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Thunar Jentsch

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Beschreibung

Der Camino del Norte ist der am zweitmeisten frequentierte Jakobsweg Europas. Er verläuft unmittelbar an der nordspanischen Atlantikküste entlang. Jährlich steuern circa 21.000 Pilger aus aller Welt auf dieser Route das Ziel Santiago de Compostela an. Krönender Abschluss jeder Pilgerreise ist die Teilnahme an der Messe in der Kathedrale, wo angeblich die Gebeine des Apostels Jakobus ruhen. Der Autor schildert persönliche Eindrücke, Stimmungen und Begegnungen von seiner siebenwöchigen Pilgerreise vom französischen Hendaye bis Santiago de Compostela und darüber hinaus bis Fisterra und Muxía. Der Reisebericht wird durch Wissenswertes zu Kultur, Land und Leuten abgerundet.

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Seitenzahl: 294

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Gewidmet allen Suchenden und ihren Füßen, ohne die sie ihr Ziel nicht erreicht hätten.

INHALTSVERZEICHNIS

Auf dem Weg

Montag, 17.07.2023 / Bergisch Gladbach - Irun (Anreise)

Dienstag, 18.07.2023 / Irun - Pasaia (18 km)

Mittwoch, 19.07.2023 / Pasaia - San Sebastian (6 km)

Donnerstag, 20.07.2023 / San Sebastian - Zumaia (31 km)

Freitag, 21.07.2023 / Zumaia - Deba (14 km)

Samstag, 22.07.2023 / Deba - Markina Xemein (20 km)

Sonntag, 23.07.2023 / Markina Xemein - Gernika (25 km)

Montag, 24.07.2023 / Gernika - Bilbao (36 km)

Dienstag, 25.07.2023 / Bilbao

Mittwoch, 26.07.2023 / Bilbao - Pobeña (21 km)

Donnerstag, 27.07.2023 / Pobena - Islares (23 km)

Freitag, 28.07.2023 / Islares - Santoña (34 km)

Samstag, 29.07.2023 / Santoña - Isla (13 km)

Sonntag, 30.07.2023 / Isla - Santander (24 km)

Montag, 31.07.2023 / Santander

Dienstag, 01.08.2023 / Santander - Queveda (26 km)

Mittwoch, 02.08.2023 / Queveda - Santillana del Mar (3 km)

Donnerstag, 03.08.2023 / Santillana del Mar

Freitag, 04.08.2023 / Santillana – San Vicente de la Barqueda (39 km)

Samstag, 05.08.2023 / San Vicente de la Baquera - Colombres (17 km)

Sonntag, 06.08.2023 / Colombres - Cué (20 km)

Montag, 07.08.2023 / Cué – San Pedro de Pria (23 km)

Dienstag, 08.08.2023 / San Pedro de Pria - La Isla (26 km)

Mittwoch, 09.08.2023 / La Isla - Villaviciosa (23 km)

Donnerstag, 10.08.2023 / Villaviciosa - Gijón (30 km)

Freitag, 11.08.2023 / Gijón - Avilés (25 km)

Samstag, 12.08.2023 / Avilés - San Martin de Laspra (5 km)

Sonntag, 13.08.2023 / San Martin de Laspra - Soto de Luiña (33 km)

Montag, 14.08.2023 / Soto de Luiña - Santa Marina (12 km)

Dienstag, 15.08.2023 / Santa Marina - Piñera (42 km)

Mittwoch, 16.08.2023 / Piñera - Navia (5 km)

Donnerstag, 17.08.2023 / Navia

Freitag, 18.08.2023 / Navia - Tapia de Casariego (17 km)

Samstag, 19.08.2023 / Tapia de Casariego - Ribadeo (11 km)

Sonntag, 20.08.2023 / Ribadeo - Vilanova de Lourenzá (27 km)

Montag, 21.08.2023 / Vilanova de Lourenzá - Abadin (24 km)

Dienstag, 22.08.2023 / Abadín - Vilalba (20 km)

Mittwoch, 23.08.2023 / Vilalba - Baamonde (19 km)

Donnerstag, 24.08.2023 / Baamonde - Sobrado dos Monxes (46 km)

Freitag, 25.08.2023 / Sobrado d. Μ. - Santa Irene (37 km)

Samstag, 26.08.2023 / Santa Irene - Ventosa (39 km)

Sonntag, 27.08.2023 / Ventosa - Vilaserio (25 km)

Montag, 28.08.2023 / Vilaserio - Ponte Olveira (22 km)

Dienstag, 29.08.2023 / Ponte Olveira - Fisterra (34 km)

Mittwoch, 30.08.2023 / Fisterra - Muxía - Fisterra

Donnerstag, 31.08.2023 / Fisterra - Santiago de Compostela

Freitag, 01.09.2023 / Santiago de Compostela

Samstag, 02.09.2023 / Santiago de Compostela - Frankfurt am Main

Sonntag, 03.09.2023 / Frankfurt am Main - Bergisch Gladbach

Epilog

Auflistung der Reisekosten

Abbildungsverzeichnis

Zum Autor

Auf dem Weg

Den Jakobsweg umgibt ein gewisser Nimbus, den jeder bestens kennt, der ihn einmal selbst gelaufen ist. Schritt für Schritt bemächtigt er sich des Pilgers. Am Anfang steht die körperliche Erschöpfung, auf die eine wohltuende Justierung, Fokussierung oder Eliminierung der Gedanken und Emotionen folgt, bis der camino schließlich als ganzheitliches Erlebnis tief ins Innere dringt. Das mehrwöchige Wandern in der Natur, die Begegnung mit Menschen, Orten und Landschaften, seien sie auch noch so flüchtig, führen in Verbindung mit der Auseinandersetzung mit sich selbst zu einer Mächtigkeit, die viele nicht mehr loslässt und dazu bewegt, sich erneut auf den Weg machen. Und Jakobswege gibt es zum Glück viele.

Bei mir dauerte es einige Jahre, bis ich das Bedürfnis verspürte, mich ein weiteres Mal auf den Weg zu machen. Nach dem Camino Francés sollte es diesmal der unmittelbar an der Küste verlaufende Camino del Norte sein, der länger und schwieriger ist.

,,Warum willst Du den camino ein zweites Mal laufen?“, fragten mich viele Bekannte und Freunde. „Was reizt dich daran, erneut wochenlange Strapazen und Entbehrungen auf dich zu nehmen?“

Zum Teil ist es der verklärenden Retrospektive geschuldet, bei der nur das Schöne im Gedächtnis bleibt und nach Wiederholung drängt. Doch ist es bei Weitem mehr als das. Hinter vordergründiger Neugierde oder Abenteuerlust verbirgt sich eine tiefe Sehnsucht nach einer existentiell grundlegenden Erfahrung von Einheit, nach einer Verbindung mit der uns umgebenden Natur, einem intensiven Spüren des Lebens. Dafür bedarf es zwar nicht unbedingt einer Pilgerreise, doch führen das wochenlange Wandern in der Natur, das häufige Eintauchen in die Stille und Abgeschiedenheit der Kirchen und die Begegnungen auf dem Weg zu einem Selbstverständnis, zu dem man ansonsten nur schwer durchdringt; es sei denn in der Tiefe von Meditation.

Was verbirgt sich hinter dem Phänomen camino? Eine einzige Antwort kann es mit Sicherheit nicht geben. Eher besteht es aus Puzzleteilen, aus Fragmenten des emotionalen und geistigen Erlebens, die sich entweder direkt auf dem Weg oder in der Nachbereitung des Erlebten ergeben. Die Mächtigkeit der einzelnen Fragmente hängt von der Länge des Eintauchens in die Natur bei Sonne, Nebel und Regen ab, von den steinigen, sich manchmal scheinbar endlos dahinziehenden Wegen, der mühsamen Überquerung hoher Pässe und zuletzt vom Grad der Eigenreflexion. Langsam, aber stetig bewirken diese Faktoren im Innern eines jeden Pilgers Veränderungen. Was auch immer man auf dem Weg sucht, finden kann man es nur in sich selbst. Kein Wunder, dass dabei die überbordenden Angebote und Reize urbaner Kultur sowie das Ermüdende eines immer wiederkehrenden Alltags in weite Ferne rücken müssen, um Einkehr, Stille und Abstand zu den Dingen Raum zu geben.

Montag, 17.07.2023 / Bergisch Gladbach - Irun (Anreise)

Vermutlich wird der Camino del Norte meine letzte Pilgerreise sein, denn 73 Lebensjahre gingen nicht ganz spurlos an mir vorüber, auch wenn die Neugierde auf Neues nicht gealtert ist. Man wird eben nicht jünger und irgendwann muss man darauf Rücksicht nehmen. 2019 lief ich den Camino Francés von Saint-Jean-de-Port auf der französischen Seite der Pyrenäen bis Santiago de Compostela. Insgesamt achthundert Kilometer. Nun werden es mehr als neunhundert Kilometer sein.

Dank der Erfahrung aus der ersten Pilgerreise verzichte ich diesmal auf Luftmatratze und Schlafsack, wodurch sich das Gewicht meines Rucksacks um fünf Kilo verringert. Ansonsten bleibt alles gleich. Eine Windjacke, zwei T-Shirts, zwei Slips, zwei Paar Wandersocken, zwei Trekkinghosen - jeweils ein Set wird täglich gewechselt und von Hand gewaschen - ein Bettlaken als Zudecke, eine Kappe, ein Halstuch, ein Regencape sowie Waschzeug inklusive Mikrofaserhandtuch. Natürlich dürfen Sonnenbrille und eine Kladde mit Stift für den Reisebericht nicht fehlen.

Ein Bus bringt mich von Bergisch Gladbach zum Kölner Hauptbahnhof, den der Eurostar nach Paris gegen halb acht pünktlich verlässt. Nach vier Stunden Fahrt erreicht er den Gare du Nord. Per Taxi geht es durch die quirlige Seine-Metropole zum Gare Montparnasse, von wo der Zug zum französischen Grenzort Hendaye am Golf von Biskaya abfährt. Die ersten beiden Stunden geht es durch die Kornkammer Frankreichs. Getreidefelder soweit das Auge reicht. Im Anschluss daran bestimmen lichte Kieferwälder und sanft geschwungene Hügel das Landschaftsbild. Nach Zwischenstopps in Bordeaux, St. Jean, Biarritz und Bayonne läuft er in den kleinen neoklassizistischen Bahnhof von Hendaye ein. Die tiefstehende Sonne lässt das Gebäude in kräftigen Farben erstrahlen.

Zwischen Hendaye und Irun mündet der Bidasoa ins Meer. Er bildet die Grenze zwischen Frankreich und Spanien. Die auf beiden Seiten des Flusses liegenden Städte erscheinen mir wie eine untrennbare Einheit. Hinter der Puente de Santiago beginnt Spanien.

Ein Unterschied zwischen Frankreich und Spanien offenbart sich in der Architektur. Während in Hendaye die meisten Gebäude mit großen, fast bodentiefen Fenstern ausgestattet und ihre Dächer überwiegend mit Zinkblech verkleidet sind, dominieren in Irun Gebäude mit kleinen Fenstern und Ziegeldächern.

Das Thermometer zeigt vierundzwanzig Grad bei einer hohen Luftfeuchtigkeit an. Sehr angenehm. Ich frage mich zum Hotel Alcázar in der Calle Iparralde Hiribidea durch. Zum Glück ist es nicht allzu weit entfernt. Das zu Hause vorab gebuchte Zimmer erleichtert den Beginn der Pilgerreise. So brauche ich nach der langen Anreise nicht erst nach einer Übernachtungsmöglichkeit zu suchen. Das Hotel in Hanglage liegt in einer beidseitig von Bäumen gesäumten Straße. Mein Zimmer unter dem Dach im dritten Stock bietet eine herrliche Aussicht auf die - im Gegensatz zum französischen Seite - sehr hügelige Landschaft.

Der laue Abend verführt trotz der späten Stunde zu einem Besuch der Stadt. In einer Allee mit hohen Platanen stoße ich auf das Gartenlokal Bar Palace. An den Tischen sitzen junge Menschen, reden, lachen und trinken. Genau richtige Ort, um die Ankunft mit einem Essen zu feiern. Leider hat die Küche bereits geschlossen. Mehr als ein Teller Oliven ist nicht zu bekommen. Dafür entschädigt die Qualität des Rotweins.

Abb. 1: Gartenlokal Bar Palace in Irun

Durch die verwinkelten Gassen und breiten Alleen schlendere ich zum Hotel zurück. Unterwegs verharre ich für einen Moment vor der Kirche Nuestra Señora de Juncal und bewundere die mit Bronzetafeln verzierte Tür mit vier unterschiedlichen Darstellungen der heiligen Jungfrau im Halbrelief. Zu meinem Bedauern ist die Kirche bereits geschlossen.

Lebensgroße Bronzefiguren schmücken einige der Straßen und Plätze. So zum Beispiel eine elegant gekleidete Frau im Stil der 50er-Jahre, die sich mit einem Fächer abzukühlen scheint. Insgesamt besticht die Stadt durch einen gelungenen Mix aus alt und neu.

Dienstag, 18.07.2023 / Irun - Pasaia (18 km)

Ausgestattet mit einem Stadtplan aus dem Hotel gehe ich los. Ganz in der Nähe stoße ich zu meiner Überraschung auf eine öffentliche Herberge, die Übernachtung und Frühstück gegen eine Spende (donativo) anbietet. Die neunzig Euro für das Hotel hätte ich mir sparen können. Nun denn, es ist wie es ist. Ich nutze die Chance und lasse mir einen Stempel für den Pilgerpass (credential) geben.

Wie so oft, steckt auch heute Morgen der Teufel im Detail. Den Bidasoa entlang gehe ich in Richtung Flughafen, übersehe jedoch den Pfad, der in die Berge führt, und lande wenig später unerwartet in Hondarribia.

Damit der Umweg nicht umsonst war, schaue ich mich in Hondarribia um. Die auf einem Hügel gelegene Stadt an der Mündung des Bidasoa hat einiges zu bieten. Und der Tag ist noch jung. Im historischen Zentrum liegt die gotische Kathedrale Iglesia de Nuestra Señora del Manzano. Im 16. Jahrhundert errichtet, steht ihre aus dem 18. Jahrhundert stammende barocke Ausstattung in starkem Kontrast zu ihrem trutzigen Erscheinungsbild. Neben dem Eingang ragt ein Weihwasserbecken in Form einer großen Mördermuschel aus der Wand, darüber eine durchscheinend wirkende Hand aus Marmor, ganz so, als wolle sie sich mit dem Wasser benetzen.

Abb. 2: Weihwasserbecken an der Iglesia de Nuestra Señora del Manzano

Prägend für den malerischen Ort mit seinen alten Gebäuden ist nicht nur die Kathedrale, sondern auch die Burg von Kaiser Karl V., in der heute das Nobelhotel Parador de Hondarribia untergebracht ist.

Vor der Puerta de Santa Maria im südlichen Teil der Burgmauer steht seit 2011 die überlebensgroße Figur eines Hatxeroa-Soldaten. Im 17. Jahrhundert gehörten sie einem technischen Zweig des Militärs an. Ungewöhnlich ist seine Bekleidung, denn neben einer ledernen Arbeitsschürze trägt er eine hohe, helmartige Mütze aus Schafwolle, den morrion, sowie Beinlinge und einfache Schuhe mit geflochtener Sohle aus Jute (espadrilles). Der Hatxeroa schultert allerdings kein Gewehr, sondern eine überdimensionierte Säge, die ihn als Soldat dieser besonderen militärischen Einheit ausweist.

Sein Standbild erinnert an die hier 1638 zwischen Spaniern und Franzosen ausgetragene Schlacht, aus der die Spanier siegreich hervorgingen. Von der Puerta de Santa Maria hat man einen guten Blick auf den Golf von Biskaya.

Abb. 3: Bronzeskulptur eines Hatxeroa vor der Burgmauer in Hondarribia

Die Entscheidung, nicht wieder zum Flughafen zurückzulaufen, sondern von Hondarribia aus direkt zum ersten Etappenziel, der Wallfahrtskirche von Guadalupe (Ermita Guadalupe oder Guadalupeko Ama Birjinaren Santutegia), vorzustoßen, erwies sich im Nachhinein als sehr mühsames Unterfangen mit ständigem Fragen nach dem richtigen Weg. Bis Guadalupe geht es ständig bergauf. Zeitgleich mit mir treffen zwei Schulklassen ein, weshalb dort von Stille und Einkehr nicht mehr die Rede sein kann.

Ab Guadalupe folge ich erneut der Ausschilderung des Jakobswegs. Der Höhenweg verläuft zwischen zweihundert und fünfhundertfünfzig Metern Höhe über die Bergkämme. Auch wenn das Wetter wechselhaft ist und ein starker Wind weht, entschädigen die beeindruckenden Fernblicke auf das Meer und die Städte Hendaye und Irun, die aus dieser Perspektive eine optische Einheit bilden. Buschwerk lockert die Grashänge auf. Vereinzelt stößt man auf Reste quadratischer Wehrtürme, die aus dem 16. Jahrhundert stammen und vermutlich vor Piratenangriffen warnen sollten.

Abb. 4: Fernblick auf Hendaye und Irun hinter Guadalupe

Bei meiner Rast an einem der Wehrtürme lerne ich Monika kennen. Über ihr Angebot, ein Foto von mir zu machen, kommen wir ins Gespräch. Anschließend gehen wir gemeinsam weiter. Monikas Faible für frei weidende Kälber und Kühe wirkt sich beruhigend auf mein Lauftempo aus, denn immer wieder holt sie ihr Handy hervor und fotografiert die Tiere. Je weiter wir uns auf dem schmalen Pfad nach oben bewegen, sind es die vorbeiziehenden Nebelschwaden, die sie begeistert filmt. Das Naturereignis lässt sie vor Freude tanzen. Sie kann gar nicht genug davon bekommen.

Nach einer Weile überzieht die Feuchtigkeit unsere Haare mit glitzernden Tropfen. Die Sicht wird zunehmend schlechter. Zum Glück ist der schmale durch Wiesen verlaufende Weg gut zu erkennen. In einem lichten Wald begegnen wir Julia. Von nun an tapsen wir zu dritt durch den Nebel.

Im Vergleich zu den beiden Frauen, Monika ist knapp über vierzig und Julia Mitte dreißig, komme ich mir wie ein Methusalem vor. Während für Monika die Lust am Wandern den camino attraktiv macht und bei mir die Selbsterkenntnis im Vordergrund steht, will Julia dem Stress ihres Managerdaseins, verbunden mit 14-Stundentagen, entfliehen. Seit ihrem vierzehnten Lebensjahr versucht sie, ihn mit Hilfe von Alkohol und Zigaretten zu kompensieren. Vor einiger Zeit beschloss sie, dass es so nicht weitergehen könne. Seit Beginn des Weges vor gerade mal einem Tag, verzichtet sie auf jegliche Genuss- und Betäubungsmittel. Mit ihrer schlanken Gestalt verkörpert sie den nervösen Typ, der ständig in Bewegung sein muss, während Monika mehr Weiblichkeit und eine heitere Gelassenheit ausstrahlt. Hatte ich bis zum Zusammentreffen mit Julia in der Kommunikation dominiert, übernimmt sie jetzt diesen Part. Sie schafft es tatsächlich, ohne Punkt und Komma zu reden.

Die letzten Kilometer nach Pasaia geht es kontinuierlich bergab. Der Nebel lichtet sich und gibt den Blick auf eine fjordartige Meeresbucht, in die der Oiartzun Ibaia mündet, frei. Achtzehn Kilometer und fünfhundert Höhenmeter liegen hinter uns. Dennoch empfinde ich die Strecke nicht als anstrengend.

Die an die Ermita de Santa Ana angebaute Albergue Santa Anna liegt oberhalb der kleinen Stadt auf einem Felssporn, ungefähr hundert Meter über dem Meeresspiegel. Unterhalb der 1758 erbauten Einsiedelei, die einigen wenigen Pilgern bereits vor dem Anbau eines größeren Schlaftrakts Unterkunft gewährte, erstreckt sich der Ort samt Hafen zu beiden Seiten des Oiartzun Ibaia. Der kaum aussprechbare Name des Flusses weist unmissverständlich darauf hin, dass man sich im Baskenland befindet. Die baskische Sprache Euskara ist ein linguistisches Unikum, da sie keinerlei Bezug zu einer anderen Sprache aufweist.

Zahlreiche Pilger sitzen bereits auf der Treppe der Herberge, daneben auf der steinernen Bank oder auf dem Boden und warten darauf, dass sie um sechzehn Uhr öffnet. In zwei Räumen stehen Etagenbetten für lediglich vierzehn Personen. Wer hier nicht unterkommt, muss sein Glück in der Stadt versuchen. Bei der Vermittlung hilft die Herbergsleitung gerne.

Abb. 5: Herberge von Pasaia

Fallen in Gemeinschaftsunterkünften in der Regel nur zehn Euro pro Übernachtung an, ist es in den Hotels und Pensionen ein Vielfaches davon. Da die meisten Pilger aber wochenlang unterwegs sind, gilt es, bei den Übernachtungskosten hauszuhalten. Für nicht so finanzkräftige Pilger stellt die niedrige Bettenzahl auf dem Küstenweg daher ein großes Problem dar.

Im Vergleich mit dem Camino Francés ist der Camino del Norte viel schwieriger und kräftezehrender. Außerdem liegen die verfügbaren Unterkünfte weiter auseinander. Da auf dem Küstenweg deutlich weniger Pilger unterwegs sind, werden wohl auch in naher Zukunft kaum mehr Übernachtungsangebote hinzukommen.

Herbergen werden von staatlichen oder privaten Trägern betrieben. Bei den staatlichen liegt der Übernachtungspreis zwischen acht und zehn Euro, bei den anderen zwischen zwölf und vierzehn Euro. Einlass wird immer erst ab den frühen Nachmittagsstunden gewährt. Obwohl alle Gäste die Herbergen bis acht Uhr verlassen müssen, werden die Putzkolonnen nicht früher fertig.

Verpflegung bieten nur die allerwenigsten an. In den mit Herd, Mikrowelle, Spülbecken, Geschirr und Besteck ausgestatteten Küchen können sich die Pilger ihre Mahlzeiten jedoch jederzeit selbst zubereiten. Die Anzahl der Etagenbetten hängt von der Größe der Herberge und der Anzahl der Schlafräume ab. Die Aufnahmekapazität schwankt zwischen vierzehn und sechzig Plätzen. Die recht harten Matratzen wie auch die länglichen Kopfkissen sind gummiert. Beim Einchecken müssen Pilgerpass und Personalausweis vorgelegt werden. Dann erhält jeder den Stempel in den Pilgerpass sowie eine Cellophantüte mit Bettlaken und Kissenbezug aus papierartiger Gaze. Matratzen und Kissen müssen selbst bezogen sowie am nächsten Morgen über den Hausmüll entsorgt werden. Die Bezüge sind nur in den privat geführten Herbergen aus Stoff, was den höheren Übernachtungspreis rechtfertigt. Für eine Zudecke ist jeder selbst verantwortlich. Die Wanderschuhe bleiben immer draußen. so dass es auf Socken in die Schlafräume geht. Meist gibt es einen separaten Raum für die Schuhe. Das Licht wird um zweiundzwanzig Uhr gelöscht. Ab dann herrscht Bettruhe.

Das Prozedere lerne ich zum ersten Mal in der Albergue Santa Anna kennen. Dort erledigt die Herbergsleiterin (hospitalera) die Formalitäten in dem kleinen Büro. Die Wand neben ihrem Schreibtisch ziert überraschenderweise ein aus Mosaiksteinen zusammengesetztes Porträt des Revolutionärs Che Guevara, welches die früheren Bewohner des Hauses zurückgelassen haben. Die Raumsituation in der kleinen Herberge ist sehr beengt. Alles verteilt sich auf vier kleine Räume.

Gegen achtzehn Uhr brechen Julia, Monika und ich auf. Über steile Treppen und schmale Wege geht es zu der am Wasser gelegenen Stadt hinunter. Der Ort mit seinen pittoresken Gassen und alten Gebäuden umschließt einen mit Restaurants und Bars bestückten Platz. Spanische Lebensweise überall. Paare und Gruppen flanieren durch die Straßen, auf dem Platz spielen Kinder Stierkampf. Unablässig rennen sie mit einem auf einen fahrbaren Untersatz montierten künstlichen Stierkopf gegeneinander an, juchzen und retten sich schreiend auf Absperrgitter, die wohl noch von der letzten fiesta übriggeblieben sind. Wir setzen uns in ein Restaurant und lassen uns von der Küche verwöhnen. Das muntere Treiben ist noch in vollem Gang, als wir kurz vor zweiundzwanzig Uhr die Rechnung bestellen. Die meisten Restaurants füllen sich erst jetzt.

In die Herberge liegt der Großteil der Pilger schon in den Betten. Punkt zweiundzwanzig Uhr erscheint die hospitalera und löscht das Licht.

Wider Erwarten sind Gemeinschaftsunterkünfte viel besser als ihr Ruf. In den Schlafsälen entfällt die Geschlechtertrennung, in Duschen und Toiletten nicht. Offene Fenster sorgen für genügend frische Luft. Dass jemand schnarcht, ist eher die Ausnahme. Vielleicht bekommt man es aber auch nur nicht mit, wenn man selbst schläft.

Fragen beantwortet die hospitalera jederzeit gern und gibt entsprechende Hilfestellungen bei Problemen jeglicher Art. Ihre soziale Kompetenz ist sehr bemerkenswert.

Mittwoch, 19.07.2023 / Pasaia - San Sebastian (6 km)

Kaum dringt um sechs Uhr das erste Tageslicht durch das Fenster des Schlafsaals, springen auch schon die ersten Pilger aus den Betten, duschen und packen ihre Sachen. Mir kommt es so vor, als hätte ich die Nacht über lediglich gedöst. Sich erfrischt zu fühlen, ist anders. Der erste Tag war körperlich wohl doch anstrengender als gedacht.

Eine Stunde später brechen Julia, Monika und ich in Richtung San Sebastian auf. Um sicher zu gehen, hatte ich außer für Irun auch dort bereits die Unterkunft von zu Hause gebucht.

Die beiden Frauen haben sich gegen eine Übernachtung in dem ebenso teuren wie mondänen Badeort entschieden, weshalb die heutige Etappe nur für mich kurz ausfällt.

Zunächst einmal muss in Pasaia der Oiartzun Ibaia überquert werden. Wie bereits gestern Abend, geht es zunächst zum Hafen hinunter. Am Pier wartet ein kleines Fährboot auf Passagiere. In nicht einmal zwei Minuten bringt es uns auf die andere Seite des Flusses. Nur das Steuerhaus ist überdacht; die Passagiere sitzen auf Bänken im Freien.

Rechter Hand sieht man zwischen steilen Hängen das nahe Meer. Der Fluss gleicht in den frühen Morgenstunden einem dunklen Spiegel. Lediglich die Wellen des Bootes kräuseln seine Oberfläche. Noch versteckt sich die Sonne hinter den Bergen.

Auf der anderen Seite des Flusses liegen der Yachthafen sowie Werft- und Fischereigebäude. Vorbei geht es an einer am Kai gelegenen großen Halle, deren Wandverzierung darauf hinweist, dass hier historische Segelschiffe in Originalgröße nachgebaut werden. Hinter der Halle windet sich der caminoals schmale Treppe auf der dem Meer zugewandten Seite den Berghang hinauf. Es kommt mir so vor, als wollten die Stufen kein Ende nehmen. Ohne Frühstück lässt meine Kondition schnell zu wünschen übrig.

Nach dem kräftezehrenden Aufstieg führt der Weg in einem moderaten Auf und Ab durch eine von Buschwerk und Bäumen bestandene Landschaft. Das Verlangen nach einem Kaffee wird mit jedem Schritt größer. Erst nach einer weiteren halben Stunde taucht zwischen Bäumen ein selbstgemaltes Schild auf, dass auf ein Anwesen mit Übernachtungsmöglichkeit hinweist. Bestimmt kann man dort frühstücken. Auf einer Wiese neben dem Zufahrtsweg bauen zwei junge Männer ihr Zelt ab. Das zweistöckige, in einem parkähnlichen Grundstück gelegene Gebäude mit Vorbau strahlt Behaglichkeit aus. Zahlreiche Blumentöpfe und eine alte Weinpresse gruppieren sich um eine Terrasse mit Tischen und Bänken. Kaum haben wir Platz genommen, kommt ein weißhaariger Mann mit Vollbart aus dem Haus und fragt auf Deutsch, was er uns bringen kann. Später erfahren wir, dass er in Stuttgart geboren wurde, in Prag aufwuchs und auf verschlungenen Pfaden hierher gelangte.

Das Haus mit dem Namen Wiako Labea gehört zur Organisation der Twelve Tribes, einer weltweit verbreiteten Gemeinschaft. Ihre Mitglieder verstehen sich als Verfechter eines unverfälschten, eines Urchristentums und sprechen deshalb nicht von Jesus, sondern nur von Joshua. Privateigentum lehnen sie ab und gestalten ihr Leben im Kollektiv. Ihre Kinder unterrichten sie selbst. Ursprünglich stammt die Bewegung aus Tennessee im Südwesten der USA.

Abb. 6: Herberge der Twelve Tribes zwischen Pasaia und San Sebastian

Der alte Mann klärt uns beim Frühstück darüber auf, dass die Twelve Tribes in der Altstadt von San Sebastian das Yellow Deli besitzen, eine Kombination aus Bar und Restaurant, das er nur wärmstens empfehlen könne, sowie ein weiteres Domizil mit Übernachtungsmöglichkeit in Orio, einige Kilometer hinter San Sebastian. Als wir die Rechnung verlangen, wehrt er ab. Außer im Yellow Deli arbeiten sie auf Spendenbasis. Jeder Gast gibt einfach das, was es ihm wert ist. Steuerlich betrachtet bestimmt von Vorteil. Bei der Verabschiedung gesellt sich eine weißhaarige Frau zu ihm. Ob die beiden Alten den Betrieb allein bewirtschaften?

Gemeinsam mit uns bricht eine Spanierin auf, die hier die Nacht verbracht hat. Mit der Gitarre, die sie zusätzlich zum Rucksack in einem Koffer trägt, verdient sie sich das notwendige Geld für den Jakobsweg. In San Sebastian wird sie auf den Straßen und Plätzen so lange spielen, bis es wieder für einige Tage reicht. Nach einer Weile bleibt sie zurück und winkt uns zum Abschied.

Bis San Sebastian bedeckt ein lichter Wald die Bergrücken. Ganz unvermittelt rückt nach einer knappen Stunde die weite Bucht von San Sebastian ins Blickfeld. Im Baskischen wird die Stadt Donostia genannt. Zum Hinterland begrenzt eine mächtige Bergkette den mondänen Badeort. Viele betrachten San Sebastian als die schönste Stadt am Golf von Biskaya.

Abb. 7: Blick von Osten auf San Sebastian

Über einen steilen Pfad geht es einen Berghang hinab. Auf dem Weg ins Stadtzentrum kehren wir im Yellow Deli ein. Die Fruchtsäfte sind tatsächlich grandios, wenn auch nicht gerade preiswert. Zu empfehlen ist vor allem der alkoholfreie Piña Colada. Auch hier ist das Personal recht alt.

Bevor Julia und Monika sich an der Uferpromenade von mir verabschieden, machen wir noch einige Fotos. Wer weiß, ob und wann man sich wiedersieht?

Es ist noch nicht einmal elf Uhr, als ich zwei Straßen hinter der Promenade mit den Luxushotels und dem breiten Sandstrand La Choncha im Hotel A Room in the City einchecke. Die Lage des Hotels ist einmalig. Zum stolzen Preis von knapp siebzig Euro erhält man einen Platz in einem Etagenbett. Der Luxus beschränkt sich auf richtige Bettwäsche und Kojen, die mit Vorhängen und Leselampen ausgestattet sind. Wäschewaschen ist in allen Räumen untersagt. Ein Innen- und Außenbereich mit Tischen und Stühlen steht zur gemeinschaftlichen Nutzung zur Verfügung.

Am frühen Nachmittag spaziere ich über die breite Uferpromenade, vorbei an den langgestreckten Stränden La Choncha und La Ondaretta, die von einer Felsnase getrennt und durch eine kleine vorgelagerte Insel zum Meer hin abschirmt werden, zur westlichen Seite der Bucht. Es zieht mich zu den Windkämmen (Peine del Viento) von Eduardo Chillida.

Abb. 8: Windkämme von Eduardo Chillida an der Bucht von San Sebastian

Die 1977 im Uferbereich auf schroffen Felsen in einer sehr aufwändigen Aktion installierten Vierkantstäbe, die eher an Adlerkrallen als an Kämme erinnern, haben in den vergangenen Jahrzehnten stark Rost angesetzt. Für einen der drei Kämme, der einen Steinwurf vom Ufer entfernt auf einem Felsen steht, war die logistische Herausforderung beim Transport besonders groß. Der Ingenieur José María Elosegui löste das Problem, indem er für den immerhin dreizehn Tonnen schweren Kamm eine mit Schienen bestückte Brücke errichten ließ. Das gleiche Verfahren kam auch beim hinteren Kamm zum Einsatz. Zum Transport der Skulpturen zu den Brückenköpfen wurde ein Helikopter benötigt.

Auch der mit rotem Granit gepflasterte Platz vor den Kämmen ist sehenswert. Eigentlich müsste man hörenswert sagen. Immer wieder beugen sich Besucher über faustgroße Aussparungen im Boden. Bei starker Brandung sollen meterhohe Fontänen aus ihnen herausschießen. Heute erzeugt der leichte Wellengang allerdings nur dumpf gurgelnde Geräusche.

Ein weiteres künstlerisches Highlight ist der Fußgängertunnel durch den ausladenden Felssporn, der beide Strände trennt. In Kooperation mit dem Architekten Barrutieta schuf der Künstler Goikoetxa ein Erlebnis der besonderen Art, indem er die gewölbte Tunneldecke mit farbigen Platten versah, die den Passanten das Gefühl vermitteln, sich auf dem Meeresboden zu befinden und dabei nach oben zu blicken.

Was wäre San Sebastian ohne seine zahlreichen Bars und Restaurants mit den legendären pinxos, diesen auf kleinen Weißbrotscheiben servierten Köstlichkeiten. Der Fantasie der Köche sind bei den Kreationen aus Eiern, Gemüse, Wurst, Fisch und Meerestieren keine Grenzen gesetzt. Mit einem Glas Wein oder einem frisch gezapften Bier ergeben die pinxos ein vorzügliches Abendessen.

Gegen 21 Uhr kehre ich ins Hotel zurück.

Donnerstag, 20.07.2023 / San Sebastian - Zumaia (31 km)

Als ich das Hotel kurz nach sieben Uhr verlasse, hängt eine dichte Wolkendecke über der Bucht. Auf der Uferpromenade sind lediglich ein paar Jogger unterwegs, ansonsten schläft die Stadt noch. Noch konkurriert das matte Licht der Laternen mit der einsetzenden Dämmerung. Auch von dem ansonsten so dominanten Geschrei der Möwen ist noch nichts zu hören.

Kurz vor den Windkämmen führt der camino in Höhe des Tennisclubs an der Westflanke der Bucht steil den Berg hinauf, oberhalb der letzten Häuser nur noch als steiniger Pfad. Über eine von Farnkraut überwucherte Bergkuppe erhasche ich einen letzten Blick auf San Sebastian.

Mit einem steten Auf und Ab verläuft der camino von nun an als Höhenweg direkt an der Küste entlang. Überall blühen Hortensien in zartem Blau oder Altrosa. An einem Zaun stehen eine Thermoskanne und Kekse auf einem Brett. Ein handgeschriebener Zettel weist darauf hin, dass Pilger sich gratis bedienen können. Eine Pilgerin fragt mich, ob ich nicht auch zugreifen möchte. Doch noch ist es für eine Rast zu früh, weshalb ich dankend abwinke. Nach einer Weile geht es wieder bergab. Rechter Hand liegt neben der Straße der Hof der Twelve Tribes. Hier haben vermutlich Julia und Monika übernachtet. Eine ältere Frau kehrt den Boden und winkt zu mir herüber.

Hinter dem Hof folgt der camino bis auf wenige Ausnahmen der steil abfallenden Küste. Würde man das Meer ausblenden, könnte man genau so gut in einer Bergwelt mit Almwiesen sein. Aufgelockert von niedrigen Bäumen, Baumgruppen, Buschwerk oder mit roten Ziegeln gedeckten Häusern, bestimmen immer wieder sattgrüne Wiesen das Landschaftsbild. An Stellen mit großem Gefälle bedecken Steinplatten den schmalen Weg, den überwiegend Kiefern oder kniehoher Farn säumen. Eidechsen huschen über den Weg. Schmetterlinge lassen sich auf Blüten nieder und schlürfen den Nektar. Gelegentlich führt der camino jedoch auch über Asphaltstraßen. Auf einem Straßenabschnitt steht in großen weißen Lettern „Mendietan Ez“, daneben Symbole und Akronyme. Die Bedeutung erschließt sich mir nicht. Derlei auf den Asphalt gemalte Sprüche finde ich häufiger. Abgesehen von der sich gelegentlich ins Blickfeld schiebenden Autobahn, die in der bergigen Landschaft wie ein Fremdkörper auf mich wirkt, überzeugt der camino immer wieder durch wunderbare Fernblicke.

Abb. 9: Kapelle San Martin kurz vor Orio

Ein Höhepunkt auf dem Weg ist die Kapelle San Martin. Von ihrer ehemaligen Umfassungsmauer steht nur noch ein kleiner Rest.

Ein äußerst gepflegter Garten voller blühender Büsche umgibt die Kapelle, deren Türen leider verschlossen sind. Auch wenn sie direkt neben der Landstraße liegt, lädt die Kapelle zum Verweilen ein.

Nach einem Kilometer erreiche ich Orio. Der Ort erscheint mir ideal für eine kurze Rast. Auf einem teilweise überdachten Platz setzte ich den Rucksack ab und gönne mir den ersten Kaffee des Tages und ein Croissant.

Mit seinen kleinen Gassen und einer trutzig anmutenden Kirche strahlt das in eine hügelige Landschaft eingebettete Orio etwas Beschauliches aus. Eine Kaimauer, hinter der ein Fluss gleichen Namens träge dahinfließt, begrenzt seine westliche Flanke. Einen Kilometer weiter mündet er hinter einer hohen Autobahnbrücke ins Meer. Der Gezeitenhub macht sich bis hierhin bemerkbar. Zurzeit ist Ebbe. Auf der anderen Flussseite liegen im schlammigen, von Steinen und Unrat übersäten Uferbereich Kähne, Nachen und kleine Motorboote im Schlick. Stillgelegte Werften deuten darauf hin, dass Schiffsbau und Fischfang einst die Wirtschaftsgrundlage von Orio ausmachten.

Auf der anderen Seite des Flusses setze ich meinen Weg später fort. Er führt unter der das Tal auf hohen Pfeilern überspannenden Autobahnbrücke hindurch. Kurz dahinter geht es steil einen Berghang hinauf. Kein Meerblick entschädigt für den schweißtreibenden Aufstieg, da der camino nun auf der dem Meer abgewandten Seite verläuft.

Auf der Bergkuppe folgt das große Aha-Erlebnis. Gesäumt von einem ebenso langen wie breiten Sandstrand taucht in der Ferne Zarautz auf. Selbst die dahinter auf einer Halbinsel liegende Stadt Getaria ist von hier aus zu sehen.

Abb. 10: Blick auf Zarautz mit Getaria im Hintergrund

Beim Anblick des langgezogenen Sandstrandes verstehe ich plötzlich, warum der Camino del Norte gelegentlich auch als Camino de la Playa bezeichnet wird.

Der Strand von Zarautz teilt sich in zwei Abschnitte. Der vordere geht in einen grünen Dünengürtel über, während der hintere von modernen mehrstöckigen Bauten bestimmt wird. Diese wollen so gar nicht in die Landschaft mit der breiten Bucht passen. Vor hundert Jahren standen hier vermutlich nur einige Fischerhütten.

Seit Beginn der Pilgerreise ist der Himmel bedeckt, so auch heute. Nur selten kommt die Sonne hervor. Wie schön es wäre, hier bei Sonne über den Sandstrand zu laufen und die Tristesse des Ortes ausblenden zu können. Ein Lichtblick ist der am Ortsausgang in Form eines aus goldgelben Quadern erbaute Palast Narros Jauregia (oder Palacio de Narros) auf. Auf einer Seite flankiert ihn eine ausladende Terrasse mit Gastronomie, auf der anderen ein Denkmal für ertrunkene Seeleute in Form einer großen, von Rost überzogenen Ruderpinne. Hinter dem Denkmal endet der Ort mit einem von einer hohen Mauer gesäumten Hafenbecken. Es ist Ebbe. Ein Großteil der Boote liegt auf dem Trockenen. Der hintere Bereich, mit einem derzeit verwaisten Sprungbrett, wird bei Flut als Schwimmbad genutzt. Momentan laufen Kinder über den Schlick und spielen mit einem Ball.

Auf dem Meer zieht ein mit zehn Ruderern und einem Steuermann besetztes Boot vorbei. Ähnliche Boote habe ich bereits in Pasaia gesehen. Rudern scheint ein baskischer Nationalsport zu sein.

An diesem Ende der Bucht erstrecken sich flache, langgestreckte Felsen mit einer eigenartig vertikalen Schichtung vom Strand ins Meer. Die wie Rippen wirkenden Felsen sind kaum breiter als zwanzig Zentimeter. Sie stellen ein Naturphänomen dar, Rasa Mareal oder Flysch genannt. Es ist das Resultat der Auswaschung weicherer Gesteinsschichten durch die beständige Meeresbrandung. Das Phänomen ist typisch für diesen Teil der baskischen Küste.

Hinter dem kleinen Hafen verläuft der camino kilometerlang neben der Küstenstraße N 634 über eine breite, auskragende Promenade bis nach Getaria. Ein Band mächtiger Steinquader schützt die einige Meter höher gelegene Straße samt Promenade gegen das Meer. Das ungewohnte Gehen ohne Steigung und Gefälle macht Spaß. Die Monotonie in der Abfolge der Schritte lässt Gedanken aufsteigen, welche die körperliche Anstrengung ansonsten verhindert hätte.

Schon von Weitem fällt neben dem Kirchturm von Getaria auch eine merkwürdige Formation ins Auge. Beim Näherkommen entpuppt sie sich als geflügelte Siegesgöttin auf einem trutzigen Sockel, die einer Gallionsfigur nachempfunden ist. Mit diesem Denkmal erinnert der Ort an den 1486 hier geborenen Kapitän Juan Sebastian Elcano, dem es 1522 als Erstem gelang, die Welt zu umsegeln. Eigentlich hätte der Ruhm dem Seefahrer Fernando Magellan zugestanden, wäre dieser nicht nach der Umrundung Südamerikas auf den Philippinen getötet worden. Im Inneren des Sockels erinnert eine Inschrift an die wenigen überlebenden Matrosen aus Spanien, Griechenland, Portugal und Deutschland, die mit ihm zurückkehrten.

Getaria liegt wie ein Sattel zwischen dem bergigen Hinterland und der ins Meer hinausragenden Landzunge, auf deren höchsten Punkt ein alter Wehrturm steht.

Die Altstadt von Getaria ist sehr pittoresk. Eine von Geschäften, Bars und Restaurants flankierte Gasse führt zur gotischen Kirche Iglesia de San Salvador, die unterhalb eines Hügels mit Wehrturm liegt. Durch ihre Lage am Fuß des Hügels trägt die Kirche den Zusatz Inclinada, die Schrägstehende. In ihr wurde der berühmte Seefahrer Elcano getauft, dessen Abbild auf dem Platz zu Beginn der bereits erwähnten Gasse steht. Auf dem Sockel ist sein Nachname allerdings mit k geschrieben, vermutlich die baskische Variante. Sein rechter Fuß ruht auf einer Taurolle, in der rechten Hand hält er eine Ruderpinne. Sein Blick schweift in die Ferne.

Der einzige Wermutstropfen Getarias - aber das gilt für viele Orte an der Nordküste Spaniens - ist der industriemäßige Charakter der ausladenden, im vorletzten Jahrhundert angelegten Hafenanlage mit ihren langgestreckten Hallen.

Noch ist es zu früh, um an eine Übernachtung zu denken. Weiter geht es also durch das bergige Hinterland über schmale, mit Bruchsteinen gepflasterte Wege und lehmige Pfade in Richtung Askizu. Ab und zu tauchen Apfelbaumplantagen in dem von eingezäunten Wiesen geprägten hügeligen Gelände auf. Aus den kleinen, nicht zum Verzehr gedachten Äpfeln wird der in ganz Nordspanien beliebte Cidre hergestellt.

In Askizu ist die Herberge wegen Renovierung geschlossen. Andere Übernachtungsmöglichkeiten gibt es in dem kleinen Ort nicht. Dann also weiter in Richtung Zumaia. In der großen, an der Mündung des Urola gelegenen Stadt wird es hoffentlich keinen Mangel an Schlafplätzen geben.

Am Ortsausgang von Askizu laufen in einiger Entfernung zwei Pilger auf der Straße, die aufgrund der Farbe der Rucksäcke und einem weißen Hut nur Julia und Monika sein können. Ich beschleunige meine Schritte. Sie sind es wirklich. Die Überraschung über das unverhoffte Wiedersehen ist groß. Beide glauben kaum, dass ich sie trotz meines Stopps in San Sebastian eingeholt habe. Augenzwinkernd fragen sie mich, ob ich vielleicht den Bus genommen hätte, denn immerhin waren sie durch ihre Übernachtung im Bauernhof der Twelve Tribes kurz vor Orio schon knapp zehn Kilometer weitergekommen als ich.

Gemeinsam setzen wir den Weg fort. Bis Zumaia sind es nur noch vier Kilometer. Nach einiger Zeit gewährt eine Lücke in der Hecke, welche die Straße begrenzt, einen ersten Blick auf das tief unter uns im Tal gelegene Zumaia, genauer gesagt, auf eine lange Mole, an deren Flanke der Urola ins Meer mündet. Die Steilküste zieht sich kilometerlang in die Ferne, bis sie als bläulich gezackte Linie und von weißen Wolken bekrönt mit dem Horizont verschmilzt. Natur ist doch etwas Wunderbares. Erneut bedauere ich, an solch einzigartigen Orten nicht länger verweilen zu können.

Abb. 11: Mündung des Urola bei Zumaia mit Blick auf die Steilküste