken würde, weil er gerade zum Balkon des Hauses jenseits des Weges schaute. Der Käfer mühte sich noch immer ohne Erfolg. Es war kein guter Morgen, wenn einen ein hässlicher Käfer bedrängte. Ein Käfer, der unfähig war, seinen Flug zu kontrollieren, und es nicht schaffte, sich aus einer Rückenlage zu befreien. Der Kater schob den Käfer zum Rand der Brüstung und stieß ihn über die Kante.

Nachdem er den Käfer über die Kante gestoßen hatte, kam ihm die Befürchtung, dass er im Fallen die Flügel ausbreiten könnte, um sich in einem weiteren Torkelflug der Balkonbrüstung zu nähern. Die Befürchtung war unbegründet. Der Kater sah den Käfer auf den Terrassensteinen am Haus. Er schüttelte seine Benommenheit ab und verschwand zwischen den Halmen des Rasens.

Der Kater war nahe daran, die Pfote, mit der er den Käfer über die Kante gestoßen hatte, zum Putzen an seinen Mund zu führen. Die Pfote war mit dem Käfer in Kontakt gekommen. Wenn er die Pfote putzen würde, müsste er seine Zunge über die Stelle führen, mit der er den Käfer berührt hatte. Es wäre, als ob er Käferspuren leckte. Er hatte mit seiner Pfote die borstigen Beine des Junikäfers berührt! Die Pfote musste unbedingt gründlich gereinigt werden. Seine eigene Zunge konnte er dazu unter keinen Umständen benutzen. Es schien eine ausweglose Situation zu sein. Der Kater sah sich um, als hoffe er, jemanden zu entdecken, der seine Käferpfote putzen würde.

Die weiße Katze saß auf der Balkonbrüstung des Hauses jenseits des Weges. Sie konnte noch nicht lange dort sitzen. Vermutlich war sie gerade nach draußen gekommen, hatte in das frühe Licht geblinzelt und entschieden, dass es ein guter Zeitpunkt für den Sprung auf die Brüstung sein musste. Ihre Augen hatten das durchscheinende Blau eines südlichen Meeres. Die außergewöhnlich großen Ohren waren aufgestellt und zeigten nach vorn. An den Ohren wuchsen lange Pinsel. Die Pinsel hatten eine Länge, dass man glauben mochte, unter ihren Vorfahren müsse sich ein Luchs befinden. Es waren weiße Pinsel. Die Katze hatte ein weißes Fell, das sich fleckenfrei von den Ohren bis zu der schwarzen Schwanzspitze zog.

Es war jeden Morgen der gleiche Ablauf. Die Katze beugte sich ein Stück über die Balkonbrüstung hinaus und ließ ihren Blick sorgfältig prüfend an den Häusern entlanggleiten, die eine ovale Freifläche einschlossen. Der Kater sah an der Haltung ihres Kopfes, dass sie angestrengt starrte. Ihre Augen wanderten zunächst über die Fenster der Häuser, die gestaffelt an der Uferlinie standen. Wenn sie beim dritten Haus angelangt waren, das im Scheitelpunkt des Ovals lag, wusste der Kater, dass sie auf seine Seite wechseln würde und ihn auf dem Balkon sitzen sah. Er hätte sich ihrem Blick entziehen können, indem er von der Brüstung sprang und nach drinnen ging. Es wäre auch möglich gewesen, ihr Starren zu erwidern, um deutlich zu machen, dass ihre Augen in sein Revier eindrangen, sobald sie den Weg, der zum Ufer führte, überquerten. Der Kater hatte sich aber bei der ersten Begegnung mit der weißen Katze dazu entschlossen, ihren Blick zu ignorieren. Im Grunde hatte er sich nicht dazu entschlossen, sondern spontan eine Haltung eingenommen, die den Eindruck erweckte, er wäre auf der Jagd nach Mäusen, die im Rasen unter ihm ihre Baue hatten. Genau so machte er es auch in diesem Moment. Er konnte nur hoffen, dass es im Rasen keine Mäusebaue gab. Durch den Kot der Mäuse wurden schreckliche Krankheiten übertragen. Der Kater hätte über den Mäusekot verseuchten Rasen nicht einmal in Gedanken gehen wollen. Er würde möglicherweise bereits krank werden, weil er die Grashalme, an denen der Mäusekot klebte, angeschaut hatte. Es wäre besser gewesen, den Rasen zu ignorieren und die weiße Katze anzustarren, bis sie vom Balkon fiel.

Der Kater hatte wenig Freude an Rivalitäten, die mit endlosem Starren und gesträubtem Rückenfell einhergingen. Er praktizierte diese Form des Umgangs, weil es den Konventionen entsprach. Ein ausgedehnter Schlummer auf einem frisch gewaschenen Kaschmirpullover deckte sich eher mit seinen Vorstellungen von einem gelungenen Tag. Als der Kaschmirpullover noch auf der Fensterbank der kleinen Wohnung gelegen hatte, war es möglich gewesen, das Geschehen zu beobachten, ohne einer Gefahr ausgesetzt zu sein. Ein Junikäfer hätte ihm nichts anhaben können, er wäre höchstens gegen die Fensterscheibe geflogen. Der Kater hing gewiss keinen fortschrittsoptimistischen Theorien an, doch er hätte nicht gern in einer Welt gelebt, die kein Fensterglas und kein Penicillin kannte. Er würde den Schlaf auf dem Kaschmirpullover lediglich kurz unterbrochen haben, um sich ausgiebig zu strecken. Eventuell hätte er seinen Kopf in den Schatten geschoben.

Den Platz auf der Fensterbank hatte ihm niemand streitig machen können, auch die beiden anderen Kater nicht, die in die kleine Wohnung gezogen waren. Es handelte sich um sein Revier und in seinem Revier gehörte die Fensterbank mit dem Kaschmirpullover ihm. Vor drei Wochen hatte Tamira damit begonnen, Bücher, Geschirr und Kleidung in Kisten zu verpacken. Der griechisch sprechende Mann war gekommen und hatte Tamira geholfen, die Kisten, den Schreibtisch und die Töpfe mit dem Basilikum aus der Wohnung zu tragen.

Das Problem bestand darin, dass er nun nicht mehr behaupten konnte, er hätte die älteren Rechte. Er war zusammen mit den anderen Katern in der neuen Wohnung eingetroffen. Rechte an bestimmten Plätzen mussten erst verhandelt werden. Die Wohnung bot deutlich mehr Raum, sie hatte zudem einen Balkon, von dem aus man über eine Wendeltreppe nach unten gelangte. Das neue Revier nahm damit einen bedeutenden Umfang an, was nur beim ersten Hören nach einem wahr gewordenen Traum klang. Ein Revier von bedeutendem Umfang war mit Arbeit verbunden. Das Revier musste fortwährend kontrolliert werden. Reviergrenzen waren festzulegen. Es bestand die Möglichkeit, dass jemand die Reviergrenzen infrage stellte. Hatte man sich für ein Schläfchen zusammengerollt, trieb einen die Sorge um Eindringlinge gleich wieder hinaus. Unter jedem Busch konnte ein Waschbär lauern, während Wildschweine durch die Hecken brachen. Es gab in der Gegend eine große Zahl an Hecken und Büschen. Das Schlimmste aber war, dass sich der Kaschmirpullover nicht mehr finden ließ. Der Kater hatte mehrfach nach seinem Kaschmirpullover gesucht.

Die weiße Katze drang zwar mit ihren Augen in sein Revier ein, schien aber die Hainbuchenhecke entlang des Weges zum Ufer als Grenze zu akzeptieren. Der Kater hatte sie bisher noch gar nicht außerhalb der Hecke gesehen, die das Grundstück des Hauses auf der anderen Seite des Weges einschloss. Die Augen der weißen Katze mussten längst weitergewandert sein. Vom Balkon, auf dessen Brüstung der Kater saß, über den Weg, die Hainbuchenhecke und den Rasen bis zu den Apfelbäumen, die neben dem Haus der weißen Katze standen. Wie kam diese Katze dazu, ihren Blick über ihn wandern zu lassen! Er war Didier de Marche. Er hatte zahlreiche hoch dotierte Fußballspieler dazu gebracht, lächerliche Frisuren zu tragen. Von seinen Bewunderern wurde er einfach der Mann genannt. Es ging um ihn, wenn es im Titel eines Liedes hieß: Listen To What The Man Said, Heʼs A Dangerous Man, The Man Comes Around, Sharp Dressed Man oder Heʼs All The Man That I Need. Er war der letzte der berühmten internationalen Playboys. Wie kam diese schlecht gelaunte Katze mit ihren meerfarbenen Augen und der lächerlich schwarzen Schwanzspitze dazu, ihren Blick über ihn wandern zu lassen! Er würde hinübergehen, um sie für ihr Verhalten zur Rechenschaft zu ziehen. Er würde sie zwingen, seine Käferpfote zu putzen.

Der Kater bemerkte, dass er die Pfote, mit der er den Käfer berührt hatte, in hoher Geschwindigkeit leckte. Er wusste, was eine Übersprunghandlung war. Wird der normale Ablauf einer Instinkthandlung durch Mängel der auslösenden Situation oder Auftreten eines Konflikts zwischen unvereinbaren Trieben gestört, kann die aufgestaute Triebenergie über ein in der Situation irrelevantes, zu einem anderen Instinkt gehörendes Verhalten abreagiert werden. Es konnte aber keine Instinkthandlung sein, schließlich hatte er den Gedanken gefasst, die unverschämte weiße Katze zu besuchen.

Die Sonne erhob sich über der Halbinsel. In der Lücke zwischen den Häusern, durch die der Weg zum Ufer führte, sah der Kater mehrere Schwäne auf dem Wasser, die sich nahe des Bootsstegs treiben ließen. Der Himmel war vogelfrei. Die Kondensstreifen zweier Flugzeuge malten ein im Osten bereits zerfließendes Doppelkreuz. Aus dem Inneren der Wohnung kam ein Geräusch, als ob etwas über Holz geschoben würde. Einige Augenblicke später schienen schwere Gegenstände beim Herabfallen auf etwas Hartes zu treffen. Es folgte ein anhaltender Schrei in einer unangenehmen Tonhöhe.

Tamira Heidbidder hielt sich die Stirn an der Stelle, an der sie der erste Band Karl Mendelssohn Bartholdys Geschichte Griechenlands: Von der Eroberung Konstantinopels durch die Türken im Jahre 1453 bis auf unsere Tage getroffen hatte. Gleichzeitig versuchte sie, ihren Morgenmantel überzuziehen. Ludwig musste die Bücher, die auf dem Regal gelegen hatten, ein Stück bewegt haben, sodass sie ihr auf den Kopf gefallen waren, als er sie herabgeworfen hatte. Es war im Grunde nicht zu glauben. Ihr schien es zudem unglaubwürdig, dass ein Kater von Ludwigs Gewicht die Höhe des Regals erreichen konnte. Er war entweder aus dem Stand von der Matratze auf das Regal gesprungen oder hatte sich am Kopfteil des Bettes hochgezogen, um das schmale Kopfteil als Ausgangspunkt für den Sprung zu nutzen. Immerhin hielt das Regal, das sie zwei Tage zuvor über dem Bett angebracht hatte, einen Kater von Ludwigs Gewicht aus, ohne sich von der Wand zu lösen.

Tamira schob einen Arm in den Ärmel des Morgenmantels und zog ihn zu ihrer Schulter, indem sie ihn mit den Zähnen am Kragen packte. Als ihre Finger wieder zum Vorschein kamen, nahm sie die Hand, die auf der Kopfverletzung lag, von ihrer Stirn und presste die Hand des Arms, der im Ärmel steckte, gegen die Wunde.

Ludwig schaute sie ernst aus seinen smaragdgrünen Augen an. Er saß aufrecht am Rand des Regalbretts, während seine Pfoten das Brett umklammerten und ein Geräusch zu hören war, als würden Katzenkrallen gegen Holz schlagen. Der gewaltige Bauch trat zwischen seinen Beinen hervor. Er hing über die Kante des Regals, sodass Tamira bangte, die Schwerkraft könnte dem Kater zum Verhängnis werden.

Sie ging in die Küche und wusch das Blut von der Hand, deren Arm noch nicht im Morgenmantel steckte. Nachdem sie auch diesen Arm in seinen Ärmel geschoben hatte, fand sie ein Taschentuch, das sie beim erneuten Wechseln der Hand zwischen die Fingerspitzen und die Kopfverletzung brachte. Ludwig war vom Regal gesprungen und ihr in die Küche gefolgt. Er schien kein Verständnis für eine längere Wartezeit zu haben, doch das Frühstück würde es erst geben, wenn ihre Wunde versorgt war.

Das Pflaster, das sie auf ihre Stirn klebte, war nicht groß genug, um die gesamte Wunde abzudecken. Über den Pflasterrand verlief der Schnitt nach oben zu ihrem Haaransatz. Er verlor sich nach unten in ihrer Augenbraue. Immerhin tropfte das Blut nicht auf die Hühnerbruststücke, die sie auf drei Teller verteilte. Oskar war kurz nach Ludwig in der Küche erschienen. Didier kam durch die offene Tür vom Balkon herein.

Ludwig roch an den Hühnerbruststücken auf seinem Teller. Tamira fürchtete, er würde am Geruch erkennen, dass die Stücke aus einer Dose stammten, die sie in einem Tierbedarfsladen gekauft hatte. Ludwig beschwerte sich augenblicklich und die anderen beiden Kater stimmten ein. Tamira war nahe daran, die Teller mit den Hühnerbruststücken einzusammeln, als ihr der Gedanke kam, es mit Öl zu versuchen. Sie holte das Rapsöl aus dem Küchenschrank und zeigte es den Katern, damit sie sich von der Qualität des Öls überzeugen konnten. Einen Teelöffel Rapsöl gab es für jeden Teller. Zu Tamiras Erleichterung akzeptierten die Kater die Hühnerbruststücke in Pflanzenöl.

Ein wenig später stand sie mit einer Kaffeetasse in der Hand auf dem Balkon und schaute zu dem Haus auf der anderen Seite des Weges. Es war eine neobarocke Gründerzeitvilla. Nestoras hatte behauptet, dass ihm diese Villa merkwürdig vorkam. Tamira erschien die Größe für ein zweistöckiges Landhaus nicht ungewöhnlich und es machte auf sie keinen düsteren Eindruck. Nestoras hatte zu dem Giebelfeld über dem Balkon gedeutet und ihr erklärt, dass die Maße des Giebels übertrieben waren, wenn man die Maße des Hauses zum Vergleich heranzog. Zudem würde es sich um einen gesprengten Giebel handeln. Nestoras kannte seit Kurzem einige baustilkundliche Begriffe, weil er an der Übersetzung eines architekturhistorischen Textes arbeitete. Tamira war zu dem Schluss gelangt, dass er die Maße des Giebels lediglich deshalb in Zweifel zog, weil er neidisch war, kein so schönes Haus zu besitzen. Neben dem Haus befand sich ein kleiner Wald aus Apfelbäumen. Auf dem Weg hinter den Apfelbäumen war ein blauer Lieferwagen gefahren. Ein schnörkeliger Schriftzug hatte die gesamte Seite des Lieferwagens eingenommen. Nestoras war es nicht leicht gefallen, den schnörkeligen Schriftzug auf dem fahrenden Lieferwagen zu entziffern. »Galerie Luise«, hatte er schließlich gelesen.

In der kleinen Wohnung hatte sie mit den drei Katern unmöglich bleiben können. Oskar und Ludwig waren an ein Haus mit einem weitläufigen Garten gewöhnt. Es hatte einige Zeit in Anspruch genommen, die Wohnung auf der Halbinsel Stralow zu finden. Tamira konnte sich die Wohnung nur leisten, weil ihre Doktorandenstelle eine Zweidrittelstelle war. Es gab zwei große Zimmer, eine Küche mit einer breiten Öffnung zum Wohnzimmer und ein Bad mit einem Fenster, in dem der Turm der kleinen Kirche erschien, die Bartholomäus am Wasser genannt wurde. Zudem hatte die Wohnung einen Balkon, von dem aus der Bootssteg zu sehen war, der auf das Wasser der Hummelsburger Bucht ragte.

Im Augenblick lebte sie noch aus ihren Umzugskisten. Sie hatte einen Kleiderschrank und Regale bestellt, die in der nächsten Woche geliefert werden würden. Immerhin hatte sie einen Kühlschrank und eine Waschmaschine, ein Bett, einen Schreibtisch und ein neues Sofa. Zu dem Sofa gehörte ein kleiner Tisch. Auf der Fensterbank im Wohnzimmer standen die Töpfe mit ihrem Basilikum. Nestoras hatte ihr beim Umzug geholfen.

Tamiras Ermessen nach war die Gegend für Katzen weitgehend ungefährlich. Was sollte einer Katze hier passieren? Autos fuhren höchstens bis zur Bushaltestelle gegenüber der Kirche. An vielen Stellen waren hübsche Büsche und Hecken gepflanzt. Unter einen hübschen Busch würde sich eine Katze bestimmt gern schlafen legen. Sie würde Gefallen daran finden, von einer Hecke gedeckt die Nachbarschaft zu erkunden. Das Haus stand am Ende der Halbinsel, wo die Tunnelallee längst in die Landspitzenstraße übergegangen war. Es standen dort mehrere zweistöckige Häuser zwischen den Ufern. In einem der Häuser wohnte Frau Bohrfeldt mit ihrer Französischen Bulldogge, das Haus daneben gehörte der Familie Palmkern. Hinter den Häusern befand sich der Park mit den alten Platanen, der die Halbinsel abschloss.

Tamira stieg mit dem Kaffee in der Hand die Wendeltreppe hinab. Sie warf einen unauffälligen Blick durch ein Fenster der leer stehenden Wohnung im Erdgeschoss und nahm den Weg, der an der Hainbuchenhecke entlang zum Ufer führte, wobei sie im Laufen auf die Zehenspitzen ging, um herauszufinden, ob sie über die Hecke zur Villa auf der anderen Seite schauen konnte. Die Hainbuchen waren etwas zu hoch für Tamira. Das Laufen auf den Zehenspitzen änderte daran nichts.

Der Bootssteg hatte Planken, deren Holz so hell und makellos war, dass es noch keinen Winter erlebt haben konnte. Nach beiden Seiten gingen kleine Stege ab, an denen die Boote lagen. Am Kopf verbreiterte sich der Steg zu einer Plattform. Die Plattform war von einem Geländer eingefasst. In der Mitte des Geländers gab es eine Öffnung, von der aus eine Leiter ins Wasser führte.

Tamira stand am Geländer und schaute über die Hummelsburger Bucht. Am anderen Ufer verschwanden die Häuser zu großen Teilen hinter hochgewachsenen Säulenpappeln. Vor den Pappeln zog sich die Promenade an der Uferlinie entlang bis zu ihrem Steg. Das Haus direkt gegenüber verdeckten die Bäume nicht. Es war so dicht ans Ufer gebaut, dass die Promenade landeinwärts ausweichen musste. Zu diesem Haus gehörte ein Anleger, von dem sich ein Ruderboot löste. Ein Stück weiter den Fluss hinauf waren die Schornsteine des Heizkraftwerks zu sehen, hinter denen die Schornsteine der Zementfabrik erschienen. Im Eingang der Bucht lagen zwei Inseln, die Hochzeitsinsel und der Katzenbruch. Mehrere Läufer bewegten sich auf der Promenade. Wenn sie nicht von der Promenade abbogen, würden sie etwas später an Tamiras Steg vorüberkommen. Bei dem Gedanken an atmungsaktive Laufhosen bekam Tamira das Gefühl, sie könnte sich unpassend gekleidet haben. Ihr Morgenmantel hatte ein schottisches Muster. Es war im Grunde egal, welches Muster der Mantel hatte. Ein Morgenmantel konnte am Morgen unmöglich unpassend sein. Das Ruderboot erreichte die Mitte der Bucht und hielt auf den Steg zu.

Sie musste am frühen Nachmittag zur Universität, um ihren Lektürekurs zu halten. Wenn die Studenten sie mit der Wunde sahen, die nach beiden Seiten über das Pflaster hinausging, würden sie annehmen, die Wunde wäre das Ergebnis einer Kneipenschlägerei. Einer Kneipenschlägerei zwischen verfeindeten Gruppen von Philologen.

Professor Kalarinea hatte die Betreuung ihrer Dissertation übernommen und ihr eine Doktorandenstelle angeboten. Da Professor Gotefrend für die geplanten Lehrveranstaltungen plötzlich nicht mehr zur Verfügung stand, war es möglich gewesen, die halbe Doktorandenstelle zu einer Zweidrittelstelle auszubauen. In diesem Semester hatte Tamira nicht mehr als zwei Kurse zu halten. Es handelte sich um eine Übersetzungsübung und einen Lektürekurs. Professor Kalarinea hatte ihr geraten, die Übersetzungsübung mit Texten zu bestreiten, die sie für ihre Dissertation bearbeitete. Sie solle lediglich darauf achten, mit einfachen Abschnitten zu beginnen. Der Lektürekurs drehte sich um Erzählungen des griechischen Schriftstellers Georgios Bizyenos, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden waren. In der Kurzgeschichte, die sie für den heutigen Tag ausgesucht hatte, kam eine schwarze Katze vor. Die Katze schlich in der Kirche herum, in der die kranke Schwester des Erzählers zur Genesung lag, und warf die Öllampen von den Tischen, die neben der mittleren Tür der Ikonostase standen. Tamira sagte sich, dass Katzen eben gern Gegenstände fallen sahen. Sie taten es nicht nur, um einen friedlichen Schläfer mit einem Buch am Kopf zu treffen. Es musste etwas mit ihrem Jagdtrieb zu tun haben. Wahrscheinlich hatten bereits die Urkatzen ihre Beute in Felsschluchten geworfen.

Das Ruderboot legte genau dort am Steg an, wo sich die Öffnung im Geländer befand. Eine ältere Dame befestigte das Boot mit einem Seil, legte ein Stativ auf dem Steg ab und stieg die drei Sprossen der Leiter empor. Sie trug einen breitkrempigen Strohhut mit einem cremefarbenen Hutband, dessen Enden zu einer Schleife gebunden waren. Über ihrer Schulter hing eine Tasche, die man aufgrund des Stativs leicht als Fototasche identifizieren konnte.

»Ich treffe hier selten jemanden um diese Uhrzeit«, sagte die alte Dame. »Wenn überhaupt, dann sind es Sportler und die bleiben niemals stehen.«

Tamira wusste nicht so recht, was sie entgegnen sollte. Die Frau mochte ihr nahelegen, sie nicht beim Fotografieren zu stören. Es mochte auch sein, dass sie froh war, jemanden um diese Uhrzeit auf dem Steg anzutreffen. Tamira kam zu dem Schluss, es sei am besten, der alten Dame mit einem Lächeln zu begegnen.

»Sie haben da eine Verletzung am Kopf«, stellte die Frau fest, die kurz unter der breiten Krempe ihres Strohhutes hervorschaute, um im Anschluss damit zu beginnen, das Stativ aufzubauen.

»Nein, das war der Kater«, antwortete Tamira, als ob man eine Wunde, die einem ein Kater zufügt, nicht Verletzung nannte.

Der Frau schien Tamiras Antwort einzuleuchten. Sie nickte bedächtig, schob die Kamera in die Halterung des Stativs und richtete das Objektiv auf das Haus, von dessen Anleger aus sie über die Bucht gerudert war. Nachdem sie einen Blick durch den Sucher geworfen hatte, nahm sie einige Änderungen an den Einstellungen vor und holte einen Fernauslöser aus der Tasche. »Ich mache jeden Morgen ein Foto von unserem Haus«, sagte sie und drückte den Auslöser.

»Es ist ein schönes Haus«, beeilte sich Tamira zu entgegnen, um klarzustellen, dass sie es keinesfalls für exzentrisch hielt, wenn einer am Morgen eines jeden Tages über die Bucht ruderte, um ein Foto von seinem Haus aufzunehmen. »Wie lange machen Sie diese Fotos schon?«

»Erst seit ein paar Wochen. Ich habe die Kamera und einen Fotokurs geschenkt bekommen.« Die Frau legte eine Hand wie einen Schirm an die breite Krempe ihres Hutes und schaute zum gegenüberliegenden Ufer. »Da fühlt man sich in gewisser Weise zum Fotografieren verpflichtet. Ich musste allerdings bemerken, dass mir das Rudern ausgesprochen gut bekommt.«

Tamira dachte daran, der Frau vorzuschlagen, die Katzen zu fotografieren. Möglicherweise gefielen ihr die Katzen besser als das Haus, wenn sie sich nun einmal zum Fotografieren verpflichtet fühlte. Das Rudern würde sie deswegen nicht aufgeben müssen. Da sich die Frau inzwischen zu ihr gedreht hatte und erneut ihre Kopfverletzung zu betrachten schien, wiederholte Tamira nur: »Das war der Kater.«

Aus den Schornsteinen des Heizkraftwerks quoll dicker weißer Rauch, den ein beständiger Wind über die Bucht in Richtung Alexanderplatz wehte. Der Rauch war so weiß wie die Schwäne, die mit den Wellen trieben. Raben saßen in Reihen auf den Ästen eines laublosen Baumes, der zur größeren Hälfte im Wasser beim Ufer der Hochzeitsinsel lag.

»Da hängt ein Schuh in der Hecke«, sagte die Frau, die mit einem ausgestreckten Finger zu der Hainbuchenhecke deutete.

Tamira folgte ihrem Finger mit den Augen. Einen hängenden Schuh sah sie nicht. Es war ein Bein, das aus der Hecke ragte.

»Der Name der Insel«, erklärte Ludwig, »hat mit Katzen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht das Geringste zu tun.«

Die drei Kater saßen auf einer Bank unter einer Platane, die im Park an der Landspitze stand. Ein frischer Wind fuhr durch die Blätter des Baumes. Die Blätter rauschten. Oskar spitzte die Ohren. Wenig später bemerkte Didier eine Polizeisirene, die sich zügig näherte. Sie wurde so laut, dass Ludwig zu knurren begann, und endete plötzlich, als ob Ludwigs Knurren sie zum Verstummen gebracht hätte. Vor ihnen lagen die Schafe im Schatten der Baumkronen. Sie lagen innerhalb und außerhalb des mobilen Zauns, den dort jemand für sie aufgestellt haben musste. Ein Ausflugsdampfer fuhr die Spree hinab. Er passierte die Durchfahrt zwischen der Klosterinsel und der Landspitze, während ein Segelboot, das die Hummelsburger Bucht verließ, an der Hochzeitsinsel und dem Katzenbruch vorüberkam.

»Bruch bezeichnet einen Sumpf«, fuhr Ludwig fort. »Manchmal heißt es auch Brook oder Broich. Ich glaube, dass bei Katzen ähnlich wie bei Katten eine im Vokal gekürzte Form von mittelhochdeutsch kôt, quâd und kât vorliegt und somit die Bedeutung Kot oder Schmutz. Wir haben hier also einen schmutzigen Sumpf.«

»Diese Etymologie ist offensichtlich unwissenschaftlich«, erwiderte Didier. »Es lässt sich ganz einfach daran erkennen, dass niemand auf den Gedanken käme, einer Insel den Namen schmutziger Sumpf zu geben. Die Ursache des furchtbaren Namens liegt in einem furchtbaren Ritual. Vor langer Zeit pflegten die Menschen an der Spitze dieser Halbinsel eine eheliche Verbindung einzugehen. Es gab einen Brauch, dem sich niemand entziehen konnte, der sein Glück nicht gefährden wollte. Um die Ehe unter einen guten Stern zu stellen, musste eine Katze geopfert werden. Manche Menschen konnten es nicht ertragen, das Leid einer arglosen Katze zu sehen, die auf dem Altar getötet wurde, vor den sie im Anschluss traten. Man kam deshalb auf den Einfall, die eigentliche Hochzeit vom Ritual zu trennen. Der Mann opferte nun die Katze auf der Insel, die bald Katzenbruch heißen sollte, und fuhr dann hinüber zur Hochzeitsinsel, wo die Frau schon wartete. Es handelt sich also um selbsterklärende Inselnamen.«

»Das hast du dir doch gerade ausgedacht!«, erregte sich Ludwig. »Ich kenne den archäologischen Befund. Auf der gesamten Insel wurde kein einziger Katzenknochen entdeckt.«

»Falls er sich die Geschichte ausgedacht hat«, wandte Oskar ein, »kann es nicht weit von der Wahrheit entfernt sein. Ich habe gehört, dass die Menschen früher sehr grausam zu den Katzen waren.«

»Das war in alter Zeit«, sagte Ludwig. »Heute würde kein Mensch ein anderes Lebewesen misshandeln. Die Menschen hatten etwas, das sie die Aufklärung nennen.« Er zupfte mit seinen Zähnen an einer Stelle seiner Pfote, an der sich das Fell hartnäckig verknotet haben musste. »Die Aufklärung«, wiederholte er.

Didier erhob sich, streckte seine Beine und machte den Rücken rund, wobei ihn die Anstrengung am ganzen Körper zittern ließ und sich sein Schwanz aufzurichten begann. Er lief mit den Vorderbeinen zwei kleine Schritte und streckte die Hinterbeine gleichzeitig noch weiter, ohne sie von der Stelle zu bewegen. Die Vorderbeine schoben sich über das Ende der Sitzfläche der Bank hinaus, bis sein Kinn die Kante erreichte. Er lag mit Kopf, Hals und der Hälfte des Rumpfes flach auf dem Holz, während der hintere Teil seines Körpers einen steilen Anstieg verzeichnete, der sich im Schwanz fortsetzte, dessen Spitze zu einem Bogen überhing. In dieser Position blieb er, um den Mund zu einem gewaltigen Gähnen aufzureißen, das seine Augen hervortreten ließ. Ludwig schloss sich dem Gähnen an. Er kniff seine Augen allerdings zusammen. Oskars Gähnen ging mit einer heftigen Bewegung seiner Ohren einher.

Von der Klosterinsel fuhr ein Boot in gerader Linie über den Fluss. Es war ein flacher Transportkahn mit einer breiten Ladefläche und einem Außenbordmotor. Der Kahn hatte die Spitze der Halbinsel beinah erreicht und hielt auf eine Stelle zu, an der eine Betontreppe die Uferlinie unterbrach. Nachdem der Mann mit dem üppigen Vollbart den Außenbordmotor abgestellt hatte, verlor der Kahn an Geschwindigkeit und stieß sanft gegen die unterste Stufe der Treppe, auf der einige Poller standen, die zum Festmachen eines Bootes dienten. Der Mann legte Schlingen um zwei der Poller und lief in Richtung des mobilen Weidezauns.

»Könnte das der Schäfer sein?«, fragte Ludwig.

»Er ist mit einem Boot gekommen«, antwortete Didier. »Ein Schäfer würde bestimmt nicht mit einem Boot zu seinen Schafen kommen.«

»Das mag sein«, sagte Ludwig, »aber er trägt hohe Lederstiefel und einen Filzhut, den man gewiss als Schäferhut bezeichnen kann. Mit dem Vollbart, den Stiefeln und dem Hut sieht er wie das Gemälde eines Schäfers aus.«

»Zumindest fehlt ihm der Schäferstab«, wandte Didier ein, »und einen Hütehund hat er auch nicht dabei.«

»Warten wir doch einfach ab, ob er sich um die Schafe kümmert«, schlug Oskar vor. »Ein Schäfer kümmert sich um Schafe.«

Die Schafe, die innerhalb und außerhalb des mobilen Zaunes standen, hatten schwarze unbewollte Köpfe und weiße Beine, die zerbrechlich wirkten, da sie aus der dicken Wolle der Leiber ragten. Wenn sie das Gras fraßen, wedelten die Schafe mit den schwarzen Ohren, um die Fliegen zu verscheuchen. Hoben sie die Köpfe, weil ein Geräusch ihre Ruhe störte, standen die Ohren waagerecht vom Kopf ab.

Der Mann mit dem Filzhut stieg über den mobilen Zaun und näherte sich den Schafen, die er der Reihe nach untersuchte. Wie es schien, kannten die Schafe den Mann. Sie ließen sich die Untersuchung gefallen. Der Mann war offensichtlich der Schäfer. Er verhielt sich wie ein Schäfer und er sah wie ein Schäfer aus.

»Mein alter Freund Paul McCartney hat ein Lied über ein Schaf geschrieben«, begann Didier zu erzählen. »Das Schaf stammte von seiner schottischen Farm und hörte auf den Namen Jet.«

»Dieses Lied«, unterbrach ihn Ludwig, der sich auf die Seite gedreht hatte und seine gestreckten Hinterbeine gegen Oskars Flanke stemmte, »handelt doch wohl von einem Hund.«

»Mein alter Freund Paul«, empörte sich Didier, »hätte niemals ein Lied über einen Hund geschrieben!« Er hob eine Pfote zu seinem Kinn und kratzte die Stelle ausgiebig. »In dem Lied geht es um ein Schaf, das die Absicht hatte, Paul zu heiraten. Die Ankündigung erzeugte eine unglaubliche Aufregung. Jets Vater, der wahrscheinlich als Sergeant Major beim Militär diente, wollte die Hochzeit unterbinden. Er behauptete, Jet wäre zum Heiraten nicht alt genug. Es stellte sich merkwürdigerweise bald heraus, dass der Sergeant Major eine Suffragette war.«

»EinLabrador Retriever«, präzisierte Ludwig und drückte seine Beine so heftig gegen Oskars Seite, als würde er ihn von der Bank schubsen wollen. »Das Lied heißt bekanntlich nach einem Labrador Retriever.«

»Paul entschloss sich dazu, mit dem Schaf zu fliehen«, fuhr Didier fort und leckte mit der Zunge über seine Nase. »Er bat das Schaf, das bereits für die Hochzeit gekleidet war, auf den Rücksitz zu klettern, und sie flogen in den Himmel.«

»Sie flogen in den Himmel?«, fragte Oskar. »Es mag um ein Schaf oder einen Hund gehen, manches daran erscheint mir jedenfalls unverständlich.«

»Die Ursache für die Schwierigkeiten bei der Analyse des Textes«, erklärte ihm Didier, »liegt in den Mengen an Marihuana, die Paul zu dieser Zeit rauchte.«