Weit war der Himmel über Palästina - Avi Primor - E-Book

Weit war der Himmel über Palästina E-Book

Avi Primor

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Beschreibung

Drei Familien, ein Land - der große Palästina-Roman

1869: Für Palästina ist es eine Zeit voller Umbrüche - Umbrüche, unter denen viele Familien leiden. Neta und David, ein junges jüdisches Paar, kommen aus Odessa nach Jerusalem. Die Templer Oswald und Gertrud finden aus dem protestantischen Württemberg den Weg ins Heilige Land. Mustafa und Raissa leben als Muslime in Jaffa. Sie sind unterschiedlichen Glaubens und unterschiedlicher Herkunft und werden doch gemeinsam mit dem Jerusalemer Zeitungsherausgeber Pinchas Goren zu Pionieren. Wird es ihnen gelingen, ihre Freundschaft über die Generationen zu bewahren?

Seit Jahrtausenden siedeln Menschen an der südöstlichen Küste des Mittelmeers. Kanaaniter, Philister, Israeliten, Assyrer, Babylonier, Perser, Ptolemäer, Seleukiden, Römer, Byzantiner, muslimische Araber, Kreuzritter und Osmanen - die Folge der Völker und Reiche ist unüberschaubar. Heute erheben sowohl die Israelis als auch die Palästinenser Anspruch auf das Gebiet, berufen sich jeweils auf ihre Abstammung und Geschichte und stehen sich mit ihren Interessen schier unvereinbar gegenüber.

Es gab jedoch auch eine Zeit des Miteinanders. Ende der 1860er-Jahre. In diese Zeit führt Avi Primor seine Leser zurück, um von hier die Geschichte dreier befreundeter Familien bis zum UNO-Beschluss zum Ende des britischen Mandats über Palästina und die Gründung zweier Staaten im Jahr 1947 zu erzählen. Sie sind unterschiedlichen Glaubens und unterschiedlicher Herkunft, arbeiten aber zusammen, verlieben sich und heiraten. Sie leben in ihrer Zeit und mit ihren Herausforderungen, finden im Kleinen aber immer wieder das Glück, das das Leben lebenswert macht.

Ein dokumentarischer Spielfilm könnte kaum eindrücklicher sein. Ein Aufruf zu friedlichem Miteinander.


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Inhalt

Cover

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Über das Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

Widmung

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Personenverzeichnis

Karten

Weitere Titel des Autors

Süß und ehrenvoll

Nichts ist jemals vollendet

Über das Buch

Drei Familien, ein Land – der große Palästina-Roman

1869: Für Palästina ist es eine Zeit voller Umbrüche – Umbrüche, unter denen viele Familien leiden. Neta und David, ein junges jüdisches Paar, kommen aus Odessa nach Jerusalem. Die Templer Oswald und Gertrud finden aus dem protestantischen Württemberg den Weg ins Heilige Land. Mustafa und Raissa leben als Muslime in Jaffa. Sie sind unterschiedlichen Glaubens und unterschiedlicher Herkunft und werden doch gemeinsam mit dem Jerusalemer Zeitungsherausgeber Pinchas Goren zu Pionieren. Wird es ihnen gelingen, ihre Freundschaft über die Generationen zu bewahren?

Seit Jahrtausenden siedeln Menschen an der südöstlichen Küste des Mittelmeers. Kanaaniter, Philister, Israeliten, Assyrer, Babylonier, Perser, Ptolemäer, Seleukiden, Römer, Byzantiner, muslimische Araber, Kreuzritter und Osmanen – die Folge der Völker und Reiche ist unüberschaubar. Heute erheben sowohl die Israelis als auch die Palästinenser Anspruch auf das Gebiet, berufen sich jeweils auf ihre Abstammung und Geschichte und stehen sich mit ihren Interessen schier unvereinbar gegenüber.

Es gab jedoch auch eine Zeit des Miteinanders. Ende der 1860er-Jahre. In diese Zeit führt Avi Primor seine Leser zurück, um von hier die Geschichte dreier befreundeter Familien bis zum UNO-Beschluss zum Ende des britischen Mandats über Palästina und die Gründung zweier Staaten im Jahr 1947 zu erzählen. Sie sind unterschiedlichen Glaubens und unterschiedlicher Herkunft, arbeiten aber zusammen, verlieben sich und heiraten. Sie leben in ihrer Zeit und mit ihren Herausforderungen, finden im Kleinen aber immer wieder das Glück, das das Leben lebenswert macht.

Ein dokumentarischer Spielfilm könnte kaum eindrücklicher sein. Ein Aufruf zu friedlichem Miteinander.

Über den Autor

Avi Primor, geboren 1935, war von 1993 bis 1999 israelischer Botschafter in Deutschland. Er ist Sohn eines niederländischen Emigranten; seine Mutter ging 1932 von Frankfurt nach Tel Aviv, ihre gesamte Familie wurde während des Holocausts ermordet. Avi Primor leitet heute einen trilateralen Studiengang für israelische, palästinensische und jordanische Studenten an dem von ihm gegründeten Zentrum für europäische Studien am Interdisciplinary Center Herzliya in Israel. »Süß und ehrenvoll« ist sein erster Roman.

AVI PRIMOR

Weit war derHimmel überPalästina

ROMAN

LÜBBE

Originalausgabe

Dieser Vertrag entstand durch die Vermittlung der Verlagsagentur Lianne Kolf.

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Unter Mitarbeit von: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, Bonn

Lektorat: Dr. Stefanie Heinen

Textredaktion: Dr. Lutz-W. Wolff, Berlin

Vorsatzkarten: Dr. Helmut Pesch, Köln

Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin unter Verwendung eines Motivs von Interfoto/Austrian National Library

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-8640-0

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Meiner Frau Ziona Primor

1

Jerusalem

— 1869 —

Ein heller Schrei riss Nadja aus dem Schlaf. Rachel stand im Hemdchen am Fenster zur Straße. Es hörte sich an, als würde die Kinderstimme gleich die Scheibe zerbersten lassen und die Splitter auf die Gasse hinausschleudern. Nadja sprang aus dem Bett und eilte zu ihrer Tochter. Mit einem erleichterten Seufzer stellte sie fest, dass Rachel keine Schreckensschreie, sondern Freudenrufe ausgestoßen hatte. Das Kind hatte eine Kolonne türkischer Reiter entdeckt, die rote Feze und Paradeuniformen trugen. Durch die Gassen der Stadt, die sich als den Mittelpunkt der Welt betrachtete, ritten sie zu der Zitadelle hinauf, deren hoch aufragendes Minarett von den Juden Davidsturm genannt wurde.

Inzwischen war auch Dimitrij aufgewacht. Schlaftrunken rieb er sich die Augen, als er zu ihnen trat. Er öffnete das Fenster, und laute Stimmen und Rufe drangen zu ihnen. Das Schauspiel, das seine Tochter entzückte, schien ihn nicht sehr zu überraschen.

»Weißt du, was heute los ist?«, fragte Nadja. »Ihr in der Redaktion erfahrt doch immer alles.«

Dimitrij brummte und strich sich das verstrubbelte Haar zurück. Zu Nadjas Freude hatte er nicht lange nach ihrer Ankunft aus Odessa eine Anstellung bei einer hebräischen Wochenzeitung gefunden, mit der er die Familie einigermaßen ernähren konnte. Dem Herausgeber der Zeitung, Pinchas Goren, einem der wenigen reichen Juden in Jerusalem, lag es am Herzen, Hebräisch als Umgangssprache seiner Glaubensgenossen zu etablieren. Bisher war die Sprache der Thora wie das Latein in der katholischen Kirche nur noch im Gottesdienst benutzt worden.

Goren war einige Jahre vor Dimitrij und Nadja aus Odessa nach Jerusalem gekommen. In verhältnismäßig kurzer Zeit war es dem geschickten Geschäftsmann gelungen, als Importeur von Nahrungsmitteln unter anderem aus Ägypten zu einigem Vermögen zu gelangen. Der fünfzigjährige Witwer hatte keine Kinder und lebte relativ bescheiden in einem Haus im jüdischen Viertel. Eine Zugehfrau besorgte ihm den Haushalt.

Unter großen Mühen war es Goren gelungen, eine kleine Druckerei zu gründen. Dort wurden nun die Chadschot Ha’jischuw gedruckt, die Nachrichten für die jüdische Gemeinschaft, und meist gratis in einigen Hundert Exemplaren unter den gebildeten Juden in Jerusalem verteilt. Dimitrij hat ihm gleich gefallen. Er war zwar nicht fromm, hatte aber in Russland eine religiöse Erziehung genossen und gehörte zu den wenigen jungen Leuten in der Stadt, die über eine solide jüdische Bildung verfügten. Goren hatte ihn zum Redakteur seiner zweiseitigen Wochenzeitung ernannt und zahlte ihm ein kleines Gehalt.

Dimitrij gähnte und streckte seine lange, schlaksige Gestalt. »Es gibt da ein Gerücht«, sagte er. »Der Gouverneur von Jaffa soll sich mit seinem Kollegen hier zu einem wichtigen Gespräch treffen.« Er strich sich die dunklen Locken hinter die Ohren, die ein wenig vom Kopf abstanden, als wollten sie beständig lauschen.

Wie die anderen Einwohner Jerusalems ahnte er nicht, dass diesem wichtigen Gespräch weitere Ereignisse folgen sollten, die alle nur der Vorbereitung eines Staatsbesuchs dienten, wie man ihn seit der Eroberung Jerusalems durch die Türken oder gar seit der Zerstörung der Stadt vor fast zweitausend Jahren nicht gesehen hatte.

»Vielleicht weiß ich heute Abend mehr«, sagte er, als er sein Frühstück beendet hatte. Er zog die dunkelblaue Jacke über und griff nach seiner Tasche. Das braune Rindsleder war vom vielen Tragen ein wenig speckig geworden, aber er hing an dieser Tasche – sie war ein Geschenk seiner Eltern, und er hatte sie aus der Heimat mit hierhergebracht.

Er musste sich leicht bücken, um seiner zierlichen Frau einen Abschiedskuss geben zu können. Rachel auf Nadjas Arm spitzte das breiverschmierte Mündchen.

»Ja, du natürlich auch«, sagte Dimitrij und küsste sie auf die Wange. Dann warf er seiner Frau einen besorgten Blick zu. »Ist etwas, Nadja?«

»Nein, nein.« Nadja senkte den Blick und schob ihn mit der freien Hand aus der Tür. Sie wusste selbst, dass ihre früher strahlend blauen Augen von ihrem Glanz eingebüßt hatten.

Sie sah ihm nach, bis er um die Straßenecke verschwunden war. Rachel schmiegte ihr Köpfchen an ihren Hals, und ein tiefes Glücksgefühl durchströmte die junge Frau. Die Kleine war ihr einziges Kind und ihr größtes Glück in diesem gottverlassenen Jerusalem, einer verarmten, verwahrlosten Stadt mit zehntausend Einwohnern, deren enge, verwinkelte Gassen fast achthundert Meter über dem Meer lagen und nur auf Maultierpfaden erreicht werden konnten. An dieser Stadt konnten nur Verrückte oder unentdeckte Genies wie Dimitrij Gefallen finden. Nur aus Liebe zu ihm hatte Nadja das schöne Odessa verlassen und sich auf diese Reise ins Ungewisse begeben. Drei Jahre waren seit ihrer Ankunft in Jerusalem vergangen, und seither hatte sich ihr ganzes Leben um ihre Schwangerschaft und ihre Tochter gedreht. Kontakte hatte Nadja hier nur wenige, und sie vermisste ihre Freunde in Russland.

Nach ihrer Ankunft im November 1866 waren sie zunächst in eine winzige Behausung im jüdischen Viertel gezogen, die entfernten Verwandten gehörte, die vor der winterlichen Kälte ins 70 Kilometer entfernte Jaffa geflohen waren, ans Mittelmeer, wo ein milderes Klima herrschte. Danach hatten sie in einer Seitenstraße des Hurva-Platzes eine Einzimmerwohnung von zehn Quadratmetern angemietet. Sie war klein, schäbig und ärmlich möbliert und lag in einem lang gestreckten Gebäude, in dem sich noch mehrere Wohnungen dieser Art befanden. Die einzige Tür ging auf den Hof hinaus, der von allen Mietern gemeinsam benutzt wurde. Ein stinkender Petroleumofen diente zum Kochen und Heizen. Um dem Geruch zu entgehen, musste man die Tür aufreißen, da das einzige Fenster zum Lüften nicht reichte. Nachts schlief die kleine Familie ohne Heizung, weil es zu gefährlich war, die Tür zum Hof offen zu lassen.

Eines der Probleme, mit denen sie jahrelang zu kämpfen hatten, war der Wassermangel. Da es in der Umgebung keine Flüsse oder Seen gab, war Jerusalem auf Brunnen und Zisternen angewiesen. Die Brunnen lagen außerhalb der Stadt, und in Dürrejahren reichte das Wasser, das von dort geholt wurde, kaum für den minimalen häuslichen Bedarf. Dennoch kam die neue Wohnung dem jungen Paar im Vergleich zu ihrer ersten Behausung wie ein Palast vor.

»Das erinnert mich an eine Geschichte, die meine Eltern in Russland erzählten«, hatte Nadja nach dem Umzug zu ihrem Mann gesagt. »Ein armer Jude hauste mit seiner Frau und seinen vier Kindern in einem winzigen Stübchen. Als er die drangvolle Enge und die stickige Luft nicht mehr ertragen konnte, bat er den Rabbiner der Gemeinde um Rat. Der weise Mann dachte ein wenig nach und fragte: ›Habt ihr eine Ziege?‹ ›Ja‹, entgegnete der Jude. ›Und wo wohnt die Ziege?‹, erkundigte sich der Rabbiner. ›Im Hof‹, erwiderte der geplagte Familienvater. ›Dann nehmt die Ziege mit in eure Stube‹, entschied der Rabbiner. Der Mann sah ihn erschrocken und verwirrt an, aber das Wort des Rabbiners war ihm Befehl. Es dauerte nicht lange, bis der Jude weinend vor dem Rabbiner stand. ›Die Ziege nimmt uns das letzte bisschen Luft weg‹, jammerte er. ›Sie stinkt und macht überall hin. Wir halten das nicht mehr aus!‹ ›Gut‹, sagte der Geistliche, ›jetzt könnt ihr die Ziege wieder in den Hof bringen.‹ Am nächsten Schabbat trat der Jude nach dem Gottesdienst zum Rabbiner und hatte Freudentränen in den Augen. ›Rabbi, ich kann Euch nicht genug für Euren Rat danken! Seit wir die Ziege los sind, geht es uns viel besser. Wir fühlen uns wie im Paradies!‹«

Nadja seufzte. Irgendwann würde sie akzeptieren müssen, dass sie ihr Leben in Palästina verbringen würde – an der Seite der beiden Menschen, die ihr das Liebste auf der Welt waren. Sie lächelte ihr Töchterchen an und machte sich an die Hausarbeit.

Gedankenverloren schritt Dimitrij durch die Gassen. Es nieselte leicht, und er beschloss, einen kleinen Umweg über den Suk zu machen. Dort waren viele Straßen überdacht, und so blieb er wenigstens trocken.

Die Metzger, Bäcker und die Obst- und Gemüsehändler waren noch dabei, ihre Stände zu öffnen. Rufe und Gelächter schallten hin und her, während die Waren ihren Platz fanden.

»Marhaba«, grüßte Dimitrij den Gewürzhändler, an dessen Stand er immer kurz innehielt, wenn er hier entlangkam.

Das Gesicht des alten Arabers unter dem ausgeblichenen Turban verzog sich mit unzähligen Runzeln zu einem Lächeln, und er nickte zum Gruß. Dimitrij ließ den Blick über die farbenprächtige Auslage gleiten und sog tief den Duft ein, den Kardamom, Kreuzkümmel, Paprika, Zimt, Anis und andere farbenprächtige Gewürze verströmten.

Er nickte freundlich zum Abschied und ging weiter.

Als er wieder aus dem Suk heraustrat, regnete es stärker. Er hielt sich die Tasche über den Kopf und eilte durch die engen Gassen die letzten Meter zur Redaktion.

Diese befand sich im muslimischen Viertel in der El-Wad-Straße. Das lang gestreckte Gebäude und der dahinter liegende Garten waren von einer Mauer umgeben. Dort hatte Pinchas Goren unter seinem Büro auch ein Zimmerchen für die Redaktion der Chadschot Ha’jischuw angemietet.

Der Staub, den Füße, Hufe und Karrenräder tagsüber auf der Straße aufwirbelten, hatte sich gelegt, als Dimitrij am Abend den Heimweg antrat. Seit Wochen trug er ein Problem mit sich herum, über das er mit Nadja noch nicht zu sprechen gewagt hatte. Er sollte seinen Namen ändern! Das war der Wunsch seines Chefs. »Ich bitte dich um eines«, hatte Pinchas Goren zu ihm gesagt. »Als stellvertretender Chefredakteur der Chadschot Ha’jischuw solltest du deinen Namen hebraisieren. Ich habe das auch gemacht. Mein früherer Name war Gornstein. Wie sollen wir unsere Gemeinde von der Schönheit der hebräischen Sprache überzeugen, wenn wir noch diese Namen aus der Diaspora führen?«

Dimitrij wich zwei griechischen Mönchen aus, die ins Gespräch vertieft waren. Sie trugen steife schwarze Hüte und wallende schwarze Gewänder.

Er hatte sich bisher nicht überwinden können, mit Nadja darüber zu sprechen. Er wusste, dass sie sich noch immer nicht recht in dieser Stadt eingelebt hatte. Doch heute hatte sein Arbeitgeber die Bitte wiederholt, und Dimitrij beschloss, das Thema anzuschneiden, sobald ihre Tochter schlief.

Das Kind stürzte freudestrahlend auf ihn zu, als er in die kleine Wohnung trat. Ihre wenigen Habseligkeiten verwahrten Nadja und Dimitrij in den Koffern, die hochgestellt als Schränke dienten. Eine kleine Kommode und zwei Schemel vervollständigten die Einrichtung. Auf dem Boden ausgebreitete Matten dienten als Schlafstätte. Der von allen Mietern gemeinsam benutzte Waschraum und die Toilette befanden sich draußen im Hof. Als Nadja schwanger geworden war, gelang es ihnen, zusätzlich die Nachbarwohnung anzumieten. Obwohl sie die Wand zwischen beiden Räumen nicht durchbrechen durften und deshalb ins Freie treten mussten, wenn sie von einem Zimmer ins andere gehen wollten, fanden sie ihr neues Domizil beinahe luxuriös. Mit ihrem letzten Geld hatten sie einen Klapptisch und einen Schrank gekauft.

»Pinchas hat mich gebeten, unsere Namen zu ändern«, begann Dimitrij, als sie am Abend beisammensaßen, jeder einen Becher Minztee in den Händen. »Er findet, wir sollten hebräische Namen haben.«

Nadja runzelte die Stirn und schwieg.

»Dann wären wir eine der ersten Familien im Land, die sich einen hebräischen Namen zulegt«, fuhr Dimitrij fort. »Damit würden wir den Jerusalemer Juden mit ihren sephardischen, russischen und deutschen Namen als Beispiel vorangehen.«

Nadja blieb stumm, und Dimitrij befürchtete schon das Schlimmste. Doch dann schmiegte sie sich an ihn.

»Ich weiß, diese Stadt ist nun unsere Heimat.« Sie holte tief Luft. »Wir haben eine hebräische Zeitung«, fuhr sie dann entschlossen fort, »und das Hebräische wird eines Tages zur Umgangssprache bei uns werden. Ja, wir sollten hebräische Namen annehmen.« Sie hielt einen Augenblick inne. »Wie wäre es, wenn wir nicht nur unseren Nachnamen, sondern auch unsere Vornamen ändern würden?«

Auf ihrer Schlafmatte fing Rachel an zu weinen. Nadja ging hinüber und beruhigte das Kind. Als sie nach einer Weile zurückkam, hatte Dimitrij die hebräische Familienbibel auf dem Schoß und blätterte darin.

»Es sollte ein Name sein, der einen Bezug zu deinem Familiennamen hat«, schlug Nadja vor, »sonst machen wir deinen Eltern in Odessa viel Kummer. Für sie wäre es bestimmt eine Art Verrat, wenn du ihren Namen ganz ablegst. Bei mir ist das egal«, fügte sie lachend hinzu, »ich habe meinen Namen schon aufgegeben, als ich dich geheiratet habe.«

»Was willst du denn aus Baum machen?«, fragte Dimitrij. Nach einer längeren Diskussion einigten sie sich auf Zemach, das hebräische Wort für Pflanze.

Dimitrij atmete erleichtert auf. »Endlich!«, rief er. »Ich dachte schon, wir würden nie etwas finden, das uns beiden gefällt. Jetzt müssen wir nur noch unsere Vornamen ändern.«

»Kein Problem«, sagte Nadja, »mir ist schon einer eingefallen – was hältst du von Neta? Das klingt so ähnlich wie Nadja und passt zu Zemach.« Neta hieß »junge Pflanze« oder »Spross«.

»Also gut«, sagte Dimitrij, »aber was ist mit mir? Ich hab keine Idee.«

Neta legte den Kopf schief und überlegte. »Wie wäre es mit David? Das ist ein schöner Name und klingt ein bisschen so wie dein alter.«

»Nicht schlecht«, erwiderte Dimitrij, »aber bis ich mich daran gewöhnt habe …«

Neta lachte. »Das wird schon! Sei froh, dass wir den Namen unserer Tochter nicht ändern müssen. Und jetzt«, sagte sie mit einem Lächeln, »komm schnell ins Bett. Ich habe das Gefühl, dass unsere Liebe auch einen neuen Namen bekommen wird!«

Damit nahm sie ihn bei der Hand und zog ihn in die Schlafkammer.

Später, als er schon fast eingeschlafen war, fiel Dimitrij ein, dass er ganz vergessen hatte, seiner Frau von dem Treffen der Gouverneure in der Zitadelle neben dem Jaffator zu erzählen. Dabei wusste er nun zumindest eines darüber: Es war auf Befehl des Sultans erfolgt, der in Istanbul residierte, und sollte der Vorbereitung eines hohen Besuchs dienen, der strengster Geheimhaltung unterlag.

In Jerusalem selbst waren dafür keine Vorbereitungen erforderlich, die der Gouverneur und seine Mitarbeiter nicht aus eigener Kraft würden bewältigen können, zumal sie aufgrund der Vorwarnung aus Istanbul über zwei Jahre Zeit dafür hatten. Dennoch standen die beiden hohen Beamten sehr unter Druck. Der Befehl aus der Hauptstadt des Reiches war beispiellos: Die beiden Gouverneure sollten eine Straße von Jaffa nach Jerusalem bauen. Dabei hatte es seit den Zeiten König Salomos und der römischen Herrschaft keine ausgebauten Straßen mehr in Palästina gegeben. Man konnte nur reiten oder zu Fuß gehen. Aber jetzt verlangte der Sultan, dass eine Straße gebaut wurde, auf der die Besucher mit Kutschen von Jaffa hinauf nach Jerusalem fahren konnten.

Die Gouverneure waren in begreiflicher Aufregung. Die Entfernung von Jaffa nach Jerusalem betrug zwar bloß ein paar Dutzend Meilen, wie der aus Istanbul entsandte Beamte betonte, der an den Beratungen teilnahm, doch diese Entfernung war nur die Luftlinie. Der gewundene Weg über Hügel und Berge war nicht nur wesentlich länger, sondern auch streckenweise so steil, dass er nur von Lasttieren wie Eseln und Maultieren begangen werden konnte, während die Reiter absteigen und zu Fuß gehen mussten.

Es war eine technische Herausforderung, die den Gouverneuren kalte Schauer über den Rücken jagte. »Wir müssen die steilsten Bergkuppen abtragen, um den Weg gangbar zu machen, wie sollen wir das in zwei Jahren schaffen?«, fragten die bestürzten Männer den Sonderbeauftragten.

»Es ist der Wille und Beschluss der Hohen Pforte«, war die Antwort. »Der hohe Gast und sein Gefolge sollen in Kutschen nach Jerusalem fahren.«

Wie zu erwarten gewesen war, kam es in der Folge zu heftigen Diskussionen zwischen den Gouverneuren und den nachgeordneten Behörden in beiden Städten. Doch die Männer hatten keine Wahl. Wer bei der Ausführung solcher Befehle versagte, musste mit empfindlichen Strafen rechnen.

Ingenieure und Straßenbauexperten aus dem ganzen Osmanischen Reich wurden nach Jaffa geholt. Beduinen, Bauern und Handwerker wurden zu den Straßenbauarbeiten herangezogen. Nicht alle hielten die harte Arbeit aus, die zudem noch unter Zeitdruck geleistet werden musste. Nicht wenige starben in den felsigen Hügeln Judäas, doch die Landstraße zwischen Jaffa und Jerusalem wurde rechtzeitig fertig.

Kaiser Franz Joseph I. von Österreich – um ihn handelte es sich bei dem hohen Gast – sollte mit der Yacht SMS Greif, begleitet von der Korvette Helgoland und großem Gefolge, in Jaffa anlanden. Nach einem Besuch in Jerusalem würde er nach Ägypten weiterreisen, um dort an der Eröffnung des Suezkanals teilzunehmen.

An Bord der Greif wurde Kaiser Franz Joseph am frühen Morgen des 9. November 1869 von einem lauten Klopfen an seiner Kabinentür geweckt.

»Eure Majestät«, sagte sein Leibdiener, »wir sind in Jaffa …«

»Wer redet von Jaffa?«, unterbrach ihn der Kaiser. »Wir sind im Heiligen Land, im Land der Bibel. Dies ist ein historischer Tag!«, rief er und schwang die Beine aus dem Bett.

Als er sich mit Hilfe des Dieners angekleidet hatte, trat er hinaus an die Reling. Es versprach ein sonniger Tag zu werden, und es war angenehm warm. Franz Joseph hielt sein Gesicht mit dem buschigen hellbraunen Backenbart der Sonne entgegen, bevor er die auf dem türkisfarbenen Wasser schaukelnde Ehrenflottille der türkischen Marine in Augenschein nahm, die ihn erwartete.

Seine Yacht hatte eine wechselhafte Vergangenheit. 1857 gebaut, war der Raddampfer schon nach zwei Jahren von den Österreichern selbst vor der Einfahrt nach Venedig versenkt und sieben Jahre später wieder gehoben worden. Mit zwei Kanonen und über hundert Mann Besatzung hatte er 1866 an der für Österreich so ruhmreichen Seeschlacht von Lissa in der Adria teilgenommen und war dann zur Yacht des Kaisers umgebaut worden. Jetzt ankerte die 1260-Tonnen-Yacht in Begleitung der Korvette Helgoland auf Einladung des osmanischen Sultans vor Jaffa, denn das Hafenbecken der Stadt war für die österreichischen Schiffe nicht tief genug. Außerdem war der Hafen berüchtigt wegen seiner tückischen Felsklippen. Der Kaiser und sein Gefolge mussten daher auf Ruderboote umsteigen, die sie in die Stadt brachten. Auch die aus Europa mitgebrachten Reisekutschen mussten auf ähnliche Weise mühsam an Land geschafft werden, ehe der Kaiser und sein Gefolge nach dem offiziellen Empfang durch den Gouverneur nach Jerusalem aufbrechen konnten. Der Zeitplan war eng, denn schon am 14. November sollte der Kaiser nach Ägypten weiterreisen, wo am 17. November der Suezkanal eingeweiht werden sollte, auf den die europäischen Großmächte so große Hoffnungen setzten.

Die neue Straße nach Jerusalem war durchaus ein Erfolg, aber trotz aller Bemühungen, den Kaiser zu ehren und ihm die Reise zu erleichtern, hatten die Stadtväter es nicht geschafft, ihm die Einfahrt in die Altstadt zu ermöglichen. Um die Eroberung der Stadt zu erschweren, hatte man das Jaffator und die übrigen sieben Tore einst so verwinkelt gebaut, dass Kutschen keine Chance hatten, sie zu passieren. Die türkischen Behörden hatten den Protokollbeamten in Wien die Situation im Vorhinein geschildert, aber der Kaiser war völlig zufrieden mit der Idee gewesen, zu Pferd in Jerusalem einzuziehen.

Und als er jetzt vor den Mauern der Altstadt stand, beschloss er sogar, zu Ehren der Heiligen Stadt zu Fuß durch das Tor zu gehen. Fast alle Einwohner Jerusalems säumten die engen Straßen. Der Kaiser war zwar erst neununddreißig Jahre alt, regierte aber schon seit über zwanzig Jahren und war in aller Welt bekannt. Ein Schauer der Bewunderung lief durch die Reihen der Schaulustigen, als der hoch gewachsene Herrscher mit seiner athletischen Figur und dem mächtigen Backenbart ihnen zuwinkte.

Der Kaiser verbrachte zwei Tage in Jerusalem, besuchte die heiligen Stätten der drei großen Religionen und ließ ihnen großzügige Spenden zukommen. Festlich gekleidete jüdische Gemeindevorsteher und Rabbiner, muslimische Kadis, Priester und Pfarrer sowie die Vertreter christlicher Gemeinden und Institutionen begleiteten ihn auf Schritt und Tritt. Viele trugen Ikonen, Thorarollen und Kultgegenstände vor sich her, die nie zuvor das Tageslicht gesehen hatten.

Jede Konfession bestand darauf, dass der hohe Gast ihre Heiligtümer und Kultstätten als Erste besuchte. Die Muslime erwarteten den Kaiser in der Al-Aksa-Moschee, die Juden an der Klagemauer und die Christen in der Grabeskirche – und das war erst der Anfang.

Als die Kolonne durch das jüdische Viertel kam, bemerkte Franz Joseph, dass sie ohne anzuhalten an einem monumentalen Gebäude aus hellem Stein und mit vielen Fenstern vorbeizogen. Es überragte die übrigen Häuser um mehr als ein Stockwerk. Er fragte den Begleiter von der jüdischen Gemeinde, was dies für ein Bauwerk sei.

Der Übersetzer wurde rot. »Das … das ist die Tif’eret-Jisrael-Synagoge«, stammelte er.

Der Kaiser befahl anzuhalten, stieg vom Pferd und schaute an dem Gebäude hinauf.

Sogleich umringten ihn die Gemeindevorsteher und Rabbiner, um zu erfahren, was geschehen war. Die türkischen und österreichischen Reiter drängten sich dazwischen und sorgten dafür, dass die Juden einen gebührenden Abstand einhielten. Die Juden mit ihren Thorarollen, die in bestickte rote oder blaue Samtmäntel gehüllt und mit silbernen Thorakronen in Form von Granatäpfeln geschmückt waren, sahen sich verlegen an. Sie hatten gehofft, dass der Kaiser die halb fertige Synagoge vielleicht nicht beachten würde, die sie als große Schande für ihre Gemeinde empfanden. Sie hatten sich beim Bau finanziell arg übernommen und wussten nicht, wie sie der Synagoge eine Kuppel geben sollten.

Der hohe Gast übersah die beschämten Mienen der jüdischen Gemeindevorsteher und betrachtete staunend das eindrucksvolle Gebäude, das so auffallend von dem ärmlichen jüdischen Viertel abstach.

»Warum hat die Synagoge kein Dach?«, fragte er.

Der Gemeindepräsident, der chassidische Rabbi Beck, trat einen Schritt vor. »Die Synagoge zieht den Hut vor Eurer Majestät«, entgegnete er mit einer tiefen Verbeugung.

Franz Joseph lachte herzlich und erkundigte sich, was denn geplant sei.

»Eine Kuppel«, erfuhr er.

»Und was soll sie kosten?«

Der Rabbi nannte einen stolzen Betrag. Da wandte sich der Kaiser zu seinen Leuten und befahl ihnen, der Gemeinde die Summe auszuzahlen. Er wusste sehr wohl, dass die Juden in seinem Vielvölkerstaat die treuesten Untertanen der Krone waren.

Von da aus zog man weiter zum österreichischen Hospiz, wo der Kaiser und seine engsten Begleiter übernachten sollten. Die Pilgerherberge zur Heiligen Familie, die an der Ecke der Via Dolorosa und der El-Wad-Straße lag, war elf Jahre zuvor fertiggestellt worden, und nun diente der historische Besuch als willkommener Anlass für die Einweihungsfeier. Obwohl sich das Gebäude mitten im muslimischen Viertel befand, waren auch die Türken stolz auf das prachtvolle christliche Gebäude. Vom ersten Tag an begeisterten die Einwohner der Stadt sich für das katholische Gästehaus – nicht zuletzt dank des Apfelstrudels der österreichischen Nonnen.

Zwei Tage lang herrschte in Jerusalem ungetrübte Festfreude, an der die türkische Obrigkeit und alle Muslime, Christen und Juden in gleicher Weise teilhatten. Die bis auf ihre historischen Stätten immer mehr in Verwahrlosung sinkende Stadt, in deren Gassen die Abwässer flossen, sonnte sich für kurze Zeit in euphorischem Glanz.

2

Jerusalem

— 1869 —

Neta stand am Straßenrand in der Nähe des Suks unter einer großen Steineiche und beobachtete die festliche Parade zu Ehren des Kaisers. Sie hatte Rachel für eine Stunde zur Nachbarin gebracht und war einkaufen gegangen. Vorsichtig hielt sie ihren Beutel vor die Brust, damit die nur lose eingeschlagenen Eier nicht im Gedränge zerbrachen. Als sie sich auf die Zehenspitzen stellte und nach vorn spähte, fiel ihr unter den Zuschauern ein seltsamer Mann auf. Anders als die Einheimischen war er in einen hellen Anzug gekleidet. Er hatte einen gepflegten grauen Bart und trug einen breitrandigen Strohhut, wie man sie in dieser Art weder hier noch in Odessa zu sehen bekam. Der Fremde war in mittleren Jahren, groß, breitschultrig und etwas füllig.

Plötzlich wandte er sich zu Neta um, und sie sah in seine blitzenden blauen Augen. Er lächelte verlegen und lüpfte zur Begrüßung den Hut, was eine etwas zusammengedrückte Fülle silbergrauen welligen Haares zum Vorschein brachte. Vielleicht hat er bemerkt, dass ich ihn beobachte, dachte sie.

»Spricht die Dame Deutsch?«, fragte er auf Französisch.

Neta hielt es für besser, ihm nicht auf Jiddisch zu antworten, und entgegnete in ihrem unbeholfenen Französisch: »Leider nicht, mein Herr, aber wir können Französisch sprechen.«

Er stellte sich unter etwas theatralischen Höflichkeitsbezeugungen als Oswald Simon aus Württemberg vor, seines Zeichens protestantischer Pfarrer.

»Und was führt den Herrn nach Jerusalem?«, fragte Neta. »Machen Sie eine Pilgerreise, oder wollen Sie den historischen Besuch des Kaisers miterleben?«

»Sowohl als auch«, gab er zur Antwort. »Doch der Hauptzweck meines Besuches ist ein anderer. Darf ich fragen«, fuhr er zögernd fort, »ob Sie Christin sind, vielleicht eine Pilgerin? Und wenn ja, welcher Konfession Sie angehören? Nach Ihrem Akzent im Französischen könnten Sie der provoslawischen Kirche angehören.«

Neta versuchte, ihre Verlegenheit mit einem Lächeln zu überspielen, obwohl sie sich dachte, dass diese ihm nicht entgangen war. »Nein, mein Herr«, sagte sie, »da muss ich Sie enttäuschen. Ich bin Jüdin. Ich stamme zwar aus Russland, aber jetzt lebe ich in Jerusalem.«

Im ersten Moment dachte sie, er würde ihr den Rücken kehren. Die christlichen Geistlichen waren den Juden nicht eben wohlgesonnen. Stattdessen leuchteten seine Augen auf.

»Jüdin? Eine Jüdin im Heiligen Land?«, rief er lächelnd. Er hielt inne und fügte hinzu: »Der Himmel hat mich hergeführt!«

Neta sah ihn an und wusste nicht, ob er sich über sie lustig machte. In diesem Augenblick zog ein österreichischer Kavallerietrupp in prächtigen Uniformen vorbei, begleitet von türkischen Reitern in nicht weniger prunkvoller Ausstattung. Sie hatte noch nie solche Prachtgewänder gesehen. Anscheinend waren sie eigens zu Ehren des kaiserlichen Besuchers aus Istanbul hergeschickt worden. Die dicht gedrängten Zuschauer wichen vor den Hufen der Pferde zurück, und sie verlor ihren neuen Bekannten aus den Augen. Vielleicht ist es besser so, dachte sie. Dieser Mensch schien zwar interessant zu sein, aber er kam ihr auch ein wenig seltsam und suspekt vor. Besser, sie hielt sich von ihm fern.

Inzwischen war der Kaiser mit seinem Gefolge und der türkischen Ehrengarde ins österreichische Hospiz eingezogen, und die Straße leerte sich allmählich. Neta taten nach dem langen Stehen die Füße weh. Sie ging zu dem kleinen arabischen Kaffeehaus, in dem sie schon oft mit David gesessen haben, und hoffte, er würde auch dorthin kommen, wenn die Menge sich erst mal verlaufen hatte. Sie ließ sich auf einen niedrigen Hocker sinken, bestellte einen türkischen Mokka und stieß einen erleichterten Seufzer aus. Solche Menschenansammlungen waren nicht ihre Sache. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass sich in einer dämmrigen Ecke unter einem kleinen Gewölbebogen ein Mann erhob und auf sie zukam. Es war natürlich wieder der deutsche Pfarrer. Er trat auf sie zu und verbeugte sich lächelnd.

»Wie schön, dass ich Sie wiederfinde!«, sagte er. »Ich dachte schon, ich hätte Sie für immer verloren.« Er nahm seinen Hut ab, fuhr sich mit der Hand durch die Haare und fragte, ob er sich an Netas Tisch setzen dürfe.

Sie zögerte, doch ihre Neugier behielt die Oberhand. Wer ist dieser Mensch und was will er von mir?, fragte sie sich, während sie ihn mit einer höflichen Geste einlud, sich neben sie auf einen der niedrigen Schemel zu setzen.

Aber sie brauchte nicht viel zu fragen. Kaum hatte er sich niedergelassen, da fing er schon an, von sich zu erzählen. Wie sich herausstellte, war er Mitglied der Tempelgesellschaft im Königreich Württemberg. Mit den Tempelrittern aus dem Mittelalter hatten die neuen Templer allerdings wenig zu tun. Sie waren Pietisten und hatten sich erst vor wenigen Jahren von der evangelischen Kirche abgespalten, erklärte er, weil sie glaubten, dass man nicht tatenlos auf die Auferstehung des Heilands warten, sondern an sich und der Welt arbeiten solle, um das Reich Gottes herbeizuführen.

»Eines unserer wichtigsten Ziele ist der Aufbau des Heiligen Landes«, sagte er. »Ob wir oder andere das tun, ist nicht wichtig. Ich möchte gerade mit den Juden zusammenarbeiten. Ihr Juden seid ein fleißiges, erfindungsreiches Volk, dessen fester Glaube an Gott und das Heilige Land dem unseren in Nichts nachsteht.«

Er berichtete Neta, dass er mit seiner Familie in einer kleinen Templerkolonie in Haifa lebe. Den Kaiserbesuch wolle er nutzen, um Möglichkeiten für eine Niederlassung von Templern in Jerusalem zu prüfen.

Neta brauchte einen Moment, um seinen leidenschaftlichen Redeschwall zu verdauen. »Und was wollen Sie von mir?«, fragte sie schließlich.

»Das weiß ich noch nicht«, erwiderte er. »Ich möchte in diesem Land mit Juden kooperieren, habe aber noch keine klaren Vorstellungen. Sprechen Sie doch bitte mit Ihrem Mann und mit anderen Juden, und ich werde auch darüber nachdenken. Wenn Sie so freundlich sind, mir Ihre Adresse zu geben, werde ich Sie mit Ihrer Erlaubnis besuchen und dieses Thema mit Ihnen beiden erörtern.«

Am Abend erzählte Neta ihrem Mann von der merkwürdigen Begegnung. »Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte.«

»Und dann hast du ihm unsere Adresse gegeben?«, warf David ein, der ihrem Bericht mit wachsendem Erstaunen zugehört hatte. Netas Geschichte hörte sich an wie ein Märchen der Brüder Grimm, aber sie schien fest daran zu glauben.

Insgeheim fragte sich Neta, ob der seltsame Fremde sie nicht an der Nase herumgeführt hatte, aber nach einer kleinen Pause fuhr sie fort: »Ich habe ihm nur gesagt, dass wir uns mit dir zusammen in dem kleinen Kaffeehaus treffen können, wenn der preußische Kronprinz kommt.« Der Plan für diesen Besuch, der eigentlich streng geheim hatte bleiben sollen, hatte sich in Windeseile verbreitet.

David nickte. »Der Pfarrer steht als Württemberger dem Preußen näher als dem Österreicher, und wenn er zu Ehren des Kaisers nach Jerusalem gekommen ist, wird er das sicher auch tun, wenn der preußische Kronprinz hier eintrifft. Aber was versprichst du dir von diesem Treffen?«

Er stand auf, öffnete das Fenster, um ein wenig frische Abendluft hereinzulassen, und blickte zum Himmel. Es war sternenklar. Schließlich drehte er sich wieder zu Neta um.

»Und welche Rolle soll ich dabei spielen?«, fragte er. Er hatte das Gefühl, dass seine Frau selbst nicht genau wusste, was sie zu der Verabredung mit dem seltsamen Pfarrer bewogen hatte. War es Neugier oder ein Anflug von Abenteuerlust? Oder wollte sie nur der Alltagsroutine entfliehen, die der kleine Haushalt von ihr verlangte? Er fühlte eine Welle von Zärtlichkeit in sich aufwallen, als sie ihn verlegen und fragend anblickte.

»Wir gehen hin und treffen deinen kuriosen Pfarrer«, sagte er und umarmte sie. »Dann sehen wir ja, ob sein Angebot für uns von Interesse ist. Wenn nicht, verabschieden wir uns eben höflich.«

Neta, die gerade noch gefürchtet hatte, sie hätte sich womöglich unnötig in Schwierigkeiten gebracht, atmete auf und warf David einen dankbaren Blick zu. Was für ein wunderbarer Mann er doch ist, dachte sie. Er hat mich zwar in dieses Provinznest am Ende der Welt entführt, aber seine Liebe wiegt alles auf. Sie sah ihn zärtlich an und streichelte seine Wangen. Wie schön er war, mit seinem schlanken, wohlproportionierten Körper, den schwarzen Augen und dem gescheiten, gütigen Blick, der manchmal ein wenig abwesend wirkte. Ihm schien es nichts auszumachen, so weit entfernt vom lebensfrohen Odessa zu leben.

Die Rückkehr des Kaisers auf seine Yacht am 14. November stand unter keinen günstigen Vorzeichen. Gleich bei ihrer Ankunft in Jaffa wurden sie von ungewöhnlich starkem Regen und Sturm überrascht. Das österreichische Gefolge, die Ehrenwache und die türkischen Begleiter, die Delegationen der Kirchen und Moscheen und auch eine bunte Abordnung junger Juden, die in den Farben der österreichischen Flagge gekleidet waren, rangen verzweifelt und hilflos die Hände. Die Hafenleitung teilte ihnen mit, dass es zu gefährlich sei, die Ruderboote, die die Reisegesellschaft zu den Schiffen bringen sollten, zu Wasser zu lassen. Franz Joseph I. verkündete auf seine nonchalante Art, er habe nicht vor, die Eröffnung des Suezkanals zu verpassen. Wer sich fürchte, könne ja in Jaffa das Ende des Sturms abwarten.

Der Kaiser mochte noch so furchtlos sein – die erfahrenen Hafenarbeiter weigerten sich, aufs offene Meer hinauszurudern. Doch Franz Joseph beharrte darauf, und schließlich meldete sich ein gedrungener, breitschultriger Mann mit schwarzen Haaren und dickem Schnurrbart. Erhobenen Hauptes trat er vor den Kaiser und zeigte auf einige seiner Gefährten.

»Diese Männer und ich sind bereit, Euch überzusetzen«, erklärte er.

Entsetzt beobachtete das kaiserliche Gefolge, wie Franz Joseph und seine wenigen mutigen Begleiter in einem winzigen Nachen Platz nahmen und sich über die aufgewühlte See auf die Greif rudern ließen. Vom Sturm geschüttelt und bis auf die Haut durchnässt, erreichten sie das Schiff.

Als alle sicher an Bord gelangt waren, ließ Franz Joseph die Männer bezahlen. Dann wandte er sich an den Schwarzhaarigen. »Ich möchte Ihnen für Ihren Mut und Ihre Hilfe danken. Sie können entscheiden, ob Sie eine Prämie oder einen kaiserlichen Orden als Belohnung erhalten möchten.«

»Ich bin Jude«, erwiderte der Mann, »und ich stamme aus Saloniki, der Stadt, die für ihre jüdischen Seeleute und Hafenarbeiter berühmt ist. Geld ist wichtig, aber es kommt und geht. Ein Orden aus kaiserlicher Hand dagegen ist eine Ehre, die nur einem unter einer Million zuteilwird – und einem Juden noch seltener. Ich nehme den Orden dankend entgegen – für mich und für meine Kameraden.«

Und tatsächlich erhielt der Mann in aller Form seinen Orden – nach allen Regeln des Protokolls.

Als Franz Joseph in Ägypten eintraf, erwartete ihn eine Botschaft von einem anderen hohen Gast, der ebenfalls zur Eröffnung des Suezkanals gekommen war. Der preußische Kronprinz Friedrich Wilhelm, der als Friedrich III. für 99 Tage deutscher Kaiser werden sollte, bat ihn um ein Gespräch.

»Sagen Sie«, fragte er nach den einleitenden Höflichkeiten. »Was halten Sie von Jerusalem? Die Heilige Stadt …« Der junge Mann zögerte, um seine Unsicherheit zu verbergen.

»Ich bin auch nicht klüger als Sie«, erwiderte der Kaiser. »Es war für mich eine Reise in eine fast unbekannte Welt. Zwar bin ich nicht der erste Österreicher, der nach Jerusalem gekommen ist, doch die bisherigen Informationen hatten mir keinen Maßstab für die Vorbereitung meiner Reise geliefert. Das kleine Jerusalem mit seinen höchstens zehntausend Einwohnern ist offenbar eine der ärmsten Städte der Welt. Es hat mehr Bettler als die größten europäischen Metropolen, ganz abgesehen von den ausländischen religiösen und kulturellen Institutionen, die ebenfalls die Hand aufhalten, und nicht zuletzt den Vertretern der Hohen Pforte in Istanbul. Man muss schon eine große Reisekasse mitbringen, wenn man die Leute dort nicht enttäuschen will.«

Der Besuch Friedrich Wilhelms war gut vorbereitet. Überall in der Stadt verkündeten Plakate die Ankunft des preußischen Kronprinzen. Er reiste zwar nur in Vertretung seines Vaters, aber Sultan Abdülaziz hatte befohlen, er solle mit königlichen Ehren empfangen werden.

Mit Unterstützung des preußischen Konsuls in Jerusalem, Georg von Alten, gelang es, den Kontakt zu den relativ wenigen und nicht sehr bekannten preußischen Bürgern der Stadt herzustellen. Unter ihnen waren auch einige protestantische Pfarrer und mehrere Juden. Jede Konfession sollte Vertreter entsenden, die Friedrich Wilhelm vorgestellt werden und seine Fragen beantworten sollten. Die Juden durften drei Delegierte auswählen. Nach jüdischem Brauch entschieden sie sich für die ältesten Mitglieder ihrer Gemeinde.

In der vergangenen Woche hatte es immer wieder Schauer gegeben, aber an diesem Tag strahlte die Sonne von einem wolkenlosen Himmel. Ein kühler Wind ließ die Gewänder der Jerusalemer Honoratioren flattern, als sie sich zum zeremoniellen Empfang des Kronprinzen aufstellten. David fröstelte und zog die Jacke enger um sich. Die Luft riecht nach Winter, dachte er. Er lehnte sich hinter einen Mauervorsprung, um sich vor dem Wind zu schützen, während er das Geschehen verfolgte und die Einzelheiten für die Chadschot Ha’jischuw notierte.

Der erste jüdische Vertreter, der vortreten und mit dem Kronprinzen sprechen durfte, war Selig Hausdorff. Er verbeugte sich vor dem Gast, der ihn freundlich begrüßte. Das Protokoll missachtend, drückte er dem überraschten Alten die Hand und fragte ihn, aus welchem preußischen Ort er denn stamme. Der überraschte Hausdorff vergaß, was der Konsul ihm eingeschärft hatte, und redete den Kronprinzen nicht mit »Königliche Hoheit«, sondern mit »Majestät« an. Friedrich Wilhelm sagte lächelnd: »Noch nicht, mein Vater ist noch jung. Töten Sie ihn nicht vor der Zeit.« Als er Hausdorff begütigend auf die Schulter klopfte, fiel der alte Mann vor Aufregung fast in Ohnmacht.

Als Zweiter wurde Friedrich Johannes Schlenck dem Prinzen vorgestellt. Er war nicht so nervös wie sein Vorgänger, da er gesehen hatte, wie freundlich der hohe Gast mit diesem gesprochen hatte. Ohne sich zu verheddern, antwortete er auf die Frage, wo er geboren sei: »Ich bin in Posen, der Stadt meines Vaters, zur Welt gekommen. Meine Mutter stammt aus einem kleinen Ort in Schlesien.«

Schließlich kam der Älteste, Leon Markus, an die Reihe. Er verstand die Frage des Kronprinzen nicht, da er schwerhörig war, nahm aber an, dass er ihn ebenfalls fragen würde, wo er herkäme, und sagte: »Ich bin aus Kaiden, Eure Majestät.«

Friedrich Wilhelm wiederholte lächelnd, er sei keine Majestät, aber der alte Mann hörte ihn nicht. Der Kronprinz wandte sich an den preußischen Konsul: »Wissen Sie, wo Kaiden liegt? Ich erinnere mich nicht an diesen Ort.«

Sichtlich verlegen entgegnete Georg von Alten, er könne sich auch nicht entsinnen, diesen Namen je gehört zu haben. »Es ist sicher ein sehr kleiner Ort, Königliche Hoheit«, stammelte er. Leon Markus hätte das Rätsel lösen können, doch er hatte kein Wort verstanden. Die Juden, die hinter dem Alten standen, hatten die Frage gehört, wagten aber nicht, sich in das Gespräch einzumischen. Sie wussten natürlich, dass Kaiden in Litauen lag. Leon Markus war erst später nach Preußen gezogen.

Nach dem zeremoniellen Empfang, an dem fast die gesamte Einwohnerschaft samt Greisen und Kindern teilnahm, warteten alle, bis die türkische Garde und der Kronprinz mit seinen Begleitern und den Honoratioren davongezogen waren. Erst dann begann die Menge, sich zu zerstreuen.

Wie verabredet traf Neta um die Mittagszeit in dem kleinen arabischen Kaffeehaus ein. Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Männer in bunten Kaftanen ruhten auf Kissen und sogen an ihren leise blubbernden Wasserpfeifen. David war schon da. Sie entdeckte ihn in einer Nische im hinteren Bereich und ließ sich neben ihm nieder.

Kurz darauf erschien tatsächlich auch Pfarrer Simon. Er begrüßte Neta und David mit etwas übertriebener Höflichkeit.

»Ich bin noch ganz ergriffen von dem Ereignis«, erklärte er, nachdem er Platz genommen hatte. »Friedrich Wilhelm ist zwar preußischer Thronfolger, aber er ist auch ein Hohenzoller. Der Stammsitz seiner Familie liegt am Rande der Schwäbischen Alb, nur ein paar Meilen von meiner Heimat entfernt.«

»Was haben Sie seit unserem letzten Treffen gemacht, Herr Pfarrer? Waren Sie in Haifa?«, erkundigte sich Neta und strich sich mit beiden Händen ihr dunkelblondes, in der Mitte gescheiteltes Haar zurück.

»Oh nein, ich bin hiergeblieben«, erwiderte Simon. »Ich hätte ja zwei Tage gebraucht, um nach Haifa zu reiten. Einige Gemeindebrüder haben mich beherbergt. Sie wollen eine Niederlassung hier gründen.«

»Was sind Ihre Pläne?«, fragte David. »Werden Sie nun wieder nach Hause zurückkehren?«

»Nein«, sagte der Pfarrer. »Ich habe viel an das Gespräch mit Ihrer Frau gedacht. Ich möchte Ihnen etwas vorschlagen. Sie sind doch genau wie ich am Aufbau dieses Landes interessiert, getreu dem Motto: Wir sind ins Land gekommen, um aufzubauen und dabei selbst erbaut zu werden.«

David und Neta nickten.

»Die Türken haben jetzt endlich eine Straße zur Küste gebaut«, fuhr Simon fort. »Nun fehlen nur noch Menschen mit einer Vision, die bereit sind, ihr Geld und vor allem ihre Kraft in die Einrichtung eines Kutschendienstes zwischen Jerusalem und Jaffa zu investieren. Daran sollten wir jetzt gemeinsam arbeiten. Die Juden und die Templer können dieses öde Land zum Blühen bringen. Der erste Schritt ist die Modernisierung des Personen- und Warenverkehrs.« Er räusperte sich und nahm einen Schluck Mokka. »Ich habe vor, mit der Hilfe christlicher Freunde in Ägypten einige Kutschen zu kaufen. In Kairo ist der Kutschendienst erstaunlich weit entwickelt, und ich hoffe, dass ich dort etwas Passendes auftreiben kann. Die Kutschen können wir nach Alexandria transportieren und von da aus nach Jaffa verschiffen.«

Neta und David wechselten zögernde Blicke. »Und welche Rolle haben Sie uns zugedacht?«, fragte David. »Wir haben im Verkehrswesen keine Erfahrung und auch kein Geld …«

»Ich weiß«, entgegnete der Pfarrer. »Sie haben natürlich recht. Wir brauchen tatsächlich viel Geld, nicht nur, um die Kutschen zu kaufen, sondern auch für den Transport nach Jaffa, die Ausrüstung, die Pferde, die Kutscher … Das ist mir völlig klar.« Er hielt einen Moment inne und legte die Stirn in Falten, bevor er weitersprach. »Ich habe das alles bedacht. Mir ist klar, dass Sie keine Erfahrung in diesen Dingen haben. Aber Sie sind jung und begeisterungsfähig. Und Sie sind Juden. Ich brauche solche Leute wie Sie als Partner, Sie und Ihre Glaubensgenossen. Sie werden sich schnell einarbeiten, und für die Investoren sorge ich. Die Hauptsache ist, dass dieses Projekt nicht bloß von Deutschen betrieben wird, so motiviert und tüchtig unsere Templer auch sein mögen.«

Auf dem Heimweg sahen sich Neta und David ratlos an. »Was, wenn er ein Betrüger ist oder bloß ein Träumer?«, fragte Neta.

»Du hast ihm schließlich unsere Adresse gegeben«, lachte David und nahm ihren Arm. »Mir ist auch nicht ganz wohl bei der Sache. Aber was riskieren wir schon? Wenn wir nichts mehr von diesem Pfarrer hören, ist es gut. Und wenn er sich wieder blicken lässt, werden wir weitersehen.«

In Wahrheit war er begeistert von Simon. Der Mann meint es ernst, dachte er. Endlich taten sich in diesem Land neue Möglichkeiten für tatkräftiges Handeln auf. Er konnte seine innere Erregung kaum bezähmen.

Neta kannte ihn gut genug, um zu ahnen, was in ihm vorging. Was immer geschieht, dachte sie, ich hoffe nur, dass er keine Enttäuschung erlebt. Doch sie verbarg ihre heimlichen Befürchtungen und setzte eine heitere Miene auf.

In der Nacht fand David kaum Schlaf. Er grübelte hin und her, wog ab, verwarf, wurde von Begeisterung übermannt und dann wieder von Zweifeln. Als der Muezzin im muslimischen Viertel durch seinen Ruf vom Minarett den Sonnenaufgang verkündete und die Gemeinde in die Moschee rief, fühlte David Zemach sich wie zerschlagen.

Wie immer ging David am Morgen zur Arbeit. Aber am Abend musste Neta ungewohnt lange warten. Erst nach Sonnenuntergang hörte sie draußen ein seltsames Geräusch und machte eilig die Tür auf. Vor ihr stand ein grauer Esel. Und auf dem Rücken des Tieres saß David.

»Was ist das denn?«, fragte sie verblüfft.

»Ein Geschenk von Pinchas Goren für meine gute Arbeit bei den Besuchen der Majestäten«, erwiderte David.

Neta schwieg einen Moment und musterte das glückliche Gesicht ihres Mannes. »Mein Vater hat immer gesagt: Nimm nie ein Geschenk an, das frisst!«, sagte sie dann. »Dieser nette Esel braucht nicht nur Futter, sondern auch einen Platz. Er macht Dreck und muss vom Tierarzt betreut werden … Aber wenn er dir hilft, schneller zur Arbeit zu kommen, muss ich mich wohl mit ihm anfreunden.«

In Jerusalem hatte sich die Aufregung allmählich wieder gelegt. Auch die frömmsten Einwohner, die Wunder schon fast für etwas Alltägliches hielten, begriffen, dass so bald kein zweiter Suezkanal eröffnet würde und die Besuche gekrönter Häupter recht seltene Ereignisse waren. Allmählich kehrte die Stadt zur grauen Realität zurück. Neta widmete sich wieder dem Haushalt und ihrer lebhaften kleinen Tochter, die sie den ganzen Tag in Atem hielt, während Davids Gedanken wie zuvor um sein Wochenblatt kreisten. Den Templer hatte er fast vergessen.

Doch an einem kalten, regnerischen Januarabend klopfte es an der Tür. David hob den Kopf von dem Artikel, den er im Schein der Petroleumlampe für die Chadschot Ha’jischuw schrieb. Neta hatte Rachel auf dem Schoß. Sie zuckte zusammen und zog ihre Tochter an sich wie eine Katze, die ihre Jungen beschützt. David öffnete die Tür. Zu seiner Überraschung stand Pfarrer Simon vor ihm.

Vom Hut des Geistlichen regnete es, und auch sein Mantel war nass. Dennoch sah er David mit einem strahlenden Lächeln an. »Meine Freunde, ich habe euch gefunden! Ein wahres Wunder …«

»Kommen Sie herein«, rief Neta, »sonst schwemmt Sie der Regen noch fort. Willkommen in unserer bescheidenen Hütte.«

Während Neta ihre Tochter ins Bett brachte, bemühte sich David, trockene Kleider für Simon zu finden. Der Pfarrer war nicht größer als er, aber wesentlich breiter gebaut. Schließlich förderte David einige Kleidungsstücke zutage, die ihm halbwegs passten, und sie setzten sich an den Tisch. Neta hatte Minztee aufgebrüht und stellte ihm einen Bagel mit Sesam und Schwarzkümmel hin. Oswald Simon nahm einen Schluck Tee.

»Ah, das tut gut! Es wärmt von innen«, seufzte er. »Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Gastfreundschaft.«

Während er kleine Stücke von dem Brotkringel abbrach und sich in den Mund schob, erzählte er, wie er im strömenden Regen von Haifa über Nablus hierher gelangt war. Dann kam er auf sein großes Projekt. Sein Plan, einen Kutschenverkehr zwischen Jaffa und Jerusalem einzurichten, hatte Gestalt angenommen.

»Ich habe in Jaffa einen Kaufmann gefunden, der bereit ist, eine Partnerschaft mit uns einzugehen«, sagte er. »Ihnen ist sicher klar, dass wir diese Sache nicht allein von Jerusalem oder von Haifa aus in Gang bringen können. Jaffa und sein Hafen sind die zentrale Basis für das Unternehmen. Der potenzielle Investor ist ein Gewürzhändler namens Mustafa Samara«, sagte Simon. »Er stammt aus einer reichen Familie und hat Handelsbeziehungen zu ägyptischen Geschäftsleuten. Ich habe ihm von unserem Plan erzählt. Er ist bereit, sich an diesem Abenteuer zu beteiligen und die nötigen Mittel einzubringen.« Er stützte die Ellbogen auf die Tischplatte und legte das Kinn auf die Hände. »Also, ich habe Samara von Ihnen erzählt. Seiner Ansicht nach ist eine Partnerschaft mit Juden eine Bedingung für das Gelingen des Unternehmens, besonders, wenn es sich um junge Leute handelt. Ich habe ihm meinen persönlichen Eindruck von Ihnen geschildert, und er meinte, das wären gute Voraussetzungen.«

Neta und David lauschten gebannt.

»Kurz und gut«, schloss der Pfarrer, »wann können Sie mit mir nach Ägypten reisen?«

Die beiden sahen sich betroffen an. Wie sollten sie darauf antworten? David brach das verlegene Schweigen als Erster. »Wir müssen in Ruhe über Ihren Vorschlag nachdenken. Auf ein Abenteuer dieser Art waren wir nicht gefasst, und …«

»Selbstverständlich«, fiel ihm Simon ins Wort. »Ich schlage vor, dass wir uns morgen treffen. Inzwischen können Sie über die Sache nachdenken und sich miteinander besprechen. Ich werde mich jetzt verabschieden. Sollen wir morgen Mittag wieder in dem kleinen Kaffeehaus zusammenkommen?«

»Das fehlte noch, dass wir Sie jetzt zu Ihren Templerfreunden am anderen Ende der Stadt gehen lassen!«, sagte Neta in einem energischen Ton, der David überraschte. »Sie würden mindestens eine Stunde bis zum christlichen Viertel brauchen, und das bei strömendem Regen. Sie haben nicht mal trockene Kleider.«

David nickte. »Meine Sachen sind Ihnen ja leider zu eng. Sie platzen buchstäblich aus allen Nähten. Nein«, entschied er. »Sie bleiben heute Nacht bei uns.«

Simon, der sich schon ein wenig vor dem langen Nachtmarsch im Regen gefürchtet hatte, sah sich zögernd um. »Sie haben doch in Ihren beiden kleinen Zimmern gar keinen Platz für mich!«

Aber Neta war schon dabei, Decken und Kissen zu holen, während David den Tisch zusammenklappte. »Wir werden auf dem Boden schlafen und die Kleine zwischen uns nehmen«, erklärte Neta, während der Pfarrer unschlüssig dastand und kein Wort herausbrachte. Dann bezog sie das Ehebett in der Schlafkammer frisch. »Fertig! Sie schlafen dort und wir hier«, verkündete sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Gute Nacht!« Ohne die Reaktion des Gastes abzuwarten, hob sie Rachel hoch, die von dem ganzen Trubel nichts gemerkt hatte, legte sie auf das improvisierte Lager und schloss die Tür zur Schlafkammer.

Am nächsten Morgen verabschiedete sich Oswald Simon mit herzlichen Dankesworten von seinen Gastgebern. Ihre Einladung zum Frühstück lehnte er ab, weil er ihnen nicht noch mehr zur Last fallen wollte. Neta versorgte Rachel, bevor sie ihrem verschlafenen Mann einen Kuss gab.

»Hör zu, David«, sagte sie, »ich hab eine Idee. Wir sollten Pfarrer Simons Vorschlag annehmen, aber nicht auf eigene Faust. Wir sind zu jung und unerfahren. Wir dürfen uns nicht auf dieses Abenteuer einlassen, ohne unseren Beitrag zu leisten, sonst sind wir nur ein unnützes Anhängsel. Wie wäre es, wenn du dich an Goren wendest? Er hat die Erfahrung und die Mittel, um das Unternehmen zu unterstützen, und kann auch etwas investieren. Wenn er mitmacht, sind wir durch einen versierten Partner abgesichert. Allein würden wir in diesem Projekt untergehen.«

David blinzelte und rieb sich die Augen. Verwirrt von Netas Redeschwall, küsste er sie auf die Wange und murmelte: »Du bist ein Genie! Was würde ich nur ohne dich machen?«

3

Jerusalem

— 1869 —

Für einen Mann, der in einer abgelegenen Provinzstadt wie Jerusalem lebte, besaß Pinchas Goren einen ausgezeichneten Spürsinn für gute Geschäftsideen und verfügte auch über das nötige Wissen, wie man sie umsetzten konnte. Als David und Neta ihm von Oswald Simon und seinem Plan erzählten, reagierte er anfangs zögerlich, stellte ihnen aber bald detaillierte Fragen zu dem Kutschenprojekt, die sie größtenteils zu seiner Zufriedenheit beantworten konnten.

»Wir fahren alle nach Ägypten«, entschied er schließlich und sah Neta und David an. »Sie beide, dieser Pfarrer und ich selbst. Gemeinsam können wir uns ein besseres Bild machen. Die Reisekosten übernehme ich.«

»Das ist eine gute Idee«, sagte Neta. »Aber ich bleibe hier. Das macht die Sache auch preiswerter.«

Erst in diesem Augenblick wurde David bewusst, dass er über die Finanzierung der Reise noch gar nicht nachgedacht hatte. Jung und naiv, wie er war, hatte er sich auf das riskante Unternehmen eingelassen wie ein Kind auf ein neues Spiel. »Wie du meinst«, sagte er.