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Nach einigen schweren Kriegen leben die Menschen zufrieden, ohne Sorgen und ihre materiellen Bedürfnisse sind weitestgehend gestillt. Deshalb machen sich die drei reichsten Magnaten des Planeten nicht gerade uneigennützig Sorgen um den Fortschritt der Menschheit. Kein Wachstum, kein Fortschritt! Derweil stellen Astronomen ein rätselhaftes Schlingern und Kippen der Erdbahn fest. Hysterie greift um sich. Ist gar der Mensch schuld am Schwanken der Erdbahn? Eine gewisse Meta Vorwerk verschläft mit ihren Anhängern jeden Mittwoch in Zeltlagern, um der Erde etwas Ruhe zu gönnen. Ein emeritierter Professor scheint eine etwas andere Erklärung für das Erdbahnphänomen gefunden zu haben, verschwindet aber unter mysteriösen Umständen in der Psychiatrie. Schließlich überwacht ein gigantisches Computernetzwerk alle menschengemachten Bewegungen und schwere Dampfölmaschinen sollen die Erde wieder auf Kurs bringen. In diesem Durcheinander geraten zwei Professoren aus Österreich zwischen die Mühlsteine der gesellschaftlichen Diskussionen. Ihre letzte Rettung ist eine Zeitreise und ein kleiner Junge, der vor einhundertzwanzig Jahren in der Donau ertrank.
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Seitenzahl: 163
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Unglücksfall an der Donau
Professorenfrühstück
Gesellschaft und Magnaten
Ist die Erdbahn noch zu retten?
Widerspenstige Professoren
Ein Spitzel schöpft Verdacht
Mayer in Berlin
Die Zeitmaschine
Magnaten retten Erdbahn
An der blauen Donau
Zeitreise in Gefahr
Reise nach Belgrad
Epilog – Spuk vorbei
Ein breiter Fluss plätscherte träge in ausladenden Schleifen durch die Weiten der südosteuropäischen Landschaft. Hier im habsburgischen Kaiserreich, an der kroatisch-serbischen Grenzregion bei Dalj ging es im Spätsommer 1886 ländlich-beschaulich zu. Die Bauern brachten wie seit Jahrhunderten gewohnt ihre Ernte ein und die Pferdefuhrwerke fuhren die Garben zu den Dreschplätzen. Dabei hatte bereits das Maschinenzeitalter begonnen. Große schwarze Dampflokomotiven durchquerten Europa auf eisernen Straßen und verdrängten Pferdekutschen und Ochsenkarren aus dem Fernverkehr. Doch davon war hier noch nichts zu spüren. Einzig auf dem Fluss, der blauen Donau, waren einzelne Dampfschiffe unterwegs, die -schwarze Rauchwolken ausstoßend- auch stromaufwärts fahren konnten. Aber es gab noch viele Treidelgespanne am Ufer, welche die schweren Donaukähne entgegen der Strömung nach Norden zogen.
Es ist später Nachmittag an einem Sonnabend, die Hitze vom Mittag hat etwas nachgelassen. Man kann die Luftfeuchtigkeit spüren, die sich wie ein kühlender Film auf alles legt, nachdem die Sonne jetzt häufiger von Wolken verdeckt wird. Die Schwalben fliegen tief, im Westen baut sich eine Wolkenwand immer höher auf. Am Abend wird es wohl ein Gewitter geben. An diesem herrlichen Septembernachmittag spielt ein Junge, er heißt Milutin, am Wasser mit Stöckchen, welche er in den Fluss wirft. Es macht ihm Spaß dabei zuzusehen, wie die Strömung die Stöckchen erfasst und mit sich fortträgt. „Vielleicht kommt eines davon im Schwarzen Meer an.“, denkt er sich. Wenn er neben den Stöckchen her läuft und laut die Sekunden zählt, die sie brauchen, um die Strecke zurückzulegen, die er vorher mit weiteren Stöckchen im Sand des Ufers abgesteckt hat, glauben die meisten Spaziergänger auf dem Uferweg, dass er spielt. Milutin hat schon beobachtet, dass seine Stöckchen am Rand des Flusses langsamer schwimmen als die Lastkähne, die in der Flussmitte viel schneller stromabwärts getragen werden und dass an Flussbiegungen die schnelle Strömung zum Außenbereich der Kurve ausgelenkt wird. „Hm, das Wasser fließt in der Mitte schneller als am Rand“, denkt er sich, „Ob man auch ausrechnen könnte, wie lange das Stöckchen in der Flussmitte bis zur Stadt Plankenburg braucht?“ Eine der Fragen, die er sich auch oft stellt, ist: „Wie viel Wasser wohl in einer Minute die Donau hinunter fließt?“ Die Breite des Flusses hatte er schon berechnet und die Tiefe von den Donaufischern erfragt. Anhand seiner groben Sekundenzählung konnte er abschätzen, wie schnell das Wasser am Rand floss. Für die Strommitte hat er sich markante Wegpunkte am jenseitigen Ufer herausgesucht und rennt dann zählend am Ufer entlang, wenn die Lastkähne stromabwärts fahren. Die Zahlen sind fast unglaublich groß und schwer vorstellbar, aber der Fluss ist auch sehr groß und das Wasser hört nie auf zu fließen. Leider besitzt er als Schuljunge noch keine Uhr. Mit einem Chronometer mit Sekundenzeiger könnte er die Fließgeschwindigkeit einigermaßen genau bestimmen. Eine solche Taschenuhr hat nur der Bürgermeister. Der Wunsch nach einem Chronometer hält seine Gedanken meist nur kurz gefangen und dann rücken andere praktische Geschehnisse am Fluss wieder in seinen Fokus. Wenn sich ein Treidelgespann von Süden nähert, geht er neben den Treidelpfad um es durchzulassen. Besonders interessiert ihn die Mechanik des Treidelns. Je schwerer beladen die Kähne sind, desto tiefer liegen sie im Wasser und ihre Treidelleinen spannen sich straff wie Gitarrensaiten. Schon beim Zuschauen kann er die dabei wirkenden Kräfte spüren. Ein Kahn mit Mauersteinen naht gerade von Süden. Er liegt besonders tief im Wasser und die Treidelknechte müssen das Gespann tüchtig antreiben.
Die Pferde waren schon den ganzen Tag am Arbeiten, sie stampfen wild gegen den Widerstand der kraftvoll strömenden Wassermassen an. Das Gespann war diese Woche jeden Tag unterwegs, mit seinen Treidelknechten zieht es Kahn um Kahn die Donau hinauf. Bald werden sie nicht nur ihr Tagwerk geschafft haben, sondern es naht auch der freie Sonntag. Jeder Mensch hängt in seinen Gedanken dem nach, was er denn gleich nach Feierabend machen würde. Schon am Morgen haben die Knechte bemerkt, dass die Treidelleine nahe der Bootsschlaufe ausgefranst ist. Erst am Montag wollen sie ein neues Seil auflegen, denn diese starken Hanfseile sind sehr teuer und sollen möglichst lange halten. Das neue Seil liegt schon am Vorspannplatz bereit, aber heute ergibt sich einfach keine Zeit für den Wechsel, da ein Kahn nach dem anderen die Donau herauf kommt. Sie haben auch schon viel schlimmer beschädigte Leinen gesehen und diesen einen Tag würde die Leine noch halten. In der Flussbiegung ziehen sie den Kahn gerade durch den Prallhang, wo sich die Strömung besonders stark auf ihre Seite des Fahrwassers legt. Da passiert, was mancher geahnt, aber doch keiner für möglich gehalten hat. Eines der Pferde wird von einer Hornisse gestochen. Es geht durch, alle anderen Pferde mit, das ganze Gespann bekommt einen kräftigen Ruck nach vorn. Mit einem Peitschenknall reißt die Treidelleine, während die Strömung den Kahn abrupt stoppt und dieser dann langsam nach Süden treibt. Das Gespann ist jetzt seiner Last beraubt und die Treidelknechte fliegen von der Wucht des Stoßes beiseite. Die jungen Pferde galoppieren den Treidelpfad entlang und dann die Uferböschung hinauf, die lange abgerissene Leine hinter sich herziehend. Neben dem Treidelpfad steht der kleine Milutin. Er wird von der Treidelleine erfasst, deren nasses und schweres Ende noch im Fluss schwimmt. Wie ein Katapult wirft es ihn in den Fluss. Ein paarmal wedelt er noch hilflos mit den Armen, dann zieht ihn die starke Strömung fort. Noch bevor die Treidelknechte, welche nicht schwimmen können, ihn bemerken, ist er schon untergetaucht und nicht mehr zu sehen. Die alarmierten Bauern reiten das Ufer ab, können aber nur noch seinen toten Körper bergen, der schließlich in Vukovar ans Ufer gespült wird. Im Kirchenbuch von Dalj steht für den 20. September 1886 verzeichnet: „der Junge Milutin Milankovic ertrank bei einem Treidelunfall in der Donau und wurde am 22. September auf dem Gottesacker von Dalj bestattet.“
Etwa hundertzwanzig Jahre später plätscherte die Donau träge und gemächlich durch das spätsommerliche Wien. Braune Uferstreifen lagen trocken und ließen allerlei Unrat sichtbar werden. Der Physikprofessor Mayer saß auf dem Balkon seiner Jugendstilvilla und ließ einen Würfelzucker in seinen Frühstückskaffee plumpsen. Versonnen schaute er zum Fluss hinab. Noch nie war ihm die schöne blaue Donau so braun vorgekommen. Nach der abgeklungenen Sommerhitze mit wenigen Niederschlägen dümpelte der Fluss im Niedrigwasser dahin. Plötzlich bemerkte er, dass er nicht mehr zur Donau, sondern in seine Kaffeetasse schaute. Mayer blinzelte gegen die bereits kräftigen Strahlen der Morgensonne und goss wie gewöhnlich noch reichlich Milch in seine Tasse. Schnell umgerührt, und schon wurde die Farbe merklich heller. Die Donau musste dagegen noch lange auf die herbstlichen Niederschläge warten, bis sich ihre braunen Uferstreifen wieder mit einer hell glänzenden Wasseroberfläche überdeckten. Mayer hatte Zeit. Zeit zum Frühstücken und auch sonst trieb ihn nichts. Einfach mal die Ruhe der vorlesungsfreien Zeit bis zum baldigen Beginn des Wintersemesters genießen. Niemand störte ihn. Er hatte sich mit seiner Arbeit über Laseroptik gerade erfolgreich habilitiert und damit seinen festen Platz in der Universität erkämpft. Nun, nicht alles war positiv gelaufen. Seine Exfreundin, eine junge Doktorandin, war schon vor seiner Habilitation ausgezogen. Sie hielt Mayer für einen unverbesserlichen Kindskopf, den sein Fachgebiet mehr interessierte als eine ernsthafte Familienplanung. Bestimmt hatte sie Recht. Er jedenfalls glaubte, ganz gut damit klarzukommen. Zumindest jetzt, da er ungebunden und unabhängig war. Genüsslich schmierte er sich ein Milchhörnchen mit Butter und Kirschmarmelade obendrauf. Auch seine Morgenzeitung, die er aus Sparsamkeit (manche würden es Geiz nennen) nur während der Semesterferien abonnierte, lag schon bereit. Doch deren Inhalt langweilte ihn nur. Keine politischen Skandale, keine diplomatischen Verwicklungen. Immer nur wohlwollende Übereinstimmung aller Parteien und moderates Wachstum in allen Wirtschaftszweigen. Einfach öde. Aus Sparsamkeitsgründen nahm er sich immer die vorgestrige Klatschzeitung seines Untermieters aus der gemeinsamen Altpapiertonne mit nach oben. Der Untermieter bewohnte mit seiner kinderreichen Familie das Erdgeschoss der Villa. Dessen BALD-Zeitung wäre Mayer als ehrenwertem Professor natürlich keinesfalls angemessen gewesen. Aber sie war wenigstens ein bisschen interessanter. Ach, welcher Aufschrei aller Ehefrauen ging durchs Land, als lang und breit vom Schlagerbarden Michael Schändler berichtet wurde. Der Schändler war mit der gut gebauten Freundin seiner Tochter durchgebrannt und gab den flachen Medien bereitwillig Details seiner neuen Beziehung preis. Nachdem Mayer einige Dutzend BALD-Zeitungen durchgelesen hatte, war er dessen überdrüssig. Auch bei der heutigen Frühstückslektüre fand er, dass einfach nichts los war. Die ernsthafte Presse war voll mit opportunistischem Geschwätz und die Regenbogenpresse enthielt nur künstlich aufgebauschte, belanglose Skandälchen. Nichts was einen frischgebackenen Professor wie Mayer aufregen könnte. Er würde sich nach dem Frühstück wieder dem süßen Nichtstun widmen und ein bisschen durch die Parks spazieren. Seine kreativsten Ideen entstammten solchen Spaziergängen. Am frühen Nachmittag würde er dann im fast leeren Institut die Versuchsreihe seiner Laserexperimente fortsetzen. Bei dem Gedanken daran kroch plötzlich eine Art beunruhigendes Gefühl in ihm hoch. Es verflüchtigte sich nicht wie nach einem schlechten Traum, sondern verdichtete sich zu einem konkreten Bild von seiner Versuchsapparatur im Institut. Hinter dem voluminösen Strahlenteiler klebte eine stecknadelkopfgroße Schmelzperle auf einem schwarzen Stift aus metallischem Wolfram. „Die Schmelzperle!“, fiel es Mayer wieder ein. Gestern war beim letzten Experiment etwas passiert, was er sich nicht erklären konnte. Nach dem Laserbeschuss fehlte von der Schmelzperle jede Spur. Mayer machte sich zunächst keinerlei Gedanken. Vielleicht war sie heruntergefallen oder verdampft. Er wollte sowieso Feierabend machen und räumte seinen Schreibtisch zusammen. Als er vor dem Gehen noch einmal in die Versuchsanordnung schaute, riss Mayer plötzlich die Augen auf: Die Schmelzperle klebte wieder auf dem Targetstift, als wäre sie nie weg gewesen! Nun vielleicht hatte er beim ersten Mal nicht genau hingeschaut oder eine vergessliche Minute gehabt, da er sowieso gleich gehen wollte. Er würde das heute nochmals genau überprüfen und schob die grübelnden Gedanken einfach beiseite.
Beim Spaziergang durch die Parks fiel ihm ein, dass er doch wieder einmal seinen Bekannten besuchen wollte. Der wohnte seit kurzem in einem Kleingarten am Stadtrand. Mit der Straßenbahn gelangte Mayer in die Außenbezirke der Stadt und ging noch ein gutes Stück zu Fuß. Er fand, dass das sonst so geschäftige Treiben deutlich nachgelassen hatte. Die Leute schienen allesamt ziemlich entspannt zu sein. Ob es am heißen Sommerwetter lag? Seit Monaten bewegte sich alles so träge und unaufgeregt wie seit langem nicht mehr. Er konnte sich noch an den Beginn des Wirtschaftsaufschwungs vor wenigen Jahren erinnern. Zu jener Zeit kamen ihm die Leute so getrieben und hektisch vor. Er saß damals schon in seinem akademischen Elfenbeinturm und echauffierte sich kopfschüttelnd über die Bereitwilligkeit der Leute, ihre Freizeit in Zweitjobs zu investieren. Nun schien von der hastigen Geschäftigkeit der letzten Jahre nur noch wenig übrig zu sein. Auch wunderte sich Mayer über seinen Bekannten, der früher als kleiner Bankmanager keine Freizeit kannte. Dieser agile Mittvierziger soll nun in einem Kleingarten wohnen und eine ruhige Kugel schieben? An den Gartengrundstücken angekommen, ging für Mayer die Sucherei los. Wuchernde Büsche versperrten die Sicht und ließen nur kleine Wege frei. Keine Hausnummer, keine Klingel. Und überall lässig gekleidete Kleingärtner, die den Namen seines Freundes nicht kannten. Was hatte dieser noch gesagt? Geh einfach rein in die Kleingartenanlage und halte dich rechts. Na toll. In diesen fünfzig bis hundert Gärten? Etwas schwitzend in der Spätsommersonne gelangte Mayer schließlich doch noch zum Ziel. Er sah die Frau und die zwei Kinder des Bekannten in den Gemüsebeeten jäten. Sein Bekannter bediente gerade den Grill. „Komm rein, Herr Professor, du bleibst hoffentlich zum Mittagessen“, rief ihm der Bekannte schon über dem Gartenzaun zu. „Hallo! Ach, so wohnt ihr nun?“, entfuhr es Mayer, als er die bessere Gartenlaube in Augenschein nahm. Gleich darauf ärgerte er sich, mit seinem Spruch möglicherweise in ein Fettnäpfchen getreten zu sein. Ihm kam seine spontane Bemerkung nun ziemlich abwertend und überheblich vor. Die Gartenlaube war zwar groß, doch verglichen mit dem früheren Luxusappartement seines Bekannten konnte man sie bestenfalls als spartanisch bezeichnen. Als die Frau und die Kinder Mayer begrüßten, blickte er in offene und fröhliche Gesichter. „Ja May, das hättest du wohl nicht von mir gedacht“, entgegnete sein Bekannter grinsend, während er geschickt die dampfenden Bratwürste auf dem Grill drehte. „Der Sommer passt zu unserer jetzigen Wohnung, findest du nicht?“, fuhr sein Bekannter fort. „Na ja, ihr seht alle irgendwie glücklicher aus als in eurem früheren sterilen Luxusbunker“, entgegnete Mayer und war froh, damit seine anfängliche Bemerkung ausbügeln zu können. Und tatsächlich, es war alles da, was man brauchte. Gartenlaube mit Bad und Kinderzimmer, genug Platz für die Kinder zum Spielen, Bäume und Büsche und vor allem - Ruhe. Der allgegenwärtige Verkehrslärm der Stadt schien hier zu einem leisen, fernen Rauschen gedimmt zu sein. Ja, dieses Fleckchen Erde hatte sicherlich seine Vorzüge. Mayer war versucht, sich selbst in diese Gartenidylle hineinzudenken. Hier konnte man ungestört über physikalische Probleme nachgrübeln. Es gab keinen Untermieter, der zur Unzeit wegen eines verstopften Wasserabflusses Sturm klingelte. „Ja, wenn ich einmal emeritiert bin, dann könnte ich mir auch so einen Garten als Rückzugsort zulegen“, sinnierte Mayer laut. „Ist ja auch nur unser Zweitwohnsitz“, entgegnete sein Bekannter „offiziell wohnen wir noch in unserem Appartement und die Post kommt auch dort an. Wir haben es an eine andere Familie vermietet und können mit den Mieteinnahmen unsere jetzige Lebenshaltung bestreiten. Na ja, wir sind sozusagen Aussteiger und leben eigentlich hier illegal, da die Kleingartensatzung das dauerhafte Wohnen verbietet. Aber wo kein Kläger, da kein Richter. Meinen Job habe ich gekündigt. Nebenbei machen wir noch etwas, damit die monatlichen Sozialversicherungsbeiträge reinkommen, aber mehr auch nicht.“ Mayer kam sein Bekannter wie gewandelt vor, er schien seinen Ehrgeiz und seine Zielstrebigkeit in der Karriere abgelegt zu haben. Auf Mayers verwunderte Frage, wie es zu diesem Sinneswandel gekommen sei, antwortete der Bekannte: „Ich bin nicht der einzige, der sein Leben radikal geändert hat. Vielen meiner neuen Nachbarn hier ging es ähnlich. Ach wir alle waren damals angezogen vom nun erschwinglichen Luxus, den uns der reichliche Lohn unserer Arbeit bot. Wir streckten uns nach dem Geld. Arbeiten, arbeiten, arbeiten, um uns auch alle Verlockungen leisten zu können, die man kaufen konnte. Man vergisst dabei, dass der Mensch einen Lebensrhythmus hat, den man nicht schneller drehen sollte. Schließlich vernachlässigten wir unsere Familien, unsere Kinder. Bei mir dauerte es Jahre, bis ich umdenken konnte. Was ist gekaufter Schnickschnack schließlich gegen gemeinsame Lebenszeit? Freizeit ist die neue Währung. Aber was sage ich dir das, du schiebst doch schon immer in deiner Uni eine ruhige Kugel.“ Mayer protestierte schwach, bei seiner Habilitation ganz schön geschuftet zu haben. Aber es klang wenig überzeugend. Sein Bekannter hatte Recht. Die Habilitation war schuften auf absehbare Zeit. Im Lehrbetrieb fühlte sich Mayer nun zwar wie auf Arbeit, aber bei der Forschung bediente er tatsächlich nur sein Hobby. Und er war relativ anspruchslos, seine erklecklichen Professorenbezüge häuften sich zusammen mit den Mieteinnahmen aus seiner Villa auf dem Bankkonto. Geld ist nicht alles, aber es beruhigt ungemein.
Und er war schon immer ein ruhiger Typ gewesen, der Aufregung und Unsicherheiten scheute. Nur die wilde Doktorandin hatte ihn damals ganz schön auf Trab gebracht. Spontane Unternehmungen und abenteuerlich anmutende Ausflüge waren für ihn eine schweißtreibende Übung gewesen. Im Nachhinein fand er das jetzt auch nicht schlecht. Er hatte ja nur wegen der allzu forschen Familienplanung kalte Füße bekommen. Als er die Kinder des Bekannten fröhlich im Garten herumtollen sah, kam er ein bisschen ins Grübeln. Früher dachte er mit Schrecken daran, dass schreiende Kinder ihm seine letzten Nerven rauben würden, die er für seine Forschungen so dringend brauchte. Bei seinem kinderreichen Untermieter war das Geschrei der Sprösslinge allgegenwärtig. Aber dort hatten selbst die Erwachsenen ein lautes und durchdringendes Organ. Vielleicht lag es auch am Umfeld, in dem die Kinder aufwuchsen? Hm, Babys und Kleinkinder schreien natürlich immer mal. Doch die Kinder wurden ja auch schnell größer, vielleicht konnte man sie später für die Physik begeistern? Mayer fand jedenfalls das Mittagessen mit Kindern viel lustiger als seine gewohnten Solomahlzeiten. Als er sich von der Familie des Bekannten verabschiedete, spürte er ein kleines bisschen Neid in sich aufsteigen. „Eine Familie zu haben und eine ruhige Kugel zu schieben, kann also doch funktionieren. Na ja, die Frau des Bekannten wirkt immer so ruhig und gefasst. Vielleicht liegt es daran, dass kein Stress aufkommt?“, sagte er sich. Hier irrte Mayer, da er als Eigenbrötler nur wenig Erfahrung mit zwischenmenschlichen Problemen besaß. Außerdem hatte er das Paar noch nicht in Streitsituationen erlebt und konnte sich den üblichen Verlauf einer solchen bei den beiden einfach nicht vorstellen.
Doch für heute schob er diese Grübeleien erst einmal beiseite. Man musste Prioritäten setzen. Und diese lagen bei Mayer unbestritten auf dem Gebiet seiner Laseroptik. Er begab sich also zufrieden und vom Mittagessen gesättigt ins Institut. Als er das Gebäude betrat, umfing ihn eine kühle und ruhige Atmosphäre. Kein Studentenlärm, keine Lehrverpflichtungen und vor allem kein Stress. So schön könnte es immer sein. Im Labor klebte noch immer die runde Schmelzperle auf dem Targetstift und schien ihn regelrecht anzugrinsen. Mayer startete die Laseranlage. Ein leises Brummen zeigte die Bereitschaft der Energieversorgung an. Beim Start tastete ein Laserstrahl die Probe ab und schickte die Reflexionen mit dem vom Strahlenteiler abgezweigten Originalstrahl in ein optisches Leitgerät. Dieses zielte auf ein extraterrestrisches Objekt, um im Strahlengang beider Laufwege die Interferenzen ausmessen zu können. Wegen der Erddrehung waren diese Messungen nur zu bestimmten Zeiten möglich, wenn das Reflexionsobjekt am Himmelshorizont auftauchte. Mehrere automatisch gesteuerte Spiegel kompensierten die Erddrehung und führten den Laserstrahl zielsicher nach, damit das Reflexionssignal nicht abriss. Wegen der regelmäßig nach dem Mittagessen einsetzenden Müdigkeit döste Mayer vor seiner Versuchsanordnung. Dieses sogenannte Suppenkoma war heute nach dem reichlichen Essen so heftig, dass er sogar im unbequemen Laborstuhl von einem kurzen Mittagsschlaf übermannt wurde. Im Traum sah er die Schmelzperle auf dem Targetstift ganz scharf vor sich erscheinen. Die Perle blähte sich auf, sie wurde immer größer und auf ihrer schillernden Oberfläche erschien ein Smiley, das Mayer frech angrinste. Plötzlich platzte sie wie ein überfüllter Luftballon. Mayer schreckte aus seinen Träumen auf und blickte auf seine Versuchsanordnung. Die Schmelzperle war schon wieder weg! Er riss die Augen auf und blinzelte ungläubig auf seine Geräte. Das Ding war tatsächlich weg! Schließlich traute er seinen Augen nicht mehr und fasste mit den Fingern nach der Schmelzperle, obwohl er das wegen des Laserstrahls nicht tun sollte. Nun, glücklicherweise hatte sich der Laser schon abgeschaltet. Aber die Schmelzperle blieb definitiv weg. Sichtlich verschwunden und auch stofflich einfach nicht mehr greifbar! Mayer kroch auf den Knien zwei Runden unter dem Labortisch herum und konnte sie dennoch nicht finden. Ein knisterndes Geräusch ließ ihn hochfahren. Dabei stieß er im vollen Schwung mit dem Kopf von unten an die Tischplatte. Mayer kam sich in diesem Augenblick ziemlich dämlich und unbeholfen vor. Als er schließlich aufgestanden war und sich den schmerzenden Kopf rieb, blickte er auf seine Versuchsanordnung. Das konnte doch nicht wahr sein! Die Schmelzperle klebte