Welch trügerisches Herz - Chloe Gong - E-Book + Hörbuch
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Welch trügerisches Herz E-Book und Hörbuch

Chloe Gong

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Beschreibung

Gewalt, Drama und Verrat Rosalind Lang hat das schlimmste Schicksal erlitten: Sie wurde als Staatsspionin Lady Fortuna enttarnt und ihr Geliebter Orion wurde nicht nur entführt, er hat auch noch jedwede Erinnerung an sie verloren. Um ihn zu retten, verlässt sie die Stadt und verbündet sich mit ihren Gegnern, um so ein Heilmittel für Orion zu finden und die verräterische Erfindung seiner Mutter, eine gefährliche chemische Waffe, vor einer drohenden ausländischen Invasion in Sicherheit zu bringen – doch die Uhr tickt, und wenn Rosalind versagt, verliert sie nicht nur Orion, sondern auch ihre Nation. Mit besonderer Ausstattung Das Buch überzeugt in seiner Qualität wie sein Vorgänger mit einem Hardcover mit kunstvoller Tiefprägung und hochwertigem Schutzumschlag. Von SPIEGEL-Bestsellerautorin Chloe Gong Bereits die Vorgänger Retelling-Dilogie mit Welch grausame Gnade und Welch grausames Ende sind in ihrer Originalausgabe New York Times-Bestseller. Auch mit dem Finale ihrer zweiten Dilogie um Lady Fortuna überzeugt Chloe Gong mit ihren bildgewaltigen Erzählungen weiter Millionen Leser*innen. Welch trügerisches Herz wird keinen unberührt lassen!

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Seitenzahl: 755

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Zeit:18 Std. 5 min

Sprecher:Leonie Landa

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CHLOE GONG

WELCH TRÜGERISCHES HERZ

CHLOE GONG

WELCH TRÜGERISCHES HERZ

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

1. Auflage 2023

© 2023 by LAGO, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2023 bei MARGARET K. McELDERRY BOOKS, einem Imprint von Simon & Schuster Children’s Publishing Division unter dem Titel Foul Heart Huntsman. © 2023 by Chloe Gong. All rights reserved.

Published by Arrangement with TRIADA US LITERARY AGENCY, INC.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Carolin Moser

Redaktion: Sabrina Cremer

Umschlaggestaltung: Isabella Dorsch, dem Original nachempfunden

Umschlagabbildung: © 2023 by Skeeva

Satz: Christiane Schuster | www.kapazunder.de

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-95761-229-8

ISBN E-Book (PDF) 978-3-95762-349-2

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95762-350-8

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.lago-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Begegnet je – wer weiß, wie bald dies je! –

Auf frischen Wangen dir der Liebe Macht,

Dann wirst du die geheimen Wunden kennen

Vom scharfen Pfeil der Liebe.

William Shakespeare, Wie es euch gefällt

Inhalt

PROLOG

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EPILOG

Anmerkungen der Autorin

Danksagungen

PROLOG

1931

Die einfachste Art des Verschwindens war, nie vollständig unterzutauchen, sondern stets an der Grenze des Gesehenwerdens zu lauern und sekundenschnell zu reagieren, sollte sich etwas bewegen. Wie sollte man in eine Falle tappen, deren Köder man selbst gelegt hatte. Wie sollte man etwas nicht wissen, wenn man das besagte Spielfeld entworfen hatte.

Alisa Montagowa blickte zur Eingangstür des Restaurants, während sie eine Tasse mit Tee füllte. Die Restaurantbesitzerin hatte die Fensterläden geschlossen, um die Kälte auszusperren. In wärmeren Monaten ließ sie sie offen und die Bambusblätter auf den Simsen warfen sanfte Schatten auf Gäste, die Treffen abhielten oder mit Liebhabern tranken. Sie befanden sich in einem kleinen Ort irgendwo westlich von Shanghai. Groß genug, um ein paar Stadtbewohner zu beherbergen, die hier und da Geschäfte tätigten – wodurch Alisa keine Aufmerksamkeit auf sich zog, wenn sie die Straßen durchstreifte – doch nicht so chaotisch, dass sie um vier Uhr nachmittags kein Restaurant mit einem freien Tisch in der Ecke finden könnte.

Alisa war gut im Verschwinden. Sie hatte es seit ihrer Kindheit geübt. Hatte im Haus herumgelungert und gelauscht oder sich in ganz Shanghai in versteckte Ecken gezwängt. Es wurde zu einer persönlichen Herausforderung, genügend Informationskrumen an vielen verschiedenen Orten zu sammeln, sodass sie sie zusammenfügen und sich durch all ihr Wissen schlau vorkommen konnte. Es war zwecklos, sich erst anzuschleichen, wenn Unterhaltungen bereits begonnen hatten. Sie musste ihnen drei Schritte voraus sein. Bereits im Schrank sitzen, wenn zwei entfernte Cousins in der Küche stritten. Vom Dachsparren hängen, wenn die alte Dame im Bordell vor ihren Mädchen im Hinterzimmer über die Kunden schimpfte. Nur dann fühlte Alisa sich in ihrer eigenen Stadt zu Hause. Zu verschwinden bedeutete, an ihrer Umgebung teilzuhaben, den Rhythmus und die Ursachen zu verstehen, anstatt sich zu verstecken und zu hoffen, dass man sie nicht als unpassenden Eindringling wahrnahm. Es bedeutete, von Ort zu Ort zu ziehen, während eine ganze Einheit Nationalisten hinter ihr her war, und sich doch stets sicher zu sein, dass sie ihr nie zu nahe kämen, weil sie ihre Ankunft immer punktgenau vorhersagen und sich davonmachen konnte. Das hatte sie bereits zweimal getan. Und wenn die Einheit sich beeilte, würde es in der kommenden Stunde ein drittes Mal passieren.

»Möchtest du heute etwas essen, xiăo gūniáng?«

Alisa pustete in ihren heißen Tee. Der Keramikbecher fühlte sich in ihren bloßen Händen, die auf dem Weg hierher taub geworden waren, wundervoll an. Sie hatte in ihrem Leben noch nicht einmal Handschuhe getragen und würde jetzt nicht damit anfangen. Ihre Hände bewegten sich gern frei und ungehindert.

»Kann ich eine kleine Schüssel Gurken bekommen?«, fragte sie. Sie wedelte mit den Fingern und klopfte gegen den Becher. »Mit den niedlichen klein geschnittenen Stücken? Und Knoblauch?«

Die Restaurantbesitzerin runzelte die Stirn und versuchte zu verstehen, wovon Alisa sprach. Eine Sekunde später hellte sich ihr Gesicht auf und sie machte auf dem Absatz kehrt. »Ah. Ich weiß, welches Gericht du willst. Es kommt gleich.«

»Xiè xiè!«

Alisa setzte sich lässig auf ihren Holzhocker und hakte die Knöchel um die Stuhlbeine. Sobald die Besitzerin in die Küche verschwand, wurde es abgesehen vom Klimpern der Windspiele im Türrahmen wieder still im Restaurant. Letzte Woche war etwas Schnee gefallen und obwohl nichts davon liegen geblieben war, hatte die für die Jahreszeit typische Kälte eingesetzt. Die Bewohner der Gegend zogen die Schultern hoch und senkten die Köpfe, um die Ohren warm zu halten, und schlurften von Ort zu Ort, ohne ihre Umgebung wahrzunehmen. Als der Späher am Morgen ins Ortszentrum gekommen war und einen Buchladen betreten hatte, hatte Alisa ihn sofort erkannt. Genauer gesagt, sie hatte im ersten Stock des Teehauses gesessen und bemerkt, dass er sich ungewöhnlich bewegte, und sobald er den Laden verlassen hatte, war sie aus dem Teehaus gekommen und ebenfalls in den Laden geschlendert, wo man ihr erzählt hatte, dass er nach einem Mädchen gefragt hatte, auf das ihre Beschreibung passte.

Die Nationalisten waren so einfach zu überlisten, wenn sie sich auf diese Weise verhielten. Sie hätten zumindest die Geheimabteilung schicken können. Doch laut den letzten ihr zugetragenen kodierten Radioübertragungen, lag die Geheimabteilung der Nationalisten in Trümmern, nachdem einer ihrer Betreuer zu den verfeindeten Kommunisten übergelaufen war, man einen Spitzenagenten einer Gehirnwäsche unterzogen hatte und eine andere Agentin hinter Schloss und Riegel saß, weil man sie enttarnt hatte. Drüben ging es rau zu. Nicht, dass ihre Seite viel besser dastand. Ihr war unklar, ob man sie bereits als vermisst vermerkt hatte oder ob die Kommunisten so an ihr Verschwinden gewöhnt waren, dass sie darauf vertrauten, dass Alisa an etwas arbeitete.

»So, da wären wir. Pāi huángguā. Wenn es nicht scharf genug ist, sagst du Bescheid, hm?«

Die Gurken glänzten vor Sesamöl und hellroten Chilistückchen. Die Besitzerin stellte die Schüssel vor Alisa ab und hielt verwirrt inne, als Alisa ein paar Scheine zusammenknüllte und sie in ihre Schürzentasche stopfte, bevor sie sich zurückziehen konnte.

»Ich wollte nur gleich die Rechnung begleichen«, sagte Alisa beiläufig. Für den Fall, dass sie während des Essens davonlaufen musste.

Sie ging davon aus, dass Celia sie wegen der Ampulle in ihrer Tasche nicht gemeldet hatte. Ansonsten hätte Celias Vorgesetzter Alisa bereits kontaktiert und die Übergabe gefordert. Früher oder später würde zu ihrer eigenen Seite durchdringen, dass sie die letzte Ampulle eines chemischen Gemischs hatte, ungleich irgendetwas anderem auf der Welt. Ein Gemisch, das seine Opfer in unsterbliche Supersoldaten verwandelte, die keinen Schlaf brauchten und deren Verletzungen nicht von Dauer waren, die stark genug waren, um einen Gegner quer durch den Raum zu schleudern, und bei denen eine Kugel in die Brust keine erkennbaren Folgen hatte. Wenn das passierte, würde das Versteckspiel, das sie zu ihrem eigenen Vergnügen spielte, enden müssen. Sie würde beiden Lagern davonlaufen – wirklich davonlaufen, wenn sie die Geheimabteilung hinter ihr her schickten – denn sie würde auf keinen Fall eine Waffe aushändigen, die den Ausgang des Bürgerkriegs bestimmen könnte.

Alisas blickte wieder zum Restauranteingang, während die Besitzerin hinter den Tresen zurückkehrte. Sie kaute auf einem Stück Gurke. Vor der Tür war die Straße ruhig, abgesehen vom gelegentlichen Klingeln einer Fahrradglocke, die Passanten grüßte. Der erste Warnhinweis, nach dem Alisa stets horchte, waren die Schreie der Anwohner. Soldaten schenkten Pflanzen, die sie zertraten, oder Karren, die sie zur Seite stießen, keine Beachtung. Möglicherweise war es unnötig, dass Alisa mit ihrem Verschwinden wartete, bis die Soldaten sich näherten, doch es war lustig und dämpfte ihre Moral, wenn Alisa zum Greifen nah war. Beim ersten Mal hatte sie ihnen zugewinkt, während sie in den Wald gerannt war, beim zweiten Mal mit herausgestreckter Zunge zurückgeblickt, als das Auto anfuhr.

Mampf mampf mampf. Die Gurken waren wirklich gut.

Die Windspiele klimperten in einer Bö. Alisa trank noch einen Schluck Tee.

Dann, ohne Vorwarnung, kam Jiemin durch die Tür – ihr früherer Kollege und Leiter der Einheit, die ihr hinterherjagte. Er sah sich kurz im Restaurant um, bevor sein Blick auf Alisa fiel.

Sie stand nicht auf.

»Miss Montagowa, du hast mir viel Ärger bereitet.«

Jiemin setzte sich an den Tisch, ließ sich auf den Hocker neben ihr fallen, als wäre das Treffen geplant gewesen. Alisa schob ihm die Schüssel Gurken zu und bot ihm ihre Stäbchen an. Er trug keine Uniform und war ohne Verstärkung unterwegs. Er verhielt sich und sah aus wie jeden Morgen, wenn Alisa ihre Abteilung bei Seagreen Press betreten hatte, an einem Fleischbrötchen kauend, während Jiemin in sein Buch vertieft gewesen war und nichts außerhalb seines Rezeptionstisches Beachtung geschenkt hatte. Mit ihrem jetzigen Wissen fragte sie sich, ob das nur Teil seiner Tarnung gewesen war.

»Ihr seid viel zu langsam«, erwiderte Alisa. »Seit über einem Monat laufe ich mit dieser Ampulle herum. Eine gute Einheit hätte mich mindestens einmal pro Woche umzingeln müssen.«

Nach etwas mehr als einem Monat war Alisa ehrlich überrascht, dass nur die Nationalisten hinter ihr her waren. Lady Hong hatte die Waffe für die Japaner erfunden, doch nachdem ihr Sohn Orion sie konfrontiert und Rosalind die einzige erfolgreiche Charge zerstört hatte, hörte man über den nachrichtendienstlichen Flurfunk keine Neuigkeiten darüber, dass sie einen Ersatz herstellte. Kommunisten und Nationalisten hatten Lady Hongs Bewegungen gleichermaßen aufmerksam verfolgt: Nach den letzten Sichtungen war sie in der Nähe der Mandschurei, wo sie bei den Japanern Bericht erstattet hatte. Vielleicht fehlten ihr die Mittel. Vielleicht war sie einfach abgelenkt mit Orion an ihrer Seite, dessen Erinnerungen sie ausgelöscht hatte, um seine gesteigerte Kraft ungehindert nutzen zu können, bis ihr mehr konditionierte Soldaten zur Verfügung standen.

»Ich bewege mich nicht langsam.« Jiemin griff nach den Stäbchen und nahm sich ein Gurkenstück. »Ich bewege mich in vollkommen normaler Geschwindigkeit. Es ist nur einfacher für eine Einzelperson, einer ganzen Einheit davonzulaufen, wenn wir für Aufruhr sorgen, lange bevor wir uns nähern.«

Alisa runzelte die Stirn. »Wie bitte? Das ist wohl kaum etwas, das jede Einzelperson schaffen kann. Es liegt nicht nur am zahlenmäßigen Unterschied.«

Jiemin wirkte nachdenklich, als er Alisa die Stäbchen zurückreichte. »Allerdings habe ich dich allein erfolgreich eingeholt.«

»Und doch kannst du mich allein nicht festnehmen.«

Die Restaurantbesitzerin kehrte zurück, um erneut heißes Wasser in die Teekanne zu gießen.

Sie füllte eine Tasse für Jiemin. Obwohl sie ihn neugierig musterte, zog sie sich schweigend wieder zurück.

»Ich versuche nicht, dich festzunehmen«, sagte Jiemin, als die Besitzerin verschwunden war. »Du weißt, weswegen ich hier bin.«

Alisa antwortete sofort: »Du verstehst nicht.«

»Miss Montagowa.« Jiemin senkte die Stimme. »Eine solche Waffe kann nicht frei im Umlauf sein. Du glaubst vielleicht, dass du Lang Shalin hilfst, doch wir werden Hong Liwen nicht zurückholen. Wir können das Mittel nicht aufbewahren in der Hoffnung, dass es ihn wiederherstellt.«

»Also hast du mit Rosalind gesprochen.« Alisa aß wieder von den Gurken. Sie stellte keine Frage, sie holte eine Bestätigung ein, dass Jiemin von Rosalind von der Ampulle erfahren hatte. Nur deshalb wussten die Nationalisten, dass sie sie verfolgen mussten, während andere Lager dem Informationsfluss hinterherhinkten.

»Es hat keinen Zweck, Lady Hongs Truppen aus Verrätern aufzuhalten, wenn diese Ampulle in falsche Hände gerät«, fuhr Jiemin fort, ohne auf ihre Anmerkung einzugehen.

Alisa knallte ihre Stäbchen auf den Tisch. »Soweit es mich betrifft, sind die Hände der Nationalisten ebenfalls die falschen.«

Jiemin hielt ihrem Blick stand. Alisa gab nicht nach. Es war beinahe unmöglich, Alisa Montagowa einzuschüchtern. Ihr Ego war himmelhoch aufgeblasen, und wer es versuchte, verschwendete nur seine Zeit.

Jiemin wandte den Blick zuerst ab, die Brauen zusammengezogen. Er schien über etwas nachzudenken. Sekunden später griff er in seine Jackentasche und zog einen Dolch in einer Scheide heraus.

Bevor Alisa aufspringen und zurückweichen konnte, legte Jiemin ihn auf den Tisch und stellte so klar, dass er die Waffe nicht gegen sie richtete. Er machte eine Geste in Richtung der Klinge, damit sie sie entgegennahm.

»Ist der vergiftet?«, fragte sie misstrauisch.

»Ich hatte gehofft, dass er deine Meinung ändern könnte. Denk daran, Miss Montagowa – ich bin allein hier.«

Alisa nahm den Dolch vorsichtig in die Hand. Sie zog ihn aus der Scheide. Obwohl das Restaurant nicht beleuchtet und der Nachmittag in kaltes, trübes Grau getaucht war, erstrahlte das Metall der Klinge in seinem eigenen Glanz. Sie war wunderschön gearbeitet, mit einer feinen Vertiefung in der Mitte, bevor jede Seite zu einer gefährlich scharfen Kante auslief. Und am Griff …

Alisa strich mit dem Daumen über die Gravierung und atmete überrascht aus. Sie fragte sich, ob sie das in das Metall eingravierte chinesische Schriftzeichen vielleicht falsch verstand, doch das 蔡 blieb unverändert, egal wie lange sie auf das schimmernde Gold starrte.

Diese Waffe war ein Erbstück. Und Jiemin gehörte sicher nicht zu jener Familie.

Oder?

»Großer Gott«, sagte Alisa. »Bitte sag mir, dass du kein heimlicher Cai bist.«

Jiemin blickte in seine Teetasse. Sein Gesichtsausdruck entspannte sich. »Was? Ich? Nein. Mein Nachname ist Lin, wenn du es unbedingt wissen willst.« Er schob seine Tasse von sich und verzichtete auf den schlammigen Tee. »Doch dir ist klar, wem der Dolch gehört, nicht wahr?«

Sie könnte wohl eine sachkundige Vermutung anstellen. Und sie könnte wohl auch eine Vermutung darüber anstellen, warum Jiemin ihr den Dolch zeigte. Die ursprüngliche Besitzerin dieses Dolches war nicht aufdringlich genug, um ihn als Hinweis weiterzureichen. Nein, Jiemin hatte ihn bereits besessen und stellte ihn nun zur Schau, um seinen Standpunkt zu verdeutlichen.

Alisa atmete kaum merklich ein und presste den Daumen fest auf die Gravur. Natürlich hatte sie einen Verdacht gehegt. Sie hatte in jenem verhängnisvollen April in Zhouzhuang einen Blick auf die beiden erhascht. Sie wusste genau, an wen sie sich wenden musste, um sich bestätigen zu lassen, dass ihr Bruder und seine Geliebte am Leben waren und sich lediglich versteckten. Doch sie hatte viel zu große Angst gehegt, das Gegenteil zu erfahren. Obwohl sie wusste, dass nur Roma jeden Monat ihre Rechnungen bezahlen konnte, und weil Celia und Benedikt manchmal versehentlich im Präsens von den beiden sprachen. Daher hatte sie sich ferngehalten und in seliger Hoffnung gelebt.

Dies …

Dies war die erste echte Bestätigung. Sie lebten.

Alisa schob die Klinge wieder in ihre Scheide und blinzelte die Gefühlswelle weg, die in ihren Augen stach, bevor Jiemin etwas bemerken konnte. Hoffentlich war er sich der Konsequenzen dieser Offenbarung bewusst, ansonsten würde Alisa nicht nett mit ihm umspringen, wenn er Gefahr heraufbeschwor.

»Ich werde das nur einmal sagen«, verkündete Alisa mit einem Schniefen. »Egal für wen du insgeheim arbeitest, du bist immer noch ein Nationalist. Selbst wenn sie dir vertrauen, ich halte diese Ampulle von der Politik fern.« Sie stand auf. Dann schob sie Jiemin höflich ihre Schüssel zu. »Ich würde die Ampulle als Ganzes schlucken, bevor ich sie dir gebe. Hetz mir deine Streitkräfte auf den Hals und schneid sie mir aus dem Magen – nur so bekommst du sie in die Finger. Und nun genieß den Rest des huángguā, es geht auf mich.«

Alisa ging davon.

»Hey«, rief Jiemin ihr nach. »Gib mir zumindest den Dolch zurück.«

»Ich habe Anspruch darauf«, sagte Alisa, ohne sich umzudrehen. Sie hielt ihn fest in der Hand, ein Lächeln auf den Lippen. »Wende dich an meine Schwägerin, wenn du etwas anderes behaupten willst.«

Sie verließ das Restaurant und steckte den Dolch unter ihren Mantel. Als die erste Schneeflocke auf ihrer Nase einen erneuten Sturm ankündigte, machte Alisa sich zum nächsten Ort auf und verschwand, bis sie wieder gebraucht wurde.

1

Januar 1932

Rosalind Langs Schlafzimmerfenster war mit Eisblumen überzogen. Sie bildeten einen ungewöhnlichen Umriss, der einem gebrochenen Herzen ähnelte – die anatomische Art mit halb durchtrennten Arterien, die sich in die Ecken ausbreiteten. Die Ränder begannen jedoch zu schmelzen, tauten durch den ersten sonnigen Tag, den Shanghai seit einer Weile gesehen hatte, und ließen Kondenswasser das Glas hinabrinnen.

Rosalind beobachtete die Straße unten. Wie sollte sie das Haus verlassen, ohne ein Fiasko zu verursachen? Die Medien warteten seit Wochen unerbittlich, in der Hoffnung, die Ersten zu sein, die ein aktuelles Bild von Lady Fortuna schossen. Seit man sie mit der Anweisung, sich auszuruhen, aus dem Krankenhaus entlassen hatte, hatte sie ihre Wohnung kein einziges Mal verlassen und darauf vertraut, dass ihre Vermieterin Lao Lao Einkäufe erledigen und ihr Neuigkeiten von draußen bringen würde. Sie musste sich nicht ausruhen. Sobald man die Kugeln entfernt hatte, war ihr Körper mit übernatürlicher Geschwindigkeit geheilt und sie befand sich wieder im Normalzustand. Wenn es nach ihr ginge, säße sie nicht untätig herum, doch von ihren Vorgesetzten kam die strikte Anweisung, sich bedeckt zu halten. Heute war endlich ein Treffen einberufen worden, um ihre nächsten Schritte zu besprechen. Die Zeitungen hatten ihre gesamte Identität in den Überschriften ausgebreitet: Lang Shalin, frühere Scarlet-Revuetänzerin wird Attentäterin der Nationalisten – nicht tot, wie man die Stadt vier Jahre lang glauben ließ, stiftete sie Chaos und tötete Händler die Küste des Landes hinauf und hinunter.

Da Fortunas wahres Gesicht ans Licht gekommen war, konnte sie wohl kaum ihre Missionen fortführen. In den letzten Wochen war sie unermüdlich durch ihr Schlafzimmer getigert, hatte Pläne geschmiedet und wieder verworfen, da sie sie unmöglich umsetzen konnte. Sie hatte bereits den Fehler begangen, Jiemin zu verraten, dass Lady Hongs letzte Ampulle bei Alisa war. Ein Zeichen des guten Willens, als sie ihn angefleht hatte, Orion zu verfolgen. Doch das hatte nur bewirkt, dass die Nationalisten Alisa hinterherjagten. Ihren letzten Trumpf würde sie nicht preisgeben.

Ich kann dir helfen, ihn zurückzuholen.

Finde mich in Zhouzhuang.

-JM.

Die Nachricht lag zerknittert auf ihrem Schreibtisch. Die Worte waren kaum noch lesbar, nachdem sie sie gefaltet und wieder geöffnet hatte, doch das war egal. Sie kannte die drei Zeilen längst auswendig. Während sie Nacht für Nacht ausdruckslos an die Wand starrte – ihre Version von Schlaf –, sah sie die Nachricht bei jedem Blinzeln vor ihrem inneren Auge. Da nicht einmal Schlaf eine Zuflucht bot, blieb Rosalind Lang in ihren vier Wänden nur, nachzudenken und zu grübeln und zu überlegen.

Wie sollte sie nach Zhouzhuang gelangen, ohne sich gegen die Nationalisten zu wenden? So frustriert sie auch sein mochte, sie waren ihre Arbeitgeber und sie konnte sich nicht voreilig von ihnen trennen. Was, wenn es eine Falle war? Was, wenn sie aufs Land floh und nichts als eine Sackgasse fand? Sie wusste nicht einmal, was JM bedeuten sollte. Sie kannte niemanden mit diesen Initialen. Eine Krankenschwester hatte die Notiz verfasst, nachdem man ihr die Nachricht am Telefon durchgegeben hatte. Jeder hätte den Anruf tätigen können. Zu der Zeit waren die Nachrichten über ihre Identität bereits in Umlauf gewesen. Man musste nur das Krankenhaus finden, in dem man Kugeln aus Fortuna zog, und eine Schwester bitten, die Nachricht weiterzugeben. Verflixt – vielleicht war es nur ein Reporter, der sie für einen großen Exklusivbericht treffen wollte.

Trotzdem … das war besser als nichts. Die Nationalisten hatten klargestellt, dass sie Orion Hong aufgegeben hatten. Er ist eine Belastung. Wir können nur versuchen, ihn zu beseitigen.

»Er ist einer unserer besten Agenten«, hatte Rosalind Jiemin hinterhergeschrien, als er mit der Anweisung, sich ruhig zu verhalten, gekommen war. »Wie kannst du mir sagen, dass nichts getan werden kann?«

Er war in der Tür stehen geblieben. Hatte traurig den Kopf geschüttelt.

»Selbst wenn wir ihn – irgendwie – von seiner Mutter trennen könnten, sein Verstand wurde manipuliert, sodass er jede ihrer Anweisungen befolgt. Und wenn sein Verstand bereits von ihr beeinflusst ist, können wir ihm nie mehr trauen. Stell dir vor, Hong Liwen wäre im Kampf gefallen. Das macht es einfacher.«

Ein verräterischer Teil von ihr wünschte, Dao Feng wäre noch da. Er hätte nicht gesagt, dass sie sich ruhig verhalten solle. Er hätte einen Plan geschmiedet, um Orion zu retten. Doch ihr Betreuer hatte die Seiten gewechselt – oder besser gesagt, ihr Betreuer hatte schon die ganze Zeit über für die andere Seite gearbeitet. Sie würde nie erfahren, ob sie und Orion Dao Feng als seine Schüler wirklich wichtig gewesen waren.

»Scher dich zum Teufel«, murmelte Rosalind. Sie wusste nicht genau, zu wem sie sprach. Vielleicht zu Dao Feng. Oder zu der Welt im Allgemeinen, weil sie ihr diese Rolle aufgezwungen hatte.

Ein Auto hielt an der Straße neben den Reportern und erregte die Aufmerksamkeit der Menge. Ein Mädchen purzelte in einem Gestöber aus pinkem Tüll vom Beifahrersitz, sie gelangte mithilfe ihres Schlüssels ins Gebäude und schlug die Tür zu, bevor die Reporter ihr folgen konnten. Sekunden später hörte man das Klappern von Stöckelschuhen auf der Außentreppe, dann öffnete sich die Wohnungstür.

»Săozi, wehe, du bist noch nicht angezogen.«

Rosalind war noch nicht angezogen. »Du musst mich nicht mehr so ansprechen. Du hast meine uneingeschränkte Erlaubnis, kulturellen Anreden für falsche Verwandte zu trotzen und meinen Namen zu benutzen.«

Phoebe Hong tauchte in der Schlafzimmertür auf. Sie stemmte die Hände in die Hüften. In deutlichem Widerspruch zu Rosalinds Mangel an Vorbereitung trug Phoebe ein rosarotes Kleid mit aufwändigen Schleifen an der Vorderseite. Sie war ein Farbklecks, der plötzlich in eine farblose Szenerie platzte. Sie musterte den Anblick, der sich ihr bot – Rosalind saß auf der Kante ihres unaufgeräumten Schreibtisches, ihre Haare hingen ihren Rücken hinab und sie war barfuß –, und kam mit großen Schritten auf sie zu.

»Ist das das Hemd meines Bruders?«, fragte Phoebe.

»Vielleicht«, erwiderte Rosalind abwehrend. Der glatte weiße Stoff bedeckte sie bis zu den Oberschenkeln und sie zupfte daran, obwohl sie bezweifelte, dass es Phoebe scherte, ob sie den Anstand wahrte. »Du bist unglaublich früh dran. Ich dachte, Silas hätte gesagt, dass er um drei kommt.«

Phoebe ging zum Kleiderschrank und zog einen Qipao heraus. Als sie ihn ihr zuwarf, musste Rosalind das Seidenknäuel in Sekundenschnelle auffangen. Schon warf Phoebe ihr eine Halskette zu und stellte auf möglichst unordentliche Weise Rosalinds Aufmachung für den Tag zusammen.

»Du kannst nicht ausgerechnet heute herumliegen und die Kleider meines Bruders tragen. Zieh dich um.«

»Ich hätte mich fertig gemacht«, beharrte Rosalind. Sie schüttelte den Qipao aus. Obwohl sie aufstand, warf Rosalind ungewollt erneut einen Blick auf den Schreibtisch und die Nachricht, die sich neben einem Bücherstapel befand. Das Hemd lag warm um ihre Schultern. Es fühlte sich sicher an, auf eine Weise, wie es ihre eigenen Kleider nicht taten, als wäre Orion noch da und würde durch die Wohnung poltern.

Sie vermisste ihn. Schrecklich. Sie hatte ihn für eine fürchterliche Nervensäge gehalten und ihm ins Gesicht gesagt, dass er in ihrer Wohnung störe. Er hatte sie immer nur angegrinst und sich die Mühe gemacht, ihr Essen zu bringen oder ihre Haare glatt zu streichen, wenn sie damit beschäftigt war, etwas zu schreiben. Nun war er weg und Rosalind fühlte sich, als wäre sie in Schieflage geraten. So unecht ihre Ehe auch gewesen sein mochte, Orion Hong hatte sich ihr angepasst wie ein zusätzliches Körperteil. Sie konnte sich nicht daran gewöhnen, von ihm abgeschnitten zu sein: Es war eine unsichtbare Wunde, die sich nicht schließen wollte wie ihre körperlichen Wunden, und der Schaden war in den Tiefen ihres Herzens eingeritzt. Wenn sie ihre Rippen auseinanderbiegen und das Organ betrachten könnte, würde sie auf die exakte Stelle zeigen … Zu guter Letzt eine Verletzung, die nicht in Höchstgeschwindigkeit verheilte. Wenn sie ihn nicht zurückbekäme, würde sie verbluten.

Rosalind riss ihren Blick vom Schreibtisch los. Ihre Augen brannten fürchterlich und Tränen waren das Letzte, das sie jetzt brauchen konnte.

»Zieh dich um«, wies Phoebe sie erneut an, dieses Mal sanfter. »Wenn wir ihn zurückholen wollen, musst du den Auftrag bekommen.«

»Ja, ich muss den Auftrag bekommen«, stimmte Rosalind ihr abwesend zu.

Das Problem war nur: Wochen waren vergangen und die Nationalisten hatten ihre Meinung über Orion nicht geändert. Soweit sie wusste, würde man ihr in diesem Treffen eine andere Mission zuteilen – man würde ihr Jiemin dauerhaft als Betreuer zuweisen und ihr irgendeinen lächerlichen Auftrag geben, einem widerspenstigen Politiker hinterzujagen – und dann was? Würde Rosalind gehen müssen? Alle Hoffnung aufgeben, die Stadt zu verbessern, und einem unklaren Hinweis aufs Land folgen müssen?

Sie würde es tun. Das war das Erschreckendste daran. Lange Zeit hatte sie nur Shanghai zu einem besseren Ort machen wollen, doch ihr Fokus verschob sich und erlaubte ihr, sich abzuwenden. Sie wollte mehr lieben als ihre Stadt. Sie wollte die Liebe, die einen Augenblick lang nur ihr gehört hatte. Wenn sie zwischen den beiden wählen müsste, wusste sie, welcher von beiden sie sich zuwenden würde.

Doch der Gedanke jagte ihr Angst ein. Daher war sie in den letzten Wochen brav gewesen und hatte geduldig abgewartet, anstatt zu rebellieren. Ihre Arbeitgeber könnten alles richtig machen. Wenn sie einvernehmlich handelten, würde Rosalind vielleicht nicht auf eigene Faust losziehen müssen. Es war nicht so, dass sie sich dabei in der Vergangenheit mit Ruhm bekleckert hätte. Tatsächlich war ihre Erfolgsbilanz miserabel.

Draußen vor dem Fenster hupte jemand laut: Silas Wu wurde ungeduldig.

Phoebe sah sie auffordernd an.

»Fünf Minuten«, versprach Rosalind und eilte ins Badezimmer.

Schnell zog sie sich um. Zu viel Zeit war vergangen, seit sie ihre Haare das letzte Mal hochgesteckt hatte. Beinahe hätte sie ihre Haarnadel fallen gelassen, als sie damit das Ende eines kleinen Zopfs hinter ihrem Ohr befestigen wollte. Phoebe wartete an der Wohnungstür, als Rosalind aus dem Badezimmer kam. Sie strahlte sie glücklich an und klatschte zufrieden in die Hände.

»Ich sollte dich warnen«, sagte Phoebe, während Rosalind abschloss. »Es gibt einen neuen Artikel.«

»Noch einer?« Rosalind fluchte leise, als sie ihren Schlüssel verstaute. »Wie viel mehr können sie noch ausgraben? Ich bin erst seit 24 Jahren auf dieser Welt.«

Und nur 19 davon war sie wirklich gealtert, bevor sie von der Bildfläche verschwunden und zu einem geheimnisvollen Mythos geworden war. Bis vor zwei Monaten hatte niemand gewusst, ob Fortuna eine echte Person war oder nur eine Erfindung der Nationalisten, um ihren Feinden Angst einzujagen.

»1926 hast du dich bei einem Restaurantbesitzer unbeliebt gemacht. Er hatte eine ganze Reihe an Beleidigungen über dich und deinen Mangel an Respekt für Stühle vorbereitet. Angeblich hast du einen geworfen und ihn zerbrochen.«

Rosalind verkrampfte sich. »Das war das Werk meiner Cousine.«

»Er sagte auch, dass du seinen Hut hässlich genannt hast.«

»Na gut. Das war ich.«

Der Medienansturm war nur aus dem Ruder gelaufen, weil Rosalind Lang bereits bekannt war: Bei Fortuna handelte es sich nicht nur um ein gewöhnliches Mädchen, in deren Venen unbeschreibliche Wissenschaft floss. Als es die Scarlet Gang noch gegeben hatte, hatte jede Klatschspalte, die Juliette Cai kritisieren wollte, auch Rosalind mit hineingezogen. Sie war bereits bekannt gewesen in der Stadt. Sie hatten ein Bild von Lang Shalin geschaffen, das Kind der Bandenelite Shanghais, gefallen mit dem Rest ihrer Herrschaft. Dass sie als die Attentäterin der neuen Politiker wieder auferstand, war absurd. Es war, als würde man Lehm in Mehl rollen und einen Kloß nennen.

»Wie auch immer«, sagte Phoebe. Sie blieben vor der Eingangstür des Gebäudes stehen. Rosalind konnte das Gerede hören. Die Reporter spekulierten darüber, wann sie herauskommen würde. »Sie wollen neues Material. Was man daran sieht, wie weit sie bereit sind, zurückzublicken. Das ganze Land wartet darauf, einen Blick auf Lady Fortuna zu erhaschen.«

»Da werden sie noch länger warten müssen.« Rosalind drückte die Türklinke. »Lady Fortuna ist im Moment nicht hier.«

Sofort blendeten die Blitzlichter sie. Eine Sekunde später folgten die Rufe. Von allen Seiten schrien Stimmen und forderten sie auf: »Sehen Sie bitte hierher! Lang Shalin, sehen Sie hierher!«

Rosalind hatte sich wochenlang auf diesen Moment vorbereiten können. Sie hielt den Kopf gesenkt und drängte sich die Einfahrt hinab. Es war nur ein kurzer Weg bis zum Straßenrand und Silas’ Auto. Sie mussten es nur durch die Menge schaffen, ohne anzuhalten.

Sie schlug sich wacker. Bis:

»Lang Shalin, was denken Sie darüber, dass Hong Liwen in der Mandschurei gesichtet wurde?«

Rosalind hob ruckartig den Kopf. Sie suchte nach der Stimme, die die Frage gerufen hatte, doch die Blitzlichter raubten ihr die Sicht und hinterließen Flecken in ihrem Blickfeld.

»Was? Was haben Sie gesagt?«, fragte sie.

»Du brauchst keine Informationen von einem Reporter«, unterbrach Phoebe sie und griff nach Rosalinds Ellbogen. »Komm.«

Doch Rosalind war stehen geblieben und die Reporter überschlugen sich, um aus der Gelegenheit einen Nutzen zu schlagen. Sie hungerten nach Informationen, nachdem man sie zu lange in der Kälte hatte warten lassen. Obwohl heute die Sonne schien, hatten die Tage zuvor aus Regen und Finsternis bestanden, an einigen Nachmittagen war starker Schneeregen gefallen. Selbst da waren sie geblieben. Zu verlockend war die Aussicht darauf, der Erste zu sein, der seinem Chef ein Foto von ihr brachte.

»Hier drüben!«

»Hierher! Hierher!«

»Lady Fortuna, zeig uns deine Talente!«

Ohne Vorwarnung flog etwas Scharfes in Rosalinds Richtung, kratzte über ihre Wange und landete mit einem lauten Knall auf dem Pfad hinter ihr. Mit einem instinktiven Keuchen riss sie die Hand zu ihrem Gesicht und legte sie über das schmerzhafte Stechen. Als sie die Finger senkte, erblickte sie Blut.

Instinktiv wurde sie wütend und sah rot. Wer wagte es, etwas nach ihr zu werfen? Sie konnte bereits fühlen, wie sich die Haut in ihrem Gesicht wieder zusammenflickte und vor den Augen all dieser Kameras heilte, während jeder einzelne Moment in Lichtblitzen eingefangen wurde. Das wollten sie, nicht wahr? Sie in eine Sensation verwandeln, sie mit einem Mikroskop auf Zeitungspapier auseinandernehmen.

Diese verdammten Reporter hatten vergessen, dass sie eine Attentäterin war, dass sie sich nur deshalb für Fortuna interessierten, weil sie ein gefürchteter Schatten gewesen war, der in der Nacht lauerte und mit einem bloßen Gifthauch tötete.

Langsam wischte Rosalind sich das restliche Blut aus dem Gesicht. Sie hatte es sich anders überlegt. Lady Fortuna war doch da.

Sie stürzte vor.

»Hey!«, rief Phoebe.

Bevor Rosalind den ersten Reporter erreichen konnte, hielt Phoebe sie eilig zurück, wobei ihr schmaler Körper vom Boden abhob, mit so viel Kraft drückte sie Rosalinds Arme nach unten. Der Reporter stieß einen alarmierten Schrei aus. Einige in seiner Nähe traten schnell einen Schritt zurück. Andere wurden noch enthusiastischer und schrien, dass sie sich stattdessen ihnen zuwenden solle.

»Das willst du wirklich nicht tun, Săozi«, keuchte Phoebe.

»Lass mich los«, sagte Rosalind durch zusammengebissene Zähne. »Orion würde zulassen, dass ich sie in Stücke reiße.«

»Und deshalb bin ich die verantwortungsbewusste kleine Schwester. Du bringst mich besser nicht zum Weinen, um dir ein schlechtes Gewissen zu machen.«

»Phoebe, lass mich los –«

Phoebe schnappte nach Luft. Als ein zweiter Stein in ihre Richtung geschleudert wurde, fing Phoebe ihn ab, bevor Rosalind ihn auch nur wahrnehmen konnte. Dann warf sie ihn zurück auf die Reporter. Die Menge kreischte und legte schützend die Hände um ihre Kameras.

»Du hast wirklich Glück, dass ich Softball gespielt habe.« Phoebe schubste sie. »Na los, komm schon!«

Rosalind verwarf ihre Mission, einen Faustkampf anzuzetteln. Mit einem Schnauben drängte sie sich durch die restliche Menge, erreichte endlich Silas’ Wagen und riss die Hecktür auf. Sie glitt auf den Sitz hinter ihm und schmollte ausgiebig.

Phoebe kam um den Wagen herum, sank auf den Beifahrersitz und schloss die Tür.

»Nun, du hättest dich besser schlagen können.«

Silas drehte sich um und blickte auf den Rücksitz, um Rosalind besorgt zu mustern. Währenddessen scharten die Reporter sich um den Wagen und holten ihre Notizblöcke heraus, um die vorgefallenen Ereignisse zu dokumentieren.

»Was ist da draußen passiert?«

»Bitte fahr«, sagte Rosalind scharf. Sie drückte sich die Handballen auf die Augen. Dann strich sie sich mit den Handflächen über das Gesicht. Ihre Wange war wieder glatt. »Fahr einfach.«

Auf den vorderen Sitzen wechselten Silas und Phoebe einen Blick und debattierten stumm über ihre Antwort. Bevor Silas den Wagen auf die Straße lenken konnte, schlug plötzlich jemand an sein Fenster. Er zuckte erschrocken zusammen, wobei ihm die Brille die Nase herunterrutschte.

»Los!«, herrschte Rosalind ihn an. Der Reporter richtete seine Kamera auf den Spalt des heruntergekurbelten Fensters. »Beeil dich!«

Silas gab Gas. Phoebe lehnte sich hinüber und schob seine Brille hoch, bevor sie aus seinem unscharfen Sichtfeld fallen konnte. Und Rosalind sah zu, wie ihre Wohnung und die Reporter hinter ihr verschwanden.

Selbst als der Tumult verklang, wagte sie es kaum, den tiefen Atemzug auszustoßen, der an ihren Lungen riss. Rosalind drehte sich wieder nach vorn, ihre Schultern waren angespannt und sie saß in sich zusammengekauert.

Der Wagen machte einen Satz, als er über eine Unebenheit fuhr und sich in dichteren Verkehr einreihte. Während Silas und Phoebe ihre Unterhaltung wieder aufnahmen, streckte Rosalind stumm die Hand zur anderen Seite des Rücksitzes aus und ließ sie über der leeren Stelle dort schweben. Dann senkte sie ihre Hand und legte sie auf die Leere.

2

Im örtlichen Hauptquartier der Kuomintang herrschte reges Treiben, Soldaten bewachten die Eingänge. Einer von ihnen schnalzte verärgert mit der Zunge, als Rosalind ihm an der Tür zu nahe kam. Sie starrte ihn wütend über ihre Schulter an, denn sie war über seine Anwesenheit ebenso verärgert.

Das Hauptquartier war in Aufruhr, seit General Hong dabei entlarvt worden war, dass er seine Hanjian-Geschäfte in ebenjenen Wänden ausgeübt und seinen Sohn dorthin gerufen hatte, um ihm nach Anweisung seiner Frau einer Gehirnwäsche zu unterziehen. Wenn man das zugelassen hatte, wie konnte man dann wissen, was sonst noch unbemerkt blieb? Sie übertrieben, hatten Augen an jeder Ecke. Nicht, dass das einen großen Unterschied machte.

Silas führte Rosalind durch das Gebäude. Er kannte den Grundriss besser als sie, da sie so selten dort vorbeischaute. Phoebe wartete vor den Toren, da ihr ohne offizielle Berechtigung der Zutritt verwehrt war. Phoebe hatte die Soldaten draußen angefahren, als verdächtigte sie sie, ihr aufgrund ihres Familiennamens den Zutritt zu verweigern.

»So lästig die Reporter auch sein mögen, sie haben recht«, sagte Silas, als er Rosalind seinen Wissensstand zusammenfasste. »Eine Einheit hat Liwen in der Mandschurei gesichtet.«

»Nur eine Sichtung?«, bohrte Rosalind nach. »Unternehmen sie nichts?«

»Nein. Doch selbst wenn sie sich darauf vorbereiten würden, bis sie sich gesammelt hätten, wäre Lady Hong längst verschwunden.«

Für Orion hätten sie die Geheimabteilung schicken sollen, doch die Nationalisten waren vom Nutzen einer solchen Mission nicht überzeugt. Denn mit den Fähigkeiten, die er besaß, könnte Orion die verbleibenden Geheimagenten ausschalten, und die Geheimabteilung war inzwischen ausgedünnt genug.

»Sie müssen mich schicken.« Rosalind zupfte an einem losen Faden ihres Handschuhs. »Ich bin die Einzige, die es schaffen kann.«

Silas blickte sie angespannt an, doch widersprach ihr nicht. Er war zu erschöpft, außerdem hatte er das zu oft gehört, während Rosalind das Ende der von der Kuomintang aufgezwungenen »Halten Sie sich einfach bedeckt, bis wir wissen, was zu tun ist«-Phase abwarten musste. Doch auch Silas und Phoebe hatten nichts Besseres anzubieten. Orion war immer der sorglose, beschwichtigende Agent gewesen. Ohne ihn verloren die beiden sich in den Extremen ihrer Eigenheiten, was für gewöhnlich nicht hilfreich war – obwohl Rosalind ihnen dafür keine Schuld gab. Phoebe war ständig aktiv, Silas war stundenlang wie vom Erdboden verschwunden, wenn er sich in die Suche nach Priest vergrub. Eine Mission, der er sich immer noch hingebungsvoll widmete.

»Ab hier solltest du allein weiter«, sagte Silas. »Ich glaube, General Yan wollte mit dir sprechen.«

Sie blieben vor einem langen Korridor stehen. Das Linoleum war so stark poliert, dass Rosalind ihr eigenes Spiegelbild sehen konnte. Etwas am örtlichen Hauptquartier erinnerte sie an Seagreen Press. Der Shanghaier Zweig der Zeitung war geschlossen worden, nachdem man Seagreens Leiter wegen Verschwörung zur Gefährdung der Nation festgenommen hatte, wie auch eine Handvoll Mitarbeiter, deren Verwicklung in ein Vorhaben mit chemischen Experimenten Rosalind und Orion aufgedeckt hatten. Die Kuomintang-Regierung wollte Schutzmechanismen einrichten, doch in Anbetracht der Spannungen in der Stadt würde sie nicht so weit gehen, eine Beleidigung des Japanischen Kaiserreichs zu riskieren. Die Geheimabteilung hatte so hart daran gearbeitet, Seagreen zur Rechenschaft zu ziehen. Stattdessen hatte sich herausgestellt, dass eine Hanjian-Verräterin ihrer eigenen Nationalität die Schuld trug: Orions Mutter.

»Ist er unser neuer Betreuer?«, fragte Rosalind.

Silas schüttelte den Kopf. »General Yan gehört eher zur Verwaltung als zur Geheimabteilung. Jiemin ist immer noch für unsere Missionen zuständig.«

Wo ist er dann?, dachte Rosalind. Die Frage schlug ihr auf den Magen. Wenn sie sie schon wochenlang warten ließen, hätte Jiemin zumindest ein vernünftiges Treffen organisieren können, als man sie endlich hierher zitierte.

»Bleibst du in der Nähe?«, fragte sie Silas.

Er hielt eine Tüte voll Tonbändern in der Hand, die er mit den Geräten im Hauptquartier abspulen und löschen wollte. Sein wichtigstes Kommunikationsmittel mit Priest, laut Phoebes Grummeln an langen Nachmittagen, wenn Silas verschwand und Phoebe Rosalind Gesellschaft leistete. Obwohl Rosalind bezweifelte, dass ein gesichtsloser Attentäter der Kommunisten bei ihrer Zwickmühle helfen könnte, bestand Silas darauf, dass Priests heldenhaftes Eingreifen bei Lagerhalle 34 etwas sein könnte, mit dem sie Orion retten würden.

»Ich bin oben, falls du mich brauchst, Săozi.«

Rosalind runzelte die Stirn. »Warum nennst du mich jetzt auch noch so?«

Silas lächelte verlegen und sagte im Weggehen: »Macht der Gewohnheit. Ich verbringe zu viel Zeit mit Feiyi.«

Sie redeten hinter ihrem Rücken also oft genug über sie, dass die Gewohnheit weitergegeben werden konnte. Immerhin tratschten sie respektvoll.

Sobald Silas verschwunden war, verschränkte Rosalind die Arme und lehnte sich an die Wand. Entlang des Flurs gab es mehrere Türen. Die meisten waren geschlossen und dahinter hörte sie das leise Murmeln von Besprechungen. Doch eine war nur angelehnt. Rosalind wartete noch ein paar Minuten. Als es so aussah, als würde sie niemand so bald holen, ging sie zu der Tür hinüber und steckte den Kopf durch die Lücke. Wahrscheinlich würde sie niemanden stören. Wenn sich hier etwas Vertrauliches befand, hätten sie mindestens drei Soldaten postiert.

»Hallo?«, rief sie versuchsweise.

Rosalind stieß die Tür weiter auf. Es handelte sich um nichts weiter als einen leeren Besprechungsraum mit einem großen Tisch in der Mitte und Kistenstapeln in den Ecken. Sonnenlicht strömte durch das Fenster herein und warf einen Rahmen um die Pinnwände und die neben dem Tisch zusammengeschobenen Tafeln. Die Pinnwände waren mit allen Details der aktuellen Ereignisse in der Stadt gepflastert. Zeitungsausschnitte und Telegramme mit Wasserflecken waren nebeneinander gepinnt, Fotografien von Politikern und Papierfetzen, auf die man mit Rotstift gekritzelt hatte, bedeckten die Lücken dazwischen.

Eine Pinnwand fiel ihr ins Auge, spärlicher ausgestattet als die anderen. Rosalind wich einer Kiste auf dem Boden aus und ging hinüber. Anfangs war sie sich nicht sicher, warum gerade diese Pinnwand ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Dann kam sie näher und erkannte das Gesicht auf dem Plakat in der Mitte.

Ihre Neugier verflog. Stattdessen überkam sie eine Welle des Zorns.

GESUCHT. WEGEN STAATSVERBRECHEN.

Rosalind riss Dao Fengs Plakat ab und zerknüllte es in ihrer Faust, damit sie sein gezeichnetes Gesicht nicht mehr sehen musste. Sie hoffte, dass sie ihn fanden und bestraften. Sie hoffte, dass sie ihn niemals fanden, dass er in die Nacht entkam und für immer verschwand. Gott – beides waren unerträgliche Gedanken.

Sie hatte ihm vertraut. Das verfolgte sie immer noch. Es schien, als ob alle mit einem festen Platz in ihrem Leben, denen sie wichtig genug war, dass sie blieben, insgeheim etwas anderes planten. Zumindest war Orion keine Wahl geblieben, als man ihn fortgeschafft hatte. Dao Feng hatte beschlossen, sie zu verlassen – hatte sie ausgebildet und ihr erlaubt, sich auf ihn als ihren Betreuer zu verlassen, dabei log er die ganze Zeit über.

Rosalind knüllte das Plakat noch fester zusammen. Sie hatte das irrationale Verlangen, in das Knäuel zu beißen und es mit den Zähnen in Stücke zu reißen.

»Lang Shalin.«

Merde. Ruckartig fuhr Rosalind herum, ließ gleichzeitig das Papierknäuel fallen und ließ es so aussehen, als hätte nicht sie es von der Pinnwand gerissen. Ein junger Sekretär hatte den Kopf in den Besprechungsraum gesteckt und runzelte die Stirn über ihre Anwesenheit darin.

Er zeigte mit dem Daumen hinaus in den Korridor. »Bereit, wenn Sie es sind.«

Rosalind nickte. Ihr Blut kochte noch immer. Sie sagte nichts, als sie dem Sekretär aus dem Raum zurück in den Flur und drei Türen weiter folgte, bevor er an eines der Büros klopfte und ihr bedeutete, einzutreten.

»Danke«, grummelte sie.

Sie drückte die Klinke hinab und betrat das Büro. Durch das Fenster fiel hier so viel Sonnenlicht herein, dass sie beinahe sofort zurückgezuckt wäre und sich mit zusammengekniffenen Augen der Helligkeit erwehren musste. Am Fenster stand ein Mann, der mühelos direkt in das goldene Tageslicht schaute. General Yan, wie sie aufgrund seiner Nationalistenuniform und dem Mahagonischreibtisch, hinter dem er stand, annahm.

Er drehte sich um, als er sie eintreten hörte, schenkte ihr ein väterliches Lächeln und lehnte sich über den Tisch, um ihr die Hand entgegenzustrecken.

»Es ist mir ein Vergnügen, Sie persönlich kennenzulernen, Lang Shalin. Sie werden mir die Umstände, unter denen wir uns treffen, verzeihen müssen.«

Rosalind schwieg, während sie sich vorlehnte, um seine Hand zu schütteln. Instinktiv wollte sie ihre Erinnerungen durchkämmen, ob sie General Yan schon einmal in der Villa der Scarlets getroffen hatte, doch wozu die Mühe? Ihre Vergangenheit war ihr hier keine Hilfe. Nicht, dass sie je zu etwas anderem gut gewesen wäre, als die Vorstellungen aller von ihr auszuschmücken.

»Wo ist Jiemin?«, fragte Rosalind. »Ich hätte gedacht, dass er sich mit mir treffen würde.«

»Er ist zurzeit nicht in der Stadt«, erwiderte General Yan. Er sank in seinen Sessel und bedeutete Rosalind, es ihm gleichzutun. Das wollte sie nicht. Sie wollte, dass diese Besprechung schnell vorüberging, und dann wollte sie handeln, anstatt noch länger herumzusitzen und zu warten, bis die Gefahr vorüber wäre.

Doch da Rosalind im Hauptquartier keinen Ärger machen wollte, setzte sie sich. Sie konnte die Hände in ihrem Schoß nicht stillhalten, faltete und öffnete eine über der anderen. »Meinetwegen.« Ihr Blick fiel auf die Dokumente auf General Yans Schreibtisch. Was stand da? Ruhestandskonto? »Es tut mir leid, dass ich Ihren Terminplan noch weiter mit Aufgaben der Geheimabteilung belaste. Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie sich um genug andere wichtige Angelegenheiten kümmern müssen, solange wir uns im Krieg befinden.«

General Yan reagierte nicht auf ihren halbherzigen Spott. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, beobachtete sie aufmerksam und ließ Stille den Raum ausfüllen. Nur das Ticken der Uhr auf seinem Schreibtisch und das Schniefen seines Assistenten vor der Tür waren zu hören. »Wir haben gestern von Ihrem Vater gehört.«

Rosalind setzte sich ruckartig auf, ihr Rücken versteifte sich. »Wie bitte?«

»Er hat sich mit uns in Verbindung gesetzt, um seine Zustimmung zu den von uns geplanten nächsten Schritten kundzutun. Und um uns mitzuteilen, dass Sie, wenn Sie Zugang zu Ihren Bankkonten benötigen, nach Hause zurückkehren und seine Unterschrift einholen müssen. Er sagt, Sie hätten seine Briefe nicht beantwortet.«

Rosalind konnte ihm nicht folgen. Bankkonten? Die Unterschrift ihres Vaters? Was hatte all das mit ihrer nächsten Mission zu tun?

Ihr Blick fiel wieder auf die Dokumente. Die Erkenntnis war wie ein Schlag ins Gesicht, ein körperlicher Stich, durch den ihr einen kurzen Moment weiß vor Augen wurde.

»Sie schicken mich in den Ruhestand.«

General Yan widersprach ihrer Schlussfolgerung nicht. Er blätterte die Dokumente durch, während Rosalind schnell blinzelte, um sich wieder zu konzentrieren. Ihre Hände waren plötzlich so fest um die Sitzfläche ihres Stuhls geklammert, dass ihre Nägel zu brechen drohten.

»Wie können Sie –«

»Dies ist keine einfache Entscheidung«, unterbrach General Yan sie gelassen. »Sie haben wundervolle Arbeit geleistet, Lang Shalin. Doch Fortuna kann nicht wieder eingesetzt werden, wenn das ganze Land von Ihnen weiß. Die Feinde, die Sie sich in Ihrer Karriere gemacht haben, würden jede Ihrer Bewegungen verfolgen. Sie können nicht verdeckt ermitteln oder untertauchen.«

»Ich bin eine Attentäterin«, protestierte Rosalind. »Ich muss nicht verdeckt ermitteln, solange mir keine weitere Langzeitmission wie Seagreen zugewiesen wird!«

»Und was werden Sie tun, wenn Sie erkannt werden, bevor Sie Ihr Gift anwenden können? Wenn Sie fotografiert werden, während Sie eine Zielperson verfolgen? Sie würden die Aufdeckung der gesamten Geheimabteilung riskieren. Wir müssen zuallererst unsere Integrität schützen.«

Rosalind hatte das Gefühl, ihr würde die Kehle abgeschnürt. Ihr Blutkreislauf traf auf ein Hindernis und kam zum Erliegen. Vielleicht endete es damit. Ihre Unsterblichkeit holte sie ein, all die gestohlene Zeit, die sich seit ihrem vermeintlichen Todestag angesammelt hatte. In wenigen Sekunden würde sie tot auf dem Teppich des Büros aufschlagen, ihre Ziele und ihr Leben auf einen Schlag ausgelöscht.

»Das können Sie nicht tun«, flüsterte sie. Irgendwie schaffte sie es, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Das können Sie mir nicht antun. Was soll ich machen?«

Sie verließ sich auf den Nachrichtendienst der Nationalisten, nur um herauszufinden, wohin Orions Mutter ihn alle paar Tage brachte, ihn mitschleifte wie eine Art Spielzeug oder eine Waffe. Ansonsten wäre sie vollkommen ahnungslos.

General Yan schob ihr den Dokumentenstapel zu. »Leben Sie ein gutes Leben. Wir zahlen natürlich Ihren Rentenfond. Ich weiß, dass die Geheimabteilung in bar zahlt, doch wir bevorzugen es, monatliche Überweisungen einzurichten. Daher müssen Sie auf jeden Fall ihren Vater bitten, …«

Obwohl der General weitersprach, hatte Rosalind nur ein leises Sausen in den Ohren. Dass man sie enttarnt hatte, hatte nicht in ihrer Macht gelegen, und doch bestraften sie sie dafür, indem sie sie wegwarfen, sie feinsäuberlich unter den Teppich kehrten, als hätte sie nie existiert.

Gott. Hatte sie nicht immer gewusst, dass sie so arbeiteten? Kaum fing sie sich ein bisschen Ärger ein, ließen die Nationalisten sie im Regen stehen. Sobald sie etwas tat, das nicht den Zielen der Nationalisten entsprach, brauchte man sie nicht mehr.

General Yan war verstummt. Er schien auf irgendeine Antwort zu warten. Rosalind wusste nicht einmal, was er zuletzt gesagt hatte.

»Was ist mit dem Rest der Geheimabteilung, die Sie nicht schützen?«, fragte sie. »Was ist mit Hong Liwen draußen auf dem Land, einer Hanjian schutzlos ausgeliefert?«

Langsam ließ General Yan die Ellbogen auf seinen Schreibtisch sinken. Seine Aufmerksamkeit auf ihr fühlte sich schwer an, als würde er sie mit einem bloßen Blick zerpflücken und jeden egoistischen Wunsch in ihren Worten lesen.

Verfolgt ihn, wollte sie schreien. Wofür seid ihr gut, wenn ihr uns nicht helfen könnt?

»Shalin, Sie sind von Ihrer früheren Mission befreit.« Er verschränkte die Finger. In seinen Augen lag tiefe Sorge. »Immerhin war er nur Ihr falscher Ehemann. Ich schätze Ihr von Herzen kommendes Pflichtgefühl, doch es besteht kein Grund dafür, High Tides Erfolg so ernst zu nehmen.«

Einen Moment lang verstand Rosalind nicht, worauf General Yan anspielte. Wie könnte sie den Erfolg von High Tide nicht ernst nehmen? Die Mission hatte in den letzten Monaten ihr Leben bestimmt. Die Sicherheit der Stadt hing davon ab.

Dann hätte Rosalind beinahe gelacht, denn sie konnte nicht glauben, dass er argumentierte, dass sie es nicht so ernst nehmen sollte, weil er nur ihr falscher Ehemann gewesen war. Die Hochzeit mochte gefälscht gewesen sein, doch seine Zuneigung war echt. Sie warf anderen vor, sie im Stich zu lassen, doch auch sie schien zu nichts anderem fähig zu sein. Sich abwenden. Weglaufen. Fliehen.

»Ich lehne das ab«, flüsterte Rosalind. Ihre Stimme bebte, sie hörte sich kaum selbst. »Er liebte mich und ich habe ihn verlassen.«

Auf der anderen Seite des Tisches winkte General Yan ab, er hatte das Ende seines Geduldsfadens erreicht. Währenddessen versuchte Rosalind, das Beben in ihrer Brust zu unterdrücken. Sie musste etwas tun können. Dao Feng hatte ihr einst gesagt, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte niemand sie zum Nachgeben zwingen. Wenn die Nationalisten wollten, dass sie in den Ruhestand ging, musste sie dagegen ankämpfen.

»Sonst noch etwas, Lang Shalin? Wenn nicht, kann die Verwaltung sich um alles Weitere kümmern. Sie können stattdessen morgen wiederkommen. Ich kann mir vorstellen, dass das Ihrer Gesundheit guttun würde.«

Sag etwas. Jetzt. Kämpfe. Ihre Kehle brannte vor Frustration. Ihre Finger juckten vor Unbehagen, als wäre ihre Haut ihrem Körper zu eng geworden. »Ich –«

Sie schaffte es nicht.

Anstatt für sich einzutreten, sprang Rosalind Lang auf und verließ den Raum, während sie damit kämpfte, ihre Tränen zurückzuhalten.

3

Sie war das alles leid.

Die Nationalisten in ihren Büros. Das kalte Wetter. Die bei Sonnenuntergang abfallenden Temperaturen. Den Krieg, der die im Hintergrund laufende Radiosendung durchzog. Die Imperialisten, allein dafür, dass sie sich in ihrem Blickfeld befanden.

Natürlich war sie diese Dinge nicht in gleichem Maße leid, doch sie war so verärgert, dass sie sich im Stillen über alles zugleich aufregte. Sie stieß eine Gabel in ihr Kuchenstück und biss so wütend in die Glasur, dass ihre Zähne gegeneinanderstießen. Währenddessen kehrte Silas mit Zuckerpäckchen für Phoebes Kaffee in ihre Nische zurück.

Sie waren zu einem Café in der Nähe des Bund gefahren, das für die dort spielenden Jazz-Bands bekannt war. Es war wohl ein netter Versuch von Silas und Phoebe, Rosalind an einem anderen Ort entspannen zu lassen, bevor sie zu ihrer Wohnung zurückfuhren. Doch während sie der Posaune lauschte, konnte Rosalind nur denken, dass ein Tanzhaus den Musiker gefeuert haben musste, bevor er hierhergekommen war, denn er hatte keinen Rhythmus.

Rosalind kaute auf ihrem Kuchen. Das Glöckchen über den Glastüren klingelte alle paar Minuten und jedes Mal kam ein Schwall kalter Luft herein. Die Außenbeleuchtung ließ rotes Licht hereinfluten, eine Neonschrift verkündete auf Englisch, das Café habe das beste Dessert in ganz Shanghai.

»Die sind so ungesund«, flüsterte Silas, als er sich auf seinen Platz setzte und Phoebe die Zuckerpäckchen reichte.

»Warum hast du sie mir dann geholt?«, erwiderte Phoebe ebenfalls im Flüsterton. Sie riss eines der Päckchen auf und ließ alles bis zum letzten Körnchen in ihr Getränk rieseln.

»Gib nicht mir die Schuld für dein Verlangen nach Zucker. Ich muss dich warn–«

»Du hättest dich wirklich weigern sollen, die Päckchen zu holen, wenn du mich nur tadeln –«

»Warum flüstert ihr?«, unterbrach Rosalind sie in Normallautstärke.

Silas und Phoebe erstarrten, denselben schuldigen Ausdruck auf dem Gesicht, als hätte man sie dabei erwischt, wie sie einander auszogen. Echte Belustigung hätte Rosalind beinahe zum Lächeln gebracht, doch als sie instinktiv zur Seite sah, um Orions Blick einzufangen, überkam sie von Neuem die Erkenntnis, dass er nicht da war.

»Wisst ihr was«, sagte Rosalind, bevor Silas oder Phoebe sich sammeln konnten, und griff nach ihrem Mantel, »wenn ich so darüber nachdenke, wird mich frische Luft auf andere Gedanken bringen.«

»Ich komme mit«, sagte Phoebe sofort.

Rosalind zog ihren Mantel an. »Nein, bitte. Ich brauche etwas Stille, um über alles nachzudenken.«

»Aber wir sind hier, um dir zu helfen«, protestierte Silas. »Drei Köpfe denken besser als einer.«

Er hatte recht. Rosalind hätte ihren Mantel ausziehen, sich hinsetzen und ihre rohen, verletzlichen Gedanken auf den Tisch legen sollen, damit Phoebe und Silas ihr helfen könnten, sie zu zerpflücken. So könnte sie entscheiden, wie sie am besten vorgingen, und eine gute Freundin sein.

Doch stattdessen war sie offensichtlich dazu bestimmt, ein sich selbst zum Entgleisen bringendes Zugunglück zu sein, denn Rosalind schenkte ihnen nur ein angespanntes Lächeln und sagte: »Nein, ich meine es ernst. Ich muss spazieren gehen. Bleibt hier und trinkt aus. Ich komme schon zurecht.«

Sie war zur Tür hinaus, bevor sie erneut widersprechen konnten. Was nützte es, noch länger herumzusitzen, ein elender Anhang zu ihrem Zwei-Personen-Ausflug? Wenn Rosalind so viele Jahre überlebt hatte, obwohl sie sich nur auf sich selbst verlassen konnte, dann machte sie offensichtlich etwas richtig.

Über ihr brummten die Straßenlampen leise, jede Gaslampe leuchtete ihr den Weg, während sie ihre Schritte beschleunigte. Sie fühlte sich besser, sobald sie draußen war, weg von Phoebes und Silas’ freundlichen, besorgten Blicken. Selbst als sie ihren Mantel enger um ihre Brust schlang, gegen die Kälte, die ihren Atem im Januarwinter sichtbar werden ließ, zog sie den beißenden Wind dem warmen Café mit seinem fröhlichen Gelächter vor.

Rosalind bog von der Nanjing Road ab. Ihre Füße trugen sie tiefer in die Stadt hinein, weg von der Strandpromenade und der Ozeanbrise. Sie schlängelte sich ziellos über weniger benutzte Straßen, wo die Läden bereits geschlossen hatten und nur ein oder zwei Rikschas vorbeikamen. Sie ging weiter, nur um etwas zu tun zu haben, während die Nacht sich in die Länge zog.

Als sie den ersten Mann in dunkler Jacke überholte, dachte sie nicht weiter darüber nach.

Als sie nur Minuten später an einem zweiten Mann vorbeikam, der genauso angezogen war und eine Tätowierung am Hals hatte, fragte sie sich, ob alles mit rechten Dingen zuging.

Rosalind machte sich nicht die Mühe, ihren Verdacht zu verbergen. Sie fuhr sofort herum und beobachtete, wohin der zweite Mann ging. Er hatte sich ebenfalls umgedreht, um zurückzublicken.

Ihre Blicke trafen sich.

Nun bestand kein Zweifel mehr: Sie war ihm auf die Schliche gekommen und er hatte es bemerkt.

Sofort hob er den Arm, um ein Zeichen zu geben. Schatten regten sich in den Gassen und offenbarten drei weitere Männer, die bereitgestanden hatten. Sie befand sich in einer Einbahnstraße. Zu ihrer Linken lag eine Kirche. Ein Laden für Instrumente zu ihrer Rechten. Beide Gebäude waren verschlossen und keines der Wohngebäude zu beiden Seiten wirkte leicht zugänglich. Man hatte um sie herum einen Hinterhalt geplant. Alle Fluchtwege waren versperrt.

Doch Rosalind blieb ruhig. Sie drehte sich langsam um sich selbst und zählte durch. »Wenn sich jemand unter einem Auto versteckt, wäre jetzt wohl ein geeigneter Zeitpunkt, um darunter hervorzukommen.« Ihre Stimme war klar und deutlich zu hören. Sie warf ein leichtes Echo, sprang in die Gassen und prallte lauter zurück, als sie sie ausgesandt hatte.

»Entschuldigen Sie unsere Manieren, Lady Fortuna.« Das kam von einem der Männer in den Schatten. Er hielt ein Brecheisen in der Hand. »Wir hätten Sie zum Tee geladen, wenn wir Ihre Identität früher gekannt hätten. Doch so kurzfristig können wir nur mit einer Begegnung auf der Straße dienen.«

Die zwei Männer, an denen sie vorbeigekommen war, griffen in ihre Jacken. Sie zogen Pistolen mit Schalldämpfern hervor. Mit rasenden Gedanken versuchte sie, ihre Gesichter zuzuordnen, doch sie hatte kein Glück.

»Was wollt ihr?«, fragte sie trocken. »Lösegeld?«

Der vierte Mann, der am weitesten entfernt stand, hatte ein großes Messer. Er stürzte sich als Erster auf sie. Allein ihre Frage brachte ihn dazu, zu kreischen: »Rache. Für meinen Bruder.«

Ah. Dies waren also die Auswirkungen ihrer früheren Opfer. Man wollte die Rechnung begleichen, nachdem Fortunas schmutzige Arbeit jahrelang hinter einer Fassade verborgen gewesen war. Sie fragte sich, was sein Bruder getan hatte, um auf einer der an Fortuna weitergereichten Listen zu landen. Ob man ihn ins Visier genommen hatte, weil er ein krimineller Händler war, oder ihn dafür bestraft hatte, dass er an die Imperialisten verkaufte.

Rosalind wich dem schnellen Schlag aus. Ohne nachzudenken, zog sie eine ihrer Haarnadeln heraus und ließ das Metall über ihre Fingerrücken gleiten, um einen festeren Griff zu haben. Dann zog sie die scharfe Spitze über das Gesicht das Mannes, als er sich zurückzog. Er knurrte.

Obwohl er sich erneut auf sie stürzen wollte, kamen auch die anderen in Bewegung. Schüsse halten durch die Nacht. Einer, zwei, drei. Zwei trafen die Straße, ließen Kies und Schotter aufspritzen. Der dritte landete in ihrer Schulter.

Tā mā de, dachte sie. Ich habe es so satt, beschossen zu werden –

Der Mann, den sie mit ihrer vergifteten Haarnadel getroffen hatte, fiel zuckend zu Boden. Rosalind bückte sich und stahl sein Messer, wobei sie mit der freien Hand ihre Schulter umklammerte. Für einen Augenblick überkam sie ein betäubender Schmerz, ihre Welt wurde weiß. Sie atmete tief durch. Stolperte vorwärts. Sekunden später spürte sie, wie ihre Muskeln sich wieder an ihren Platz schoben, sich zusammenflickten und das hinderliche Objekt herausschoben. Sobald sie die Hand von ihrer Schulter nahm, erklang ein lautes Klink vom Pflaster. Die Kugel rollte zu einer Regenrinne.

»Warum wärt ihr so dumm« – Rosalind richtete sich auf, ihr Kiefer tat weh, so fest hatte sie die Zähne zusammengebissen –, »einer unsterblichen Attentäterin nachzustellen?«

Der Mann mit dem Brecheisen kam auf sie zu gerannt. Rosalind warf das Messer, das sie aufgehoben hatte. Es verfehlte sein Ziel – recht weit sogar –, doch die fliegende Klinge war nur eine Ablenkung gewesen. Sie testete die Windrichtung, beobachtete, wie das Messer sich mit dem Wind hob und mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden aufkam. Bevor der Mann mit seinem Brecheisen zuschlagen und ihr eine weitere Verletzung zufügen konnte, griff Rosalind nach einem kleinen Beutel mit Pulver an ihrem Bein und schüttelte es kräftig in den Wind, sodass es dem Angreifer ins Gesicht flog. Er keuchte. Dann keuchte er wieder, als sich seine Atmung plötzlich verlangsamte.

Wieder ertönte ein lauter Schuss. Streifte ihren Arm.

Gott, das tat weh.

Die beiden Männer mit ihren Pistolen waren auf Abstand geblieben. Sicherlich zielten sie dadurch schlechter, anders konnte Rosalind es sich nicht erklären, dass sie nicht ihren Kopf anvisierten, um sie mit einem Schuss zu töten, ihr Gehirn in Stücke zu pusten und jede Chance auf eine Heilung zunichtezumachen. Ihre beiden Miträcher waren bereits tot.

»Aufhören«, sagte Rosalind schlicht. Ihr Arm tat weh. Ihr Körper tat weh. »Ihr könnt nicht gewinnen.«

Einer der Männer eröffnete erneut das Feuer. Diese Kugel – sie zielte geradewegs auf ihre Brust – sank über ihrem Herzen ein, das bereits roh und rot pochte. Sie hatte die letzten Wochen eingesperrt verbracht, weil man ihr gesagt hatte, dass sie herumsitzen und warten sollte, während Leute, die sie hassten, wie die Geier kreisten. Und wozu? Ihr Herz hatte lange vor dieser Kugel geschmerzt. Es würde weiterhin schmerzen, selbst nachdem die Kugel abgestoßen war und wie eine Träne in Todesform auf dem Boden aufkam.

Rosalind berührte ihre Brust. Sanft strichen ihre Finger über das Loch in ihrem Qipao, wo der Stoff verbrannt und mit Blut getränkt war. Darunter pulsierte die Wunde. Lebhaftes Rot rann heraus und verfärbte ihre Kleider.

»Na gut«, sagte sie. Sie griff in ihre Tasche. Langsam ging sie auf die zwei verbliebenen Männer zu, ihre Haltung veränderte sich. »Um der alten Zeiten willen, weil ihr euch weigert, mich in Ruhe zu lassen.«

Sie zog ihre Münze aus der Tasche.

Eine Sekunde verstrich, in der ihren Angreifern klar wurde, worum es sich handelte. Als sie den Daumen unter die Kante der Münze legte und sie in die Luft schnippte, machte der Mann zur Linken kehrt und rannte davon. Der Rechte blieb jedoch noch einen Augenblick länger stehen.

Bevor die Münze ihren Bogen vollenden konnte, machte er endlich auf dem Absatz kehrt und gab seine Mission auf.

Doch es war zu spät.

Nun wollte Rosalind Blut sehen.

Sie nahm die Verfolgung auf, machte sich kaum die Mühe, nach unten zu blicken, um nachzusehen, worauf die Münze gelandet war. Eine Stimme in ihrem Kopf riet ihr, stehen zu bleiben, sich zurückzuziehen, bevor es zu spät war und sie in die Dunkelheit zurückkehrte, die sie hinter sich gelassen zu haben glaubte. Doch ihre Selbsterkenntnis konnte sie nicht davon abhalten, den Mann am Kragen zu packen, als sie zu ihm aufholte, und sie war auch nicht laut genug, um Rosalind dazu zu bringen, den Arm zurückzuziehen, als sie ihn zum Stehenbleiben zwang und ihre Haarnadel in seinen Hals stach.

Er schnappte nach Luft. Sie zog die Nadel heraus.

Der Mann brach zusammen.

Rosalind spürte, wie sich ein Schluchzen ihrer Kehle entringen wollte. Abscheu kroch wie Schlamm durch ihren Körper, verstopfte ihre Venen wie ihr eigenes Gift. Sie sollte besser sein als das. Sie sollte mehr Einfluss auf diese Stadt haben, mehr als sinnlose Wut in ihren Gassen sein.

Genug, sagte die Stimme in ihrem Kopf. Sie klang schrecklich vertraut. Auf schreckliche Art wie Dao Feng. Atme tief durch. Das bist nicht du.

Kurz nachdem sie Fortuna geworden war, hatte Rosalind sich wie ein unkontrollierbarer Sprengkörper gefühlt, so zerstörerisch wie das, was Zhabei erschüttert und ihre Cousine getötet hatte. Sie hatte Wiedergutmachung leisten wollen, indem sie in gleichem Maße Schaden verursachte, hatte verzweifelt die Verantwortung für ihre Taten übernehmen, einen Ausgleich schaffen wollen. Doch damals war sie unerfahren gewesen, schwach für eine Attentäterin und unbedarft, wenn es darum ging, Ziele auszuschalten. Dao Feng hatte den Großteil ihres Zorns eingesteckt, war ein unerschütterlicher Stoßdämpfer für ihre Wutanfälle gewesen, die Hand, die sie auf eine Lernkurve führte und sie davon abhielt, grundlos grausam zu sein.