Wellen - Eduard von Keyserling - E-Book

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Eduard von Keyserling

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Beschreibung

Ein Badesommer an der Ostsee – ein scheinbares Idyll Doralice hat sich von ihrem älteren, standesgemäßen Gatten Graf Köhne-Jasky getrennt und lebt nun mit dem Maler Hans zusammen. Doch noch immer ist sie hin- und hergerissen zwischen ihrem aufgegebenem gesellschaftlichem Rang und der Liebe zu Hans. Doralice, der nur allzu bewusst ist, dass sie aufgrund ihrer Trennung nicht mehr gesellschaftsfähig ist, genießt das Werben der "besseren Gesellschaft", des Barons von Buttlär und auch des Leutnants Hilmar. Ein abgewiesener Antrag auf einem Geburtstagsfest führt schließlich zur Katastrophe. Der "bessere Fontane" – wie Keyserling von manchen genannt wurde diktierte diesen Roman – schon schwer von Krankheit geschlagen seiner Schwester. Null Papier Verlag

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Eduard von Keyserling

Wellen

Roman

Eduard von Keyserling

Wellen

Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 EV: S. Fischer, Berlin, 1920 (253 S.) 1. Auflage, ISBN 978-3-962814-34-2

null-papier.de/605

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

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Vous êtes tous les deux téné­breux et dis­crets: Hom­me, nul n’a son­dé le fond de tes abî­mes, O mer, nul ne con­naît tes ri­ches­ses in­ti­mes, Tant vous êtes ja­loux de gar­der vos se­crets.

Bau­de­lai­re

Erstes Kapitel

Die Ge­ne­ra­lin von Pa­li­kow und Fräu­lein Mal­wi­ne Bork, ihre lang­jäh­ri­ge Ge­sell­schaf­te­rin und Freun­din, ka­men in das Wohn­zim­mer. Sie woll­ten sich ein we­nig er­ho­len. Die Ge­ne­ra­lin setz­te sich auf das Sofa, das frisch mit ei­nem blan­ken, schwarz und ro­ten Kat­tun be­zo­gen war. Sie war sehr er­hitzt und lös­te die Hau­ben­bän­der un­term Kinn. Das lila Som­mer­kleid knis­ter­te leicht, die wei­ßen Haar­ku­chen an den Schlä­fen wa­ren ver­scho­ben und sie at­me­te stark. Sie schwieg eine Wei­le und schau­te mit den ein we­nig her­vor­ste­hen­den grell­blau­en Au­gen kri­tisch im Zim­mer um­her. Das Zim­mer war weiß ge­tüncht, we­nig schwe­re Mö­bel stan­den an den Wän­den um­her und über die Bret­ter des Fuß­bo­dens war Sand ge­streut, der in der Abend­son­ne glit­zer­te. Es roch hier nach Kalk und See­moos.

»Hart«, sag­te die Ge­ne­ra­lin und leg­te ihre Hand auf das Sofa.

Fräu­lein Bork neig­te den Kopf mit dem leicht er­grau­ten Haar auf die lin­ke Schul­ter, blick­te schief durch die Glä­ser ih­res Knei­fers auf die Ge­ne­ra­lin, und das bräun­li­che Ge­sicht, das aus­sah wie das Ge­sicht ei­nes klu­gen äl­te­ren Herrn, lä­chel­te ein nach­denk­li­ches, ver­zei­hen­des Lä­cheln. »Das Sofa«, sag­te sie, »na­tür­lich, aber man kann es nicht an­ders ver­lan­gen. Für die Ver­hält­nis­se ist es doch sehr gut.«

»Lie­be Mal­wi­ne«, mein­te die Ge­ne­ra­lin, »Sie ha­ben die An­ge­wohn­heit, al­les ge­gen mich zu ver­tei­di­gen. Ich grei­fe das Sofa gar nicht an, ich sage nur, es ist hart, das wird man doch noch dür­fen.«

Fräu­lein Bork er­wi­der­te dar­auf nichts, sie lä­chel­te ihr ver­zei­hen­des Lä­cheln und schau­te schief durch ih­ren Knei­fer jetzt zum Fens­ter hin­aus auf den klei­nen Gar­ten, der da­vor lag. Salat und Kohl wuch­sen dort recht küm­mer­lich, Son­nen­blu­men stan­den da mit großen schwar­zen Her­zen und über al­le­dem lag ein leich­ter blon­der Staub­schlei­er. Da­hin­ter der Strand grell oran­ge in der Abend­son­ne, end­lich das Meer un­deut­lich von all dem un­ru­hi­gen Glan­ze, der auf ihm schwamm, von den zwei re­gel­mä­ßi­gen wei­ßen Stri­chen der Bran­dungs­wel­len um­säumt. Und ein Rau­schen kam her­über ein­tö­nig, wie von ei­nem schläf­ri­gen Takt­stock ge­lei­tet.

Die Ge­ne­ra­lin hat­te den Bul­len­krug für den Som­mer ge­mie­tet, um hier an der See ihre Fa­mi­lie um sich zu ver­sam­meln. Vor drei Ta­gen war sie mit Fräu­lein Bork, Frau Klin­ke, der Mam­sell,1 und Er­nes­ti­ne, dem klei­nen Dienst­mäd­chen, hier an­ge­langt, um al­les ein­zu­rich­ten. Es er­for­der­te Ar­beit und Nach­den­ken ge­nug, für alle die­se Men­schen Platz zu schaf­fen und nicht nur Platz, »denn«, pfleg­te die Ge­ne­ra­lin zu sa­gen, »ich ken­ne mei­ne Kin­der, bei al­lem, was ich gebe, sind sie kri­tisch wie ein Thea­ter­pu­bli­kum.« Heu­te nun war die Toch­ter der Ge­ne­ra­lin, die Baro­nin von Butt­lär, mit den Kin­dern, den bei­den eben er­wach­se­nen Mäd­chen Lolo und Nini und dem fünf­zehn­jäh­ri­gen We­dig, an­ge­langt. Der Baron Butt­lär soll­te nach­kom­men, so­bald die Heu­ern­te be­en­det war, und Lo­los Bräu­ti­gam Hil­mar von dem Hamm, Leut­nant bei den Braun­schwei­ger Husa­ren, wur­de auch er­war­tet.

»Wer­den sie auch heu­te Abend alle satt wer­den?« be­gann die Ge­ne­ra­lin wie­der. »Die Rei­se macht hung­rig.« – »Ich den­ke«, er­wi­der­te Fräu­lein Bork, »da sind die Fi­sche, die Kar­tof­feln, die Erd­bee­ren, und We­dig hat sein Beefs­teak.«

»So, so«, mein­te die Ge­ne­ra­lin, »üb­ri­gens der Jun­ge wird es im Le­ben nicht leicht ha­ben, wenn er im­mer sein Beefs­teak ha­ben muss.«

Fräu­lein Bork zuck­te mit den Ach­seln und sag­te ent­schul­di­gend: »Er ist so zart.« Aber das är­ger­te die Ge­ne­ra­lin: »Ge­wiss, ich gön­ne ihm sein Beefs­teak, Sie brau­chen ihn nicht zu ver­tei­di­gen. Nur fin­de ich, lie­be Mal­wi­ne, dass Sie kei­nen rech­ten Sinn ha­ben für das, was man all­ge­mei­ne Be­mer­kun­gen nennt.« Dann schwie­gen die bei­den Da­men wie­der.

Drau­ßen von der Holz­ve­ran­da tön­te Lärm her­über, Teller­ge­klap­per und hohe Stim­men. Er­nes­ti­ne deck­te dort den Tisch für das Abendes­sen und stritt da­bei mit We­dig. Auch Lolo und Nini wa­ren er­schie­nen, sie lehn­ten an der Holz­brüs­tung der Ve­ran­da schmal und schlank in ih­ren blau­en Som­mer­klei­dern. Der See­wind fuhr ih­nen in das leich­te rote Haar und ließ es hübsch um die Ge­sich­ter mit den fast krank­haft fei­nen Zü­gen flat­tern. Die Mäd­chen zo­gen ein we­nig die Au­gen­brau­en zu­sam­men und schau­ten mit den blan­ken braun­ro­ten Au­gen un­ver­wandt auf das Meer und öff­ne­ten die Lip­pen, als woll­ten sie lä­cheln, aber das große be­weg­te Leuch­ten vor ih­nen mach­te sie schwin­de­lig. Auch We­dig hat­te sich nun zu ih­nen ge­sellt und schau­te auch schwei­gend hin­aus. Das kränk­li­che Kna­ben­ge­sicht ver­zog sich, als täte all die­ses Licht ihm weh.

»So«, sag­te die Ge­ne­ra­lin drin­nen zu Fräu­lein Bork, »das war ein an­ge­neh­mer stil­ler Au­gen­blick. Ich höre, mei­ne Toch­ter kommt die Trep­pe her­un­ter, nun kann es wie­der los­ge­hen.«

Frau von Butt­lär hat­te ein we­nig ge­schla­fen, trug ih­ren Mor­gen­rock und hüll­te sich frös­telnd in ein wol­le­nes Tuch. Sie moch­te frü­her das hüb­sche überz­ar­te Ge­sicht ih­rer Töch­ter ge­habt ha­ben, jetzt wa­ren die Wan­gen ein­ge­fal­len und die Haut leicht ver­gilbt. Auf­ge­braucht von Mut­ter­schaft und Haus­frau­en­tum war sie sich ih­res Rech­tes be­wusst, kränk­lich zu sein und nicht mehr viel auf ihr Äu­ße­res zu ge­ben.

Man setz­te sich auf der Ve­ran­da zur Abend­mahl­zeit nie­der an den Tisch, über den das rote Abend­licht hin­flu­te­te und der See­wind an dem Tisch­tuch und den Ser­vi­et­ten zerr­te. Das mach­te die Ge­sell­schaft schweig­sam, so das Meer vor sich, war es, als sei man nicht al­lein, nicht un­ter sich.

»Ich habe mir das Meer grö­ßer ge­dacht«, er­klär­te We­dig end­lich.

»Na­tür­lich, mein Sohn«, mein­te die Ge­ne­ra­lin. »Du willst wohl für dich ein Ex­tra-Meer.«

Frau von Butt­lär lä­chel­te ge­rührt und sag­te lei­se: »Er hat so viel Fan­ta­sie.« Fräu­lein Bork sah We­dig schief durch ih­ren Knei­fer an und mein­te: »An die Fan­ta­sie des Kin­des reicht selbst das Welt­meer nicht hin­an.«

Nun be­gann Frau von Butt­lär mit ih­rer Mut­ter ein Ge­spräch über Re­pe­now, ihr Gut, über Din­ge, die sie an­zu­ord­nen ver­ges­sen hat­te, von Ge­mü­sen, die ein­ge­macht wer­den soll­ten, und Dienst­bo­ten, die un­zu­ver­läs­sig wa­ren, lau­ter Sa­chen, die selt­sam fremd und un­pas­send in das Rau­schen des Mee­res hin­ein­klan­gen, dach­te Lolo. Aber un­ten am Tisch war ein Streit ent­stan­den zwi­schen We­dig und Er­nes­ti­ne. »Er­nes­ti­ne«, sag­te Fräu­lein Bork streng, »wie oft habe ich es dir nicht ge­sagt, du darfst beim Ser­vie­ren nicht spre­chen. Oh! Cet­te en­fant!«2 setz­te sie hin­zu und seufz­te. Die Ge­ne­ra­lin lach­te. »Ja, un­se­re Bork hat es mit Er­nes­ti­nes Er­zie­hung schwer, denkt euch, heu­te Mit­tag ent­schließt sich das Mäd­chen zu ba­den. Sie geht ins Meer nackt wie ein Fin­ger, am hel­len Mit­tag.« – »Aber Mama!« flüs­ter­te Frau von Butt­lär, die Mäd­chen beug­ten sich auf ihre Tel­ler nie­der, wäh­rend We­dig nach­denk­lich Er­nes­ti­ne nach­schau­te, die ki­chernd ver­schwand.

Das Abend­licht leg­te sich jetzt plötz­lich ganz grell­rot und un­wahr­schein­lich über den Tisch und Fräu­lein Bork schrie auf: »Seht doch!« Alle fuh­ren mit den Köp­fen her­um. An dem blass­blau­en Him­mel stan­den rie­si­ge kup­fer­ro­te Wol­ken und auf dem dun­kel­wer­den­den Meer schwamm es wie große Stücke rot­glän­zen­den Me­talls, wäh­rend die am Ufer zer­ge­hen­den Wel­len den Sand wie mit rosa Mus­selin­tü­chern über­deck­ten. We­dig blin­zel­te mit den ro­ten Wim­pern und ver­zog wie­der sein Ge­sicht, als schmerz­te es ihn. »Das ist al­ler­dings rot«, mein­te er. Die Ge­ne­ra­lin je­doch war un­zu­frie­den: »Sie ha­ben mich er­schreckt, Mal­wi­ne, Sie ha­ben eine Art, auf Na­tur­schön­hei­ten auf­merk­sam zu ma­chen, dass man je­des Mal zu­sam­men­fährt und glaubt, eine We­s­pe sit­ze ei­nem ir­gend­wo im Ge­sicht.«

Die Mahl­zeit war zu Ende, die Mäd­chen und We­dig stell­ten sich an die Ve­randa­brüs­tung, um auf das Meer zu star­ren. Frau von Butt­lär hüll­te sich fes­ter in ihr Tuch und sprach mit lei­ser, be­sorg­ter Stim­me von ih­ren häus­li­chen An­ge­le­gen­hei­ten.

Die ge­walt­sa­men Far­ben am Him­mel er­lo­schen jäh. Die farb­lo­se Durch­sich­tig­keit der Som­mer­däm­me­rung leg­te sich über das Land und das Meer, jetzt licht­los, schi­en plötz­lich un­end­lich groß und fremd. Auch das Rau­schen war nicht mehr so ge­ord­net ein­tö­nig und takt­mä­ßig; es war, als lie­ßen sich die ein­zel­nen Wel­len­stim­men un­ter­schei­den, wie sie ein­an­der rie­fen und sich in das Wort fie­len. Klein und dun­kel hock­ten die Fi­scher­häu­ser auf den fah­len Dü­nen, hie und da er­wach­te in ih­nen ein gel­bes Licht­pünkt­chen, das kurz­sich­tig in die auf­stei­gen­de Nacht hin­ein­blin­zel­te. Auf der Ve­ran­da war es still ge­wor­den. Das selt­sa­me Ge­fühl, ganz win­zig in­mit­ten ei­ner Unend­lich­keit zu ste­hen, gab ei­nem je­den für einen Au­gen­blick einen leich­ten Schwin­del und ließ ihn stil­le­hal­ten, wie Men­schen, die zu fal­len fürch­ten.

»Wer wohnt denn dort?« be­gann Frau von Butt­lär end­lich und wies auf ei­nes der Licht­pünkt­chen am Stran­de.

»Das dort«, er­wi­der­te die Ge­ne­ra­lin, »das ist das Haus des Strand­wäch­ters. Eine ver­wach­se­ne Ex­zel­lenz hat sich bei ihm ein­ge­mie­tet. Du kennst ihn auch, den Ge­heim­rat Knos­pe­li­us, er ist bei der Reichs­bank et­was, er un­ter­schreibt, glau­be ich, das Pa­pier­geld.«

Ja, Frau von Butt­lär er­in­ner­te sich sei­ner: »So ein Klei­ner mit ei­nem Bu­ckel. Recht un­heim­lich.«

»Aber so in­ter­essant«, mein­te Fräu­lein Bork.

»Und die an­de­ren Häu­ser?« frag­te Frau von Butt­lär wei­ter.

»Das sind Fi­scher­häu­ser«, er­klär­te Fräu­lein Bork, »das größ­te dort ist das An­we­sen des Fi­schers War­dein und dort, ja, dort wohnt sie doch.«

»Sie?« frag­te Frau von Butt­lär, be­un­ru­higt da­von, dass Fräu­lein Bork ihre Stim­me so ge­heim­nis­voll dämpf­te.

»Nun ja«, flüs­ter­te Fräu­lein Bork, »sie, die Grä­fin Dora­li­ce, Dora­li­ce Köh­ne-Jas­ky, die wohnt dort mit – nun ja, sa­gen wir mit ih­rem Man­ne.« Frau von Butt­lär ver­stand noch nicht ganz.

»Dora­li­ce Köh­ne, die Frau des Ge­sand­ten, das ist doch die, die mit dem Ma­ler – die wohnt hier, das ist ja aber schreck­lich, man kennt sich doch.«

Doch die Ge­ne­ra­lin är­ger­te sich: »Was ist da­bei Schreck­li­ches, man hat sich ge­kannt, man kennt sich nicht mehr. Der Strand ist breit ge­nug, um an­ein­an­der vor­über­zu­ge­hen, eine frem­de Frau Grill, nichts wei­ter. Ihr Ma­ler heißt ja­wohl Hans Grill.«

»Sind sie we­nigs­tens ver­hei­ra­tet?« klag­te Frau von Butt­lär.

»Ja, sie sa­gen, ich weiß es nicht«, mein­te die Ge­ne­ra­lin, »das ist auch gleich. Sie wird das Meer nicht un­rein ma­chen, wenn sie dar­in ba­det. Es ist kein Grund, lie­be Bel­la, ein Ge­sicht zu ma­chen, als sei­est du und dei­ne Kin­der nun ver­lo­ren.«

»Und er ist ein ganz ge­wöhn­li­cher Mensch«, jam­mer­te Frau von Butt­lär wei­ter.

»Ja«, sag­te Fräu­lein Bork, sie sprach noch im­mer lei­se, aber ihre Stim­me nahm einen zärt­li­chen, fei­er­li­chen Klang an, als re­zi­tie­re sie ein Ge­dicht: »es ist trau­rig und doch wie­der in sei­ner Art schön, wie der alte Graf das Ta­lent des ar­men Schul­meis­ter­soh­nes ent­deckt, er ihn aus­bil­den lässt, wie er ihn auf das Schloss be­ruft, da­mit er die jun­ge Grä­fin malt, ja und dort – müs­sen sie sich eben lie­ben, was kön­nen sie da­für. Aber sie wol­len nicht die Heim­lich­keit und den Be­trug. Sie tre­ten zu­sam­men vor den al­ten Gra­fen hin und sa­gen: Wir lie­ben uns, wir kön­nen nicht an­ders, gib uns frei, und er, der edle Greis …«

»Der alte Narr«, un­ter­brach sie die Ge­ne­ra­lin. »Wer sagt Ih­nen denn, dass es so ge­we­sen ist, wer ist denn da­bei ge­we­sen? Wahr­schein­lich sind nicht die bei­den zu dem Al­ten ge­kom­men, son­dern der Alte ist zu den bei­den her­ein­ge­kom­men, das sieht denn an­ders aus. Köh­ne war im­mer ein Narr. Wenn man drei­ßig Jah­re äl­ter als sei­ne Frau ist, lässt man sei­ne Frau nicht ma­len und spielt man nicht den Kunst­freund. Und die­se Dora­li­ce, ich habe ihre Mut­ter ge­kannt, eine dum­me Gans, die nichts zu tun hat­te im Le­ben, als Mi­grä­ne zu ha­ben und zu sa­gen: ›Mei­ne Dora­li­ce ist so ei­gen­tüm­lich!‹ Ja, ei­gen­tüm­lich ist sie ge­wor­den, gleich­viel, da ist nichts, um die Au­gen gen Him­mel zu schla­gen und zu sa­gen: Wie schön! Las­sen Sie die Grill Grill sein, lie­be Mal­wi­ne, wenn Sie sie mit Ihren Fan­tasi­en zur Hel­din des Stran­des ma­chen, ver­dre­hen Sie den Kin­dern den Kopf. Er­nes­ti­ne läuft oh­ne­hin alle Au­gen­bli­cke zum Stran­de hin­un­ter, um die fort­ge­lau­fe­ne Grä­fin zu se­hen, das ver­bit­te ich mir. Sei­en Sie so gut und hal­ten Sie mit Ih­rer Poe­sie an sich.«

»Schreck­lich, schreck­lich«, seufz­te Frau von Butt­lär. Fräu­lein Bork aber schi­en das Schel­ten der Ge­ne­ra­lin nicht zu hö­ren, ver­träumt schau­te sie in die Däm­me­rung hin­ein, sah, wie die Däm­me­rung sich sach­te auf­hell­te, der Mond war auf­ge­gan­gen, Sil­ber misch­te sich in das Dun­kel der Wel­len und der Strand lag hell be­leuch­tet da.

»Da sind sie!« schrie Fräu­lein Bork auf.

Er­schro­cken fuh­ren alle her­um. Am Ran­de der Düne zeich­ne­ten sich ge­gen den hel­len Him­mel deut­lich die Fi­gu­ren ei­nes großen Man­nes und ei­ner Frau ganz nahe bei­ein­an­der ab. »Dort ste­hen sie je­den Abend«, flüs­ter­te Fräu­lein Bork ge­heim­nis­voll.

Frau von Butt­lär starr­te angst­voll zu dem Paa­re auf der Düne hin­über, dann rief sie er­regt: »Kin­der, ihr seid noch da, warum geht ihr nicht schla­fen? Ihr seid müde, nein, nein, geht, gute Nacht«, und be­ru­hig­te sich erst, als die Kin­der fort wa­ren. Da sah sie sich noch ein­mal das Paar an da drü­ben, das jetzt eng an­ein­an­der ge­schmiegt den Strand ent­lang ging, seufz­te tief und sag­te kum­mer­voll:

»Das ist al­ler­dings un­er­war­tet, un­er­war­tet fa­tal. Wenn ich mich auf et­was freue, kommt im­mer so et­was da­zwi­schen. Schon der Kin­der we­gen ist es mir un­an­ge­nehm.«

»Ich weiß, ich weiß«, mein­te die Ge­ne­ra­lin. »Du musst im­mer et­was ha­ben, das dich quält, sonst ist dir nicht wohl. Schon als klei­nes Mäd­chen, wenn al­les sich auf einen Spa­zier­gang freu­te, sag­test du: was hilft es, es wer­den doch Stein­chen in die Schu­he kom­men. Un­se­re Mäd­chen! Die ha­ben ge­nug Dis­zi­plin im Lei­be. Sag’ ih­nen, da ist eine Frau Grill, die nicht ge­kannt wird, und ich sehe es, wie Lolo und Nini die Lip­pen zu­sam­men­knei­fen und ge­ra­de vor sich hin­se­hen, wenn sie an Ma­da­me Grill vor­über­ge­hen.«

»Ja und dann«, be­gann Frau von Butt­lär wie­der lei­se, »of­fen ge­stan­den, es ist auch we­gen Rolf. Die Per­son ist sehr hübsch, sol­che Per­so­nen sind im­mer hübsch und Rolf, du weißt …«

Die Ge­ne­ra­lin schlug mit der fla­chen Hand auf den Tisch: »Na­tür­lich, das muss­te kom­men, du bist jetzt schon auf Ma­da­me Grill ei­fer­süch­tig. Aber lie­be Bel­la, so ist dein Mann denn doch nicht. Na ja, im­mer die eine alte Ge­schich­te mit der Gou­ver­nan­te, die könn­test du auch ver­ges­sen. Ab und zu mal im Früh­jahr regt sich in ihm noch der Küras­sier­of­fi­zier, das ist eine Art Heuschnup­fen. Aber ihr Frau­en bringt durch eure Ei­fer­sucht die Män­ner erst auf un­nüt­ze Ge­dan­ken. Nein, lie­be Bel­la, wozu ist man, was man ist, wozu hat man sei­ne ge­sell­schaft­li­che Stel­lung und sei­nen al­ten Na­men, wenn man sich vor je­der fort­ge­lau­fe­nen klei­nen Frau fürch­ten soll­te. Du bist die Freifrau von Butt­lär, nicht wahr, und ich bin die Ge­ne­ra­lin von Pa­li­kow, nun also, das heißt, wir bei­de sind zwei Fes­tun­gen, zu de­nen Leu­te, die nicht zu uns ge­hö­ren, kei­nen Zu­tritt ha­ben; so, nun wol­len wir ru­hig schla­fen ge­hen, als gäbe es kei­ne Ma­da­me Grill. Wir de­kre­tie­ren ein­fach, es gibt kei­ne Ma­da­me Grill.«

Alle er­ho­ben sich, um in das Haus zu ge­hen. Fräu­lein Bork warf noch einen Blick zum Meer hin­ab und sag­te in ih­rem mit­lei­dig sin­gen­den Ton: »Die Grä­fin Dora­li­ce war einst auch ein­mal solch eine arme klei­ne Fes­tung.«

Die Ge­ne­ra­lin wand­te sich in der Tür um: »Bit­te, Mal­wi­ne, mei­ne Ver­glei­che nicht mit Ih­rer Poe­sie zu um­spin­nen, dazu ma­che ich sie nicht. Und dann noch ei­nes, ich bit­te, fer­ner Ma­da­me Grill nicht zum Ge­gen­stand Ihres Ver­tei­di­gungs­ta­len­tes zu ma­chen, Ma­da­me Grill wird nicht ver­tei­digt.«

Oben in der Gie­bel­stu­be, Lo­los und Ni­nis Schlaf­zim­mer, stan­den die bei­den Mäd­chen noch am Fens­ter und schau­ten hin­aus. Das mond­be­glänz­te Meer, das Rau­schen und We­hen da drau­ßen ließ ih­nen kei­ne Ruhe, es er­reg­te sie fast schmerz­haft, und das Paar, das dort un­ten an den blan­ken Säu­len der bre­chen­den Wel­len hin­schritt, ge­hör­te mit zu dem Er­re­gen­den und Ge­heim­nis­vol­len da drau­ßen, das den bei­den Mäd­chen ein selt­sa­mes Fie­ber in das Blut leg­te.

Un­ten auf der Bank vor der Kü­che saß Frau Klin­ke und kühl­te im See­win­de ihre hei­ßen Kö­chin­nen­hän­de. Vor ihr stand Er­nes­ti­ne, wies zum Stran­de hin­un­ter und sag­te: »Nee, Frau Klin­ke, dass die bei­den ver­hei­ra­tet sind, das glau­be ich nicht.«

*

Hans Grill und Dora­li­ce gin­gen am Mee­res­ufer ent­lang. Es ging sich gut auf dem feuch­ten, von den Wel­len glatt­ge­stri­che­nen San­de. Zu­wei­len blie­ben sie ste­hen und schau­ten auf den brei­ten, sich sacht wie­gen­den Licht­weg hin­ab, den der Mond auf das Was­ser warf.

»Nichts, heu­te nichts«, sag­te Hans und mach­te eine Hand­be­we­gung, als woll­te er das Meer bei­sei­te schie­ben. »Es ziert sich heu­te, es macht sich klein und süß, um zu ge­fal­len.«

»So lass es doch«, bat Dora­li­ce.

»Ja, ja, ich las­se es ja«, er­wi­der­te Hans un­ge­dul­dig.

Als sie wei­ter schrit­ten, hing Dora­li­ce sich ganz fest in Han­sens Arm. Sie konn­te sich ja ge­hen las­sen, die­ser Arm war stark und sie dach­te flüch­tig an einen an­de­ren zer­brech­li­chen und ze­re­mo­ni­ösen Arm, der ihr fei­er­lich ge­reicht wor­den war und auf den sich zu stüt­zen sie nie ge­wagt hat­te.

»Du bist müde?« frag­te Hans.

»Ja«, er­wi­der­te sie nach­denk­lich, »die­se lan­gen hel­len Tage, glau­be ich, ma­chen müde.«

»Viel ha­ben wir an die­sen lan­gen hel­len Ta­gen nicht ge­tan«, be­merk­te Hans.

»Ge­tan«, fuhr Dora­li­ce fort, »nichts. Im San­de ge­le­gen und auf das Meer ge­se­hen. Aber gleich­viel, ich konn­te doch al­les Mög­li­che tun, Din­ge, die ich sonst nie ge­tan, un­er­hör­te Din­ge, nichts hin­dert mich. Auf der Rei­se war das an­ders, da tut man die Din­ge, die im Rei­se­buch vor­ge­schrie­ben sind, aber hier muss das Neue kom­men und das macht viel­leicht müde.«

»Ge­wiss, ge­wiss«, be­gann Hans in sei­ner eif­ri­gen Art, »Mög­lich­kei­ten, na­tür­lich Mög­lich­kei­ten, das ist es, was der freie Mensch hat, es ist gleich, ob er et­was tut, aber nichts zwingt ihn, nichts schiebt ihn, nichts bin­det ihn, was er tut und nicht tut, tut er auf ei­ge­ne Verant­wor­tung, und das kann müde ma­chen, o ja, das kann müde ma­chen«, und Hans lach­te ein lau­tes Ha! Ha! auf das Meer hin­aus, »freie Men­schen, freie Lie­be, denn das ist ja gleich, ob ein al­ter Eng­län­der aus Lon­don uns durch die Nase et­was ge­sagt hat, was wir nicht ver­stan­den ha­ben, das bin­det nicht. Also freie Men­schen, freie Lie­be, freie …« Er hielt plötz­lich inne und frag­te: »Wa­rum lachst du?«

Dora­li­ce hat­te ih­ren Kopf zu­rück­ge­bo­gen, um zu Hans hin­auf­zu­se­hen, und sie lach­te. Die schma­len, sehr ro­ten Li­ni­en der Lip­pen öff­ne­ten sich ein we­nig, lie­ßen im Mond­schein für einen Au­gen­blick das Weiß der klei­nen Zäh­ne durch­schim­mern. So hell be­schie­nen war das Ge­sicht sehr hübsch mit sei­nem kind­li­chen Oval, den graublau­en Au­gen, in die das Mond­licht ein selt­sam far­bi­ges Schil­lern leg­te, und dem hell­blon­den Haar, an dem der Wind zaus­te. Ja, Dora­li­ce muss­te im­mer la­chen, wenn Hans sei­ne großen Wor­te her­sag­te, jene Wor­te, die klan­gen, als hät­ten sie in Zei­tun­gen oder lang­wei­li­gen Bü­chern ge­stan­den, aber wenn Hans sie aus­sprach, be­ka­men sie et­was Jun­ges, et­was Le­ben­di­ges, sie klan­gen, als schmeck­ten sie ihm gut, wenn er sie so zwi­schen sei­nen ge­sun­den wei­ßen Zäh­nen her­vor­zisch­te.

»O nichts«, sag­te Dora­li­ce, »sprich nur wei­ter von dei­nen frei­en Men­schen.« Al­lein Hans war emp­find­lich ge­wor­den: »Mei­ne frei­en Men­schen, da ist doch nichts zu la­chen«, dann schwieg er.

»Du hast ja ganz recht«, mein­te Dora­li­ce, um ihn zu ver­söh­nen, »viel­leicht macht das müde, wenn nichts einen bin­det. Bei uns auf dem Lan­de dort bei der Rog­ge­nern­te ge­hen hin­ter den Mä­hern Mäd­chen her, wel­che die Ähren zu Gar­ben bin­den. Das ist sehr an­stren­gend. Um we­ni­ger zu er­mü­den, bin­den sie sich Tü­cher ganz fest um die Tail­le. So war es viel­leicht dort, und jetzt, wo mich nichts fest­bin­det …«

»Un­sinn«, un­ter­brach sie Hans, »ich sehe nicht ein, warum du dei­ne Ver­glei­che von dort her­nimmst, von dort spre­chen wir doch nicht.«

»Nein, von dort spre­chen wir nicht«, wie­der­hol­te Dora­li­ce.

Sie ka­men am Strand­wächt­er­häus­chen vor­über. Durch das ge­öff­ne­te Fens­ter scholl eine lau­te Män­ner­stim­me, und ihr ant­wor­te­te eine Frau­en­stim­me lei­den­schaft­lich und schel­tend. Un­ten am Stran­de stand der Ge­heim­rat Knos­pe­li­us, eine klei­ne, wun­der­lich ver­bo­ge­ne Ge­stalt, er stand so nah am Was­ser, dass sein un­förm­li­cher Schat­ten sich in den Wel­len ba­de­te. Als Hans und Dora­li­ce sich nä­her­ten, grüß­te er, zog sei­nen Pa­na­ma sehr tief ab, das graue Haar flat­ter­te im Win­de, er lä­chel­te und das re­gel­mä­ßi­ge, bart­lo­se Ge­sicht sah aus wie ein großes, blei­ches Kna­ben­ge­sicht. »Gu­ten Abend«, sag­te Hans. Der Ge­heim­rat lach­te laut­los in sich hin­ein und zeig­te mit ei­nem merk­wür­dig lan­gen, dün­nen Fin­ger zum Hau­se des Strand­wäch­ters hin­auf. »Die strei­ten wie­der«, be­merk­te Hans.

»Dort ist im­mer re­ger Be­trieb«, er­wi­der­te der Ge­heim­rat ge­heim­nis­voll, »die ar­bei­ten am Le­ben, bis ih­nen die Au­gen zu­fal­len. So was höre ich gern.«

»Ja, hm!« sag­te Hans, »gu­ten Abend«, und sie gin­gen wei­ter.

»Was sag­te er?« frag­te Dora­li­ce ängst­lich. Hans zuck­te die Ach­seln. »Ver­rückt wahr­schein­lich. Sol­che klei­nen Un­ge­tü­me sind ge­wöhn­lich ein we­nig ver­rückt. Kennst du ihn denn?«

Dora­li­ce dach­te nach. »Ge­wiss, ich ken­ne ihn. Ich er­in­ne­re mich, auf ei­ner großen Ge­sell­schaft war es, es war spät, alle wa­ren müde und war­te­ten auf die Wa­gen. Da saß plötz­lich die­ser klei­ne Mann ne­ben mir. Sei­ne Füße reich­ten nicht an den Fuß­bo­den, son­dern hin­gen wie bei Kin­dern frei vom Stuh­le her­un­ter. Er sah mir ganz frech in die Au­gen, wie man das sonst nicht tut, und sag­te: ›Es fällt mir auf, Frau Grä­fin, dass jetzt, wo alle schon schläf­rig sind, Ihre Au­gen noch so wach sind; die war­ten noch.‹ Ich mach­te wohl ein sehr dum­mes Ge­sicht und frag­te: ›Worauf?‹ Da lach­te er ganz so, wie er jetzt eben lach­te, und sag­te: ›Nun dar­auf, dass was ge­schieht, dass was kommt. O, die ge­ben nicht nach, die ste­hen auf ih­rem Pos­ten.‹ – Mir war das un­heim­lich, ich war froh, als in dem Au­gen­blick der Wa­gen ge­mel­det wur­de.«

»Ich weiß nicht, was du noch im­mer an al­len die­sen Erin­ne­run­gen hast, er­quick­lich sind sie nicht«, ver­setz­te Hans ver­stimmt.

»Was kann ich da­für«, ver­tei­dig­te sich Dora­li­ce, »ich habe doch noch kei­ne an­de­ren Erin­ne­run­gen, und dann, sie krie­chen ei­nem doch über­all nach. Da steht der Ge­heim­rat Knos­pe­li­us plötz­lich am Stran­de, drü­ben im Bul­len­krug zieht die Ge­ne­ra­lin von Pa­li­kow und die Baro­nin Butt­lär ein, auf Schritt und Tritt das alte Le­ben. Weißt du, was ich möch­te? Dort drü­ben über dem Meer müss­te man eine Hän­ge­mat­te auf­hän­gen kön­nen, ge­ra­de so hoch, dass die Wel­len sie nicht er­rei­chen, aber doch so, dass, wenn ich die Hand her­ab­hän­gen las­se, ich den Wel­len in die wei­ßen Bär­te fas­sen kann, und so, siehst du, könn­ten, glau­be ich, kei­ne Erin­ne­run­gen kom­men und kei­ne Knos­pe­li­us und Pa­li­kows könn­ten ei­nem be­geg­nen.«

Hans blieb nach­denk­lich ste­hen: »Du«, sag­te er, »das wol­len wir ma­chen.« Er er­griff Dora­li­ce, leg­te sie auf sei­ne Arme: »Lieg«, rief er, »wie ein Kind auf den Ar­men des Pa­ten wäh­rend der Tau­fe«, und nun be­gann er lang­sam in das Meer hin­ein­zu­ge­hen. Re­gungs­los lag Dora­li­ce da und schau­te hin­auf in den Him­mel, der bleich von Mon­den­schein war. Das We­hen, das vom Mee­re kam, das Rau­schen un­ter ihr, das gol­de­ne Flie­ßen und Flim­mern rings­um­her, all das schi­en sie zu wie­gen und zu schau­keln, und dann war es ihr, als fie­le sie, fie­le sie in einen Ab­grund von Licht, das sie den­noch trug und hielt.

»So, so, wei­ter, wei­ter, jetzt sind wir ganz bei ih­nen, mit­ten un­ter ih­nen, das dum­me Land ist fort.« Dora­li­ce sprach mit ei­ner Stim­me, wie Schla­fen­de es tun, lach­te ein lei­ses, ganz hel­les La­chen wie Kin­der, die auf ei­ner Schau­kel sit­zen. Sie ließ ihre Hand her­ab­hän­gen, griff in den Schaum der Wel­len, schnalz­te mit den Fin­gern, als woll­te sie klei­ne Hun­de sprin­gen las­sen. »Wie sie zu mir her­auf­wol­len«, rief sie, »kommt, kommt, nein, das ist zu hoch.« Hans stand bis über die Knie im Was­ser und lä­chel­te, das Ge­sicht rot vor An­stren­gung. Aber all­mäh­lich wur­de er müde, es war nicht leicht, si­cher im Was­ser zu ste­hen, und lang­sam zog er sich an das Ufer zu­rück. Mit ei­nem be­frie­dig­ten: »So, das war eine Leis­tung«, setz­te er Dora­li­ce auf den Sand zu­rück. Sie schwank­te ein we­nig auf ih­ren Fü­ßen wie be­rauscht, sie leg­te die Hand auf die Au­gen, al­les um sie her schi­en noch sacht zu schwan­ken. Sie muss­te sich an Hans an­leh­nen. »Du siehst«, sag­te sie, »ich ver­tra­ge dies dum­me Land nicht mehr.«

»Das kommt noch«, mein­te er, »das Land wird uns jetzt sehr gut schme­cken. Eine war­me Stu­be und Rot­wein, ich bin nass und mich friert.« – »Ja, ge­hen wir«, sag­te Dora­li­ce klein­laut, »wir ge­hö­ren ja doch nicht zu de­nen dort. Aber wie stark du bist, dass du mich so hal­ten konn­test.«

»Nicht wahr«, er­wi­der­te Hans stolz, »und weißt du, wie ich dich so hielt, wenn ich den­ke, das war ei­gent­lich sym­bo­lisch, mit­ten in den Wel­len, und ich hal­te dich.«

Aber Dora­li­ce sag­te müde: »Ach nein, lass es lie­ber nicht sym­bo­lisch sein.«

Hans schau­te sie ver­wun­dert an und mur­mel­te dann ein we­nig emp­find­lich: »Nun dann auch nicht.«

Um den Hof des War­de­in­schen An­we­sens stan­den die nied­ri­gen stroh­ge­deck­ten Häu­ser, der Schup­pen, der Stall, der Spei­cher, in dem jetzt die Fa­mi­lie des Fi­schers wohn­te, und das Wohn­haus, das Hans Grill ge­mie­tet hat­te. Hier schi­en die Hit­ze des Ta­ges noch ein­ge­schlos­sen zu sein, die Luft war schwer von den Gerü­chen des Strohs, der an Schnü­ren trock­nen­den Fi­sche und feuch­ter Net­ze. Man hör­te durch die klei­nen ge­öff­ne­ten Fens­ter den Atem schla­fen­der Men­schen, ir­gend­wo schlug ein Hahn auf sei­ner Stan­ge mit den Flü­geln und im Schup­pen grunz­te ein Schwein im Traum. Und hier fiel von Dora­li­ce der Rausch der Wei­te und des Lich­tes ab, ganz jäh, es schmerz­te fast kör­per­lich, und als sie durch die Tür tra­ten, die so nied­rig war, dass Hans sich tief bücken muss­te, sag­te Dora­li­ce kla­gend: »So schlüp­fen wir denn auch in un­ser Loch.« – »Ja, ja«, mein­te Hans eif­rig, »das wird gut tun.« In dem klei­nen Wohn­zim­mer brann­te eine Pe­tro­le­um­lam­pe auf dem Tisch, und es fiel Dora­li­ce auf, wie häss­lich un­rein die­ses Licht war, mit welch schläf­ri­ger All­täg­lich­keit es den weiß­ge­tünch­ten Raum füll­te. Hans war ganz ge­schäf­tig. »Köst­lich, köst­lich«, sag­te er, »setz’ du dich dort in den Korb­stuhl, ich bin gleich wie­der da.« Er ver­schwand, kam dann in wei­chen Filz­schu­hen zu­rück, ging ab und zu, hol­te Glä­ser, den Rot­wein, schenk­te die Glä­ser voll, setz­te sich end­lich Dora­li­ce ge­gen­über an den Tisch, rieb sich die Hän­de und lach­te über das gan­ze Ge­sicht. Er sah sehr jung aus, das Ge­sicht von der Luft ge­rötet und der Bart und das kurz­ge­lock­te Haar ho­nig­gelb, die brau­nen Au­gen blin­zel­ten blank vor Freund­lich­keit. »Köst­lich«, wie­der­hol­te er, »das nen­ne ich eine Le­bens­la­ge, man sitzt so bei­ein­an­der und die Lam­pe brennt, man hat sei­nen Rot­wein und dazu sein wun­der­schö­nes Weib.«

Dora­li­ce lehn­te sich in ih­ren Korb­stuhl zu­rück und schloss die Au­gen. »Ach«, sag­te sie müde, »nen­ne mich, bit­te, nicht Weib, das klingt so, ich weiß nicht, nach lo­sen blau­en Ja­cken mit wei­ßen Punk­ten und Kar­tof­fel­sup­pe.«

Hans er­rö­te­te: »Nein, nein«, sag­te er, »also nicht Weib. Weib ist ein schö­nes deut­sches Wort, aber wie du willst, bit­te.«