Weltenrettung für Einsteiger - Sandra Giebel - E-Book

Weltenrettung für Einsteiger E-Book

Sandra Giebel

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Beschreibung

Wie kann man den Klimawandel stoppen und die Menschen vor der Zerstörung ihrer eigenen Welt bewahren? Mit dieser Frage sieht sich der 17-jährige Chris konfrontiert. Nicht, weil ihm die Menschheit oder die Natur irgendwie am Herzen lägen – aber dummerweise hat er den Auftrag, diese Welt zu unterwandern und dafür zu sorgen, dass seine Herkunftsdimension nach einem Angriff all die kostbaren Rohstoffe abgreifen kann, die es hier (noch) gibt. Wie soll man diese Mammutaufgabe leisten, wenn man eigentlich viel lieber die Freuden eines Teenagers genießen würde? Elisa dagegen hat eigentlich schon genug Sorgen mit ihren schlechten Schulnoten und dem Mobbing-Horror, den sie ertragen muss. Diese lästigen Träume von anderen Welten und seltsamen Wesen sind das Letzte, das sie gebrauchen kann. Hat sie nicht einmal im Schlaf ihre Ruhe? Und warum fühlt sie sich plötzlich von diesem seltsamen Jungen beobachtet? Welches sind die schlimmeren Monster: fiese Schulhoftyrannen oder hinterlistige Ungeheuer aus anderen Dimensionen? Was stellt die größere Bedrohung dar: der Klimawandel oder feindliche Welten? Oder ist das alles nicht vielmehr eine Frage der Perspektive? Tauche ein in den 1. Band der neuen Urban Fantasy-Reihe über zwei Protagonisten, die unterschiedlicher nicht sein könnten und begleite sie auf den ersten Schritten ihres Abenteuers, bei dem es um nichts Geringeres als die Rettung aller Dimensionen geht – oder vielleicht doch eher die Vernichtung von ihnen? Erkunde die Welt, in der alltäglicher Schulstress auf den Kampf gegen erschreckende Monster stößt, neuartige Technologien gegen Magie antreten, Mitgefühl und Manipulation sich gegenüberstehen und das vorherbestimmte Schicksal auf die Frage nach dem eigenen Sein trifft.

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Seitenzahl: 385

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Sandra Giebel

Weltenrettung

Stufe 1:

Begegnungen mit mystischen Wesen, Mobbern und anderen Monstern

Impressum

Texte: © 2022 Copyright by Sandra Giebel

Umschlag:© 2022 Copyright by My Lan Khuc Valle

Verantwortlich für den Inhalt:

Sandra Giebel

Hohkeppelerstr. 10

53797 Lohmar

[email protected]

INHALT

1

Chris – Oder: Das Leben als Pseudo-Mensch ist ziemlich geil.

2

Elisa – Oder: Die Superhelden-Origin Story von Pickelfresse

3

Chris – Oder: Privatsphäre, was ist das?

4

Elisa – Oder: Was zum Teufel ist ein Hyromaner?

5

Chris – Oder: Sex, Drugs und Rock’n Roll war gestern; Alkohol, Charts und Einschleimen bei der potentiellen Schwiegermutter sind heute

6

Elisa – Oder: Wenn man glaubt, es kann nicht schlimmer kommen…

7

Chris – Oder: Looser-quälen für Fortgeschrittene

8

Elisa – Oder: Was wäre das Leben ohne Freunde?

9

Chris – Oder: Ein Moordren goes Traumreisen

10

11

12

Elisa – Oder: Fernreisen einmal anders

Chris – Oder: Kampf um Leben und Tod inklusive

Elisa – Oder: Feind oder Freu-… Verbündeter?

Kapitel 1

Chris – Oder: Das Leben als Pseudo-Mensch ist ziemlich geil

Der siebzehnjährige Chris räkelte sich faul und zufrieden im Schatten der alten Eiche, die seinen Platz auf der Tribüne vor der Sonne abschirmte. Die Gruppe Zehntklässler hatte bei diesem Wüstenwetter nicht so viel Glück. Offensichtlich waren sie dazu verdonnert worden, ihre Sportstunde auf dem Sportplatz abzuschwitzen. Sie durften sich in der prallen Sonne herumquälen und ihre Runden drehen, während er und ein paar andere Mitschüler aus der Oberstufe ihre Freistunde genießen konnten.

Er zog sein Handy aus der Tasche und sah, dass er eine Nachricht bekommen hatte. Leicht genervt verdrehte er die Augen, als er den Absender las. Tom war die letzte Person, von der er gerade lesen wollte. Trotzdem tippte er auf die Nachricht.

»Chris, hast du die Prognosen in dem neuen Klimabericht, der gestern veröffentlicht wurde, gesehen? Wir müssen unbedingt etwas unternehmen, bevor es zu spät ist für die Mission! Ich habe wieder das Control Center kontaktiert, aber ich komme dort nicht weiter. Vielleicht kannst du etwas erreichen.«

Für einen Moment überlegte Chris, ob er die panische Nachricht mit einer Antwort würdigen oder fürs Erste ignorieren sollte.

»Ich wusste nicht, dass du dich jetzt auch für das Klima aktiv machen willst«, hörte er Jannis murmeln, der neben ihm lehnte und interessiert auf sein Handydisplay schielte. Verärgert – sowohl über seine eigene Nachlässigkeit als auch die Dreistigkeit seines pferdegesichtigen ‚Schulfreundes‘ – steckte er das Smartphone zurück in die Tasche. Er zuckte mit den Schultern.

»Die Zukunft geht uns alle etwas an. Vielleicht treten wir mal bei einer Benefizveranstaltung fürs Klima auf«, sagte er leichthin und wischte sich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Sag Bescheid, wann ihr das macht, dann komme ich auch!«, rief Nora, die ein Stück weiter weg saß, um sich in der Sonne bräunen lassen zu können. – So sinnlos das auch war, da sie alle Klischees eines Rotschopfes erfüllte. Das beinhaltete auch die fast weiße und niemals braunwerdende Haut.

Chris nickte nur und lehnte sich dann schweigend und nachdenklich zurück.

»Also ich finde nicht, dass Umweltschutz wirklich zu eurem Ruf passen würde«, mischte sich die Sportskanone Kevin ein, doch Chris zuckte dazu nur erneut mit den Schultern.

Die Klimaveränderung war ein lästiges Thema, mit dem er sich in letzter Zeit immer häufiger hatte beschäftigen dürfen. Dabei hatte es bei ihm andere Gründe als die, weswegen seine Altersgenossen so massenhaft auf die Straßen gingen und die Leute in Panik und Aktionismus verfielen.

Eigentlich waren ihm die Natur, die Umwelt und die generelle Existenz dieses Planeten egal. Genaugenommen waren die Tage allen Lebens auf dieser Welt bereits gezählt gewesen, seit er, Tom und all seine anderen Kameraden in diese Welt hineingeboren waren.

Sämtliche Ressourcen dieser Dimension würden in kurzer Zeit aufgebraucht und die Welt ausgelaugt und lebensunfähig sein. Die Frage war nur, wer schneller war: die Menschheit mit ihrem verschwenderischen, heuschreckenartigen Lebensstil oder seine Leute, die in diese Dimension eindringen und das letzte Bisschen an Rohstoffen erbeuten würden.

Ihm war bewusst, dass er früher oder später selbst etwas unternehmen musste, um seine Mission nicht zu gefährden. Trotzdem gab es eine menschliche Eigenschaft, die er sich bereits erfolgreich abgeguckt hatte: Verdrängen.

Jetzt in diesem Moment gab es nichts, was er tun konnte. Deshalb machte es keinen Sinn, sich deswegen verrückt zu machen, wenn er viel mehr den Augenblick genießen konnte. Sein Auftrag folgte einem sehr genauen Zeitplan und eines Tages würde der Komfort und der Spaß, den er als Mensch erleben durfte, vorbei sein. Dann würde der härteste Teil seiner Arbeit beginnen.

Doch dafür war die Zeit noch nicht gekommen. So richtete er seine Aufmerksamkeit in diesem Augenblick lieber auf die Laufbahn, wo die Mädchengruppe sich offensichtlich zu Tode quälte. Es war ein erheiternder Anblick und er spürte Schadenfreude aufkeimen, als er zwei offenbar besonders unsportliche Exemplare dieser Spezies vorbeitrampeln sah. Eine der beiden war klein und stämmig, die andere groß und geradezu fett. Beide schwitzten und schnauften, als würden sie gleich tot umfallen.

Obwohl er ihre Namen nicht kannte, hatte er die beiden schon häufiger auf dem Schulhof gesehen. Besonders die kleinere der beiden, deren Gesicht vor Pickeln wie ein Weihnachtsbaum leuchtete, war ein leichtes Ziel für Spott und Hohn. Menschen waren einfach so leicht aufzuziehen und hatten so eine herrlich breite Palette an Emotionen, die man ausnutzen konnte. Auch jetzt waren die beiden eine willkommene Abwechslung, um seine Freunde von dem Klimathema abzulenken, bevor sie noch wissen wollten, auf welcher Umweltschutzveranstaltung seine Band denn spielen würde.

»Hey Leute, seht mal wer da unten läuft!«, rief er daher mit verächtlichem Tonfall.

»Ist das nicht der übergewichtige Maulwurf und das Mädchen, das gegen Clerasil allergisch ist?«, sprang sofort Mike darauf an und auch die anderen richteten ihre Blicke auf die Rennbahn, ohne auch nur einen Gedanken an das vorherige Thema zu verschwenden. Chris musste innerlich grinsen. Seine Freunde waren wie alle Menschen unglaublich leicht zu lenken und manipulierbar.

»Guck mal, wie sie stampfen!«, kicherte Jenny neben ihm. »Man spürt richtig, wie die Erde bebt.«

Das runde Gesicht des Maulwurfs lief knallrot an, während Pickelgesicht den Mund zusammenkniff und angestrengt nach vorne starrte, so als würde sie die Kommentare gar nicht hören.

Na schön - Chris Mundwinkel zogen sich nach oben – challenge accepted.

»Bei der Erschütterung platzen noch die Pickel auf. Vielleicht sollten wir besser in Sicherheit gehen.«

Seine Begleiter wieherten und Eiterfresse zuckte zumindest etwas zusammen.

Während sich die beiden Mini-Elefanten langsam entfernten, ließ er den Blick weiter schweifen. Seine Augen verfolgten eine große, schlanke Läuferin, deren lange blonde Haare mit den Laufschritten herumgewirbelt wurden und bei der der leichte Schweißglanz – anders als bei den meisten anderen Läuferinnen – eher attraktiv als ekelhaft wirkte. Ein wenig Eyecandy war zwischendurch auch ganz nett…

»Hey, wollten wir uns nicht vor der nächsten Stunde noch ein Eis holen?«, fragte Jenny. Ihre Stimme klang leicht angespannt und ungeduldig. Vermutlich hatte sie bemerkt, wohin sein Blick gewandert war, und wollte ihn ablenken. Es war durchschaubar und lächerlich, aber Chris hatte nichts dagegen. Schließlich gab es Spannenderes, als die ganze Freistunde auf dem Sportplatz zu verbringen. Er streckte sich und stand auf.

»Na schön, lasst uns gehen.«

Kaum hatten die Worte seinen Mund verlassen, bewegten sich auch die anderen. Es fühlte sich immer wieder gut und befriedigend an, wie sich alle nach ihm zu richten schienen, als wäre er ihr Anführer. Menschen brauchten einfach immer jemanden, der besser war als sie und ihnen eine Richtung gab. Gut, zur Hälfte war er auch ein Mensch, aber der Teil an ihm, der sich von ihnen absetzte, machte Chris ihnen weit überlegen. Das konnten sie natürlich nicht wissen, aber dennoch schien für sie etwas an ihm »Überlegenheit« auszustrahlen. Chris vermutete, dass es an einer Mischung aus seinem selbstbewussten Auftreten und seinem dem willkürlichen Schönheitsideal entsprechenden Aussehen lag. Für seine große, schlanke und sportliche Figur und den ebenmäßigen, gut proportionierten Gesichtszügen war er seinem menschlichen Erbgut und der moordrischen Gentechnologie sehr dankbar.

Als sie die letzte freie Viertelstunde mit dem Billigeis aus dem Schulkiosk auf den Bänken auf dem Schulhof verbrachten, hörten sie die Sirene eines Krankenwagens, der immer näher zu kommen schien.

»Das kommt doch vom Sportplatz«, meinte Mike und nickte in die Richtung, aus der die lauten Klänge kamen.

»Vielleicht hat eine der ganzen unsportlichen Trampelkühe einen Koller bekommen beim Laufen.« Vanessa lachte mit spitzer Stimme über ihren eigenen Witz.

»Solange der Unterricht dafür dann ausfällt, können die meinetwegen alle umgekippt sein«, erklärte Mike und stöhnte. »Ich habe absolut keinen Bock auf Mathe.«

Wirklich große Lust hatte Chris auf den Unterricht heute auch nicht. Das lag jedoch eher an dem Wetter und den stickigen Unterrichtsräumen als an dem Unterricht an sich. Sein Gehirn war so angelegt, dass ihm Lernen leichtfiel. Um ein Agent zu sein, der die Menschenwelt unterwandert, war es essenziell, dass er alles schnell aufnahm und verarbeitete. Zum einen um sich anzupassen und zum anderen war eine gute Bildung Voraussetzung, um in der Gesellschaft aufzusteigen und die Positionen zu erlangen, die für eine erfolgreiche Mission notwendig waren. Natürlich hatte er Präferenzen. Fächer wie Ethik und Religion oder Philosophie hatten ihn bisher immer gelangweilt. Das war vermutlich eines dieser menschlichen Elemente, für die man hundertprozentig menschlich sein musste, um diesen irrationalen Schwachsinn zu verstehen.

Seine Chemiestunde war dagegen trotz der Hitze zu seinem Glück eher kurzweilig. Generell fühlte sich der Nachmittag sehr angenehm an und Chris ignorierte beflissen weiterhin die Nachricht seines Mit-Agenten, während er einige seiner Freunde ins Freibad begleitete. Irgendwann wurde es ihm aber doch zu langweilig und das dämliche Getratsche begann, ihn zu nerven. Schließlich verabschiedete er sich mit der Ausrede, sich für den heutigen Auftritt vorbereiten zu müssen.

Als er die gut klimatisierten Räume seines Zuhauses betrat, war er allein. Chris wunderte das nicht, da sein Vater eher selten zuhause war und zurzeit vermutlich entweder arbeitete oder sich mit seiner derzeitigen Partnerin traf. Für Chris kam diese Freiheit sehr gelegen. Er konnte nicht nur die Vorzüge des Wohlstands, den die hohe berufliche Stellung seines Vaters ihm ermöglichte, genießen, sondern auch den Freiraum sowohl für seine eigenen Interessen als auch zur Erfüllung seiner Missionsaufgaben voll ausnutzen.

Anders als viele seiner Freunde hatte er sich nie mit großartigen Konflikten, Einschränkungen oder lästigen Erziehungsmaßnahmen durch kontrollsüchtige Eltern herumschlagen müssen. Wobei das zum Teil wohl auch daran lag, dass Chris einfach klug genug gewesen war, auf seinen Vater so verantwortungsbewusst und verlässlich zu wirken, dass dieser nie die Notwendigkeit von Verboten und Kontrolle gesehen hatte. Wie bei allen Menschen wusste er auch bei seinem genetischen Spender, wie er sich verhalten musste, um sein Ziel zu erreichen.

Auf der Bühne zu stehen und begeisterte Zuhörer vor sich zu haben, die an jedem Ton, den man produzierte, hingen, war das beste Gefühl, das Chris sich vorstellen konnte. Er schloss die Augen und ließ den Applaus über sich hinweggleiten. Adrenalin und Endorphine rannen durch seinen Körper und er fühlte sich high, als würde er schweben. Die Rufe nach Zugabe wurden lauter und lauter und Chris konnte das Grinsen, das sich auf seinem Gesicht bildete, nicht unterdrücken.

Er blickte zu seinen Bandkollegen, deren Augen ebenfalls strahlten. Dann sah er zum Barbesitzer, der einen prüfenden Blick auf seine Armbanduhr warf und mit dem Daumen sein Einverständnis signalisierte. Da nicht alle Mitglieder der Band volljährig waren, durften sie sich nur bis zu einer bestimmten Uhrzeit in dem Lokal aufhalten. Leider würde es fast noch ein ganzes Jahr dauern, bis auch der Letzte von ihnen achtzehn wurde und sie diese lästigen Beschränkungen nicht mehr beachten mussten.

Chris nickte Mara am Schlagzeug zu, damit sie den nächsten Einsatz gab und die Band ihr letztes Lied des Abends zelebrieren konnte. Ihre Lieder klangen heute etwas anders und melancholischer als sonst, weil die Bar, die die Gigs organisiert hatte, heute einen unplugged Abend veranstaltete. Eigentlich bevorzugte seine Band harte, rockige Beats, aber eine ruhigere Variante war hin und wieder auch ganz nett. Chris war schon immer der Meinung gewesen, dass Abwechslung das Leben interessanter machte. Das war ein weiterer Grund, warum er froh war, dass er halb menschlich und nicht ein reiner Moordren war.

In vielerlei Hinsicht mochten Moordren die überlegene Spezies sein, aber gerade das, was die Moordren den Menschen voraushatten, machte das Leben als Moordren um einiges langweiliger als das eines Menschen. Menschen steckten voller komplexer, widersprüchlicher und oft unnötiger Emotionen und hatten dadurch unzählige Ablenkungen entwickelt, die nur zur Befriedigung interner Bedürfnisse wie Spaß, Interessen oder Lust dienten. Die Suche danach, diese Bedürfnisse zu erfüllen und ständig neue Glücksgefühle zu erleben, war zwar absolut irrational und zeitverschwenderisch, aber dafür umso reizvoller.

Während er den Songtext ins Mikrofon sang und die Gitarrenriffs, die er schon im Schlaf beherrschte, wiederholte, sog er für das letzte Mal dieses Abends die Energie des tanzenden Publikums in sich auf. Dabei hatte er immer wieder Augenkontakt mit einem Mädchen – oder eher einer jungen Frau – die weiter hinten am Tresen auf einer der Barstühle saß und trotz Begleitung ihrer Freunde ihn den gesamten Auftritt mit ihren dunkelgeschminkten Augen fixierte und dabei mit ihren sinnlichen Lippen sehr suggestiv am Strohhalm ihres Cocktails nippte. Ja, das Leben als Mensch hatte deutliche Vorteile…

Nachdem sie die Bühne verlassen hatten, machte Chris sich auf den Weg zu besagter jungen Frau. Mit ihrer schlanken, wohlgeformten Figur und den langen schwarzen Haaren war sie definitiv sein Typ und heute Abend war glücklicherweise noch nicht einmal Vanessa da, die sonst gerne ausflippte. Doch anscheinend war ihm an diesem Abend doch nicht so viel Glück vergönnt, denn noch bevor er den Tresen erreichen konnte, stoppte ihn ein starker Griff an seinem rechten Oberarm. Er stutze und sah nach hinten.

»Tom«, seufzte er und blieb stehen. Ohne weiter etwas zu sagen, folgte er ihm nach draußen.

»Musste das sein? Ich hatte gerade was vor«, meinte Chris und lehnte sich gegen die Hauswand. Ein paar weitere Menschen standen ebenfalls draußen herum, aber sie waren weit genug entfernt, dass er keine Angst haben musste, belauscht zu werden.

»Du hast irgendwie ständig etwas vor. Leider hat es nicht immer etwas mit deiner Mission zu tun«, brummte der schlaksige Jugendliche.

Chris lachte leise. Das sagte der Richtige. »Das ist deine Sichtweise. Nur weil du immer noch nicht verstehst, welchen Einfluss man in der Gesellschaft erlangen kann, wenn man Beliebtheit, Ruhm und Erfolg in der Öffentlichkeit erreicht.«

Tom stöhnte. »Du bist jedenfalls selbst schuld. Du hast dich weder über das Handy noch über das Holorom gemeldet, da hatte ich keine andere Wahl.«

»Sorry, ich dachte, es geht wieder nur um eines deiner geliebten Computerspiele. Ich bin überrascht, dass du überhaupt aus deinem Kellerloch gekommen bist.«

Chris griff in seine Tasche und zog einen Joint heraus. Eigentlich benutzte er das Zeug so gut wie gar nicht – höchstens, wenn er mit ein paar seiner Bandkollegen an einem neuen Song arbeitete und sie dachten, sie könnten es zur Entspannung oder Kreativität gebrauchen – aber in diesem Moment kam es ihm ganz passend vor. Und wenn es nur dazu da war, um seinen Gesprächspartner weiter zu reizen.

»Wenn mir jeder auflauern würde, bei dem ich mich nicht melde, würde ich mich vor Stalkern nicht mehr retten können.« Aus der anderen Tasche fischte er ein Feuerzeug und zündete den Joint an. An den zusammengezogenen Augenbrauen und Lippen seines Gegenübers konnte er erkennen, dass seine Provokation Erfolg hatte.

»Deine Fangemeinde mag dich ja witzig finden, aber bei mir zieht dieser Schwachsinn nicht. Wir haben eine Aufgabe und die Situation ist dringend!«, zischte Tom und senkte bei dem nächsten Teil seine Stimme weiter. »Wenn die Menschen ihre eigene Welt so weit vernichtet haben, dass nichts mehr für uns übrigbleibt, dann haben wir versagt. Das kann dir doch nicht egal sein.« Er machte eine bedeutungsschwangere Pause und sah ihn eindringlich an. »Ich kenne dich gut genug und weiß, dass du trotz all deinem menschlichen Getue deine Aufgabe ernst nimmst – und wenn es nur wegen deiner Verbindungen ist.«

»Was erwartest du also von mir?«, fragte Chris und nahm einen tiefen Zug.

»Ich habe mit der Verbindungsebene gesprochen, damit sie ihre Pläne abändern und die Menschenwelt schon früher in Phase 3 läuft.« Er schnaufte verächtlich. »Aber bisher gibt es dazu noch keine konkreten Entscheidungen. Ich denke nicht, dass sie wirklich den Ernst der Lage verstehen.«

»Aber du denkst, dass mein Kontakt das eher hinbekommen wird?«, fragte Chris skeptisch, der bereits wusste, worauf es hinauslaufen würde.

»Dein Kontakt ist zumindest höhergestellt als meiner und du selbst stehst auch in der Hierarchie höher als ich.« In Toms Stimme schwang die äußerst menschliche Eigenschaft Neid mit. Chris unterdrückte ein Grinsen. Der andere Hybrid war doch nicht ganz so unberührt von seinem menschlichen Erbgut, wie er es gerne hätte.

Aber er hatte einen Punkt. »Gut, ich werde sehen, was ich tun kann«, seufzte er. »Erwarte aber nicht zu viel.«

Es war ja nicht so, als ob Chris nicht wollte, dass die Moordren die Menschenwelt einnahmen. Trotzdem rührte sich in ihm ein winziges Gefühl der Enttäuschung, dass er die Vorteile des Pseudo-Menschseins nicht noch mehr Jahre genießen konnte. Würde der Plan vorgezogen werden, war es mit dem Spaß und der Leichtigkeit schnell vorbei. Aber am Ende war das vollkommen egal. Was zählte, war der Erfolg. Wenn die Mission durch sein Dazutun noch gerettet werden konnte, konnte er damit rechnen, nach der erfolgreichen Ausbeutung dieser Dimension eine hohe und einflussreiche Position zu bekommen. Im Prinzip war das doch ähnlich wie ein Auftritt mit seiner Band. Wenn er Musik spielte, hatte er Macht über die Emotionen seiner Zuhörer und Fans. Wenn er eine höhere Befehlsgewalt hatte, würde er Macht über zahlreiche Untergebene haben. Das war doch mindestens ein Trostpreis, oder?

»Du meldest dich früher zurück, als wir verabredet hatten.« Trotz der Worte klang die bekannte Stimme nicht erstaunt.

»Es gibt etwas, das ich melden muss bezüglich der erfolgreichen Invasion von Welt 3X44.«, sagte Chris mit möglichst neutralem Gesichtsausdruck, um seinem gesendeten Hologramm nichts zu verleihen, das wie Emotionalität oder Schwäche erscheinen konnte.

»Was soll damit sein?«

Detailliert erklärte Chris über das Holorom – die moordrische Kommunikationstechnik, um auch mit anderen Dimensionen zu sprechen – die derzeitige Klimalage der Menschenwelt und die Prognosen über die weitere Entwicklung. Um es dem fakten- und technikbasierten Denken seiner Herkunftsspezies verständlich und nachdrücklich darlegen zu können, hatte er sich zuvor durch zahlreiche Dokumentationen und Berichte gequält, die er nun so sachlich und emotionslos wie möglich zusammenfasste. »…Demnach wird für uns nichts von Wert mehr abzuschöpfen sein, wenn wir mit dem vorgesehenen Tempo fortfahren«, schloss er schließlich. Mit angespanntem Kiefer wartete Chris die langen Minuten einer Antwort ab und starrte auf das kleine Hologramm seines Gesprächspartners. Gesichtsausdrücke von Moordren waren für ihn schwer zu erkennen, aber dennoch konnte er ablesen, dass diese Nachricht die sonst so gleichgültig wirkende Gestalt deutlich irritierte.

»Derzeit sind unsere Kräfte in den Dimensionen von Klossos und Yakikun konzentriert und können von dort nicht verfrüht abgezogen werden. Der geplante Ablauf muss wie vorgesehen durchgeführt werden.«

Chris unterdrückte ein verärgertes Schnauben. Wenn es eine Sache gab, die ihn an seiner eigenen Spezies störte, war es ihre Inflexibilität.

»Ich verstehe die Notwendigkeit, dass wir nicht überstürzt handeln und uns an anderen Fronten schwächen können«, lenkte er ein. »aber wenn wir nicht gewisse Änderungen vornehmen, wird die gesamte Mission und alles, was bereits dafür investiert wurde, umsonst gewesen sein.«

»Das ist inakzeptabel. Es muss sichergestellt werden, dass die Mission dennoch erfolgreich abgeschlossen wird.«

»Wie soll das funktionieren?«

»Es ist die Aufgabe von euch menschlichen Agenten, das Gelingen zu gewährleisten. Wenn die Menschen ihre eigene Welt zerstören, müsst ihr einen Weg finden, um sie davon abzuhalten.« Sein Kontakt machte eine kurze Pause und zischte dann: »Diese Menschen sind eine schwache, armselige Spezies. Einige unserer Prognostiker haben uns davor gewarnt, dass alles, was mit ihnen in Berührung kommt, von ihnen verunreinigt und gelähmt wird.«

Die Worte bezogen sich auf mehr als nur den Umgang der Menschen mit ihrer Umwelt. Chris musste seine ganze Willenskraft zusammennehmen, um den Stich, den die Kritik bei ihm hinterließ, nicht durch ein verletztes Zucken oder einen angespannten Kiefer zu verraten – auch wenn er sich nicht sicher war, ob ein reiner Moordren menschliche Mimik überhaupt richtig deuten konnte. Er wollte – durfte - sich aber keine Blöße geben.

Alles was mit den Menschen in Berührung kam, wurde von ihnen beschmutzt und geschwächt. Er wusste, dass in den Köpfen vieler Moordren die Vorstellung anhaftete, dass dies auch für das ach-so-kostbare Moordren-Erbgut galt, das mit der schwachen menschlichen DNA vermischt wurde. Halbmoordren wie er wurden von vielen als unzuverlässig und unfähig angesehen. – Und wenn er ehrlich war, hatten sie noch nicht einmal vollkommen Unrecht. Es gab leider einige seiner Artgenossen, die sich tatsächlich als anfällig und fehlerhaft gezeigt hatten. Wenn es eines gab, bei dem die Menschen gut waren, dann war es Zerstreuungen zu erfinden, die keinen Nutzen aber hohes Suchtpotential besaßen. So etwas gab es in seiner Ursprungsdimension nicht und reinblütige Moordren schienen nicht empfänglich für diese menschlichen Eigenheiten zu sein. Leider sah es bei den Halbblütern anders aus. Er und seine Artgenossen waren in der Lage, sowohl die Freuden dieser Zerstreuungen zu genießen, als auch in die Fallen, die sich dadurch ergaben, zu tappen.

Doch dies galt nicht für ihn. Er war besser als sie. Er konnte zwar die Freuden genießen, aber er vergaß sich selbst und seine Herkunft nicht dadurch. Er bezwang diese Schwächen und er hatte schon früh den Entschluss gefasst, den Nachteil seiner menschlichen Hälfte zu instrumentalisieren und zu seinem Vorteil zu nutzen. Obwohl Chris wusste, dass er nicht offen widersprechen konnte, stieg der Drang, sich zu verteidigen, in ihm hoch.

»Wir setzen alles daran, die Prognosen nicht zu bestätigen. Elemente, die uns behindern, sind eher auf der systemischen Ebene der Menschenwelt und deren Begrenzungen anzutreffen.«

Der Moordren wirkte davon unbeeindruckt. »Ihr werdet einen Weg finden müssen, diese systemischen Schranken zu umgehen. Bezüglich einer verbesserten Kommunikation untereinander und vor allem der Beeinflussung gibt es erfreulicherweise einige Fortschritte, die ich dir jetzt schon als Testobjekte zukommen lassen werde. Wir haben bei deinem letzten Report darüber gesprochen.«

»Die Gedankentechnologie?«, fragte Chris und hoffte, seine aufkeimende Hoffnung aus seiner Stimme heraushalten zu können.

Sein Kontakt machte eine zustimmende Geste. »Es ist uns endlich gelungen, sie auch auf die Gehirnwellen der Menschen zu sensibilisieren.«

Endlich, dachte Chris. Die Moordren hatten einen Chip entwickelt, mit dem es möglich war, sich auf Ebene der Gedanken untereinander zu verständigen und in die Köpfe anderer Individuen einzudringen. Leider unterschieden sich die Gehirnstrukturen der Menschen so stark von denen der Moordren, dass sie selbst bei den Hybriden nicht funktioniert hatten. Dass sie es nun endlich geschafft hatten, die Technologie für sie anzupassen, war zumindest eine gute Nachricht.

»Zur Kommunikation untereinander sollte es problemlos funktionieren. Außerdem solltet ihr erforschen, inwieweit das Eindringen und die Kontrolle der Menschen damit möglich ist. Wir vermuten, dass diese Funktion von vielen Bedingungen abhängig sein könnte.«

Chris nickte, um sein Verstehen zu signalisieren. Eine Möglichkeit, in die Gedanken anderer Menschen einzudringen und sie vielleicht sogar zu manipulieren, könnte zu ihrem wichtigsten Werkzeug werden – falls es tatsächlich funktionierte. Leider war dieser Teil der Gedankentechnologie noch sehr neu und soweit Chris wusste, hatte man ihn noch nicht erfolgreich in einer Invasion eingesetzt. Andererseits konnten sie hier somit Pionierarbeit leisten und vielleicht sogar noch mehr Ruhm und Einfluss einheimsen.

»Wir werden sofort mit allen erforderlichen Tests beginnen und die Geräte zur maximalen Erfolgsoptimierung nutzen«, versicherte er.

»Gut, das hoffe ich. Was Welt 3X44 betrifft, so ist ein Fehlschlag inakzeptabel.«

»Ich habe verstanden.«

»Ich bin sicher, dass du uns nicht enttäuschen wirst, mein Abkömmling.« Die Projektion verschwand und zeigte Chris somit, dass das Gespräch von der anderen Seite beendet war.

Chris seufzte innerlich. Das habe ich doch noch nie…Mutter.

Er ließ sich auf seine Couch fallen und griff nach seiner Akustikgitarre. Während er ein paar einfache Töne spielte, ließ er seine Gedanken schweifen. Musik half ihm immer beim Nachdenken.

Super, nun lag die Rettung der Mission an ihm und den anderen Hybriden. Wie sollten sie das schaffen, was sämtliche Nationen dieser Welt mit all ihren Möglichkeiten nicht konnten? Das war eine absolut ausweglose Situation. Wie sollte das funktionieren?

Er dachte an den Vortag auf dem Sportplatz und seine Witze mit seinen Freunden. Wie es aussah, war die Bemerkung über seinen neuen Klimaaktivismus weniger ironiebehangen gewesen, als er gedacht hatte. Bis ihnen nichts Besseres einfiel, was die Moordren entweder zu einem früheren Eingreifen bewegen oder den Klimawandel verlangsamen konnte, blieb ihnen wohl nichts anderes übrig, als zu den Umweltrettern überzuwandern. Das enthielt eine eigene Ironie: Sie würden die Welt retten, um sie am Ende selbst zerstören zu können.

Gelangweilt schlenderte Chris zu seinem Fensterplatz im Kunstraum. Während Musik eine großartige menschliche Erfindung war, konnte er Gemälden und Skulpturen und was auch immer Menschen sonst so als »Kunst« bezeichneten, nichts abgewinnen. Der Unterricht dafür war seiner Meinung nach die reinste Zeitverschwendung. Aber wenn Menschen eines gut konnten, dann war es, ihre Lebenszeit mit eigentlich sinnlosen Tätigkeiten zu verplempern.

Mit abwertend hochgezogener Augenbraue ließ er seinen Blick über die schwarz-weißen Schmierereien gleiten, die auf den Fensterbänken zum Trocknen ausgelegt waren. Kitschige, verlaufene Landschaftsbilder reihten sich an schlecht proportionierte Stillleben. Er stockte für eine Sekunde und seine Augen blieben an einem der Schwarzweißbilder hängen. Es war nicht schöner oder schlechter gemalt als die anderen Machwerke, aber etwas an dem Motiv ließ seine inneren Alarmglocken klingeln. Es zeigte ein Bild von einem in ein verziertes Amulett eingefassten Kristall. Es war ein Amulett, von dem er früher bereits ein Bild gesehen hatte. Aber es war absolut unmöglich, dass jemand – ein Mensch – ein Bild dieses Amuletts malen oder überhaupt kennen konnte.

Als Agent der Moordren, hatte er eine Grundbildung seiner Spezies erhalten, die auch eine Historie über ihre Geschichte und sämtliche frühere Invasionen beinhaltete.

Dieser Kristall war eine mächtige Waffe der Spezies von Hyronus gewesen, die den Moordren bei ihrer Invasion von deren Welt viele Verluste und eine Beinahe-Niederlage beschert hätte. Anders als die Welt der Moordren und die Menschenwelt, die auf reinen physikalischen Gesetzmäßigkeiten beruhten, gehörte die Welt der Hyroaner zu den mystisch beeinflussten Dimensionen. Genaugenommen war es die erste mystische Welt, die die Moordren damals angegriffen hatten. Die besonderen mystischen Kräfte des Amuletts, die von einem Hyroaner gesteuert worden waren, hatten die moordrischen Truppen vollkommen unvorbereitet getroffen. Natürlich hatten die Moordren am Ende doch obsiegt und die schwächere Spezies unterworfen, aber es gab die Vermutung, dass zumindest ein kleiner Teil der Hyroaner der Ausrottung hatte entkommen und in anderen Dimensionen entfliehen können.

Was machte also ein Bild dieses Amuletts in der Menschenwelt gezeichnet von einem Schüler? War die Ähnlichkeit nur ein Zufall? Er hatte diese Ornamentik noch nie in der Menschenwelt gesehen, aber die menschliche Kreativität war ein Mysterium und es war nicht unmöglich, dass irgendein ‚edgy‘ Teenager sich dieses Schmuckstück ausgedacht hatte.

Konnte es bedeuten, dass sich Hyroaner in dieser Dimension befanden? Auch das war möglich, sofern sie einen Weg gefunden hatten, ihr Erscheinungsbild zu ändern. Aber warum würde ein versteckter Hyroaner einfach so eines ihrer wichtigsten Symbole zeichnen und so frei zugänglich auslegen? Sie mussten doch immer damit rechnen, dass sich Moordren ebenfalls in der Welt getarnt hatten. Damit riskierten sie, dass sie Aufmerksamkeit auf sich zogen und entdeckt werden konnten. Oder fühlten sie sich hier so sicher, dass sie nicht mit der Existenz von Moordren in dieser Dimension rechneten?

Seine Augen suchten das Bild schnell nach der Identität des ‚Künstlers‘ ab. Mit spitzen Fingern hob er eine Ecke des noch feuchten Bildes an. Tatsächlich stand dort auf der Ecke der Rückseite der Name »Elisa Kramer«. Er hatte das Gefühl, den Namen bereits gehört zu haben, konnte ihn allerdings niemandem, den er kannte, zuordnen.

Während des Zeichnens seiner neusten Kunstskizze, grübelte er über die Identität nach. Die Tatsache, dass er den Namen nicht zuordnen konnte, deutete darauf hin, dass sie nicht gerade zu den beliebten Schülern ihrer Schule gehören konnte. Es gab einfach zu viele Schüler an dieser Schule, die ihn nicht interessierten. Vielleicht war es auch eines der Mädchen, die gerade Freistunde hatten und über den Schulhof schlenderten. Durch das Fenster fixierte er sie mit den Augen, als würde ihr Aussehen ihm automatisch ihren Namen verraten.

»Was siehst du da, Chris?«, fragte Vanessa, die neben ihm saß.

»Nichts Besonderes«, murmelte er und gab sich möglichst uninteressiert, während er wieder auf sein Bild blickte. Vielleicht konnte Vanessa ihm weiterhelfen. Wenn einer alles und jeden an dieser Schule kannte, dann die große Läster-Queen.

»Wer ist eigentlich nochmal Elisa Kramer?«, fragte er sie so nebensächlich wie möglich.

»Wieso?« Vanessa war sichtlich verwundert. Dann rümpfte sie abwertend die Nase. »Was ist mit der?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe etwas angefasst, was offensichtlich ihr gehört und jetzt überlege ich, ob ich mir die Hände desinfizieren muss.«

Vanessa schnaubte amüsiert. »Ich würde es lieber machen. Das ist die kleine, dicke Asiatin mit den Pickeln aus der 10c.«

»Nicht, dass Ganzgesichtsherpes noch ansteckend ist«, pflichtete Chris ihr bei und schaffte es, trotz Erstaunen sein Gesicht unverändert zu lassen.

Das war interessant. Die Bilder, die er von Hyroanern gesehen hatte, hatten überhaupt nichts mit dem Aussehen dieses Mobbingopfers zu tun. Genaugenommen war ihr Erscheinungsbild so ziemlich das genaue Gegenteil. Was also hatte Pickelfresse mit dem Amulett zu schaffen?

Kapitel 2

Elisa – Oder: Die Superhelden-Origin Story von Pickelfresse

Wenn es eine Sache gab, die Elisa noch mehr hasste als Sportunterricht, dann waren es gehässige Kommentare irgendwelcher ‚cooler‘ Mitschüler, die sich dadurch profilierten, indem sie andere runtermachten – vor allem, wenn sie selbst zu den Opfern der Angriffe zählte. Richtig beschissen war es, wenn beides aufeinandertraf.

Leider hatte ihre Sportlehrerin Frau Ketting – die nebenbei bemerkt so aussah, als habe sie selbst seit mindestens zwanzig Jahren ihre eigenen Übungen nicht mehr gemacht – entschieden, dass es bei fast vierzig Grad eine grandiose Idee sei, auf den Sportplatz zu gehen und die Mädchensportgruppe einen Dauerlauf in der knallenden Mittagssonne machen zu lassen.

Vermutlich hatte ihre Freundin Rahel doch recht gehabt, als sie behauptet hatte, dass zu den Jobanforderungen eines Sportlehrers die Ausbildung als mittelalterlicher Folterknecht obligatorisch sein musste.

Als ob das nicht schon schlimm genug war, musste ausgerechnet die schlimmste Mobbergruppe der Schule die Zeit, in der sie den Unterricht schwänzten, auf den Tribünen um den Sportplatz herum verbringen. Und natürlich hatten sie auch nicht den Anstand gehabt, sich um ihren eigenen Kram zu kümmern, sondern sie hatten selbstverständlich wieder ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen müssen: dem Bloßstellen und Quälen von Mitschülern, die in der schulischen Beliebtheitshierarchie weit unter ihnen standen. Wie so oft hatten sie es auf Elisa und Ronja abgesehen.

Jeder Kommentar dieser seelenlosen Monster über die Unzulänglichkeiten ihres Aussehens traf sie dabei wie ein Dolch, der sich durch ihre Haut direkt in ihre Eingeweide grub. Ihr wegen der Anstrengung bereits zur Höchstleistung auffahrendes Herz pochte noch wilder und schmerzhafter in ihrer Brust.

Warum ich?, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf immer wieder. Warum ich? Was habe ich euch getan? Was kann ich denn für mein Gesicht? Ich habe es mir doch auch nicht ausgesucht!

Während sie sich krampfhaft auf die Laufschritte und ihren Atem konzentrierte, versuchte sie, die Kommentare, so gut es ging, zu ignorieren und an sich abprallen zu lassen. Denk an etwas anderes, ermahnte sie sich. Träum dich weg.

Sie hatte eine sehr lebhafte und einnehmende Fantasie, die ihr in Momenten wie solchen als Zuflucht dienen konnte und sie zumindest im Kopf an andere Orte beförderte. Doch in dieser Situation war ihr Körper anscheinend so von der sportlichen Anstrengung und den spitzen Bemerkungen abgelenkt, dass es ihr nicht gelingen wollte. Auch wenn es nur wenige Augenblicke waren, bis sie wieder an der Gruppe vorbeigelaufen waren, so dauerte es für sie doch eine Ewigkeit.

Dann endlich war dieser Teil der Sportstunde vorbei. Hätte man sie gefragt – während sie klatschnass geschwitzt und nach Luft schnappend gegen die Wegbegrenzungsstangen lehnte, um nicht umzufallen, und aus Selbsthass am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre – ob es an diesem Tag noch schlimmer kommen könnte, so hätte sie sofort mit »Nein« geantwortet.

Doch wie so häufig hätte sie dabei falschgelegen. Das Schlimmste an diesem Tag sollte noch kommen. Nichts ahnend, erschöpft und in der Hoffnung, dass die Sportstunde nicht mehr allzu lange dauern möge, redete sie mit ihren drei besten – und um ehrlich zu sein auch einzigen – Freundinnen über die geplante Übernachtung bei Julie.

»Eure Kondition lässt ganz schön zu wünschen übrig!«, rief Frau Ketting und pfiff in ihre Trillerpfeife, damit alle verstummten. »Diesen Lauf werdet ihr jetzt immer wiederholen, wenn wir auf dem Sportplatz sind. Beim nächsten Mal stoppe ich eure Zeit. Da von der Stunde heute nicht mehr so viel übrig ist, machen wir heute nur noch ein paar Weitsprungübungen. Kommt mit.«

Zusammen gingen alle zum Sprungkasten, wo sie sich in einer Reihe aufstellen sollten, um nacheinander zu springen.

»Hoffentlich macht sie heute früher Schluss«, meinte Rahel, als sie in der Warteschlange standen. »Dann erwischen wir vielleicht unseren früheren Bus.«

Rahel und Elisa wohnten eher am Stadtrand, wo bloß ein Bus hinfuhr, der nur einmal in der Stunde fuhr.

»Wenn ihr euch nicht umzieht, schafft ihr es vielleicht«, sagte Julie, die mit der U-Bahn fahren konnte, welche alle paar Minuten kam.

Elisa sah auf das Spielfeld, wo eine Oberstufenklasse Fußball spielte. Komisch, wie sie bei dieser Hitze noch so eine Kondition haben konnten. Wie Profispieler hetzten sie über den Rasen und kickten sich den Ball zu, der so schnell seinen Besitzer wechselte, dass sie Mühe hatte, das runde Leder mit den Augen zu verfolgen. Einer schoss auf das Tor, das schräg vor ihr stand. Mit ungeheurer Kraft und Geschwindigkeit raste der Ball durch die Luft. Aber er flog knapp an dem Tor vorbei und schoss wie eine Rakete auf sie zu.

Sie hatte keine Zeit, um zu reagieren. Alles ging blitzschnell. Kaum, dass sie ihn sah, hatte er sie auch schon mit voller Wucht an der Stelle zwischen ihren Augen getroffen und ihren Kopf zurückgeworfen. Sie spürte einen heftigen Schmerz in ihrem Kopf und dann war alles um sie herum dunkel.

Doch es war nicht vollkommen dunkel. Oben am Himmel funkelten Sterne in einer blutroten Farbe und wenn sie weit nach vorne blickte, konnte sie auf den schwarzen Hügeln flackerndes Licht sehen, wie von einem Feuer. In ihren Ohren rauschte es sonderbar und sie erkannte den Geruch von Rauch und Verbranntem in ihrer Nase, und noch von etwas anderem, das sie nicht identifizieren konnte. Als sie einen Schritt machte, knirschte es unter ihren Füßen. Doch das Merkwürdigste von allem war, dass sie trotz dieser Dunkelheit alles sehen konnte. Sie sah die zerstörten Hütten, die abgesplitterten Holzbalken, die zerfallenen Mauern, die niedergemetzelten Bäume und als sie zu Boden sah, erblickte sie die verkohlten Äste und Knochenstücke, die wohl geknirscht hatten. Sie sah Skelette, an denen noch Fetzen von Stoff hingen.

Schließlich musste sie ihren Blick davon abwenden. Das Bild – dieses Bild von Zerstörung und Tod, das sich ihr bot, war nicht auszuhalten.

Wo war sie hier und wie kam sie hier her? Wo waren die anderen? Sie wollte den Mund öffnen und nach ihnen rufen, doch ihr Körper gehorchte nicht ihren Befehlen. Es war, als wäre sie fremdgesteuert und jemand anderes bestimmte ihre Bewegungen und ihre Gefühle. Ihr war klar, dass sie eigentlich hätte Angst haben müssen in dieser fremden, kriegszerrütteten Umgebung und der offensichtlichen Gefahr, aber stattdessen empfand sie hauptsächlich Wut und Trauer.

Trauer um alle, die hier ihr Leben hatten lassen müssen und die furchtbaren Schmerz und unaussprechliches Leid hatten erfahren müssen. Sie wischte sich die Tränen, die ihr still bei diesem Anblick die Wangen runter liefen, mit dem Handrücken ab. Während sie dies tat, stutzte sie in Gedanken. Das war nicht ihre Hand. Diese Hand war viel schmaler und die Finger waren länglicher und vor allem mit einem weiß-violetten Muster überzogen. Wäre sie über ihre eigenen Bewegungen Herr gewesen, hätte sie diese Veränderungen genauer betrachtet, doch stattdessen hob sie den Kopf und blickte nach vorne.

Da begann der Boden zu beben und anstelle des Rauschens war nun ein Lärmen zu hören, so als ob Tausende näherkämen. Die, die das getan hatten, kamen zurück, um ihr Werk zu vollenden. Sie spürte auf einmal eine unglaubliche Wut in sich, einen Hass auf diese Kreaturen und den Wunsch, sich an ihnen zu rächen. Ihnen das heimzuzahlen, was sie hier verbrochen hatten… sie zu zerstören. Jetzt sah sie sie, sah ihre schwarzen Umrisse, die sich über den Hügeln abhoben, sah, wie sie noch näherkamen. Schwarze Schatten wie eine Horde hungriger Wölfe, die ihr nächstes Opfer umzingelten. Ihr Hass wurde noch größer und schien wie ein helles Licht aus ihr herauszubrechen. Grell und beißend strahlte es in alle Richtungen und blendete alle, so stark, dass Elisa das Gefühl hatte, blind zu werden.

»Ich glaube sie kommt zu sich«, hörte sie eine vertraute Stimme. Ihre Stirn schmerzte stark und sie merkte, dass sie auf etwas Hartem lag. Stöhnend schlug sie die Augen auf. Das erste, was sie sah, war das grelle Licht der Sonne. Doch so hell sie auch war, konnte sie sie nicht so blenden wie das Licht, das sie eben noch gesehen hatte. Dann kam von der Seite das sonnengebräunte Gesicht ihrer Sportlehrerin in ihr Blickfeld, gefolgt von den besorgten Gesichtern ihrer drei Freundinnen und noch ein paar anderen Mitschülerinnen. Elisa stöhnte erneut und fasste sich mit der Hand an den Kopf. Hinter ihrer Schläfe pochte es.

Frau Ketting sagte irgendetwas zu den anderen, das sie durch das Pochen allerdings nicht verstehen konnte. Sie runzelte die Stirn und versuchte, sich aufzusetzen, aber als sie sich erheben wollte, begann sich alles in ihrem Kopf zu drehen. Sofort kamen ein paar Hände auf ihre Schulten und drückten sie runter.

»Bleib liegen. Der Krankenwagen kommt gleich«, sagte Frau Ketting streng.

»Krankenwagen?« Entsetzt riss Elisa die Augen auf und wollte sich erfolglos ein zweites Mal aufrichten. »Bitte keinen Krankenwagen.« Das war eine Katastrophe. Sie hörte jetzt schon die Bemerkungen der anderen – vor allem von der miesen Oberstufengruppe und den Arschlöchern aus ihrer Klasse.

»Du warst minutenlang bewusstlos«, meinte Julie, die rechts neben ihr hockte und noch immer eine Hand auf ihre Schulter gelegt hatte. »Wir haben uns solche Sorgen gemacht. Frau Ketting hat schon den Notarzt gerufen.«

Elisa schluckte und kniff die Augen zusammen. Wenn sie schon weiter gedemütigt wurde, wollte sie es wenigstens nicht sehen müssen.

»Falls es dir hilft«, flüsterte ihr Ronja ins Ohr. »unsere Lieblings-Arschlochgruppe ist schon längst weggegangen und hat von dem Ganzen nichts mehr mitbekommen.«

Blinzelnd schenkte Elisa ihrer Freundin als Antwort ein gequältes Lächeln und nickte dankbar.

Wenn es einen Menschen gab, der verstand, wie sie sich in diesen Momenten fühlte, so war es Ronja, die ebenfalls ständige Erfahrungen mit Mobbing machen musste. Ihre anderen beiden Freundinnen Julie und Rahel hatten diese Probleme nicht – oder zumindest sehr viel weniger. Zwar gehörten sie aufgrund ihrer Interessen und ihrer Charaktereigenschaften auch eher zu den Außenseitern der Klasse, wurden aber ansonsten meist in Ruhe gelassen. Ronja hatte mal scherzhaft behauptet, dass Julie einfach zu perfekt wäre, als das man an ihr irgendetwas zum Heruntermachen finden konnte. Sie hatte mit ihren langen, blonden Haaren, der großen, grazilen Figur und dem hübschen Gesicht nicht nur die Optik, um bei einer Modelshow einen der ersten Plätze zu belegen, sondern war immer fröhlich und nett, und hatte dazu auch noch das Glück, dass ihre Eltern sehr wohlhabend waren. Wenn sie nicht schon seit Babytagen beste Freundinnen gewesen wären, so wäre Julie wahrscheinlich nie ein Teil der Außenseitergruppe geworden.

Rahel dagegen war durchschnittlich hübsch und stammte aus einer kaputten Familie, die oft Besuche vom Jugendamt bekam, hatte aber eine Zunge, die schneller und spitzer war, als dass der 0815-Mobber dagegen ankommen konnte. Bevor sie beleidigt wurde, gab sie mindestens fünf doppelt so verletzende Kommentare zurück. Ronja und Elisa konnten davon nur träumen.

Jetzt hatte Elisa jedoch keinerlei Möglichkeit von irgendetwas zu träumen, da bereits nach kurzer Zeit der Notarztwagen ankam. Zu allem weiteren Unglück begnügten sich die Notfallärzte nicht damit, sie nur an Ort und Stelle zu untersuchen, sondern bestanden darauf, sie mit ins Krankenhaus zu nehmen. Auch wenn sie nun auf der Liste ‚Dinge, die ich mindestens einmal im Leben gemacht haben sollte‘ den Punkt ‚Fahren in einem Krankenwagen‘ abhaken konnte, war ihr nicht zum Jubeln zumute.

Mit pochendem Kopf musste sie weitere Untersuchungen über sich ergehen lassen und im Anschluss in einem kleinen Krankenzimmer zusammen mit einer alten Frau, die eine Hüft-OP und einer anderen jüngeren, die sich einen Nagel durch den Fuß gejagt hatte, warten. Das Einzige, das ihr Ablenkung verschaffte, war ihr Handy, dessen Akku allerdings langsam gegen Null tendierte.

Als ihre Mutter abgehetzt ankam und mit besorgter Miene mit dem Arzt sprach, befürchtete Elisa schon für einen Augenblick, dass sie über Nacht im Krankenhaus bleiben musste, aber dann wurde sie doch entlassen. Anscheinend hatten die Ärzte keine weiteren Anzeichen für eine schlimmere Gehirnerschütterung gefunden, sodass sie nachhause geschickt werden konnte. Es wurde nur geraten, dass über Nacht jemand in ihrer Nähe bleiben sollte, sodass sichergestellt war, dass nicht doch irgendwelche Nachwirkungen der Bewusstlosigkeit auftraten.

Als ihre Mutter ihr half, ihre Schlafsachen in das Schlafzimmer ihrer Mutter zu tragen, damit sie die ganze Nacht unter Beobachtung stehen konnte, murmelte Elisa leise: »Es tut mir leid.«

»Was meinst du?«, fragte Marina Kramer, als sie die Bettdecke ihrer Tochter auf der freien Bettseite in ihrem Schlafzimmer ausbreitete.

»Dass du wegen mir das Date mit deinem Freund absagen musstest. Ich weiß, dass du dich so auf deinen ersten Opernbesuch gefreut hast.« Zu Elisas Überraschung meinte sie ihre eigenen Worte tatsächlich so, wie sie es sagte. Eigentlich konnte sie Gregor – wie alle anderen vorherigen Liebschaften ihrer Mutter – nicht besonders leiden. Doch ihre Mutter schien wirklich aufgeregt über dieses Erlebnis gewesen zu sein, wenn die letzten Abende, in denen sie immer wieder mit ihrem Abendkleid vor dem Spiegel gestanden und die perfekten Opernfrisuren ausprobiert hatte, ein Anzeichen dafür waren.

»Mach dir keine Sorgen. Das ist wichtiger. Morgen gehe ich mit ihm Tanzen und den Opernbesuch werden wir auch bald nachholen können.« Sie lächelte Elisa sanft an und strich ihr mit der Handfläche über die Wange. »Heute Abend machen wir zwei es uns gemütlich. Wir essen etwas Leckeres« Der Code ihrer Mutter für Tiefkühlpizza aufgepimpt mit extra Käse. »und gucken etwas Schönes.« Womit meistens irgendein Kostüm-Liebesfilm, der in einem früheren Jahrhundert spielte, gemeint war. Meistens waren es irgendwelche Literaturverfilmungen wie von Jane Austen oder ähnlichen Autorinnen.

Eigentlich war Elisa kein wahnsinniger Fan dieses Genres. Oft wirkten die Geschichten und Probleme aus heutiger Sicht lächerlich und belanglos. Die meiste Zeit kreisten sie um Liebe, Geld und gesellschaftliches Ansehen und es gab kaum actionreiche oder spannende Stellen. Doch ihre Mutter liebte sie über alles. Es war wie ein Ritual, sich hin und wieder einen gemütlichen Mutter-Tochter-Abend mit diesen Geschichten und Fast Food Essen zu machen und nach und nach waren sie Elisa so auch ans Herz gewachsen.

Es war schön, diese lockeren gemeinsamen Abende mit ihrer Mutter zu verbringen, die leider immer seltener wurden. Früher hatten sie es mindestens einmal im Monat geschafft, sich so auf der Couch zusammen zu kuscheln und die Zweisamkeit zu genießen, bei der Elisa schon als Kind überzeugt gewesen war, dass ein Vater dabei nur störend gewesen wäre. Doch nun schien ihre Mutter quasi jede freie Minute mit ihrem derzeitigen Freund zu verbringen, sodass diese gemeinsamen Mutter-Tochter-Momente immer seltener wurden. Auch heute wäre es eigentlich wieder so gewesen. Daher war Elisa plötzlich fast ein klein wenig dankbar für den Unfall in der Schule. Der nächste gemeinsame Abend wäre vermutlich erst wieder in den Herbstferien möglich.

So genoss Elisa es, sich mit ihrer Mutter auf das Sofa zu legen. Für eine besonders gemütliche Atmosphäre zündete Marina immer noch ein paar Kerzen an, die mit ihren Windlichtern hübsche Bilder an die Wand warfen. So schauten sie die liebste »Stolz und Vorurteil«-Version ihrer Mutter, während der Duft der Fertigpizzen, die im Ofen vor sich hin brutzelten, immer mehr den Raum erfüllte.

Als Elisa ihren ersten Bissen der Pilzpizza mit extra Käse nahm und die mit Geschmacksverstärkern aufgepeppten Aromen ihre Zunge berührten und sie beobachtete, wie Mr. Darcy Elizabeth Bennet seinen ersten, sehr unpassenden Heiratsantrag machte, erfüllte sie ein Gefühl der Perfektion. In solchen Momenten konnte sie vergessen, wie sehr sie es hasste, jeden Tag in eine Schule zu gehen, wo sie tagtäglich geärgert wurde, wie sehr sie sich für ihre Probleme in Mathe, ihre körperlichen Makel und das fehlende Geld schämte, wie sehr sie und ihre Mutter sich immer weiter voneinander entfernten.

Doch leider platzte diese Blase schon wieder, kaum dass der Film vorbei war.

»Wenn man sich Geschichten wie diese ansieht, kann man manchmal gar nicht glauben, dass es solche Happy Ends auch im echten Leben geben kann«, seufzte ihre Mutter mit einem verträumten Gesichtsausdruck. »Oder dass es solche Mr. Darcys wirklich geben kann.«

Elisa musste ein Augenrollen unterdrücken. Auf der Suche nach ihrem eigenen »Mr. Darcy« hatte ihre Mutter schon so einige Griffe ins Klo getätigt. Leider hatte die alleinerziehende Mutter einen katastrophalen Männergeschmack, der sie dazu brachte, sich mit den größten Idioten einzulassen, die auf den ersten Blick immer einen tollen Eindruck machten, sich hinterher aber immer als das Gegenteil herausstellten. Das begann schon mit Elisas Vater, der, als er erfahren hatte, dass Marina schwanger war, sofort zurück nach Korea verschwunden war, weil seine traditionelle Familie es angeblich niemals zugelassen hätte, dass er eine Nicht-Koreanerin heiraten würde. Das war zumindest die Version, die ihre Mutter ihr erzählt hatte. Bis heute hatte sie ihren Vater nie gesehen und die Möglichkeit gehabt, ihn nach seiner Sicht der Dinge zu fragen. Außer in ein paar Phasen ihrer Kindheit, in denen sie sich nichts sehnlicher als einen Vater gewünscht hatte, hatte sie aber auch nur selten das Bedürfnis ihrem geheimnisvollen Erzeuger, von dem sie nur ein Foto besaß, gegenüberzutreten. Ihre Mutter war alles, was sie als Familie brauchte – auch wenn diese das leider oft anders gesehen hatte.

Alle Beziehungen, die sie seitdem gehabt hatte, waren schnell in die Brüche gegangen, weil die Typen sich als Casanovas, verheiratete Familienväter, die nur eine Affäre haben wollten, oder faule Blender, die sich nur von ihr durchfüttern lassen wollten, entpuppten. Elisa hatte nie einen dieser Kerle leiden können und war immer froh gewesen, wenn es wieder vorbei war, auch wenn die Trennungen in der Regel sehr dramatisch verliefen, da ihre Mutter gerne dabei die Kleidung ihrer Exen aus dem Fenster schmiss, Fotos und Geschenke verbrannte und hin und wieder auch mal ein Teller daran glauben musste.

»Also ich habe bisher noch keinen Mr. Darcy gesehen«, murmelte Elisa daher.