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Jakob Nain

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Beschreibung

Es ist die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg. Eine junge Frau aus einem kleinen Dorf sitzt am Flughafen und wartet auf ihren Flug in die USA. Während sie wartet, erinnert sie sich daran, wie sie an diesen Ort gekommen ist. Sie wird auswandern.

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Seitenzahl: 237

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Jakob Nain

WeiterWeg

Ein Rosinen Roman

© 2023 Jakob Nain

Website: https://hewenderoth.wordpress.com

Covergrafik von: HelMUT WendeROTH

ISBN

Hardcover 978-3-347-99977-0

E-Book 978-3-347-99978-7 Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Jakob Nain c/o HelMUT WendeROTh, Verberger Straße 18, 47800 Krefeld, Germany.

 

Jakob Nain

WeiterWeg

Ein Rosinen Roman

Inhalt

Cover

Halbe Titelseite

Urheberrechte

Titelblatt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Danke

weiter weiter weg weg

Cover

Urheberrechte

Titelblatt

Kapitel 1

Kapitel 8

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Abend. Vater und Söhne essen, bis sie satt sind.

Zwei Stücke Fleisch bleiben liegen.

Beide Söhne schauen auf das Fleisch.

„Nimm du zuerst, ich kann warten.“

„Nein, du nimmst zuerst, du bist älter.“

„Nein - du zuerst.“

„Nein - nimm du zuerst.“

„Nein – du.“

„Nein – du.“

„Du.“

„Du.“

Dann nimmt der Jüngere das größere Stück und isst, so schnell er kann.

„Also wenn ich als erster genommen hätte, dann hätte ich aber das kleinere Stück gewählt“, sagt der Ältere.

„Na Prima, dann ist ja alles in Ordnung, dann hast du ja bekommen, was du willst“, lacht der Jüngere.

Also dann. Ran an die großen Stücke.

Grete sitzt auf einem Koffer.

„Langsam, Grete. Das ist nicht wahr. Das ist doch alles nicht wahr. Oder? Ruhig bleiben. Das ist wahr. Das ist alles wahr. Sehr wahr. Und es ist jetzt. Genau in diesem Moment. Wahr.“

„Es ist Frankfurt. Es ist der Flughafen. Und du sitzt hier auf deinem Koffer. Das ist unglaublich.“

Und sie denkt: „Warum schreie ich nicht? Es ist doch zum Schreien.“

Der Mann schreit auch nicht. Er hat Übergewicht. Er steht am Schalter und wird die Tickets kaufen. Die Tickets sind bestellt. Er hat sie reserviert. Mit dem Telefon. Er hat angerufen und Englisch gesprochen. „Two Tickets“, hat er gesagt, auf Englisch. Einfach so.

So einfach ist das. Und jetzt sitzt Grete hier auf einem Koffer und wartet auf diesen Mann. Auf diesen Mann, der sie jetzt schon betrachtet, als hätte er sie gekauft. Sich selbst ein Geschenk gemacht, dass er schon sehr bald auspacken wird. Denkt er.

Das denkt er sich aber auch bloß so. Und falsch denkt er das. Sie ist nicht so eine. Und wenn sie so eine wär, wär er keiner von denen, auf den sie warten würde.

Er hat nur die Tickets bestellt. Und bezahlt. Und jetzt steht er am Schalter und holt sie ab. Und dann dreht er sich um und lacht.

„Wie kann ein Mensch nur so breitbeinig lachen“, denkt Grete.

Und: „Mein Gott, wie bin ich bloß hier hingekommen, was hab ich nur gesagt, was hab ich nur getan, was will ich hier? Ich werde gleich in eines dieser Flugzeuge steigen. Die sehen zwar sehr schön aus und sehr neu.

Doch so neu hatte ich mir mein neues Leben nicht vorgestellt. So neu nicht“, denkt sie auch.

Und dann muss Grete an Hilde denken. Ihre kleine Schwester Hilde mit ihrer unvergleichlichen Hunsrücker Hochwald-Naivität. Ihre Schwester, die, vorlaut wie immer, auch gleich hatte mitkommen wollen nach Amerika. Ganz selbstverständlich, laut und ohne Zweifel, ohne jeden Zweifel.

Dann nach zwei Tagen war sie schon ein wenig leiser geworden beim Mitkommen in die weite, weite Welt und hatte immer weniger von der großen Reise gesprochen.

Nach zwei Wochen, weil die Schwester energischer fragte und skeptischer zweifelte, hatte sie schließlich gesagt: „Ich käm ja mit, ganz sicher, wenn nur das Oberdorf auch mitkäme.“ Und nach einer kleinen Pause, in der sie lachte, als hätte sie sich selber beim Flunkern erwischt: „Gut, das halbe Oberdorf geht auch: Tante Christa, Tante Berta, Onkel Heinz, Ernst und Albert, Adalbert Otto und Carola und Iris …“

„Du wärst nie mitgekommen“, dachte Grete.

Das wusste sie. Ihre kleine Schwester war nicht geschaffen für Flughäfen und das galante Sitzen auf Koffern und Warten auf dicke Männer, die Tickets kaufen und dabei tun, als seien sie keine Männer vom Hunsrück, aber Herren von Welt.

Und weil sie das wusste, nahm sie nun ihr silbernes Taschenspiegeletui aus ihrer Handtasche und tat das, worauf der Kerl, der schon seit Minuten immer wieder in ihre Richtung und auf ihre Beine starrte, bestimmt gespannt gewartet und sehr gehofft hatte.

Sie wusste so genau, was sie tat in diesem Moment und nahm langsam, aber nicht zu langsam erst den Spiegel vor den Mund und dann den Lippenstift. Sie kontrollierte ihren Gesamteindruck im Spiegel mit einem kurzen Blick und zog sich innerlich sehr nervös und äußerlich sehr exakt die Lippen nach.

Schaut nur her. Kerle. Männer. Herren.

Ich sitze hier. Grete W. aus dem Hunsrück.

Ich bin nicht euer Liebchen. Bin kein Kerleliebchen, kein Männerliebchen, kein Herrenliebchen und kein Amiliebchen.

Ich bin hier und warte auf diesen dicken Kerl dahinten, der die Tickets kauft. Ich werde mit ihm nach Amerika fliegen, nach Chicago, Illinois und dann weiter auf seine Farm. Ich werde für ihn arbeiten, aber er wird meine Unterwäsche nicht zu sehen kriegen. Und auch sonst nicht viel von mir und wenn’s mit dem Teufel zugeht.

Und ihr werdet auch nicht mehr zu sehen kriegen, auch wenn ihr beim Vorbeigehen eure Hälse noch so reckt und die Köpfe wie Truthähne seltsam verdreht, euch mit einem Mal die Schnürsenkel binden müsst oder mit euren Taschentüchern ständig über eure Lackschuhe putzt, nur weil ihr euch nicht traut, einfach so und ohne Ausrede, einen kleinen Blick auf mich in meiner Pracht zu wagen.

Ausreden gibt es immer, um Gelegenheiten zu schaffen, einem Mädchen wie mir unter den Rock zu gucken, wenn sie auf einem Koffer sitzt und gelegentlich nebenbei mit den Beinen wippt, und im Übrigen, meine Herren, längst eine Dame geworden ist oder mindestens eine Frau.

Ich habe euch längst durchschaut, euch alle. Kerle, die sich wie Männer benehmen. Und Männer, die gerne Herren wären. Auch wenn sie in die Anzüge und Hüte, die sie heute schon tragen und dabei so seltsam selbstverständlich tun, erst noch irgendwann mal reinwachsen müssen.

Irgendwann oder nie.

•••

Ihr seid fast alle gleich und irgendwie genau wie mein Bruder Anton, der mir so gerne zuschaut, wenn ich aus dem Badezimmer komme. Der rein zufällig immer dann Zeit hat, wenn ich in ein Handtuch gewickelt oder mit einem der feinen Leintücher umhüllt bin, die mir, seit ich dreizehn Jahre alt bin, Jahr für Jahr zum Geburtstag mit ernsten Mienen von Verwandten feierlich fürdie Aussteuer überreicht wurden und wahrscheinlich auch in Zukunft überreicht worden wären.

Das ist ja überhaupt nicht schlimm, und dass ich mir die Leintücher, wenn ich alleine mit ihnen und mir bin, gerne zum weichen Prunkgewand der Königin der Nackttänzerinnen schönrede, auch nicht.

Ich drehe mich in ihnen um mich selber, genau so wie es Josephine Baker mir und dem Rest der Welt zum Nachahmen empfohlen und vorgemacht hat, flöte fast wie nebenbei und weil ich mir das ganz alleine beigebracht habe: „You bring out the savage in me.“

Du bringst das Wilde in mir zum Klingen, das Wilde, aus dem Urwald, du bringst es zum Tanzen und Singen und lockst es aus mir heraus, du bringst mein Blut zum Kochen, nur du mein Freund, du kennst mich so gut, du hast herausgefunden, wie wild ich werden kann.

Wozu sind Spiele denn sonst da und Haarbürsten, die in meiner Hand wie Mikrofone aussehen, wenn nicht zum ‘Josephine-Baker-Spielen-Üben’.

Und Anton sitzt da und versteht kein Wort und singt um so lauter mit und freut sich und lacht und versteht alles und nichts, schon gar kein Wort Englisch.

Und dann beeilt er sich und behauptet glatt das Gegenteil im schlechtesten Englisch der Hunsrücker Welt. Den Satz „I know what dau meanst“ schiebt er in seiner unnachahmlichen Art aus dem Mund, wie eine Dampflokomotive ihr Schnauben und Pfeifen, als wollte sie sagen: „Steigen Sie ein, warten sie nicht, bis der Zug abgefahren ist.“

Und als wolle er sagen: „Ich weiß genau, wovon du sprichst, Schwester, ich bin dein großer Bruder und kenne sie längst, die weite Welt. Den Hunsrück, den Hochwald, die Straßen und die Mosel.“

Die Lastwagen auf den großen Straßen kommen aus Belgien und wollen nach Wuppertal, dafür sind die Straßen ja da.

Die großen Schiffe auf der Mosel kommen aus Frankreich und die haben Nase schon halb im Rhein, weil sie warten auf Koblenz und dann geht es weiter in den Norden bis nach Rotterdam zum Meer. Habe ich alles schon gesehen und davon geträumt oder gehört, im Radio.

Radio wird viel gehört in den Gasthäusern an der Mosel und oft und gern und dann aufgepasst und an den richtigen Stellen mitgelacht. Und ich hab mir längst genau gemerkt, wie man es macht, das Aufpassen und das Mitlachen an den richtigen Stellen. Das Radio Hören braucht niemand zu lernen, erstens ist es leicht und zweitens kann ich es sowieso schon.

Und jetzt tanz für mich, „littel sister“, und sing mir deine Lieder auf Englisch vor, denn ich weiß genau, was du meinst und verstehe kein Wort. Weil es mir gefällt, und dir auch, wippe ich mit dir im Takt, kleine Schwester im Leintuchgewand.

Dann siehst du überhaupt nicht mehr klein aus und mich nur noch von fern. Genau aus dieser Ferne erinnerst du mich, weil ich mir alles so gut merken kann, an das kleine Mädchen von damals, mit ihren schwarzen festen Locken und dem hellwachen Blick.

Meine kleine Schwester Grete, die so schnell gewachsen und frech geworden ist, bis sie mir über den Kopf spucken wollte und konnte, lange bevor mich das freute.

Und wenn dann die Musik immer lauter und wilder wird, aus dem Radio raus, und wenn Grete immer lauter und wilder singt und tanzt und sich dreht und wenn dann die Tür energisch, zwar von Mutters Hand, aber unpassend und überraschend, also fast wie von Geisterhand, geöffnet wird, dann errötet der Bruder und schämt sich tatsächlich für einen kleinen Moment.

„Wofür schämt der sich nur?“, denkt die Mutter wieder mal besorgt und bevor sie „Du Weibsmensch“ zischt und „Mach sofortdie Musik aus oder wenigstens leiser" und „Hör auf mit dem Scheißdreck, hast du nichts zum Schaffen, die Leute bleiben ja schon auf der Straße stehen“.

All diese, so und so ähnlich, tausendmal gesagten Sätze eben, die Mütter so denken und sagen, in kleinen Dörfern im Hunsrück und anderswo in der großen weiten Welt.

Grete lacht und dreht sich deutlich langsamer. Wie gerne würde sie die Mutter jetzt umarmen. Sie auch einmal einhüllen in dieses duftende Tuch und die verlockende weite Welt. Sie würde doch so gerne einmal, nur ein einziges winziges Mälchen, das Wilde auch in der Mutter zum Vorschein bringen und, wenn sie schon dabei ist, das Zarte gleich mit.

Doch sie traut sich nicht recht ran an diese traurige, kleine, schroffe Frau, die sie so liebt und die ganz sicher den weltbesten Himbeerpudding kocht und den weltbesten Rosinenkuchen backt, weil sie die Geheimnisse von Eiern im Pudding und Butter im Kuchen kennt, wie sie selber immer wieder sagt, wenn sie etwas Wichtiges an ihre schwarzhaarige Tochter weitergeben will.

Sie versteht allerdings nicht, warum zahme und wilde Mütter, auch wenn sie noch so gut kochen und backen können, im Hunsrück einfach und jederzeit alle Türen im Haus aufmachen dürfen.

Egal wer dahinter steckt, egal was ihre Töchter hinter der Tür gerade anhaben und vorhaben und was nicht.

Egal was und für wen und mit wem sie gerade tanzen und doppelt egal, wenn ihre Gretetöchter dann noch so empört und verstört „Mama“ stöhnen und „Kannst du denn nicht einmal anklopfen. Ich bin doch kein Kind mehr, das macht man doch nicht, egal wie gut man auch immer Rosinenkuchen backen und Himbeerpudding kochen kann".

Und dann wird die Mutter doch irgendwie wild und schaut empört, als wüsste sie überhaupt nicht, wovon die Rede ist. Weil ja nicht sie, mit ihrem geisterhaften Reinkommen, sondern die laute Musik, das Leintuch um die frisch gebadete Tochter und derskandalöse Tanz vor dem großen Bruder die Unverschämtheit gewesen ist.

Wenn sie nachher die Treppen herunter steigt zu ihren Romanen, gibt es ein paar kleine geheime Sekunden, in denen sie lächelt.

Weil ihre Grete, ihre älteste Tochter, soviel gemein hat mit den Frauen aus ihren Romanen, mit den wilden Weibern der Tundra, der Garbo, der Knef und der wilden Lulu und mit den 'Hunsrück-Amazonen', die nachts Autorennen über Land fahren, wenn es stimmt, was die Leute so sagen.

Und ach wie gut, dass niemand weiß, ob sie das am Ende nur gar nicht so schlimm findet, oder manchmal selber nicht weiß, ob sogar gut.

Und das wird keiner erfahren. Auch der Vater nicht. Oder doch. Irgendwann vielleicht. Sehr irgendwann. Später.

Beim offiziellen Autorennen der 'Hunsrück-Amazonen' am letzten Samstag im August, da war sie gern dabei am Straßenrand. Ihr roter Seidenschal flatterte im Wind, als die schwarzweiße Fahne geschwenkt wurde, zur Freude der Gewinnerin mit dem silbernen Pokal in der Hand. Sie klatschte wie alle anderen und dachte, so lang der Schal flatterte, ganz für sich allein, ihre sieben Wenn, Wenn, Wenn, Wenn, Wenn, Wenn, Wenn.

Wenn der Vater, ihr Mann, mehr Arbeit hätte und dann auch mehr Geld, und wenn sie dann eine Hilfe im Haushalt hätte, also weniger Arbeit, aber mehr von der Zeit und wenn sie dann noch den Mut hätte zu sagen „Ich will“ und „Das auch noch, das auch" und „Ein Auto" dann auch.

Wenn sie einen Führerschein hätte und das Recht einen Scheck zu unterschreiben.

Wenn die Bank einen Scheck für sie hätte und das Geld für ein Auto passend dazu und wenn es Nacht wäre und das Auto Scheinwerfer hätte und wenn ihr Schal über Nacht blau gewor-

den wäre wie ein Ultramarin und … dann ist sie in der Küche angelangt und setzt sich bitter auf die Bank und nimmt jetzt schon fast böse den Roman in die Hand vor die Augen.

Weil sie weiß, dass sie nicht Nanny Lambrecht ist und bisweilen nur hoffen kann, dass dann, wenn die schwarze Grete Geld aus Amerika schicken wird, irgendwie das Glück kommen wird in ihr kleines Haus und es irgendwann mal wieder aufwärts gehen wird.

Aufwärts im Haus im zweiten Stock hofft Grete wachträumend ganz entschieden verschieden von der Mutter und heftig, dass vieles im fernen Amerika anders sein wird.

Sie hofft auf Türen mit Schlüsseln, von ihr und von innen verschlossen, falls nötig. Auf rücksichtsvolle Personen, die anklopfen werden und dann das „Herein“ abwarten. Und sie macht sich in diesem Moment so gar keine Gedanken darüber, dass dort ja weit und breit kein Bruder sein wird. Sie weiß nicht, und es kümmert sie nicht, für wen und mit wem sie dort tanzen werden wird in dieser Fremde, die ihr jetzt noch so weit weg ist, dass sie weder Bilder hat noch eine Vorstellung davon, wie fremd sie denn sein wird, die Fremde.

•••

Eine fortschrittlich denkende und handelnde Lehrerin lädt ihren Studienfreund aus Ghana in den Unterricht der achten Klasse ein, um die Unterrichtsreihe über afrikanische Kleinstaaten und ihr Verhältnis zur europäischen Entwicklungspolitik durch praktische Erfahrungen und Geschichten zu bereichern. Die Stunde läuft vorbildlich, die Schüler sind begeistert von dem freundlichen, dunklen Mann und wollen ihn fast nicht mehr weglassen, mit ihren vielen Fragen, die sie noch haben. Und als er dann schlussendlich doch weggeht und gerade sein Auto aufschließt, auf der kleinen Straße vor dem Pausenhof, schaut Yvonne ein letztes Mal sehnsüchtig aus dem Fenster und ihm nach, bevor sie mit einem ehrlichen Seufzer sagt: „Ach Frau Schmitz, so schwarz hatte ich ihn mir dann doch nicht vorgestellt.“

 

„Zwo von dein chicken kann ich mitnehmen. Immediately. Sofort. Direkt. No Problem. Bei uns auf der Farm in Amerika gibt es Arbeit satt. Plenty of work, genug zu tun. We always need paar junge Dinger, wenn sie strong sind and not so zimperlich. Die Arbeit nicht nur ansehen, not watch, touch the work, verstehst du, zupacken, wenn’s drauf ankommt und keine Angst, ich mache alles gut.“

•••

Grete sitzt auf ihrem Koffer und weiß selber nicht mehr, wie oft sie diese sechsundsechzig Wörter aus dem Mund des Onkels in den letzten sieben Wochen mit den inneren Gedankenohren in ihrem Kopf wieder und wieder gehört hat.

Der Onkel hatte laut gesprochen und laut gelacht, vor dreieinhalb Monaten, am Sonntagnachmittag um Viertel vor fünf.

Als ob Geburtstag gewesen wäre, wo doch keiner einen hatte. Dann war der Kaffee getrunken, jeder hatte zwei Stücke vom Rosinenkuchen gegessen, zur Feier des Tages.

Der Vater, hastig wie immer, als wäre jemand hinter ihm her. Dieser ewig flüchtige Mann in seinen fahrigen Gesten, aber klar mit seinen wenigen Worten und ständig bereit, jedwedes Gespräch der anderen am Tisch zu zerschneiden. Er hatte den Kuchen gegessen, als sei dies eine, wenn auch ausnahmsweise angenehme, Arbeit, die es zu erledigen galt, und die dann, wie jede Arbeit, die anstand, das vergaß er nie zu betonen, mit Anstand hinter sich gebracht werden musste.

Die Mutter hatte den Kopf nah über den Teller gebeugt und den selbstgebackenen Kuchen hochkonzentriert gegessen. Diesen Rosinenkuchen, den nur sie backen konnte wie keine zweite auf der Welt. Und beim Backen erzählte sie ständig von dem, was sie tat und dabei dachte, als wäre sie Bäckerin und Backlehrerin in einer Person: „Die Butter ist das Geheimnis. Überall da, wo im Rezept Margarine geschrieben steht, musst du Butter nehmen.“

Und dass eine Frau, die ein Kochbuch braucht, keine richtige Frau ist, war auch längst gesagt. Und dass alles, was beim Kochen gilt, beim Backen doppelt zählt, allemal.

Die Rosinen für den Rosinenkuchen werden erst zum Schluss unter den Teig gehoben, damit sie beim Backen nicht absacken, und weil Sonntag ist, kannst du ruhig zwei Hände mehr davon nehmen. Die Butter wird mit dem Zucker, dem Vanillezucker und den Eiern zart gerührt, bis sie schaumig wird. Das siehst du mit der Zeit genau, wann sie schaumig genug ist.

Grete nickte, wenn sie neben der Mutter stand, obwohl sie nicht verstand, wovon die redete, wenn sie vom Mehl und von der besonderen Art, wie man das Backpulver hinzufügen musste, sprach, als sei das das Wichtigste in der ganzen Welt.

Und wieso das Ganze nun mit einer Prise Salz gewürzt wurde, war und blieb ein Geheimnis der backenden Mutter, die längst schon wieder weiter war und über den vorgeheizten Ofen referierte.

Dann liebte Grete ihre Mutter noch einmal doppelt mehr und umarmte sie schnell und dreifach herzlich, auch wenn diese gerade Milch in den Teig gab, und es, vor lauter Aufregung über die aufschäumende Liebe der eigenen Tochter, beim Rum nicht so genau nahm, aber anschließend so lange rührte, bis der Teig schön gleichmäßig durchgemischt war. Das allerdings konnte dauern und wurde im Handumdrehen zum nächsten Geheimnis erklärt.

Dann durfte Grete, nachdem sie sich das Muttermehl der herzlichen Umarmung abgeklopft hatte, die Rosinen unterheben. Das Füllen des fertigen Teiges in die schwere schwarze gusseiserne Kuchenform und das anschließende In-den-Backofen-Stellen glich fast einer Verschwörung der beiden so unterschiedlichen Frauen in der Muttertochterküche.

Wie aus dem Muttertochtergeheimbund am Ende dieser Rosinenwunderkuchen entstand, würde für Grete eines der geheimnisvollstenWeltwunder bleiben, auch wenn der Vater sonntagmittags noch so wichtig, mit verstellter Hans-Maegerlein-Stimme, von den anderen und wichtigeren sieben Weltwundern erzählen konnte, von denen sich Grete vor allem den Koloss von Rhodos merkte, während Anton den Vater unterstützte und seine schwungvollen Reden mit den seltsamsten Geräuschen aus seinem Mund untermalte, die, wollte man dem Vater glauben, genau so wie das original Rundfunkorchester Baden-Baden klangen.

Aber warum um Himmelswillen hatte die Mutter an diesem Sonntag diesen Wunderkuchen, fast verstohlen, wie ein Kaninchen gemümmelt und dabei geschaut wie ein Reh, nur etwas leidender. Ein Leid-Reh, dass längst um den Herbst, die Jäger, die Treibjagd, den Hörnerklang und sein nahendes Ende weiß, als sei es schon von Jägerhand und Schießgewehr dahingefällt, lange bevor es richtig gelaufen und in die Lüfte gesprungen war, wie das den Rehen doch eigentlich gut steht und zu steht.

„Diese Frau im Hunsrück, meine Damen und Herren, zuhause an den Bildschirmen, kennt nicht nur die besten Rezepte für Kuchen und Puddings, sondern sie weiß auch, wie man aus diesen Rezepten eben genau diese guten Kuchen und Puddings macht.“

Das vergaß der Vater nie zu betonen, bei seinen fingierten Heinz-Maegerlein-Fernsehansprachen, von den Augen seines ältesten Sohns Anton erleuchtet und von seinen selig sitzenden Töchtern Mariann, Grete, Thea und Hilde ebenso wild beklatscht wie staunend bestärkt. Vor allem dann, wenn er, während seiner Erzählungen, in den alten Zeiten landete, als er noch jung war und die Mutter gefreit hatte.

Ob die das freute, wenn ihr Mann immer wieder lachend erzählte, dass ihr Rosinenkuchen der Beste vom Dorf war, vielleicht vom ganzen Hochwald, während die fünf Kinder um den Tisch mit vollem Mund lachend Beifall nickten, wusste niemand und sie selbst auch nicht so recht. So zart, so weich, so butterig, so wie ein Rosinenkuchen eben sein muss, nicht zu viel, aber auch nicht zuwenig von den geheimnisvollen Trockenbeeren, mit ihrer vielversprechenden Süße. In jedem Fall lächelte sie ihren Gatten dann geheimnisvoll an und wünschte sich vielleicht leise, er möge doch von ihrem roten Mund und seinen Küssen ebenso schwärmen wie von ihrem Rosinenkuchen und von ihrem rosa Himbeerpudding.

Denn auch ihr Himbeerpudding war ebenso geheimnisvoll im Rezept wie weltberühmt in seiner Ausführung, wenn man den Fabulierkünsten des Vaters glauben wollte. Das tat man gerne, und dass der Hunsrück der Nabel der Welt war, das glaubte man ihm auch, an und um diesen Küchentisch.

Neben der Mutter hatte der dicke Onkel gesessen und gegessen. Daneben vor ihren Kuchentellern noch die drei Töchter: Hilde, Grete, Mariann und die kleine Thea. Putzig aufgereiht und hingesetzt am Tisch in der guten Stube.

In Sonntagskleidern, für den Vater und den Anlass herausgeputzt, auch wenn sie sich alle drei längst ein bisschen zu alt für solche Sachen gefunden hatten.

Der entfernte Onkel aus dem entfernten Amerika, der kommt nicht alle Tage ins Hunsrückdorf, um das Grab seiner guten alten Mutter zu besuchen. Dorthin, wo man seit Monaten immer deutlicher weiß und spürt, dass Armut auch Hunger heißt und es Zeit wird, für andere Zeiten. Und zwar für bessere. Hoffentlich. Endlich.

Anton, der große Bruder, war aufgesprungen, nachdem er zwei Stücke Kuchen verschlungen und zwei Tassen Bohnenkaffee gekippt hatte, vom guten aus Bremerhaven, ganz frisch geröstet, so hatte es der Onkel stolz verkündet, als er ihn, wie mit Zaubererhand, aus seiner Jackentasche hervorzog.

„Oh je, schon halb fünf", hatte Anton gesagt, „Ich muss los, noch mal schnell unten im Dorf vorbei, heut ist mein Glückstag, ich hab’s im Gefühl, heute gewinne ich beim Kartenspiel, ich hab’s eben in der Kaffeetass’ lesen können. Und dann an die Mosel,

heut Abend, beizeiten, bevor es richtig dunkel wird, ich warte nicht auf den Postautobus, Vater, ich geh zu Fuß. Dann spar ich mir das Geld und krieg dazu noch was zu sehen von der Welt, fast geschenkt, schon wieder so ein Glück. Nächsten Samstag gegen Abend komm ich wieder. Danke für den Kuchen, Mutter. Danke für den Kaffee, Onkel. Liebe Schwestern, vergesst mich nicht, ich habe euch alle lieb. Adé, nun mein lieb Heimatland, lieb Heimatland adé.“

Nachdem das alles aus seinem noch kauenden Mund hervorgesprudelt war, hatte er laut polternd die Stube verlassen. Und dann war er weg.

Kein Platz für Widerworte seiner Mutter, nicht einmal mehr ihr „Pass auf, Bub“ hatte er gehört. Erst recht nicht den strengen Blick seines Vaters gesehen, der kurz aufgeschaut hatte und dabei wie ein gefährlicher Vogel mit dem Kopf gekippt und gewippt hatte. Da war kein Nicken gewesen, nie und nimmer, genau das Gegenteil, ein energisches Kopfschütteln, als wolle er sagen: „Was auch immer du tust, da unten im Dorf, mit wem auch immer du dich triffst, welche Missetaten auch immer ihr plant oder vorhabt, ich, dein Vater, missbillige das alles, ganz entschieden und ausdrücklich. Und zwar sehr. Verstehst du mich?“

Anton verstand es nicht, er war ja längst weg, die Dorfstraße hinunter, sein Lieblingsliedchen trällernd: „Von den blauen Bergen kommen wir, unser Lehrer ist genau so doof wie wir, mit der Brille auf der Nase, da sieht er aus wie’n Osterhase, von den blauen Bergen kommen wir.“

Und dann war er weiter weg. So schnell weg, wie er gekommen war. Seit einigen Monaten war er nur noch hin und wieder kurzfristig aufzuhalten in seinem ständigen Unterwegs-Sein: mit Bohnenkaffee, Rosinenkuchen, Bienenstich, gefüllten Klößen oder Himbeerpudding von seiner Mutter, doch nie für lange Zeit.

Wie oft hatte er den Vater, der ihn doch so gerne hatte halten wollen mit Unmengen von ungestellten Fragen nach dem „Warum willst du denn jetzt schon wieder weg?“, dem „Woher kommennur die ganzen wirren Gedanken in deinem Dickkopf?“ und dem „Wohin soll das nur alles führen und was soll nur aus dir werden?“ schon mit seinen lausbubig leuchtenden Augen groß angeschaut und gesagt: „Aber Vater, du kannst doch ein Vögelchen nicht mehr einsperren, wenn es die Natur und das Leben da draußen gewohnt ist. Dafür sind unsere Flügel, unsere Arme und Beine und die Augen doch da und die großen Ohren und die Nasen im Wind. Für das all das da draußen. Für die Welt.“

Der Vater wusste das ja längst.

Auch weil er es einsehen hatte müssen über die Jahre. So fragte er nur noch hin und wieder, wie weit weg der Sohn denn dieses Mal wollte.

Bis zur Mosel herunter, die dreißig Kilometer, oder weiter in die Eifel hoch, an der anderen Seite des Tales.

Nein, nein, nach Osten diesmal, runter zum Rhein, wo die Lastkähne auf dem schimmernden Fluss in kleinen und großen Kerlen die Sehnsucht nach Weite und Weiter, nach dem mehr und dem Meer weckten.

Und wie lange es denn diesmal dauern würde, wusste er auch nicht und hätte es doch so gerne gewusst: eine Nacht, einen Tag, eine Woche. „Wann kommst du denn wieder?“, hatte er schon lange nicht mehr gefragt, weil das in seinen Männeraugen eine Frauenfrage war.