Welten - das Erwachen - Dagmar Dietl - E-Book

Welten - das Erwachen E-Book

Dagmar Dietl

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Beschreibung

Astrid ist eine ganz normale Frau mit einem gewöhnlichem Leben. Doch als sie dem stressigen Alltag den Rücken kehrt und mit ihrer Freundin einen Urlaub antritt, schein alles um sie herum auf einmal verrückt zu spielen. Seltsame Wesen auf einer anderen Welt tauchen plötzlich auf. Sie selbst erkennt sich kaum wieder, bis sie endlich entdeckt, dass sie etwas ganz Besonderes.

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Seitenzahl: 594

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Dagmar Dietl

WELTEN

Das Erwachen

Über die Autorin

Dagmar Dietl wurde 1975 in München geboren. Dort hat sie auch bis 2012 gearbeitet und gelebt, bis es sie der Natur zuliebe in den Bayerischen Wald gezogen hat. Welten – Das Erwachen ist ihr erster Roman.

Dagmar Dietl

WELTEN

Das Erwachen

1. Auflage: August 2019

Printed in Germany 2019

Copyright © 2019 by Dagmar Dietl

Erschienen im Eigenverlag

Autorin: Dagmar Dietl

Coverbild: Conny Weigl

Umschlagsgestaltung, Lektorat, Korrektorat u. Satz: Schreibservice Walbach

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitungen oder Zeitschriften, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- oder Bildteile.

Prolog

Es raschelt hinter mir. Mit einem Ruck fahre ich herum. Hektisch, beinahe panisch suche ich nach der Ursache des Geräuschs. Ein erdrückendes Gefühl überrollt mich und ich kann nichts dagegen tun. Was ist da? Wer war da? Ich bleibe stehen und versuche meine Atmung zu kontrollieren. Das gibt es doch nicht, was verfolgt mich da? Ich starre ins Gebüsch, dorthin, woher das Rascheln kam, und hoffe auf irgendeine Erklärung oder Entdeckung - vielleicht ein Fuchs auf Futtersuche… Warte auf die Auflösung meiner Angst und die Normalisierung meiner Atemfrequenz. Langsam wird mein Atem tatsächlich ruhiger, aber das Adrenalin kreist immer noch in meinen Adern. Ich kämpfe gegen den Wunsch, einfach wegzurennen. Nur einen Augenblick später entscheide ich mich dafür, weiter zu gehen. Ab und an werfe ich einen Blick hinter mich, immer noch aus dem Gefühl heraus, verfolgt zu werden. Und immer wieder kommen diese Ohnmachtsgefühle auf.

Was, wenn es das ist, was ich gesucht habe, und es sich nicht gut anfühlt?

Ich atme tief, sauge die Düfte der Natur ein und versuche realistisch zu denken. Wie friedlich alles sein kann! Unter mir knirschen die Schottersteine des Weges, die Sonne schickt ihre warmen Strahlen über mein Gesicht. Alles ist still. Langsam kehrt die Ruhe wieder ein.

Und dann plötzlich: Stechende Schmerzen auf meinem Rücken, meinem Hals und auch am Kopf bringen mich ins Taumeln. Ich wanke, mein Gesichtsfeld verengt sich. Schwarze Wolken legen sich um meinen Kopf. Ich kann den Weg vor mir kaum noch erkennen, immer stärkere Schmerzen werden mir zugefügt. Der Ohnmacht nahe stürze ich. Mein Gesicht schlägt hart auf dem Asphalt auf. Ich krümme mich am Boden, winde mich, will weg hier. Ich sehe nur noch grinsende Fratzen vor mir. Von geisterhaften Figuren, die hässlicher sind als alles, was ich bisher gesehen habe. Sie kreischen, lachen mich aus, sie holen aus und stoßen mir ihre scharfen Krallen wieder und wieder ins Fleisch. Mit jedem Schlag scheint die Kraft in ihren dürren, hässlichen Armen zuzunehmen.

Mein Blut strömt aus unzähligen Wunden und mit ihm verrinnt jeglicher Fluchtgedanke in mir. Mit jeder Sekunde schwindet meine Lebensenergie. Ich habe keine Kraft, kann nicht mehr denken, nicht mehr atmen.

Doch mit einem Mal ist jeder Schmerz verflogen. Ich höre noch das kreischende Lachen der Monster. Im nächsten Augenblick sehe ich sie über mir in der Luft hängen. Sie krallen sich aneinander fest und scheinen sich über ihre brutale Tat zu freuen. Ich stehe neben meinem blutigen Körper, der am Boden liegt, und spüre nur noch unendliche Wut.

Nein, so kommt ihr mir nicht davon. Dafür werdet ihr mir büßen!

Kapitel 1

„Mama, kommst du endlich? Ich muss zum Volleyball!“, ruft Sina aus dem Flur. Sekunden später steht meine 15-jährige Tochter mit gepackter Sport-tasche vor mir. Oje, Sinas Training! Wo bin ich nur mit meinen Gedanken? Wie ausgeblendet sind meine letzten Minuten, wie so oft in letzter Zeit. Ich sitze am Esstisch, vor mir eine leere Kaffeetasse. Schon wieder spüre ich diese Unruhe in mir. Wieso bin ich so unzufrieden mit meinem Leben? Es ist doch perfekt! Ich versuche meine wirren Gedanken zu sortieren und mich auf meine Mutterpflichten zu konzentrieren.

Ich habe zwei Kinder, Sina und Raphael. Beide gesund, beide mehr oder minder gut erzogen. Na gut, Raphael gehört mit seinen 13 Jahren und seiner beginnenden Pubertät eher in die Kategorie „minder gut erzogen“. Genauer gesagt, widersetzt er sich meinen Erziehungs-versuchen vehement. Er ist faul, stinkfaul! Schulisch eine Katastrophe, nichts macht er von selbst. Letztes Jahr musste er die Realschule verlassen und auf die Mittelschule wechseln. Er hatte sich, abgesehen von seinen mageren Leistungen, vom Direktor auf der Schultoilette beim Rauchen erwischen lassen und war, um das Ganze zu toppen, auf der Klassenfahrt dem Lehrer betrunken in die Arme gelaufen. Wenn ich ihn zur Rede stelle, kommen Antworten, auf die ich keine Erwiderung weiß: „Ich habe keine Lust auf Schule! Ich werde mal Disc-Jockey und reich damit. Dann können mich alle mal!“ Damit ist jedes Gespräch für ihn erledigt. Seine Freunde sind leider vom selben Schlag. Ich weiß nicht, was ich bei ihm falsch gemacht habe. Ich war immer für ihn da und er hat alles, was er braucht. Ich habe das Gefühl, als wolle er mir meine letzte Energie rauben. Seine Handlungen sind ein permanenter Protest gegen alles, was für ihn gut wäre, und er stürzt sich mit Begeisterung und Vollgas in Situationen, die schlecht für ihn sind.

Sina muss deshalb oft zurückstehen, vor allem was meine Zeit und Aufmerksamkeit angeht. Zu oft. Raphael bringt mich zum Verzweifeln, manchmal auch zum Weinen. Er kostet mich mehr Kraft, als ich in meinem Alltag aufbringen kann. Mir fehlt einfach der innere Antrieb.

Sina steht immer noch mit ihrer Tasche vor mir und wartet. Ihr leises „Mama?“ reißt mich erneut aus meinen Gedanken. Sina ist ein bildhübsches junges Mädchen. Sie kommt nach ihrem Vater, was die Figur, die Ausstrahlung und auch die Beliebtheit angeht. Sie ist inzwischen bestimmt zehn Zentimeter größer als ich – ich habe sie schon lange nicht mehr gemessen –, hat blonde Haare, ein gleichmäßiges Gesicht, einen rosigen Teint und strahlend blaue Augen. „Mama, jetzt bitte! Ich hasse es, zu spät zu kommen. Das weißt du genau!“

Ihr mahnender Tonfall scheucht mich vom Stuhl. Sie ist so pflichtbewusst! Je älter Sina wird, desto mehr merke ich, dass sie alles hat, was ich in ihrem Alter gerne gehabt hätte. Sie ist sportlich, gut aussehend und kommt mit ihrem Charme überall gut an.

Zwei Minuten später sitzen wir in meinem alten grünen Kombi und sind auf dem Weg zur Sporthalle. Sina trainiert im Verein zweimal pro Woche und zusätzlich hat ihr Team während der Saison mindestens ein Spiel pro Wochenende. Vor großen Turnieren muss durchaus viermal in der Woche trainiert werden. In meiner sogenannten Freizeit betätige ich mich als Mama-Taxi. Ich bringe die Kinder in das besagte Volleyballtraining, zu Freunden, in die Stadt, zum Klavierunterricht, zum Reiten und stehe für sonstige Fahrten bereit. Ich fahre zwar gerne Auto, aber an manchen Tagen kommen locker 100 Kilometer zusammen, nur für dieses Hin- und Herkutschieren, von der dafür verwendeten Zeit gar nicht zu reden. Allerdings würde ich mich über ein „Danke“ auch mal freuen. Aber, um Enttäuschungen zu vermeiden, stelle ich mich darauf gar nicht erst ein. Vielleicht werden Sina und Raphael später einmal erkennen, was ihre Mutter alles geleistet hat – vermutlich dann, wenn sie selbst Kinder haben, die überall hingefahren werden wollen.

Kurz nach sieben treffen wir am Vereinsgebäude ein und natürlich sind wir zu spät dran und natürlichbin wieder einmal ich schuld. Was mir eine Schimpfkanonade meiner Teenie-Tochter beschert: „Jetzt muss ich wieder Strafrunden laufen. Mama, du weißt, wie ich das hasse!“

Ja, das weiß ich.

Was ich nicht weiß, ist, warum mir mein Alltag mit jedem Tag schwerer fällt. Ich stammle ein „Es tut mir leid!“ und schiebe pflichtbewusst „Soll ich mit reinkommen?“ nach, in der Hoffnung, dass meine Tochter mein halbherziges Angebot nicht annimmt. Ich habe Glück. Sie klatscht mir ein „Bloß nicht, dass schaffe ich alleine!“ hin, knallt die Autotür zu und rauscht davon.

Ich sitze noch eine Weile wie betäubt im Auto. Tränen rinnen mir übers Gesicht.

Sina führt mir, übrigens wie mein Mann Phil ebenso, ständig meine Schwächen vor Augen, auch wenn ich sicher bin, dass beide das nicht beabsichtigen. Unter ihren Augen schrumpft mein Selbstwertgefühl ins Nichts, ich fühle mich klein und vollkommen unfähig. Und dann immer diese Black-Outs, wie eben noch am Esstisch. Einfach weg, meine Gedanken. Es ist beunruhigend.

Ich starte den Motor meines Autos und streiche fast zärtlich über das abgegriffene Lederlenkrad meines alten Volvos. Schon oft hat mein Mann mir angeboten, ein neues Auto zu bestellen. Phil arbeitet bei Audi, hier in Ingolstadt. Natürlich sähe er gerne, dass auch ich einen Audi fahren würde. Ihm ist mein alter Kombi peinlich. Die Frau eines Angestellten in gehobener Position fährt keine uralte Karre einer Fremdmarke, und dann auch noch in einem Signalgrün, das vor sechzehn Jahren einmal modern gewesen ist! Ich verstehe ihn, bin aber mit meinem alten Auto zufrieden. Nein, ich möchte es nicht ersetzen, es hängen so viele Erinnerungen daran.

Auf dem Rückweg nach Hause hole ich noch Raphael bei seinen Freunden ab und werde dafür noch nicht einmal mit einem Blick belohnt. Er lässt sich in den Beifahrersitz fallen und starrt während der gesamten Fahrt stumm auf sein Handy. Vermutlich würde er mit einem fremden Busfahrer eher plaudern. Seine Selbstverständlichkeit lässt in mir wieder diese Wut und Hilflosigkeit aufsteigen. Während ich darauf warte, dass sich das automatische Garagentor öffnet, steigt er wortlos aus und geht zum Haus. Warum setzt du dich nicht durch? Warum erträgst du seine Rücksichtslosigkeit und Unhöflichkeit?Das sind Fragen, die ich mir oft stelle, und auf die ich keine Antwort weiß. Als wäre ich irgendwie blockiert.

Als ich zur Haustür hereinkomme, ist Raphael längst in seinem Zimmer verschwunden. Unsere Hündin Leila springt freudig an mir hoch.

„Du bist aber auch wirklich die Einzige, die sich über meine Anwesenheit freut!“

Leila ist meine treue Begleiterin. Ihr Blick wirkt oft menschlicher, als all die Blicke der Leute um mich herum, und ihre Anteilnahme ist echter. Leila ist acht Jahre alt, wir haben sie von einer Tierschutz-organisation. Sie ist definitiv keine Schönheit: schwarz-braun gestromt, kurze Beine, langer Körper und langer Schwanz. Aber ihr Gesicht ist wundervoll. Ihr Blick zeigt mir täglich, dass sie mich liebt und braucht. Meine Kinder brauchen mich auch, das weiß ich, aber für sie bin ich eher nützlich als ein Ziel der Zuneigung. Zum Glück hat sich Leila im Zwinger damals uns ausgesucht. Oder vielleicht eher mich. Sie ist langsam auf uns zugekommen, hat uns umkreist. Während alle anderen Hunde uns freudig begrüßt und beschnuppert haben, hat Leila mich still aus der Ferne beobachtet. Kurz bevor wir uns für einen Golden-Retriever-Mischling entscheiden wollten, hat sie sich direkt neben mein rechtes Bein gestellt und ihren Kopf an mein Knie gelehnt. Ganz ruhig und entspannt hat sie gewirkt. Mir ist sofort ein kühler, aber angenehmer Schauer über den Rücken gelaufen. Ich hatte augenblicklich das Gefühl, diesen Hund schon lange zu kennen, und habe zugleich beschlossen: Das ist mein Hund! Gegen den Willen meiner Familie habe ich Leila aus dem Tierheim geholt.

„Die ist doch hässlich“, hat Sina damals gemeckert.

Und da ich mich damals im Alleingang für diesen Hund entschieden habe, darf ich mich nun auch ganz alleine um ihn kümmern. Zumindest ist das die faule Ausrede meiner Kinder, wenn ich sie bitte, mit Leila Gassi zu gehen. Das Maximum an Hilfe, das ich erwarten kann, ist, dass sie die Terrassentür öffnen und den Hund in den Garten lassen – und selbst das nur unter Protest und Augenrollen.

Der Name Leila gefällt mir eigentlich nicht. Ich habe ihn aber nicht geändert, wahrscheinlich aus Trägheit und weil ich über diesen Hund nicht weiter nachdenken wollte. Leila tröstet mich oft, wenn ich – wieder einmal – alleine und nervös bin. Im Moment kommt das immer häufiger vor, da meine Kinder inzwischen lieber mit Freunden abhängen, chillen oder zocken. Auch mein Mann kommt selten vor acht Uhr nach Hause und ist selbst dann nur körperlich anwesend. Leila legt ihren Kopf auf meine Oberschenkel, setzt ihren magischen Blick auf und sofort spüre ich eine innere Ruhe.

Ihre Art und ihr Wesen erinnern mich stark an meine Katze aus meiner Kindheit. Mimi hat auch eine solche Wirkung gehabt. Sie hieß Mimi, weil ich als kleines Mädchen „Miezi“ nicht aussprechen konnte. Mimi schlief bei mir, half mir über Alpträume hinweg, bewahrte mich vor Monstern unter dem Bett und tauchte immer dann auf, wenn ich besonders traurig war.

Bei Leila ist es ähnlich. Sie hat mich sogar schon mehr-mals vor dummen oder sogar gefährlichen Situationen bewahrt. Wenn ich Phil von ihren Fähigkeiten erzähle, sagt er nur: „Du spinnst.“

Tja, mein Mann ist zu rational, um an so etwas zu glauben. Zum Beispiel wollte ich Sina vom Reiten abholen und war, wie immer, in Eile. Ich rannte aus der Haustüre, doch Leila blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen. Ich rief sie und wollte schon schimpfen, weil sie nicht gehorchte, doch dann fiel mir auf, dass ich meinen Schlüssel vergessen hatte! Ohne sie wäre ich ausgesperrt gewesen.

Ein anderes Mal hatte ich Leila an der Leine und war auf dem Weg zum Bäcker. Gerade als ich meinen Fuß vom Gehweg auf die Straße setzen wollte, riss Leila an der Leine und zerrte mich damit zurück. Noch im selben Moment raste ein Motorrad an uns vorbei. Wäre ich auf der Straße gewesen, hätte mich das Motorrad erfasst.

Daher ist Leila für mich ein ganz besonderer Hund und bedeutet mir unendlich viel: Sie ist eine ruhende Säule in meinem Leben. Ich bücke mich, umfasse ihr liebes Gesicht mit beiden Händen und drücke meine Wange an sie. Bei dem Gedanken, sie könnte irgendwann einmal nicht mehr an meiner Seite sein, laufen mir jetzt schon die Tränen über die Wangen.

In dem Moment höre ich das vertraute Geräusch des Schlüssels im Türschloss: Mein Mann kommt nach Hause. Mit einem Ruck fahre ich hoch, weil ich mich nicht bei Zärtlichkeiten mit dem Hund erwischen lassen will. Andererseits sieht es jetzt so aus, als hätte ich auf Phil gewartet, was irgendwie auch stimmt.

Ich warte ständig auf etwas oder jemanden. Ich warte darauf, dass die Magie der Liebe wieder in unsere Ehe Einzug hält. Ich warte darauf, dass Phil Interesse an seiner Familie zeigt, sich mehr einbringt. Ich warte darauf, dass er für mich da ist und meine Entscheidungen mitträgt. Ich warte, immer.

„Astrid, möchtest du etwas von mir?“

Phil schaut mich im Vorbeigehen prüfend an.

Ja!, schießt es mir durch den Kopf, aber ich weiß nicht, was. Selten nennt mich mein Mann „Schatz“, „Liebling“ oder nutzt einen anderen Kosenamen für mich. Ich bin immer nur Astrid. Ich mag diesen Namen nicht, mochte ihn noch nie. Er klingt so altbacken, dabei bin ich in der Generation der coolen Namen geboren. Meine Klassenkameradinnen hießen Melanie, Michaela, Stefanie, Julia oder Sandra. Alles schöne Namen, weich, weiblich, meist auf „a“ endend, aber meine Eltern mussten mich Astrid nennen, nach meiner Großmutter. Ich mochte meine Großmutter, den Namen mag ich trotzdem nicht.

Phil hat sich bereits sein Jackett und seine Schuhe aus-gezogen und ist in die Küche vorausgegangen. Ich stehe immer noch im Flur und schaue auf Leila hinunter. „Komm, Leila! Schauen wir, ob Phil etwas braucht!“

Natürlich braucht Phil nichts, eher brauche ich etwas.

Phil ist bereits dabei, das Mittagessen in der Mikrowelle warm zu machen, und sortiert seine mitgebrachten Akten auf der Küchentheke. Gleich wird er, wie immer, in sein Arbeitszimmer verschwinden oder, wenn ich Glück habe, setzt er sich mit der Tageszeitung vor den Fernseher und schaut gleichzeitig die Nachrichten. Wie er das macht, ist mir ein Rätsel. Ich könnte mich nur auf eines konzentrieren.

Phil sieht mich prüfend an.

„War wieder etwas mit Raph?“, fragt er.

Eigentlich ist jeden Tag „etwas mit Raph“. Entweder kommt er nicht zur verabredeten Zeit nach Hause, hat wieder eine schlechte Note in irgendeiner Prüfung, riecht nach Rauch oder ist einfach nur unverschämt. Das gehört zum Alltag mit Raphael. Sobald ich an meinen Sohn denke, zieht sich alles in mir zusammen. Wenn Raphael vor mir steht, atmet er Wut und Hass förmlich aus. Er sagt auch durchaus häufig zu mir, dass er mich hasst.

Ich wollte immer nur ein Kind haben. Bei einem Kind muss man nicht vergleichen und man muss seine Liebe nicht aufteilen, niemand wird benachteiligt. Phil wollte aber unbedingt noch ein zweites Kind, einen Jungen. Und, wie gewünscht, ist es auch ein Junge geworden. Manchmal denke ich mir, ich hätte mich durchsetzen sollen. Mein Leben wäre heute um einiges sorgenfreier. Doch dann wische ich die Gedanken wieder beiseite. Astrid, was bist du für eine Rabenmutter! Als ich mit Sina schwanger gewesen bin, ist es mir schon ab der dritten Schwangerschaftswoche sehr schlecht gegangen. Da wusste ich noch nicht einmal, dass ich schwanger war. Übelkeit, Erbrechen – bis hin zum Klinikaufenthalt. Mir war neun Monate lang übel. Insgesamt habe ich nur sieben Kilogramm zugenommen. Ich solle mehr essen, rieten mir die Ärzte und fragten, ob ich denn rauchen würde, weil Sina bei der Geburt so klein war. Nein, ich rauchte nicht, ich konnte nur kein Essen bei mir behalten. Dass darunter auch das Ungeborene zu leiden hat, ist naheliegend. Während der Schwangerschaft durfte ich mir vonseiten der Ärzte tolle Ratschläge anhören: Ich solle mich nicht so haben, das ginge vorbei, spätestens bei der Geburt. Ja, es ging vorbei – und danach kam die Wochenbett-Depression. Eine Bindung zu Sina konnte ich anfangs gar nicht aufbauen. Erst nach und nach entwickelten sich Muttergefühle. Als alles langsam zur Ruhe kam und ich anfing, Freude an meiner Kleinen zu empfinden, kündigte sich Raphael bereits an.

Verständlicherweise hatte ich Angst vor der erneuten Schwangerschaft, aber die war vollkommen unbe-gründet. Was folgte, war eine Bilderbuchschwanger-schaft, abgesehen von 25 Kilogramm Gewichts-zunahme, wovon ich immer noch 15 Kilogramm mit mir herumschleppe. Ich bekomme das Gewicht einfach nicht mehr weg.

Raph war als Baby eher ruhig, freundlich und lachte ständig – ein echter Sonnenschein. Ganz im Gegensatz zu Sina: Sie weinte viel, fremdelte extrem und war sehr verschlossen. Wie sich das Blatt wenden kann!

Phil hat meine Antwort nicht abgewartet und sich vor den Fernseher gesetzt. Eine große Hilfe habe ich von ihm auch nicht erwartet. „Du machst das schon“ höre ich immer, wenn es um die Erziehung unserer Kinder geht. Er hält sich aus allen Familienangelegenheiten raus und ich fühle mich mit den Aufgaben sowohl alleine gelassen als auch überfordert. Sogar zu seiner eigenen Mutter fährt er nicht mit. Meine Schwiegermutter erwartet, dass wir bei ihr einmal in der Woche auftauchen. Aber da weder Phil noch die Kinder diesem Wunsch nachkommen, absolviere ich diese Besuche alleine, wenn auch extrem ungern. Meine Schwiegermutter stichelt, beleidigt, droht und redet jedem ein schlechtes Gewissen ein. Manchmal schafft sie das alles sogar mit nur einem Satz. Ich hole mir jede Woche einen Schwung negative Gefühle und Stim-mungen ab und frage mich jedes Mal, warum ich mir das immer wieder antue. Von Liebe und Herzlichkeit ist bei ihr keine Spur - kein Wunder, dass mein Mann sich emotional aus allem raushält. Das war seine Taktik, um zuhause zu überleben, denke ich. Phil redet nicht viel über seine Jugend. Wenn Mutter und Sohn doch einmal aufeinandertreffen, kann ich Phils Ablehnung und Verachtung seiner Mutter gegenüber förmlich greifen. Er ist zwar höflich distanziert, wie man das so schön nennt, mehr aber auch nicht. Doch genau dieses Verhalten prägt leider auch unseren Alltag – wie jetzt, wenn ich gerne über meinen Tag reden würde, Phil aber nicht. Wir sprechen sogar so wenig miteinander, dass ich nicht einmal genau weiß, was er bei Audi macht.

Ich stehe in der Küche und starre auf die Mikrowellentür, die Phil einfach offengelassen hat, als wäre er mitsamt seinem Teller vor mir geflohen. Auf dem Küchentresen liegt ein Aktenordner mit der Aufschrift Audit. Was immer das auch ist. Gedankenversunken putze ich die Mikrowelle und schiebe seine Unterlagen genauso beiseite, wie meine Gedanken über seine Arbeit. Leila ist mir in die Küche gefolgt und beobachtet mein Schaffen. Mich erdrückt die Stimmung und ich überlege laut: „Sollen wir noch eine Runde raus gehen?“

Leila wedelt, aber das tut sie immer, wenn ich sie an-spreche. Im Flur schnappe ich mir Leilas Halsband und die Leine, ziehe Schuhe an und werfe eine Jacke über. Dann rufe ich ins Wohnzimmer: „Bin mit Leila draußen!“ Ich weiß, dass Phil mich gehört hat, bekomme aber keine Antwort.

Im Gegensatz zu allen anderen Familienmitgliedern freut sich Leila, dass ich Zeit mit ihr verbringe. Vor der Haustür atme ich tief die vorherbstlich kühle Luft ein, als könne ich die verschlafene Ruhe des Vororts in mir aufsaugen. Wir haben uns damals ganz bewusst für den Hauskauf in Kösching entschieden – der Kinder wegen. Ich bin stolz auf unser Häuschen, auch wenn es nicht das Schickste ist. Aber es ist unser eigenes Reich. Leila zieht mich an der Leine in Richtung Gartentüre, an meinen Rosen vorbei. Ja, ihr braucht auch noch euren Herbstschnitt.

Ich mache das, versprochen!

Unser Garten ist meine Oase der Erholung. Ich bin gerne draußen, gerne in der Natur, liebe es, mich mit Pflanzen zu beschäftigen. Die Natur gibt mir die Energie und Kraft zurück, welche ich in meinem Alltag so vermisse. Genauso gerne bin ich mit Leila unterwegs, wobei mir unser Wohnort schon wieder zu beengend erscheint. Viele Menschen, Bauten, Autos und die Umgebung sehr bekannt. Diese Gedanken habe ich immer, wenn ich unser 70er-Jahre-Häuschen verlasse. Wenn ich, so wie jetzt, mit Leila durch die Nebenstraßen gehe, entgleiten meine Gedanken immer an fremde Plätze, in ferne Länder. Ich träume vom Reisen, von Abenteuern und Entdeckungen, immer getrieben von meiner inneren Unruhe. Ich habe das Gefühl, etwas zu suchen. Ich weiß nicht, was es ist, weiß aber genau, dass ich es hier zu Hause nicht finden kann. Wenn ich in Gedanken verloren bin, passiert es schon mal, dass aus unserer kurzen Spazierrunde ein dreistündiger Ausflug wird und ich umherstreife wie ein streunender Kater.

Heute sollte mir das besser nicht passieren, denn sonst bekomme ich Ärger mit Sina. Ein Blick auf die Uhr bestätigt mir, dass ich noch eine dreiviertel Stunde Zeit habe. Ich entscheide mich für unsere kurze Runde. Leila kennt unsere Strecken auswendig, somit muss ich nicht allzu sehr auf sie achten.

Meine Gedanken schweifen erneut ab. Ich bemühe mich, beim Gassigehen nicht an mein Alltagsgeschäft und die damit verbundenen Sorgen zu denken. Das habe ich mir und Leila versprochen! Die Zeit mit meinem Hund ist meine Zeit.

Nach ein paar Minuten bleibt Leila vor einem mit Efeu überwucherten Haus stehen, wie immer auf dieser Runde. Das Haus gehört Frau Wagerle. Die ältere Dame ist ein Lichtblick in meinem Job bei der Bank. Sie ist 75, Witwe, ihr Mann ist bereits 1998 gestorben. Am ersten Werktag des Monats holt sie ihre Rente in bar bei mir ab. „Damit ich das Geld in der Hand habe“, sagt sie dann immer lächelnd. Frau Wagerle ist etwas Besonderes. Sie hat nicht viel Geld, wie ich weiß, aber ist immer freundlich und glüht förmlich vor Menschenliebe.

Das ist bei den wenigsten meiner Kunden der Fall. Bei manchen habe ich das Gefühl, ich blicke ins abgrundtiefe Böse. Bei anderen, durchaus auch bei solchen, die gut betucht sind, sehe ich tiefste Traurigkeit. Trotzdem immer wieder die Fragen nach noch mehr Geld, Zinsen und Gewinn. Wieso gibt es nur so viele Menschen, mit deren Lebenseinstellung und Auffassung von Zufriedenheit ich nicht zurecht-komme? Ich bin selbst nicht zufrieden mit mir. Vielleicht ist es ja nur Frust über mein eigenes Leben und der Versuch, mit der Suche nach Fehlern bei anderen von meiner eigenen Armseligkeit abzulenken? Diese Frage stelle ich mir oft. Dann fühle ich mich noch mieser.

Sehr oft passiert es mir, dass mich die Gefühle meiner Mitmenschen erdrücken. Phil sagt dazu nur, ich solle sie doch nicht so an mich heranlassen. Wenn das so einfach wäre! Ich sehe in die Gesichter der Menschen vor meinem Schalter und es kommt mir vor, als würde ich bis auf den Boden ihrer Seelen sehen. Das ist nahezu unmöglich abzustellen, ganz besonders bei negativen Gefühlen. Ich habe den Eindruck, dass ich die Alltagslasten anderer Menschen förmlich anziehe. Bei Frau Wagerle ist das anders. Ihr Gesicht strahlt, es spendet mir irgendwie Energie und Wärme, anstatt sie zu rauben. Vor einiger Zeit hat sie ihre Hand auf meine gelegt, ist mit ihrem freundlichen, faltigen Gesicht ganz nah an mein Ohr herangekommen und hat geflüstert: „Wissen’s, Frau Wittmann, Sie sind etwas ganz Beson-deres. Das wird Ihnen bald bewusst werden.“

Sie hat langsam gesprochen und immer wieder Pausen gemacht, geradezu, als würde sie etwas ganz Wichtiges sagen oder etwas heraufbeschwören wollen. Als sie ihre Hand auf meiner Hand ablegte, kribbelte es warm auf meinem Handrücken. Ihre Worte hatten für mich solch eine beruhigende Macht. Wertschätzung und Achtung sind nicht so häufig in meinem Beruf, ebenso wenig in meinem Privatleben. Daher wiederhole ich ihre Worte hin und wieder und stelle mir vor, wie schön es wäre, wenn Frau Wagerle Recht behalten würde.

Inzwischen ist es dunkel geworden. Leila und ich stehen immer noch vor Frau Wagerles Haus. Im Licht des Fensters taucht die zierliche, gebückte Gestalt der älteren Dame auf. Sie stützt sich auf die Fensterbank, winkt mir zu und sofort fühle ich mich nicht mehr so wertlos. Ich lächle und winke freudig zurück, wie ein kleines Kind, das eben Süßigkeiten geschenkt bekommen hat.

Das geschieht fast jeden Tag. Und immer, wenn wir vor dem Haus stehen bleiben, schaut Frau Wagerle aus dem Fenster und winkt. Fast magisch sind diese winzigen Lichtblickmomente in meinem Leben.

In dem Moment fällt mir siedend heiß Sina ein. Ich rufe nach meinem Hund.

„Komm, Leila, wir schauen morgen wieder nach Frau Wagerle!“ Dabei weiß ich genau, dass Frau Wagerle wohl eher nach uns schaut.

Kapitel 2

Die Herbstferien der Kinder kommen mit großen Schritten auf uns zu und ich würde – wieder einmal – gerne verreisen Raus aus diesem Alltag und weg von den Verpflichtungen, die mich so belasten. Wieder einmal möchte ich suchen, was ich dann doch nicht finden kann, weil ich nicht weiß, wonach ich eigentlich suche. Also erwähne ich im abendlichen Kurzgespräch mit Phil die Urlaubsplanung, in der Hoffnung, dass er mir zumindest so lange zuhört, bis wir ein passendes Urlaubsziel gefunden haben. Vermutlich wird es wieder mir überlassen bleiben, wo wir hinfahren. Ich bin sehr wählerisch, habe oft Kritik an Urlaubsorten, den Unterkünften und an der Art der Anreise, deshalb überlässt Phil mir normalerweise die Auswahl. Aber seine Zustimmung möchte ich trotzdem gerne haben.

Pünktlich um acht schneit Phil zur Tür herein. Er hängt sein Jackett fein säuberlich im Flur auf den Butler und betritt die Küche. Ohne hinzusehen kann ich jedes Geräusch seinen vertrauten Bewegungen und Hand-griffen zuordnen, könnte die Sätze, die jetzt folgen werden, mit hundertprozentiger Sicherheit voraus-sagen.

„Hallo, Schatz!“

Und los geht’s! Ein kurzer Schmatz auf die Wange, väterlich, so als würde er seine Kinder begrüßen. Ein kurzes „Was gibt’s?“, nachdem er seinen Blick über den Herd schweifen ließ, auf der Suche nach dem übrig gebliebenen Mittagessen. Immerhin schätzt Phil meine Kochkünste. Natürlich ist noch etwas übrig, weil die Kinder „keinen Hunger“ haben und den lieber mit irgendeinem Fast Food stillen. Das ist cooler!

Etwas zu kochen, das allen schmeckt und bekommt, ist in meiner Familie eine logistische Meisterleistung, kombiniert mit einer seherischen Gabe. Phil muss auf Cholesterin und Fett achten. Er ist nicht übergewichtig, aber der Stress in seiner Arbeit hat ihm in der Vergangenheit bereits ein Vorhofflimmern beschert. Er sollte sich mehr bewegen, aber das schafft er zeitlich nicht. Zumindest achtet er auf sein Essen, sein Abendbierchen lässt er sich aber nicht nehmen. Am Wochenende setzen wir uns ab und an aufs Fahrrad oder Phil begleitet mich bei einer Runde mit dem Hund. Für alles darüber hinaus ist er zu erschöpft. Er hat schon lange keine geregelten Arbeitszeiten mehr. Häufig arbeitet er mehr als 50 Stunden in der Woche und nimmt sich, wenn es nicht reicht, Arbeit mit nach Hause, um am Wochenende „mal drüber zu schauen“. Das bedeutet, dass er sich stundenlang in seinem Büro verschanzt und nur zu den Mahlzeiten auftaucht.

Raphael hätte gern nur Fleisch auf seinem Teller und dann bitte Filet oder Rindersteak. Burger, Pizza, Pommes oder Chips isst er zur Not auch. Gemüse taugt seines Erachtens nur zur Dekoration. Von Cola und Spezi konnte ich ihn abbringen, wenigstens zu Hause – ich habe einfach keines mehr gekauft. Er hat Übergewicht, was ihm angeblich egal ist. Wie es in ihm drinnen aussieht, kann ich nur ahnen. Seine Aggressionen lassen aber darauf schließen, dass er überhaupt nicht mit sich zurechtkommt. Helfen lassen möchte er sich aber auch nicht. Und schon gar nicht von mir.

Sina dagegen ist eine militante Veganerin und würde am liebsten mit uns Fleischessern nicht einmal am gleichen Tisch sitzen. Zwinge ich sie dazu, führt dies unweigerlich zu einem flammenden, hochemotionalen Vortrag über Massentierhaltung und Tierquälerei, unterstützt durch die Vorführung grausamer Handyvideos. Sie hat sich von ihrem Taschengeld ein privates Pfannen- und Topfset für die Zubereitung ihrer Speisen gekauft, damit diese auf keinen Fall mit unseren „Sündenpfuhl-Lebensmitteln“ in Berührung kommen. Die Töpfe trägt sie nach dem Abwaschen in ihr Zimmer – zur Sicherheit. Dort lagern auch ihr Privatbesteck- und -geschirr sowie vegane Aufstriche. Sogar einen privaten Kühlschrank musste Phil ihr kaufen. Ein „Bitte, bitte, bitte! Daaaad!“ genügte, damit mein Mann mit ihr zum Elektrogroßhandel fuhr.

Sinas konsequenter Veganismus ist natürlich für Raphael das sprichwörtliche „gefundene Fressen“, wenn es darum geht, einen Streit mit der großen Schwester zu provozieren. Raphael reizt Sina bis aufs Messer, im wahrsten Sinne des Wortes. Er verwendet ihr Geschirr bevorzugt für seine Wurstbrote, die er dann vor ihren Augen dekorativ zerkleinert. Sinas darauffolgendes Geschrei ist seine Belohnung für die böse Tat. Ich kann Sina verstehen: Raphael ist einfach ein Meister der Provokation.

Na ja, und ich versuche seit der letzten Geburt mein Gewicht zu reduzieren.

Die Kombination der diversen Zubereitungsvarianten ist daher eine echte Herausforderung. Ich mache mir Gedanken über Kalorien, die Wünsche meiner Familie und achte penibel auf die Vorgaben von Sinas Topf- und Kochwahnsinn. Außerdem koche ich jeden Tag frisch, wenn ich von der Arbeit und dem anschließenden Einkaufen nach Hause komme. Meine beste Freundin Anne rät mir schon lange, ich solle mit „diesem Theater“ aufhören. Ich hoffe aber immer noch inständig, dass ich so meine Lieben alle wieder an einen Tisch bekomme oder wenigstens einmal am Wochenende zu einer gemeinsamen Mahlzeit. Ist es nicht meine Aufgabe als Hausfrau und Mutter zu kochen? Meine Schwiegermutter sieht das auf jeden Fall so. Sie erweckt ohnehin den Anschein, in allem perfekt zu sein, und teilt mir ihre Anschauung auch immer wieder gerne mit.

„Schau, was aus meinen beiden Söhnen geworden ist! Phil ist bei Audi unentbehrlich und über sein Gehalt kannst du dich nicht beschweren!“

Nein, kann ich tatsächlich nicht. Aber was nützt es uns, wenn wir keine Zeit haben, in der wir das Geld miteinander ausgeben können und Phil permanent seine Gesundheit gefährdet? Diese Argumentation interessiert meine Schwiegermutter nicht, obwohl sie das sollte. Er ist schließlich ihr Sohn! Die Sorgen um Phil trage ich ganz alleine. Ich wüsste nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte, wäre er nicht mehr da. Ich „schmeiße“ zwar unsere Familie, aber er gibt mir dafür den Halt und das Vertrauen.

„Und Thomas ist Richter am Oberlandesgericht in München.“

Das betont meine Schwiegermutter dann immer so, als wäre ich zu blöd, das Wort Oberlandesgericht zu verstehen, oder wüsste nicht, wie bedeutend die Landeshauptstadt Bayerns ist. Diese Sätze höre ich seit 18 Jahren, ab dem Zeitpunkt, an dem ich das erste Mal Phils Mutter getroffen habe.

„Ich bin Frau Wittmann, Therese Wittmann. Da wir uns nun häufiger sehen werden, darfst du mich Therese nennen!“

Diesen Satz habe ich, mit all den Betonungen und Pausen, immer noch im Ohr. Von oben herab, arrogant und selbstverliebt.

Ich bin damals noch in meiner Ausbildung zur Bank-kauffrau gewesen. Für alle coolen Ausbildungsplätze war mein Notendurchschnitt von 2,3 schlicht und ergreifend zu schlecht. Therese musterte mich von oben bis unten und fragte mich nach all meinen Vorlieben und Hobbys, Haushalts- und Kochkünsten aus. Wie ich Wäsche wasche, wie ich bügle, welche Gerichte ich zubereiten kann. Es hätte mir auffallen müssen, in welche Familie ich da einheirate. Aber ich war jung, verliebt und trug immer die Worte meines Vaters spazieren: „Dein Mann muss erst noch gebacken werden.“ Mein Vater war der Ansicht, dass meine Ansprüche an meinen Zukünftigen viel zu hoch wären. Er kam aus der Nachkriegszeit, vertrat das damals typische Frauenrollenbild. Ich dagegen war ein Kind der BRAVO-Generation, mit ständig neuer Schwär-merei für ein Boy-Band-Mitglied. Die Träume für mein Leben setzten sich zusammen aus Karriere machen, aufregende Orte erleben, ein schickes Auto besitzen und emanzipiert durchs Leben schreiten. Dann traf ich im Leichtathletik-Verein auf Phil, den Mädchen-schwarm: groß, sportlich, schlank, muskulös. Phil war dort der Lokalmatador und das Ziel der Begierde aller nicht vergebenen Frauen unter 25, wahrscheinlich auch darüber. Alleine sein Name war für damalige Verhält-nisse ausgefallen. Kein Mensch sonst hieß Phil. Schließlich war das englisch und daher exotisch. Dieser Name war die Idee seines Vaters gewesen, der lange in England gelebt hatte. Er wollte seinem Kind mit diesem Namen etwas Besonderes mitgeben.

Phil war von sich selbst und seinen Erfolgen bei der Weiblichkeit eingenommen und ignorierte mich völlig. Es war aber auch nicht schwer, mich zu übersehen. Ich war klein und „zaundürr“, hatte daher keinerlei Attribute der Weiblichkeit zu bieten. Außerdem trug ich einen faden Haarschnitt, eine nichtssagende, fahlgraue Haarfarbe, und machte eine Ausbildung im langweiligsten Beruf, den man sich, meiner damaligen Meinung nach, vorstellen kann. Außerdem scheiterte ich meist schon an einem vernünftigen Bewerbungs-bild. Ich sah einfach langweilig aus. Hatte ich es einmal bis zu einem Vorstellungsgespräch geschafft, bekam ich meinen Mund nicht auf. Nein, selbstbewusst war ich noch nie und Sprüche meines Vaters, wie „Frauen gehören an den Herd“ förderten mein Selbst-bewusstsein auch nicht gerade.

Meine Mutter hingegen hatte immer für eine ordentliche Ausbildung plädiert. Sie war aber auch eine andere Generation, 21 Jahre jünger als mein Vater. Meine Mutter ist mir auch heute noch eine große Stütze. Als mein Vater 2002 an Lungenkrebs gestorben ist, war meine Mutter gerade einmal 45. Mein Vater hat mir durch seine guten Beziehungen als Vorstand einer Bank zu einem Praktikum in meiner jetzigen Arbeitsstelle verholfen, wo ich nach meiner Ausbildung auch geblieben bin.

Meine Mutter muss nicht arbeiten, da sie finanziell gut abgesichert ist. Nach dem Tod ihres Mannes ist sie sehr selbstbewusst geworden, unternehmungslustig und sozial stark engagiert. Es kommt mir so vor, als ob sie sich noch einmal neu erfunden hat. „Noch ein Mann kommt mir nicht ins Haus“ ist ihre Devise. Meine Mutter ist liebevoll, hat Humor, kann Situationen sehr schnell richtig einschätzen, findet immer die passenden Worte und weiß, wann ich eine Umarmung bitter nötig habe. Sie ist mein großes Vorbild. Sie holt mich auch immer wieder aus meinem Trott und Frust. Wir gehen dann ins Café, zusammen einkaufen oder machen kurze Ausflüge. Ohne meine Mutter würde ich im Alltag ertrinken. Auch die Kinder lieben ihre Oma, weil sie immer ein offenes Ohr für sie hat.

Meine Mama sagt mir immer wieder, dass ich eines Tages meinen Weg finden werde, und macht mir damit Mut. Oh Mama, danke für diese Worte. Du weißt gar nicht, wie gut sie mir tun. Realistisch betrachtet sieht es nicht ganz so rosig aus. Ich bin mittlerweile 35, die Jugendträume sind ausgeträumt, und ich kann außer dem Weg in die Waschküche und zum Supermarkt nichts erkennen, was die Bezeichnung mein Weg verdient hätte.

Als junges Mädchen war ich also weder schön noch sportlich oder besonders gut in der Schule, unterer Durchschnitt, nach meiner eigenen Beurteilung. Dass man sich, besonders als weiblicher Teenager, selbst aburteilt, gehört wohl mit zum Erwachsenwerden. Nur bei mir ist das miese Selbstbewusstsein erhalten geblieben.

Rückblickend wundere ich mich deshalb über mein erstes Zusammentreffen mit Phil. Das war auf der Kartbahn, auf der ein Sechs-Stunden-Rennen veranstaltet wurde, mit einer parallel stattfindenden großen Party. Da pro Gruppe immer eine Frau und zwei Männer fahren mussten und meine Freundin sich hartnäckig weigerte, saß ich ein paar Minuten später zum ersten Mal in einem Kart. Ich fuhr und anscheinend machte ich meine Sache gut, vor allem immer besser. Meine Teammitglieder feuerten mich an. Ich fand Gefallen am Kartfahren, fuhr über drei Stunden und verschaffte unserem Team einen riesigen Vorsprung. Wir wurden Zweiter.

Mein erster Pokal! Das erste Mal Respekt und Anerkennung von einer größeren Menge Menschen. Plötzlich nahmen mich die Jungs wahr, weil ich ja so cool gefahren war.

Phils Team wurde nur Dritter. Er sprach mich zum ersten Mal an, obwohl wir im gleichen Leichtathletik-Verein waren, gratulierte mir förmlich und fragte nach meinem Namen. Das war mein erster Schritt aus dem Schatten meines Vaters. Phil lud mich an diesem Abend auf eine Cola ein, fuhr mich nach Hause und ab da waren wir unzertrennlich. „Ich wusste gar nicht, wie liebenswert und intelligent du bist!“, waren seine Worte am Abend meines Rennerfolgs. Was darauf hindeutete, dass er mich sehr wohl wahrgenommen hatte, ich aber nicht in sein „Beuteschema“ gepasst hatte. Aber: Was für ein Satz von so einem Typen! Ich war sofort hin und weg. An diesem Abend kam es zum ersten Kuss. Wie ein Tag das ganze Leben verändern konnte! Ich färbte mir die Haare strahlend blond, begann mich zu schminken, achtete auf meine Kleiderwahl und wurde zu einem hübschen, jungen Mädchen. Durch Erfolge in der Ausbildung entwickelte ich ein bisschen mehr Selbstbewusstsein und fühlte mich zum ersten Mal wertgeschätzt. Für seine Unterstützung bei dieser Entwicklung bin ich Phil unendlich dankbar. Aber mein Selbstbewusstsein war immer an Phil gekoppelt. War er nicht da, fiel ich immer wieder in meine alten Selbstzweifel zurück. Immer, wenn ich unsere Ehe überdenke, erinnere ich mich an dieses Erlebnis. Unser Alltag hat wohl unsere Zuneigung ermüden lassen, trotzdem schätze und liebe ich meinen Mann.

Phil legt sich den Nudelauflauf auf einem Teller zurecht und packt ihn in die Mikrowelle. Während der Teller summend rotiert, versuche ich herauszufinden, wie Phils Stimmung ist. Ich merke, er würde jetzt liebend gerne schweigend in die Zeitung gucken, aber dann sieht er zu mir in die Ecke der Küche, in der ich gewöhnlich stehe, wenn ich mit ihm reden will und nicht weiß, wie ich anfangen soll. „Was ist los? Du sagst nichts. Dann möchtest du doch etwas?“ Wie gut Phil mich kennt! Seine Stimmung scheint auch in Ordnung zu sein. Also hole ich tief Luft und... „Mooom! Ich geh noch mal schnell zu Tess! Oh, hi Dad!“ Sina hält sich am Türrahmen fest und lehnt sich in die Küche. Da sie supercool ist, heißen wir nur noch Mom und Dad.

„So spät noch?“, fragt Phil genervt. Man merkt ihm an, dass ihm eine weitere Verzögerung auf dem Weg zu seinem Fernsehsessel gar nicht passt. „Und die Hausaufgaben?“, schiebt er pflichtbewusst hinterher. „Gemacht, und bevor du fragst, ich hab auch gelernt. Ciao.“ Und weg ist sie. „Astrid, wieso sagst du denn nichts?“, werde ich nun gefragt. Was soll ich sagen? Dass Sina zuverlässig ist, in der Schule mitarbeitet, ihre Hausaufgaben macht und spätestens um neun Uhr zu Hause sein wird? Phil starrt mich an. Mit einem scharfen Blick schaut er tief in mich hinein. Dieser Blick macht mir jedes Mal Angst, als wäre es nicht Phil, sondern jemand ganz anderes, der mich ansieht. Und da kommt es wieder in mir hoch: dieses ablehnende Gefühl anderen Menschen gegenüber. Aber warum passiert das auch bei meinem Mann? Wir sind schon so lange zusammen, ich sollte ihn doch nicht ablehnen.„Also?“, hakt er nach. Natürlich weiß ich, was er will und versuche alles in einen kurzen Satz zu fassen. „Wohin sollen wir in den Herbstferien fahren?“, sprudelt es aus mir heraus. Geschafft! „Ich kann keinen Urlaub nehmen. Wir waren im Sommer schon vier Wochen weg. Weißt du eigentlich, was das alles gekostet hat? Warum willst du immer weg? Bei uns zu Hause ist es doch auch schön!“ Diese Antwort habe ich sowohl befürchtet als auch erwartet. Diese endgültige Absage, die mir jegliche Hoffnung auf eine Flucht aus meinem Alltag nimmt. In fünf Sätzen innerhalb dreier Sekunden ist alles gesagt. Endgültig. Ich starre Phil an. Meine Schultern ziehen sich zusammen, machen mich krumm und klein und in meinem Kopf tobt ein Hämmern. Mir fällt kein Gegen-argument ein. Wie immer, ich stehe wie das kleine Mädchen vor einem strengen Vater. Mein Kopf produ-ziert trotzige Gegenwehr - ich will aber weg, ich will einfach weg - aber die Worte kommen nicht über meine Lippen. „Astrid...“ Phil macht einen Schritt auf mich zu, streckt seine Arme aus und sein Gesichtsausdruck wird weich. „Es geht nicht. Wirklich nicht.“ Ich gehe auf ihn zu und lasse mich umarmen. „Ich weiß, wie wichtig es für dich ist, aber ich kann meine Kollegen nicht im Stich lassen. In der Zeit läuft das Evaluationsprojekt mit dem Mittmann.“ Jetzt brauche ich einen klaren Kopf. Ich will während der Schulferien hier nicht herumsitzen müssen. Sina und Raphael würden bloß bis mittags im Bett und abends ewig unterwegs sein. Die würden mit ihrer Mutter definitiv nichts unternehmen. Meinen Urlaub habe ich in der Bank aber schon lange genehmigen lassen. Ich muss einfach weg! Offensichtlich sind meine Gedanken zu hören oder zumindest liest Phil erfolgreich in meinem Gesicht. „Schatz!“Oh, diese Anrede!Phil macht eine lange Pause, seufzt tief und bemüht noch einmal seinen liebevollen Blick. „Wenn du so gerne weg möchtest, dann fahr doch mit den Kindern. Ohne mich.“Alleine, ich? Was mach ich denn schon alleine? Nichts. Seit Raphaels Geburt bin ich zum Hausmütterchen mutiert. Für alles, was über Haushalt und Kinder-betreuung hinausgeht, brauche ich meinen Mann, meine Mutter oder meine beste Freundin Anne. Und nun schlägt Phil mal eben vor, ich solle alleine mit den Kindern wegfahren. So etwas traue ich mich gar nicht. Am Ende soll ich noch fliegen, inklusive Ausweiskontrolle, Check-in, Mietwagen, Fremd-sprache. Das kann ich nicht. Will ich nicht, das ist wohl die zutreffendere Aussage. Bin ich zu bequem, für meinen Wunsch nach einer Urlaubsreise über meinen phlegmatischen Schatten zu springen? Astrid, echt. So weit ist es mit dir schon gekommen?

„Aber ich habe doch keine Ahnung, wohin!“, höre ich mich selbst stammeln.Phil schaut durch mich hindurch an die Küchenwand, stellt sich wahrscheinlich gerade meine unsichere Art im Umgang mit unbekannten Situationen vor. Und dann schlägt er etwas vor, womit ich niemals gerechnet hätte. „Ein Arbeitskollege war im Sommer im Bayerischen Wald. Ihm hat es gut gefallen dort. Er fand‘s günstig, es ist nicht weit zu fahren und die Pension war recht ordentlich. Und er durfte seinen Hund mitbringen!“ Das „Bing!“ der Mikrowelle unterbricht meine Gedanken.Mit dem Auto fahren oder mit dem Zug? Bayerischer Wald, ist das nicht nur etwas für ältere Semester? Hund? Leila kann mit! Will ich überhaupt alleine wegfahren? Und Bayerischer Wald ist irgendwie nichts, worüber man hinterher stolz berichten kann. Was tut man da, außer wandern? Phil nimmt seinen Teller aus der Mikrowelle und stellt ihn auf dem Küchenbuffet ab. „Ich schreibe schnell meinem Kollegen und frage, wo genau er war.“ Und damit verschwindet mein Mann im Flur und lässt mich in der Küche stehen. Der hat‘s aber eilig. Will er mich etwa loswerden? Ich mag ohne ihn nicht wegfahren. Nach einem kurzen gedank-lichen Ausflug bin ich schon wieder die schüchterne Astrid. Leila erhebt sich von ihrem Lieblingsplatz und kommt zu mir in meine Küchenecke. Sie legt den Kopf auf meinen Oberschenkel und mustert mich. Normalerweise hasst sie Urlaubsplanungen. Ich bin sicher, dass sie uns versteht. Urlaub heißt für sie: ab zu meiner Mutter. Dort geht es ihr zwar nicht schlecht, aber sie vermisst mich. Und ich sie – jedes Mal. Das letzte Mal, dass wir Leila mit in den Urlaub genommen haben, ist vier Jahre her. Wie ich Leila so betrachte, merke ich, dass mir der Gedanke an Urlaub mit Hund zu gefallen beginnt. Vielleicht sollte ich die Kinder einpacken und raus in die Natur. Bayerischer Wald klingt nach viel Wald. Nach frischer Luft. Nach Erholung.Phil kehrt mit seinem Handy in der Hand zurück.„Sie waren in Achslach, östlich von Deggendorf. Nicht weit weg von der A3. Da kommst du leicht mit dem Auto hin. Das schaffst du schon. Ist das nicht eine gute Idee? Du kommst hier raus! Ist das nicht das, was du möchtest?“ Achslach, nie gehört. Leila wedelt, ich streichle un-bewusst über ihren Kopf und Bilder von gemeinsamen Wanderungen inmitten von unberührten Wäldern gehen mir durch den Kopf. Was bin ich eigentlich für eine Mutter? Sollte mir nicht das Bild „Spaziergang mit den Kindern“ durch den Kopf gehen? Doch ich habe jetzt schon die Befürchtung, dass dieser Vorschlag bei meinen Kindern nicht gut ankommen wird. „Also gut!“, sage ich entschlossen. „Ich frage nachher die Kinder und sehe mir die Unterkunft im Internet an.“

Was für ein Aktionismus, super Astrid. So kenne ich mich ja gar nicht. Aber es hat mich eine riesige Überwindung gekostet. Leilas Kopf liegt immer noch auf meinem Oberschenkel, als Phil zufrieden mit seinem Teller in der einem, dem Handy in der anderen Hand Richtung Fernsehsessel entschwindet.

Nachdenklich lasse ich mich im Schneidersitz auf dem Küchenfußboden nieder. Leila nutzt die Gelegenheit und krabbelt auf meinen Schoß. Ihren Körper drückt sie an meinen. Ich versinke in Gedanken an unsere gemeinsamen Unternehmungen und lege meinen Kopf auf ihren. Hoffentlich lebst du noch lange, kleine Maus!

Leila schnauft tief aus, als wolle sie sagen: „Auf mich kannst du dich verlassen. Ich bin für dich da.“Mir kullern Tränen über meine Wangen. Wie sehr ich diesen Hund brauche! Meine Schwiegermutter behauptet immer, der Hund stinke. Aber das stimmt nicht. Leila riecht nach draußen, nach frischer Luft, nach Unternehmungen, nach Wiese und Wald. Auch wenn sie nass wird, riecht sie nicht unangenehm.

Als Sina zurückkommt, pünktlich wie immer, sitze ich immer noch auf dem Boden. Sie sieht mich verwundert an. „Mama, was machst du denn da unten?“ Rasch schiebe ich Leila von meinem Schoß und richte mich auf, tue so, als müsse ich Schmutz von der Jogginghose wischen. „Ich habe nur nachgedacht“, sage ich wahrheitsgemäß.„Und geweint!“ Sina kann ich nichts vormachen. Sie ist sehr sensibel und erkennt Veränderungen in meinem Gesicht sofort. „Ich habe nur meinen Gedanken nachgehangen. Alles okay!“ So wie ich das betone, klingt es nicht einmal für mich selbst überzeugend. Aber Sina spürt, dass ich nicht darüber sprechen möchte und schiebt ein diplomatisches „Dann gehe ich jetzt lernen“ hinterher. „Gute Nacht, Mom!“ Dann ist sie weg.

Dass Kinder erwachsen und selbstständig werden, ist mir bewusst. Trotzdem habe ich Angst vor dem Zeitpunkt, an dem meine Kinder aus dem Haus gehen. Hauptsächlich vor dem vielen Alleinsein. Obwohl ich es jetzt schon oft bin, sehr allein. Sina ist selbstbewusster als ich, sehr beliebt und eigentlich immer unterwegs. Sie erinnert mich stark an Phil. Was sie anpackt, wird gut. Ein tolles Mädel. Zum Glück muss sie sich nicht mit diesen Selbstzweifeln herumplagen. Mir kommen wieder die Worte von Frau Wagerle in den Sinn: „Sie sind etwas ganz Besonderes.“Ob die alte Dame jemals Recht behalten wird?

„Los, wir schauen jetzt, wo dieses Achslach liegt!“, sage ich zu Leila, die mich unverwandt anschaut. Sie wedelt und marschiert voraus in Richtung Flur. Kurz vor der Küchentür bleibt sie stehen und sieht mich an, als würde sie fragen: „Kommst du jetzt?“ Ich folge ihr. In unserem Schlafzimmer schnappe ich mir den Laptop, setze mich aufs Bett und gebe „Achslach“ bei Google ein. Auf der Homepage der Gemeinde begrüßt mich die nett dreinblickende Bürgermeisterin. Herzlich willkommen... und irgendwie klingt das, als meine es die Dame auch wirklich so. Ich klicke mich durch die angegebenen Links und betrachte die Bilder auf dem Download-Flyer. Sieht gut aus! „Unberührte Natur, schau Leila!“ Ich drehe den Laptop so, dass Leila, die sich neben mir ins Bett gelegt hat, auch reinschauen kann und klicke die verschiedenen Unterkünfte an. An einer Pension bleibe ich hängen. Berghof Gstettinger. Ein 200 Jahre altes Bauernhaus in Alleinlage. Das ist es. „Was meinst du, Leila, machen wir da Urlaub?“ Leila gähnt. Das tut sie oft, wenn ich sie direkt anspreche. Offenbar überlässt sie mir die Entscheidung. Ich beginne Gefallen an der Idee zu finden, mal ohne Mann weg-zufahren. Vielleicht bekomme ich so meinen Kopf frei. Möglicherweise wird mir dann bewusst, was ich immer suche und einfach nicht finden kann, weil ich es nicht kenne. Morgen werde ich die Kinder fragen und falls sie nicht mitkommen wollen, fahre ich alleine, beschließe ich trotzig. Überzeugt von meinen Plänen, schlafe ich mit Laptop auf dem Schoß und dem Hund neben mir ein.

Kapitel 3

Ich laufe auf ein Licht zu. Es ist kein normales Licht, es glänzt goldfarben. Aus dem Licht springen glitzernde Funken, die im Nachthimmel verglühen. Ich laufe und laufe und komme der Lichtquelle aber nur langsam näher. Dann sehe ich, wo das Licht herkommt. Es entspringt der Spitze eines Turmes. Er ist perlmuttfarben und in sich gedreht, wie das Horn eines Einhornes. Der ganze Turm glüht aus sich heraus, das Licht ist hell, fühlt sich aber auf meiner Haut warm und freundlich an. Jeder Strahl, der mich erreicht, füllt mein Herz mit Liebe und Zufriedenheit. Ich laufe weiter, bis eine Stimme ertönt und mich anhalten lässt. Sie sagt: „Deine Suche wird bald zu Ende sein. Du trägst die Wahrheit bereits in dir!“Ich drehe mich in die Richtung, aus der die Stimme kommt, und sehe eine dunkel gekleidete Gestalt, deren Umhang glänzt wie die Schuppen von Fischen. Die Gestalt jagt mir keine Furcht ein. Sie wirkt warm und vertraut auf mich, wie eine lang vergessene, geliebte Person, die man wieder-gefunden hat. Ich will auf sie zugehen, aber die Gestalt bedeutet mir, Abstand zu halten. Ihr Gesicht kann ich nicht sehen. Sie hält etwas davor, einen schwarzen Umhang oder etwas Ähnliches. Ich bleibe stehen und atme tief ein, um das merkwürdig vertraute Gefühl, das diese Figur umgibt, in mir aufzunehmen. Ich fasse mir an die Brust, an die Stelle, an der mein Herz sitzt, und fühle, dass es sich vollkommen anfühlt. Dann nimmt die Gestalt das, was ich für einen Mantel oder einen Umhang gehalten habe, vom Gesicht. Es sind Flügel, übergroße Flügel – sie überragen die Gestalt sicher um einen halben Meter. Es ist ein Mann, ein Engel. Er breitet die Flügel aus und obwohl sie eine riesige Spannweite haben, fürchte ich mich nicht. Sie wirken eher wie ein Schutzschild. Nun winkt mich der Engel zu sich heran. Ich bin sicher noch 20 Meter entfernt und gehe auf den Engel zu, langsam, bedächtig, wie auf ein scheues Wild, um es bloß nicht zu verschrecken. Der Engel steht wie ein Fels da. Sein Gewand ist lang, liegt in Falten auf dem Boden und glitzert wie tausend Diamanten, als würde die gesamte Liebe der Welt aus diesem Gewand leuchten. Mit meinem Blick darauf sinkt diese Liebe direkt in mich ein und füllt mein Herz. Das Kleid leuchtet von selbst. Das Gesicht des Engels ist das Schönste, was ich je gesehen habe. Sein Blick ist reinauf vollkommenste Art und Weise, voller Liebe und Verständnis, und mein Herz beginnt vor lauter Zuwendung zu rasen. Dann gleitet mein Blick auf seine linke Hand, in der er eine leuchtend blaue Kugel hält. Diese Kugel gehört mir. Das weiß ich. Ich strecke meine Hand danach aus, bis meine Fingerspitzen sie berühren. Es durchströmt mich das Gefühl sicherer Gewissheit, endlich angekommen zu sein. Meine Suche ist beendet und ich möchte nur noch ruhen. Ich sinke vor dem Engel auf die Knie. Erschöpft von meiner lebenslangen Suche schließe ich die Augen.

„Mama? Maamaa!“

Ich weiß nicht, wo ich bin, aber ich weiß genau, dass ich hier nicht sein will. Hier bin ich einsam und es ist kalt. Meine Gedanken rasen, ich versuche alles, um zurück zu diesem magischen Ort zu kommen, zu dem Engel und zu seiner alles umfassenden Liebe. Aber erfolglos. Die Realität beginnt meinen Traum zu zerfressen.

„Mama, du hast verschlafen!“

Ich zwinge mich, die Augen zu öffnen. Sina steht vor meinem Bett und hat ihre Hand auf meine Schulter gelegt. Ich realisiere das Wort „Mama“. So hat Sina mich seit Monaten nicht mehr genannt.„Was ist los mit dir? Bist du krank? Oder hast du ein Gespenst gesehen?“ Sie deutet auf meine Wange. „Du hast da Tränen und bist total blass.“ Ich schlage die Decke meines Bettes zurück und versuche aufzustehen, doch meine Füße fühlen sich an, als seien sie aus Blei. Ich bin leer, ohne Sinn und ohne Liebe.„Bleib noch liegen, Mama! Ich mache die Brotzeit für Raph.“ Sie dreht sich um, wirft nochmals einen besorgten Blick auf mich und geht in Raphaels Zimmer. Gerade frage ich mich, wer hier nun Tochter und wer Mutter ist. Aber dieser Ort aus meinem Traum, so wunderbar und warm: Wo ist er und wie komme ich dahin? Ich will unbedingt zurück an diesen Ort. Meine Suche, das spüre ich genau, sie wäre beendet. Ist es das, was ich finden möchte? Was ich brauche? Diesen Ort? Einen Engel? Kopfschüttelnd versuche ich, mich innerlich wachzurütteln. Ich habe verschlafen. Steh jetzt auf, Astrid. Du musst doch an Raphael denken.Ich nehme Sinas Angebot, sich um ihn zu kümmern, dankend an. Darf ich das als Mutter? Die Frage muss ich mir gar nicht stellen, erkenne ich, da ich mit meinen Gedanken zwischen Realität und Traum festhänge und gar nicht richtig funktionieren kann. War das ein Traum? Wenn ja, hat er sich verdammt real angefühlt. Er hat mir gegeben, was ich immer wollte. Das habe ich gesucht.Irgendwo habe ich gelesen, dass Träume Botschaften aus dem Unbewussten sind. Doch was will mir dieser Traum sagen? Was bedeutet er? Ich liege immer noch mit zurückgeschlagener Decke im Bett und mir ist kalt. Aber nicht wegen der Kühle in unserem Schlafzimmer – Phil schläft immer mit gekipptem Fenster –, sondern weil mir kalt ums Herz ist. Ich habe das Gefühl, als hätte der Engel aus dem Traum tatsächlich einen Teil von mir behalten. Ich versuche mich an den Bildern festzu-klammern, die mir so real erschienen sind. Sie verblassen mehr und mehr mit jeder Minute, die ich mich in der Realität aufhalte. Es hämmert in meinem Kopf. Bleibt bei mir, nicht verschwinden, will ich den Bildern zurufen. Ich brauche dieses Gefühl. Vielleicht bin ich wirklich krank und fiebere etwas. Ich versuche, mich im Hier und Jetzt zurecht zu finden. Was ist denn heute für ein Wochentag? Freitag, gut, ich muss nicht zur Arbeit. Obwohl ich das tägliche Bankgeschäft an sich gerne mag, belasten mich zunehmend die Menschen, die in der Bank aus und ein gehen. Mein Chef möchte schon lange meine Arbeitszeit hochsetzen, aber bislang habe ich mich mit dem Hinweis auf meine Kinder erfolgreich wehren können. Allerdings bin ich auch ungern zu Hause. Leila springt aufs Bett, schnauft mir ins Gesicht und ich fühle, wie langsam meine Kräfte zurückkehren und ich mich wenigstens aufrichten kann. Leila geht zur offenen Schlafzimmertüre, dreht sich dort um und sieht mich an. „Ja, Leila, ich komme schon.“ Sie wartet in der Türe und wedelt. Komm jetzt, sagt ihr Blick. Dieser ist nicht ungeduldig, holt mich aber erfolg-reich in die Realität zurück. Als ich Leila betrachte, schießt mir ein Gedanke durch den Kopf: „Ich helfe dir durch den Alltag! Vertraue mir“, scheint sie zu sagen.Kann ich jetzt auch noch die Gedanken meines Hundes lesen? Was für ein verrückter Morgen! Mit bloßen Füßen taste ich nach meinen Hausschuhen, werfe mir beim Hinausgehen den Morgenmantel über und folge meinem Hund nach unten in die Küche.Raphael ist tatsächlich schon in der Küche. Ein Wunder! „Hi, Mum!“ Zwei Worte aus seinem Mund und es ist noch nicht einmal zwölf Uhr? Raphael sieht mich prüfend an. „Wie geht's dir?“Was ist denn mit meinem Sohn los? Er interessiert sich sonst doch nicht die Bohne für mich. Sina packt gerade die Brotzeit für die Schule in die Boxen, drückt Raphael eine davon in die Hand und schiebt ihn in Richtung Flur. „Lass Mama heute mal in Ruhe! Sie hat schlecht geschlafen“, ermahnt sie ihren kleinen Bruder.

Was ist denn mit meinen Kindern los? Ich erkenne sie gar nicht wieder. Wann haben sich die beiden einmal schon so für mich interessiert? Bei meiner letzten Grippe musste ich trotz hohen Fiebers den Haushalt schmeißen und als ich nicht kochen konnte, hagelte es Beschwerden und Kritik. Aber heute erkundigt sich mein Sohn nach meinem Befinden. Aus dem Flur höre ich Sina rufen: „Beeil dich jetzt mal, Raph!“ Raphael steckt noch einmal den Kopf in die Küche: „Mama, kannst du mich heute Abend von Tom abholen?“ Ich nicke verträumt. „Mama? Von Tom… abholen… heute… 19 Uhr?“ Er spricht lauter, abgehackt und betont jedes einzelne Wort. Anscheinend wirke ich nicht ganz zurechnungs-fähig auf ihn.„Von Tom abholen, ja“, murmle ich in mich hinein. Die Haustür fliegt zu und im selben Moment herrscht völlige Stille im Haus. Diese erdrückende Art von Ruhe, die förmlich Einsamkeit, beinahe Verlassenheit, ausatmet, welche ich so fürchte und normalerweise zu vermeiden versuche. Ich schalte das Radio ein. Leila steht unschlüssig mitten in der Küche und wartet, dass ich sie in den Garten lasse. Ich merke, wie die Kälte im Haus langsam in mir hochsteigt und es schüttelt mich. Ich stehe barfuß im Morgenmantel in der Küche, in meiner Ich-warte-ab-Ecke. Wo sind denn meine Hausschuhe hingekommen? Eben hatte ich sie doch noch an. Aber diesem Problem kann ich mich nicht weiter widmen, denn sofort sind meine Gedanken wieder bei dem Engel und dem warmen Gefühl aus dem wundervollen Traum. Ich mag ja hier herumlaufen, aber mein Kopf ist definitiv noch nicht im Wachzustand angekommen. Ich erinnere mich an viele Träume, habe hin und wieder auch eigenartige Träume, aber so einen real wirkenden und emotionalen Traum habe ich noch nie durchlebt. Leila steht wedelnd vor mir, als wolle sie sagen: Alles halb so wild.„Kannst du mir erklären, was das war?“, frage ich meinen Hund. Natürlich kommt keine Antwort.

Kapitel 4

„Astrid, bist du da?“

Dauerklingeln.

„Astrid?!“, höre ich die Stimme meiner Freundin Anne gedämpft durch die Haustür.

Ich erwache aus meinem Tagtraum auf dem Fußboden der Küche sitzend, angelehnt an die Küchenzeile. Leila liegt neben mir – offenbar hat sie den Gedanken aufgegeben, in den Garten gehen zu dürfen. Langsam rappele ich mich auf, steif wie eine 90-Jährige. Immer noch barfuß und im Morgenmantel tapse ich über den kalten Fliesenboden zur Haustür.

Anne habe ich total vergessen! Ich öffne die Türe.

Annes Blick spricht Bände über meinen Zustand.„Um Gottes willen, Astrid, was ist denn mit dir passiert? Bist du krank? Du bist blass wie ein Leichentuch. Hast du ein Gespenst gesehen?“

Kommt fast hin, denke ich.

Resolut schiebt sich Anne in den Flur und mich vor sich her ins Wohnzimmer. Ich lasse ihre Bevormundung widerstandslos über mich ergehen. Sie drückt mich sanft auf unser Sofa, holt eine Decke von Phils Fernsehsessel und legt sie mir über die Beine. Auf dem Weg zur Terrassentür streichelt sie Leilas Kopf und lässt den Hund in den Garten. Leila sieht erleichtert aus. So was passiert mir sonst nie – ich vergesse doch meinen Hund nicht!

Anne wirkt belebend auf mich, als würde sie mein Realitätsbewusstsein wieder einschalten. Ich höre sie in der Küche hantieren, Wasser läuft, der Schrank, in dem der Kaffee ist, wird geöffnet, ein Löffel klirrt, die Kaffeemaschine gluckst vor sich hin. Anne und ich wollten um 10 Uhr gemeinsam zum Walken gehen. Ich schaue auf die Uhr an unserer Stereoanlage: zwanzig nach zehn. Die letzten dreieinhalb Stunden sind wie weggeblasen. Als wäre ich nicht da gewesen.

Anne kommt mit zwei Kaffeetassen aus der Küche zurück, mustert mich nochmals von oben bis unten und ihr Blick bleibt an meinen nackten Füßen hängen. „Richtig krank siehst du aber nicht aus! Hast du verschlafen?“

Ich nicke und fingere nach der Kaffeetasse, die Anne direkt vor mir auf den Tisch abgestellt hat.

Anne verschwindet im Flur und kommt mit meinen Hausschuhen zurück: „Hier!“ Dabei hält sie mir auf-fordernd meine plüschigen Schuhe hin. „Die standen im Flur, als wärst du auf der Flucht gewesen!“ Während sie spricht, lässt sie sich in Phils Fernsehsessel plumpsen.

Ich verschlafe nicht. Nie. Seit ich Anne kenne – und das ist seit unserer Schulzeit in der Realschule – war ich immer die personifizierte Pünktlichkeit. Daher wundert mich Annes prüfender Blick nicht. Ich starre aus dem Fenster und überlege krampfhaft, was ich auf die nächste Frage antworten soll.

Und da kommt sie schon!

„Was ist passiert?“

Anne kennt mich besser, als jeder andere Mensch, umgekehrt ist das sicher auch so. Daher kann ich getrost schon vor Annes Frage nach einer passenden Antwort suchen.