Wenn alle dich sehen - Kira Ebel - E-Book

Wenn alle dich sehen E-Book

Kira Ebel

0,0
2,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Du musst jetzt auch noch garnicht wissen, wer du bist. Du musst nur den Mut haben es herausfinden zu wollen. Das Feuermal in Annabelles Gesicht ist für sie eine willkommene Ausrede. Denn die Schülerin ist sich sicher: so wie sie aussieht, muss sie sich vor ihren Mitmenschen verstecken. Zu groß ist die Scham aufzufallen und zu übermächtig die Angst, immer und immer wieder verspottet zu werden. Und dann richten sich bei der Wahl der neuen Heidekönigin von Amelinghausen auch noch hunderte neugierige Blicke auf sie. Ein Moment, der Annabelles bisherige Ansichten ins Wanken bringt. Sie muss sich nicht nur der Dorfgemeinschaft stellen, sondern auch ihren eignen Ängsten gegenübertreten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kira Ebel ist in Amelinghausen aufgewachsen und ihr Herz schlägt noch heute für die Lüneburger Heide. Obwohl sie 2011 in die Schweiz auswanderte, verlor sie nie die Verbindung zu ihrer Heimat. Und so ist die Gegend mit den wunderschönen lila Heideflächen auch Schauplatz ihrer Bücher.

Nach der Geburt ihrer zweiten Tochter brach bei der Autorin die Autoimmunkrankheit Vitiligo (sogenannte Weißfleckenkrankheit) aus. Dies veränderte ihr Leben, denn auf einmal musste sie lernen, ihr verändertes Äußeres so zu akzeptieren, wie es war. Ein Prozess, der sie auf die Idee zu diesem Roman brachte.

Für

Oma Ilse & Opa Seppel

Oma Lotti & Opa Werner

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Nachwort

1

Annabelle ist wütend auf sich selbst. Warum kann sie an keinem der großen Schaufenster vorbeigehen, ohne ihr Spiegelbild darin zu betrachten? In jeder reflektierenden Oberfläche prüft sie ihr Äußeres. Nichts Auffälliges an sich haben. Ihr bisheriges Leben wie einen schlechten Traum abstreifen.

Doch selbst im Glas der Schaufensterscheiben ist es nicht zu übersehen: Ihr Feuermal. Der rote, handflächengroße Fleck neben ihrer Nase, den sie seit ihrer Geburt mit sich herumträgt. Der Makel, auf den alle Menschen neugierig starren, wenn Annabelle an ihnen vorbeigeht. Die Gewissheit, dass der Fleck nicht einfach verschwindet, lässt ihren Magen wie immer zusammenzucken. Schnell wendet sie den Blick ab und schaut vor sich auf den Boden. Bloß nicht in die glotzenden Gesichter der umstehenden Leute blicken. Das würde sie noch mehr verunsichern.

„Na, du machst ja ein Gesicht… Haben doch gerade erst angefangen zu suchen.“ Ihre Cousine Klara lächelt sie an und stupst mit der geballten Faust gegen ihre Schulter. „Komm schon, Annabelle. Das wird lustig.“

Annabelle hebt den Kopf und lächelt verkrampft zurück. Die paar Meter vom Parkplatz bis in die Fußgängerzone der Lüneburger Innenstadt können keine zehn Minuten gedauert haben und doch ist sie bereits völlig fertig. Ihr Shirt klebt nass an ihrem Rücken und das Tuch um ihren Hals kratzt fürchterlich. Sie wickelt es ab und stopft es in ihren Rucksack. Als sie wieder aufschaut, ist Klara plötzlich nicht mehr neben ihr. Hektisch schwenkt sie den Kopf in alle Richtungen. Doch sie sieht nur fremde Menschen, die gemütlich an den großen Schaufenstern vorbeischlendern.

„Annabelle, nun komm schon“, ruft Klara. Mit einem Ruck dreht sich Annabelle in die Richtung der Stimme und sieht die kurzen braunen Haare ihrer Cousine. Sie steht vor einem der vielen Fachwerkhäuser und schaut in ein großes Fenster. Darin präsentieren weiße Puppen glitzernde Abendkleider. Als Annabelle neben ihr ist, springt Klara vor die Tür und verschwindet zur Hälfte im Eingang des Geschäfts. Sie hält kurz inne und dreht sich zu ihrer Cousine um. Die bewegt sich allerdings nur zögerlich und so schnappt Klara sich Annabelles Hand und zieht sie durch die Tür. Mit rollenden Augen und einem lauten Stöhnen gibt Annabelle auf und schleicht hinter Klara her. Eine schrille Glocke kündigt ihren Besuch an.

„Willkommen, kann ich Ihnen helfen?“

Die Verkäuferin hat ihre Haare zu einer Löwenmähne toupiert und ihre Lippen leuchten in einem grellen rosa. Ein aufdringlicher Parfümduft dringt in Annabelles Nase und lässt sie angewidert einen Schritt zurückweichen. Dabei dreht sie automatisch ihren Kopf zur Seite, damit die Verkäuferin ihr Feuermal nicht sehen kann.

„Wir möchten uns nach Kleidern für den Abiball umschauen.“ Klara strahlt über das ganze Gesicht. Die Dame setzt ebenfalls ein Lächeln auf und schnappt sich ihre interessierte Kundin. Schwatzend wackeln sie von Kleiderstange zu Kleiderstange. Die beiden sind so in ihr Gespräch vertieft, dass Annabelle unbeobachtet hinter ihnen herschleichen kann. Sie lässt ihre Hand über die glänzenden Stoffe fahren und schiebt ab und an ein Kleid beiseite, um einen besseren Blick erhaschen zu können. Die Textilien fühlen sich leicht und samtig an.

Sie schwebt durch den kleinen Gang und schaut sich gedankenverloren um. Von außen konnte man nur die Schaufensterpuppen und die Theke mit der Kasse erkennen. Hier drinnen allerdings kann sich Annabelle an den wunderschönen Kleidern und Anzügen kaum satt sehen. Einige sind extra in Szene gesetzt und hängen an den Säulen, die alle paar Meter im Raum stehen. Diese Abendroben werden von Deckenstrahlern beleuchtet und glänzen so besonders hell. Im hinteren Teil des Geschäfts steht ein großes Regal mit allerlei Schmuck, Haarspangen und kleinen Handtaschen. Annabelle gefällt es, dass alles auf einem blauen Samt drapiert ist. So wirken die Accessoires elegant und hochwertig. Sie streicht über ein Diadem und beobachtet, wie die einzelnen Steine im Licht ganz leicht ihre Farbe ändern.

„Wollen Sie es mal aufsetzen?“

Annabelle zuckt unwillkürlich zusammen. Die Verkäuferin steht lächelnd neben ihr und zeigt auf das Diadem.

„Äh, nein“, stottert Annabelle. Schnell entfernt sie sich vom Regal und steht etwas hilflos im Raum. Die Verkäuferin lächelt sie immer noch an und nickt unmerklich.

„Ihre Freundin ist dort hinten bei den Kabinen“, sagt sie und steuert sogleich auf einen Kleiderständer zu.

Annabelle hastet mit großen Schritten auf die Garderoben zu. Eine ist mit einem Vorhang versperrt und als sie Klara seufzen hört, bleibt sie erleichtert stehen.

Gedankenverloren streicht sich Annabelle durch die Haare. Sie greift in einer eingespielten Bewegung beide Seiten ihres Haaransatzes und fährt mit ihren Fingern bis zu den Haarspitzen herunter. Dabei schiebt sie die Strähnen vorsichtig über ihre Wangen, so dass ihr Feuermal von ihnen verdeckt wird. In einem Spiegel erhascht sie zufällig einen Blick von sich. Schnell wendet sie sich ab, so dass ihre Haare um ihr Gesicht wirbeln.

„Die sind alle hässlich“, grummelt Annabelle vor sich hin.

Die schlechte Laune klebt an ihr wie zähes Kaugummi. Obwohl sie die süßen Läden und historischen Gassen von Lüneburg eigentlich sehr mag, bedeuten sie doch jedes Mal eine große Herausforderung. Eng an eng drängen sich auch an diesem Samstagmorgen die Menschen über das Kopfsteinpflaster und schieben sich mit Plastiktüten und Baumwolltaschen aneinander vorbei. Selbst die graue Wolkendecke und die niedrigen Temperaturen können die Leute nicht davon abhalten, an diesem Apriltag shoppen zu gehen. Und so glänzen noch immer Schweißperlen auf Annabelles Stirn, obwohl ihre Hände und Füße eiskalt sind.

„Du schaust ja nicht mal richtig hin.“ Klaras Haarschopf lugt neben dem Vorhang hervor. Sie funkelt ihre Cousine an. Als sie wieder in der Kabine verschwindet, trottet Annabelle hinterher und setzt sich auf den Hocker vor dem Vorhang. Sie stützt ihre Ellenbogen auf die Oberschenkel und legt ihr Kinn in die Hände.

„Ich finde einfach nichts, Klara“, sagt sie mit Blick auf den Vorhang. „Und überhaupt - warum soll ich mir denn ein Kleid aussuchen, wenn ich sowieso nicht zum Abiball gehe?“

Der Stoff der Umkleidekabine wird zur Seite geschoben und ihre Cousine tritt heraus. Klara trägt ein langes Paillettenkleid, dass im Licht glitzert. Ein Meer aus Regenbogenpunkten strahlt an die Wand und tänzelt bei jedem ihrer Schritte umher. Vor dem großen Spiegel dreht Klara sich einmal um die eigene Achse und streicht den Stoff glatt.

„Ich dachte, du änderst deine Meinung vielleicht noch, wenn du erstmal die schönen Kleider siehst. Schließlich machst du nur einmal Abitur.“

Sie legt eine Hand auf Annabelles Schulter und drückt sanft zu. In dieser winzigen Bewegung liegt so viel Verständnis und Mitgefühl. All die Jahre, die sie gemeinsam Höhen und Tiefen gemeistert haben, zeigen sich in solch einfachen Gesten.

Und Tiefen hatte Annabelle mehr als genug. Ihre gesamte Schulzeit kommt ihr immer noch vor wie Treibsand. Sie strampelt und strampelt und kommt keinen Schritt vorwärts. Natürlich ist sie froh nach all den Strapazen endlich ihr Abitur in der Tasche zu haben. Nie hätte sie das für möglich gehalten. Über 12 Schuljahre hat es schließlich gedauert an diesen Punkt zu gelangen.

Einmal ist Annabelle sogar wegen ausufernder Fehlzeiten sitzen geblieben. Aber wenn sie jetzt daran zurückdenkt, würde sie es wieder so machen. Das Getuschel und heimliche Lachen hinter ihrem Rücken kann sie auch heute kaum ertragen. Obwohl sie mittlerweile über ein Jahr älter ist als ihre Klassenkamerad:innen, verkriecht sie sich immer noch in die hinterste Ecke der Bibliothek, um den gaffenden Blicken in der Pause auszuweichen. Die hohen Bücherregale sind zu ihrem Versteck geworden und die Bücher zu ihrer besten Ausrede. Und dabei liest sie nicht mal gerne.

An den meisten Tagen sitzt sie an dem kleinen, weißen Tisch am Eingang der Bibliothek. Hier hat sie den besten Blick und weiß genau, wer den Raum betritt. Noch nie hat sie sich ein Buch ausgeliehen. Nicht mal einen Bibliotheksausweis besitzt Annabelle. Aber der Lesesaal ist ein Garant für Ruhe und Einsamkeit.

Bei diesem Gedanken huscht ein Lächeln auf Annabelles Gesicht, welches ihre Cousine gleich falsch versteht.

„Ich sag doch, du findest die Kleider schön. Möchtest du es auch mal anprobieren?“

„Ach Klara…“ Annabelle wippt ihren Kopf müde hin und her. „Was soll ich denn da? Ich hab keine Lust auf die ganzen Leute. Ich kann auch zu Hause mein Abitur feiern.“

Enttäuscht dreht sich Klara um und verschwindet wieder hinter dem Vorhang der Kabine. Als nur noch der dunkle Stoff zu sehen ist, hört man ihre Stimme leise:

„Du kannst einem echt den Spaß verderben, Annabelle. Ich hab mich wirklich auf die Feier gefreut.“

„Tut mir leid“, entgegnet Annabelle. „Ich weiß.“

„Es wäre so cool, wenn du mit uns mitkommst. Dann wären wir das Dreamteam dort.“

„Mh“, macht Annabelle und beobachtet den wackelnden Vorhang. Klara steckt ihren Kopf heraus und ihre kurzen Haare kleben elektrisch am Stoff.

„Ich deute das mal als Zustimmung.“ Klara hat ein schelmisches Grinsen aufgelegt. Doch die Neckerei prallt an Annabelle ab.

„Ich weiß nicht.“

„Wie blöde wäre das denn, wenn du nicht auf deinen eigenen Abiball gehst. Vor allem jetzt, wo ich auch komme.“ Ihre wuscheligen Haare verschwinden wieder und Annabelle kann einen Reißverschluss hören. „Man, Annabelle, Party mit deinen Freundinnen. Wer hat das schon an seinem Abschlussball? War doch eine super Idee von Sophie mich als Begleitung einzuplanen. Das wird der Hammer.“

Klara selbst hat vor ein paar Jahren ihren Realschulabschluss gemacht. Sie arbeitet seitdem in einer Logistikfirma, die andere Unternehmen mit ihren Exportgeschäften berät. Klara ist begeistert von ihrem Job. Trotzdem weiß Annabelle, dass sie manchmal auch neidisch auf sie und Sophie ist. Denn die beiden Schülerinnen können noch immer von den vielen Schulpartys und Freizeitaktivitäten profitieren, während sie selbst regelmäßig bis spät abends arbeiten muss.

Mit Schwung wirft Klara den Stoff der Umkleidekabine zur Seite und springt in einem Satz heraus. Ihr rechtes Bein verfängt sich in dem langen Stoff des Kleides und sie gerät schlagartig ins Wanken. Mit beiden Händen muss sie sich an der Wand abstützen, um nicht umzufallen.

Die beiden Cousinen müssen laut kichern. Das erweckt die Aufmerksamkeit der Verkäuferin und sie schleicht sich neugierig an die Kabine.

„Passt das Kleid so? Kann ich Ihnen noch etwas bringen?“, fragt sie höflich.

„Das blaue Kleid sieht toll aus, aber haben Sie vielleicht noch eines, das etwas kürzer ist? In diesem kann ich mich nicht so gut bewegen.“ Klara verzieht ihren Mund zu einer lustigen Grimasse und deutet mit ihren Augen auf den Boden. Der Stoff des Abendkleides hat sich um ihre Füße gewickelt und nun steht sie darauf.

Annabelle grinst und wartet auf die Reaktion der Verkäuferin. Doch plötzlich stellt sie fest, dass die direkt neben ihr steht und freie Sicht auf ihr Feuermahl hat. Sofort versteinert sich Annabelles Miene.

Sie rutscht auf dem Hocker hin und her und spürt, wie ihr Gesicht anfängt zu glühen. Die Verkäuferin dreht sich zu Klara und sagt etwas zu ihr. Doch Annabelle kann sie nicht mehr hören. Als hätte sie Watte im Kopf, ertönen die Geräusche nur noch gedämpft. Sie verschränkt ihre Finger ineinander und streicht mit dem Zeigefinger über ihren Daumen. Irgendwo hat sie gelesen, dass das beruhigen soll.

Die Frau watschelt davon und kommt kurze Zeit später mit zwei Kleidern wieder. Sie reicht sie Klara in die Kabine und stellt sich wieder neben Annabelle. Ihrem Blick ausweichend, knetet Annabelle nun wie wild auf ihrem Daumen herum. Die Haut über dem kleinen Knochen ist bereits gerötet und spannt.

Als sie aus den Augenwinkeln wieder den Blick der Verkäuferin bemerkt, stöhnt sie leise. Ihr Herz beginnt wild zu schlagen. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich in kurzen Abständen. Alles um sie herum verblasst langsam und sie spürt nur noch, wie Panik in ihr hochkriecht. Ihr Hals schnürt sich zu und sie bekommt keine Luft mehr. Beklommen greift sie nach ihrer Jacke und springt vom Hocker auf. Ohne ein Wort zu sagen, stürmt sie aus der Eingangstür hinaus auf die Straße.

Nach Atem ringend, stützt Annabelle ihre Hände auf die Knie und beugt sich nach vorne. Sie saugt die kühle Luft ein und pustet sie dann hörbar wieder aus. Ihr ganzer Körper ist steif und angespannt. Nach einer Weile wird ihr Herzschlag wieder etwas langsamer und ihr Atem stetiger. Der Nebel lichtet sich. Sie richtet sich auf, um die Aufmerksamkeit der umstehenden Leute nicht auf sich zu ziehen.

Hektisch schaut sie sich um, aber die Menschen laufen, ohne sie zu beachten, vorbei. Einheimische schlängeln sich mit Brötchentüten und Kaffeebechern in der Hand aneinander entlang. Eine Gruppe Studierende schiebt ihre klapprigen Fahrräder über das Kopfsteinpflaster. Ihr Lachen mischt sich unter den scheppernden Rhythmus ihrer Räder. Einige Menschen fotografieren gerade die malerischen Häuser der Lüneburger Innenstadt.

Niemand der Umstehenden kommt mit einem mitleidigen Ausdruck auf dem Gesicht auf sie zugeeilt. Annabelles Muskeln entspannen sich ein wenig. Ihr Blick ruht nun auf der Außenfassade des Kleiderladens.

Wie viele der Häuser in Lüneburg besteht auch dieses aus blass-roten Backsteinen und einem dunklen Fachwerk. Das Holz ist an einigen Stellen löchrig. Es umrahmt die beiden Schaufenster rechts und links neben der Tür. Annabelle hat in diesem Moment das Gefühl in das Gesicht eines versteinerten Monsters zu blicken. Die weit aufgerissenen Schaufensteraugen starren sie an und der Türmund ist zu einer lachenden Fratze verzogen. Auch die Fassaden der Nachbarhäuser scheinen sich heute weiter in den Himmel zu strecken als sonst.

Da stürmt Klara aus dem Laden. Sie stellt sich neben Annabelle und streicht ihr sanft über den Rücken.

„Alles okay? Was war denn los?“

Annabelles Finger fahren durch die Haare und sie legt sich die vordersten Strähnen über ihre Wangen. Noch etwas benommen, schüttelt sie abwehrend den Kopf.

„Ach, diese dumme Verkäuferin…“

„Hä? Was war mit der?“ Klara schaut verwirrt drein. Sie wirft einen Blick über die Schulter. In dem Geschäft sieht sie einen dunklen Schatten hinter dem Schaufenster umherschleichen.

„Die… na die hat… geglotzt.“

Als Klara fragend die Schultern hebt, tritt Annabelle von einem Fuß auf den anderen. Sie schiebt einen Finger unter ihre Haarsträhne und deutet auf ihr Feuermal. „Na deswegen halt.“

Klara löst ihre Hand von Annabelles Rücken und tritt einen Schritt zurück. Dann dreht sie sich zu dem Laden um und starrt in das Schaufenster. Wieder erkennt sie die Umrisse der Verkäuferin, die schnell hinter einem Kleiderständer verschwindet.

„Die? Wann? Wie? Echt?“

„Na, als sie dir die Kleider gebracht hat. Aber ist ja jetzt egal.“

„Bist du dir sicher, Annabelle? Ich hatte irgendwie nicht das Gefühl, dass… na, dass die Verkäuferin dich anglotzt.“

Annabelle verschränkt die Arme vor dem Bauch. Sie rammt ihre Füße fest in den Boden und funkelt ihre Cousine an.

„Ach, ja? Du hattest nicht das Gefühl, dass sie glotzt? Na, das ist ja schön, Klara. Das du nicht angeglotzt wurdest, das freut mich aber.“

„Ja, ja, ja, ist ja gut. Jetzt sei nicht gleich so beleidigt. So mein ich das doch gar nicht.“ Klara hebt ihre flachen Hände neben den Kopf und tritt einen weiteren Schritt zurück. „Ich dachte halt, die interessiert sich nicht für dich. Die hat den Anschein gemacht, als sei sie ganz nett.“

„Mh“, sagt Annabelle. „Nett. War sie ja auch. Zu dir!“

„Ach Annabelle“, beginnt Klara, doch ihre Cousine dreht sich beleidigt um.

„Ach Annabelle, ach Annabelle“, äfft sie Klara nach. „Die ist doch nur nett. So eine aufgetakelte Tussi glotzt dich doch nicht an.“

Da ballt Klara die Fäuste. Mit einem schnellen Schritt steht sie vor Annabelle und baut sich demonstrativ vor ihr auf.

„Jetzt krieg dich mal wieder ein! Ich wollte dir doch nix böses. Wenn du nicht mehr in den Laden willst, dann gehen wir halt woanders hin. Ist doch okay.“

Klara bückt sich ein bisschen, um in Annabelles Gesicht schauen zu können. Als sich ihre Blicke treffen, ist die meiste Wut aus Annabelles Gesicht verdampft. Ihr Herz schlägt zwar noch etwas schneller als sonst, aber ihr Atem ist stetig und der Schweiß von ihrer Stirn verschwunden.

„Sorry“, nuschelt sie vor sich hin. „Ich wollte nicht…“ Da legt Klara ihr einen Arm um die Schultern.

„Was hältst du davon, wenn wir zu „Stoffe am Berge“ gehen? Das muntert dich doch sicher etwas auf. Und vielleicht finden wir ja was Schönes, womit wir unsere Kleider selbst nähen können?“

Annabelle beginnt zu lachen. Die Spannung aus ihren Muskeln lässt nach. Auch ihre Gesichtszüge werden wieder weicher.

„Oh mein Gott“, sagt sie und schiebt ihren Arm um Klaras Hüfte. „Ich glaube nicht, dass wir auf den Abiball mit einem selbstgenähten Kleid gehen sollten. Die anderen würden uns auslachen.“

Zwar hat Annabelle seit Jahren eine Nähmaschine, doch jegliche Versuche Kleidung zu nähen, sind bisher gescheitert. Und auch ihre Cousine hat zwei linke Hände, wenn es um Stoffe geht. Dessen ist sich auch Klara bewusst und so steigt sie herzhaft in den Lachanfall mit ein. „Naja, mich kennen die Leute von deiner Schule ja eigentlich nicht“, sagt Klara außer Atem, „aber du könntest einige Lacher kassieren.“

Fast unmerklich senkt Annabelle ihren Blick. Ihr Mund verzieht sich zu einer dünnen Linie und ihre Schultern senken sich etwas. Dann flüstert Annabelle traurig: „Na, dann ist es ja wie immer.“

2

Annabelles Mutter Gabi reicht den gelben Zettel mit dem Brillenrezept über die Theke. Annabelle steht etwas verloren daneben und tritt von einem Fuß auf den anderen. Die Optikerin ist eine gute Bekannte ihrer Eltern und hat sich sichtlich gefreut, die beiden Frauen in ihrem Laden zu begrüßen. Als sie nach ein bisschen Smalltalk zu einem Tisch herüber gehen, lässt Annabelle sich sofort in einen Stuhl fallen. Sie lehnt sich mit einem erleichterten Stöhnen zurück und streckt die Beine aus.

„Na, Annabelle, bist du kaputt?“

Die Optikerin grinst und blickt auf Annabelles Füße.

„Oh, Entschuldigung. Ich bin nur froh, endlich wieder sitzen zu können.“

Das ist gelogen. Denn eigentlich ist Annabelle froh, endlich wieder in Amelinghausen zu sein. Und nicht mehr die neugierigen Blicke der fremden Menschen in Soltau aushalten zu müssen. Denn da waren sie und ihre Mutter den ganzen Morgen. Sie hatten einen Termin beim Augenarzt. Es ist total normal für Annabelle, dass ihre Arzttermine mit denen ihrer Mutter zusammenfallen. Denn Gabi sorgt immer dafür, dass zumindest die Vorsorgeuntersuchungen zur gleichen Zeit stattfinden. Doch auch bei anderen Untersuchungen begleitet sie ihre Tochter.

In der Pubertät hat Annabelle noch versucht sich dagegen zu wehren. Sie fühle sich alt genug auch mal alleine zu ihrem Hausarzt zu gehen, hat sie ihren Eltern erklärt. Doch Gabi ließ nicht locker und ignorierte den Wunsch ihrer Tochter. Sie argumentiert noch heute damit, dass Annabelle vielleicht irgendwann mal eine Diagnose bekäme, die ihr den Boden unter den Füßen wegzöge. Und dann sei sie zumindest da, um sie aufzufangen. Diese Situation ist für Annabelle zwar schwer vorstellbar - gerade bei einem Augenarzt ist die Chance auf eine schockierende Diagnose ja doch eher gering - aber sie fügt sich mittlerweile einfach ihrem Willen.

Annabelles Vater Manfred bezeichnet Gabi manchmal als Helikopter-Mama. Sie schwebe wie ein Helikopter um Annabelle herum und passe auf, dass ihr nichts passiert. Und wenn ihr doch mal etwas zustößt, schaltet sie das Blaulicht ein, geht in den Sinkflug und ist sofort zum Trösten zur Stelle. Gabi entgeht nichts und wenn doch, dann macht sie sich tagelang die größten Vorwürfe.

Schon oft hat sich Annabelle gefragt, woher die starken Ängste ihrer Mutter kommen. Doch sie hat sich nie getraut, mit ihr darüber zu sprechen. Ihr Vater erwähnte einmal, dass Gabi früher nicht so vorsichtig war. Vor Annabelles Geburt war sie zwar auch schon schüchtern, doch sie verkroch sich nicht. Sie nahm gerne an Dorffesten, Geburtstagen oder anderen Veranstaltungen teil. Einmal soll ihre Mutter, als junge Frau, sogar auf einer Theke getanzt haben. Annabelle fällt es schwer, sich diese Frau vorzustellen. Seit sie ihre Mutter kennt, ist sie sehr verschüchtert, zurückgezogen und vorsichtig.

Laut ihrem Vater passierte etwas mit ihr bei der Geburt von Annabelle. Als die Ärztin ihr erklärte, dass das Feuermal in Annabelles Gesicht bleiben würde. Da sei Gabi ganz still geworden. Manfred meinte, sie habe dann ziemliche Gefühlsschwankungen bekommen im Krankenhaus. Tagelang habe sie geweint und dann ganz plötzlich sei sie gegenüber einer Krankenschwester fast handgreiflich geworden. Sie behauptete damals, die Frau habe über ihr Baby gelacht. Doch nach ein paar Wochen ging es laut Manfred wieder. Gabi hat sich mit Annabelle zwar zuhause zurückgezogen, doch sie hatte sich wieder besser unter Kontrolle.

Heute ist ihr Vater der Meinung, dass Frauen sich einfach verändern, wenn sie ein Kind bekommen. Doch Annabelle bekommt bei diesem Gedanken jedes Mal ein Stechen im Brustkorb. Dafür verantwortlich zu sein, dass ihre Mutter sich so dramatisch verändert hat, macht sie traurig. Natürlich weiß sie, dass Gabi sie über alles liebt. Aber Annabelle hat auch ein schlechtes Gewissen, denn das Leben ihrer Mutter dreht sich nur noch um sie. Und irgendwie spürt sie, dass es nicht so sein sollte. Zumindest nicht mehr.

Gabi dreht ihren Kopf zu Annabelle. Auf ihrer Nase sitzt eine schwarze Brille mit dicken Rändern. Der Rahmen ist so groß, dass er ihre Wangenknochen berührt.

„Und? Wie findest du sie?“

Annabelle muss lachen.

„Nee, Mama. Die ist viel zu modern für dich. Du brauchst ein bisschen was Konservativeres.“

Gabis Mund verzieht sich.

„Zu modern? Na, ich bin doch noch keine 70.“

„Das nicht, aber solche Brillen tragen die Mädchen aus meiner Klasse. Das passt irgendwie nicht.“

Die Optikerin mischt sich ein und reicht Gabi eine schlichtere Brille. Als sie die Fassungen getauscht haben, hält sie Annabelle die Schwarze entgegen.

„Na, vielleicht probierst du sie mal auf, Annabelle. Wär doch mal was Neues.“

„Mh, ich weiß nicht. Ich brauch ja eigentlich gar keine Brille“, sagt Annabelle und schaut auf ihre Hände.

„Ach, Bella. Ist doch auch nur zum Spaß“, sagt ihre Mutter und stupst sie sanft an der Schulter an. „Dann muss ich mich nicht allein zum Deppen machen.“

Ermutigt von der gelösten Atmosphäre, greift Annabelle nach der Fassung. Sie setzt sie auf ihre Nase und schaut die Optikerin fragend an.

„Wow, die steht dir, Annabelle.“

Auch Gabi nickt. Ein breites Grinsen huscht auf ihr Gesicht.

„Das sieht wirklich toll aus.“

Annabelle schaut vorsichtig in den Spiegel. Ihr erster Blick fällt auf die dunkle Fassung der Brille. Sie fährt mit ihren Augen an den Rändern entlang, bis das Gestell auf ihre Wange trifft. Die Brille verdeckt ihr Feuermal halb hinter dem dicken Rahmen. Automatisch muss sie lächeln. Es ist wohl das erste Mal, dass sie in einen Spiegel schaut und nicht direkt auf den Fleck starrt.

„Gefällt sie dir auch? Wir können auch Fensterglas einsetzen, dann kannst du sie ohne Stärke tragen.“

Die Optikerin steht auf und ist nach einem kurzen Augenblick wieder am Tisch. Mit wenigen Handgriffen setzt sie die Gläser in die Brille und reicht sie Annabelle. Während die sich im Spiegel betrachtet, wählt Gabi noch eine andere Fassung zum Probieren aus. Als auch sie sich für ein Modell entschieden hat, fordert die Optikerin die beiden Frauen auf, nach draußen zu gehen.

„Am besten ist es, die Brille im Sonnenlicht zu testen. So könnt ihr schauen, ob euch etwas stört.“

Wie auf Kommando stürmen Gabi und Annabelle aus dem Laden. Auf dem Gehweg betrachten sie sich gegenseitig.

„Die sieht wirklich gut aus, Bella“, sagt Gabi. „Du wirkst gleich älter. Und irgendwie moderner.“ Beim letzten Wort malt sie Gänsefüßchen mit ihren Fingern in die Luft. Annabelle prustet los.

„Deine sieht aber auch gut aus, Mama. So traditionell.“ Auch sie malt Gänsefüßchen in die Luft. Beide beginnen zu lachen.

„Nein, ehrlich, Mama. Die sieht gut aus. Steht dir. Die Farbe ist toll.“

„Naja, ist ja nur zum Lesen. Aber ich finde sie auch gut.“ Sie wackelt mit den Fingern an der Fassung. „Aber irgendwie sitzt der Bügel komisch. Ich lass mir den nochmal kurz richten. Bin gleich wieder da.“

Mit zwei großen Schritten verschwindet Gabi wieder im Laden. Neugierig blickt Annabelle sich um und dreht dabei den Kopf in alle Richtungen. Die Brille drückt kein bisschen und sitzt perfekt auf ihrer Nase. Keinen Millimeter verrutscht sie. Als wäre sie genau für sie gemacht. Gerade überlegt Annabelle, ob sie sie vielleicht wirklich mitnehmen soll, da hört sie ein Lachen neben sich. Zwei Jungs stehen neben ihr. Annabelle kennt sie nur vom Sehen und weiß, dass sie auf ihre Schule gehen. Sie hat die Beiden ab und zu im Bus gesehen.

Jetzt stehen sie laut lachend ein paar Meter entfernt und versuchen ganz offensichtlich ihre Aufmerksamkeit zu wecken. Es klappt, denn Annabelle sieht sie fragend an. Sie runzelt die Stirn.

„Oh man, schau mal. Nun wird die hässliche Kuh auch noch zur Brillenschlange“, prustet der eine.

„Als sei sie nicht schon gestraft genug mit ihrem ekligen Fleck.“

„Der Augenarzt hat wirklich Humor. Verpasst ihr auch noch eine Brille, damit sie noch bescheuerter aussieht.“

Annabelles Magen verkrampft sich. Ihr wird schlagartig schlecht und ihr Hals schnürt sich zu. Sie hat das Gefühl, nicht mal der kleinste Atemzug gelingt ihr noch. Kein Molekül will sich durch ihre Luftröhre quetschen und in ihre Lungen gelangen. In ihrem Kopf dreht es sich und sie spürt, dass ihre Finger langsam taub werden. Wenn sie nicht sofort Sauerstoff bekommt, kippt sie noch um. Mit einem Fiepen saugt sie etwas Luft ein. Doch viel passt nicht durch ihren Mund, denn sie presst die Lippen fest aufeinander. Ihre Nasenflügel beginnen zu beben und sie spürt, wie ein Schluchzen in ihr aufsteigt.

Mit aller Kraft ballt sie ihre Finger zu Fäusten. Auf keinen Fall möchte sie vor diesen Typen anfangen zu weinen. Sie sind mindestens zwei Jahre jünger als sie. Das wäre ihr noch peinlicher als die ganze Beleidigung. Sie hört, dass die Beiden weiter lachen. Sie sprechen laut miteinander und pushen sich gegenseitig zu immer kreativeren Kränkungen.

Annabelle dreht sich schnell um und hastet zur Tür des Brillengeschäfts. Im gleichen Moment geht die Tür auf und ihre Mutter steht darin. Annabelle drückt sich an ihr vorbei. Gabi dreht sich sofort zu ihr um und eilt ihr nach.

„Bella-Schatz, was ist denn los?“

Annabelle reißt sich die Brille von der Nase. Dann hält sie sie vor das Gesicht der Optikerin und wedelt wild damit umher.

„Hier. Ich will sie nicht“, sagt sie unter zusammengebissenen Zähnen. Als die Verkäuferin wie versteinert sitzen bleibt, schiebt Annabelle ihren Kiefer hin und her.

„Hier.“ Jetzt legt sie die Brille unsanft auf den Tisch. Gabi tritt hinter ihre Tochter und legt ihre Hände auf Annabelles Schultern. Doch die schüttelt sie ab und wirbelt herum.

„Was?“, faucht Annabelle sie an.

Gabi tritt einen Schritt zurück. Aus großen Augen schaut sie ihre Tochter an. Dann neigt sie kaum sichtbar ihren Kopf.

„Was ist denn los, Bella?“

„Nichts. Ich will nur diese blöde Brille nicht.“ Annabelle verschränkt die Arme vor der Brust. „Können wir jetzt gehen?“

Gabi wirft der Optikerin einen verwirrten Blick zu und zieht die Schultern hoch. Dann flüstert sie eine Entschuldigung und greift nach ihrer Handtasche. Nach wenigen Augenblicken stehen die Beiden wieder auf der Straße. Sofort blickt Annabelle sich hastig nach den Jungs um, die gerade noch über sie gelästert haben. Doch niemand ist zu sehen.

Ein leiser Seufzer entfährt ihr. Gabi kneift ihre Augen zusammen und schaut Annabelle von der Seite an. Sie beobachtet ihre Tochter still. Doch statt sie noch einmal auf den plötzlichen Aufbruch anzusprechen, schlendert sie schweigend neben Annabelle her. Ihr Blick wandert vom Boden zu ihrer Tochter und wieder zurück.

Annabelle hingegen glotzt starr geradeaus. Ihr Blick verweilt auf dem Ende der Straße, hinter dessen Biegung ihr Auto parkt. Sie ist darauf fokussiert keine Miene zu verziehen, denn sie spürt die Blicke ihrer Mutter auf ihrem Gesicht. Doch es kostet sie alle Kraft ihre Gefühle zurückzuhalten. In Annabelle brodelt es. Die plötzliche Übelkeit, die durch die Beleidigung der Jungs ausgelöst wurde, verstärkt sich mit jedem Schritt. Sie muss kräftig schlucken, um sie in ihrem Körper zu halten.

Aber dafür hat sie die Tränen im Griff. Nach all den Jahren ist es eine der wenigen Reaktionen, die sie unter Kontrolle hat. Früher musste sie bei der kleinsten Anspielung auf ihr Feuermal schon heulen. Und auch in der Pubertät hat sie noch regelmäßig Weinkrämpfe bekommen, wenn sie gehänselt wurde. Doch eines Tages konnte sie es besser kontrollieren.

Annabelle kann sich noch genau an den Tag erinnern. Sie stand gerade mit Klara vor dem Supermarkt, sie waren auf dem Weg nach Hause. Da kamen ein paar Jungs aus der Parallelklasse und haben sie ausgelacht. Klara griff damals nach ihrer Hand. Sie drückte so fest zu, dass Annabelle sicher war ihre Cousine würde ihren inneren Schmerz ebenfalls spüren. In diesem Moment fühlte Annabelle sich nicht mehr allein. Sie wusste, dass es Menschen gab, die sie liebten. Denen ist es egal, wie sie aussieht. Und an dieses Gefühl der Geborgenheit versucht sie sich zu erinnern, wenn wieder einmal Tränen in ihr aufsteigen. Es kostet sie wahnsinnig viel Kraft, diese Fassade vor anderen aufrechtzuerhalten.

Nur Zuhause kann sie sie loslassen. Da heult sie dann hemmungslos in ihr Kissen. An manchen Tagen sind es so viele Tränen, dass sie den Bezug danach wechseln muss, weil er triefend nass ist. Dann greift sie manchmal zu ihrem Telefon und ruft ihre Cousine an. Klara ist die Einzige, vor der sie sich wirklich öffnen kann. Annabelles Eltern würden sich nur viel zu viele Sorgen machen, würde sie ihnen von all den Hänseleien erzählen, die sie ständig erleben muss.

Aber mit Klara kann sie offen reden. Sie verurteilt Annabelle nicht. Und mittlerweile hat sie auch aufgehört, Lösungen vorzuschlagen. Denn die will Annabelle nicht. Sie kennt die Hinweise ihrer Cousine auswendig. Annabelle solle sich von den Kommentaren nicht so runterziehen lassen, soll sie ignorieren und sich einfach wegdrehen. Doch das kann sie nicht. Selbst wenn sich Annabelle umdrehen würde, würde sie die Beleidigungen immer noch hören. Sie würde spüren, wie die Menschen sie auslachen und sich über ihr Feuermal lustig machen.

Und das Schlimmste ist: Annabelle kann sie verstehen. Sie kann nachvollziehen, warum die anderen sie so komisch anschauen. Warum sie sie auslachen und als hässlich bezeichnen. Denn das ist sie. Jeden Morgen, wenn Annabelle in den Spiegel blickt, empfindet sie Abscheu vor sich selbst. Sie hasst den roten Fleck auf ihrer Wange mittlerweile so sehr, dass sie Garnichts anderes mehr sieht. Ihre Augen, ihre Lippen und ihre Nase sind in den Hintergrund getreten, nur das Feuermal sticht hervor und lenkt all ihre Aufmerksamkeit auf sich.

Und dazu kommen dann noch all die negativen Gedanken, die sie wie in einer Spirale weiter abwärts reißen. Annabelle wünscht sich in solchen Momenten ein normales Leben. Mit Freunden, mit Spaß und mit Abenteuern. Doch sie erlebt keine Abenteuer. Sie hat nur selten Spaß und Freunde hat sie auch keine. Das letzte Mal war sie in der Grundschule bei einer Mitschülerin zum Spielen zu Besuch. Aber seit ihrer Pubertät zieht sich Annabelle so sehr zurück, dass sowieso niemand an sie rankommt. Selbst wenn jemand gewollt hätte. Und Annabelle ist sich sicher, dass eh niemand mit ihr befreundet sein will.

Erst seit Sophie nach Amelinghausen gezogen ist, hat sie wieder Hoffnung auf eine Freundschaft entwickelt. Annabelle hat sie durch Klara kennengelernt, denn die Beiden sind bereits gute Freundinnen. Und Sophie ist die Erste, die sich anscheinend nicht an Annabelles Feuermal stört. Denn sie dreht sich nicht verschämt weg und ignoriert sie, wenn sie Annabelle in der Schule sieht. Nein, Sophie grüßt sie sogar manchmal. Und seit neuestem läuft sie sogar vom Bus mit ihr nach Hause.

Das sind die Augenblicke, die Annabelle dann für Tage glücklich machen. Natürlich weiß sie, dass die Beiden sich noch gar nicht richtig kennen. Aber sie ist zuversichtlich, dass Sophie eines Tages ihre beste Freundin sein wird. So wie Klara. Das wünscht sich Annabelle am meisten.

3

Die Stecknadeln hält Annabelle mit ihren zusammengekniffenen Lippen im Mund. Ihre rechte Hand drückt den weichen Stoff an die Wand und mit der linken versucht sie diesen festzustecken. Dabei balanciert sie wackelig auf ihrem Bett hin und her. Die alten Tücher von den Wänden abzunehmen, war definitiv einfacher. Nach einer Viertelstunde waren alle ordentlich zusammengelegt in den Boxen verstaut. Nun warten sie in dem großen Schrank auf dem Dachboden auf ihren nächsten Einsatz.

Schon immer liebte sie es, Tücher in ihrem Zimmer aufzuhängen. Es gibt Annabelle das Gefühl von Sicherheit und Ruhe. Schon als kleines Kind hatte sie ein Gespür für die Materialien und musste alle Stoffe gleich anfassen. Am meisten begeistert sie, dass die Fasern ganz unterschiedliche Emotionen auslösen können. Satin, zum Beispiel, findet Annabelle zwar elegant, aber es wirkt meistens kalt und irgendwie arrogant auf sie. Seide hingegen fließt über die Haut und schmiegt sich sanft an jede Rundung.

Da Annabelles Mutter ihre Leidenschaft fördern wollte, schenkte sie ihr mit 12 Jahren eine eigene Nähmaschine. Doch jegliche Versuche eine saubere Naht hinzubekommen, scheiterten bisher. Die Hemmung zu einem Nähkurs zu gehen, war aufgrund ihres Feuermals zu groß. Doch sie wusste sich zu helfen und eignete sich Wissen und ihre Fertigkeiten über Näh-Tutorials aus dem Internet an. Mittlerweile kann sie die Maschine zwar bedienen, aber mehr als einen Saum zu nähen, bekommt sie nicht hin. Ihren Traum, als Designerin oder Schneiderin zu arbeiten, hat sie aufgegeben.

Mit den Händen in den Hüften stellt sich Annabelle vor ihre Zimmertür. Sie betrachtet das dunkelrote Tuch und legt ihren Kopf dabei schräg. Innerlich ärgert sie sich, dass sie schon wieder zu dunklen Farben gegriffen hat. Sollte sie nicht lieber etwas Luftiges, leichtes wählen, um ihre eh schon bedrückte Stimmung wegen der anstehenden Abiturfeier aufzuhellen? Ein Klopfen reißt sie aus ihren Gedanken.

„Ja?“ fragt Annabelle.

Die Tür öffnet sich langsam. Der kahle Kopf ihres Vaters schiebt sich hindurch. Als er im Türrahmen steht, wirft Manfred einen Blick in das Zimmer. Er inspiziert die Stoffe an den Wänden.

„Oh, schon wieder neue Tücher? Die sind aber duster.“

Annabelle folgt seinem Blick. Sie versucht ihr Zimmer aus den Augen ihres Vaters zu betrachten.

„Mh, ja ein bisschen vielleicht. Aber mir war irgendwie danach.“

„Solltest du nicht eigentlich fröhliche Stoffe in dein Zimmer hängen?“ fragt Manfred mit einem Grinsen im Gesicht. Als er die große Falte auf der Stirn seiner Tochter sieht, fährt er fort.

„Naja wegen der Schule. Du müsstest doch jetzt ganz glücklich sein, dass du es geschafft hast.“

„Ah“, rutscht es Annabelle heraus. Doch ihre Miene bleibt versteift. Natürlich ist ihr klar, dass sie die gleichen Gedanken vor einer Minute selber hatte. Doch sie aus dem Mund ihres Vaters zu hören, wirkt auf Annabelle wie eine Anschuldigung. Ein unausgesprochener Vorwurf, der wahrscheinlich nur in ihrem eigenen Kopf existiert und nicht wirklich in den Worten ihres Vaters mitschwingt.

„Ja klar“, antwortet sie nur kurz und wendet sich von ihm ab. Sie setzt sich auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch und klappt den Laptop auf.

„Sag mal, ich wollte dich noch etwas fragen. Hast du kurz Zeit?“

Annabelle stöhnt laut. Doch dann nickt sie und dreht sich wieder zu ihm um.

„Was gibts?“ fragt sie.

„Ich wollte später mit Karsten im Marxener Paradies spazieren gehen. Ich hab gedacht, vielleicht hast du Lust mitzukommen?“

Annabelle grummelt vor sich hin. Draußen scheint die Sonne und die Temperaturen sind mittlerweile auch angenehm gestiegen. Das Marxener Paradies und die Oldendorfer Totenstadt sind zwei von Annabelles Lieblingsplätzen im Frühsommer. Wenn die Heide blüht und die Landschaft in ein dunkles lila taucht, kann keine romantische Hollywoodkulisse mit Amelinghausen mithalten. Obwohl die Gegend von Touristen nur so überlagert wird, dämpfen die Heidesträucher und Wachholderbäume jegliche Geräusche. Und so hört man neben summenden Bienen und knackenden Ästen nur die eigenen Schritte auf den sandigen Waldwegen.

Ihr Vater weiß genau, wie gerne sie durch die benachbarten Wälder und Wiesen spaziert. Vorbei an den freigelegten Steingräbern, die der Totenstadt ihren Namen verleihen. Aber in Gesellschaft macht ihr eine Wanderung nur halb so viel Spaß. Deshalb schüttelt Annabelle sanft den Kopf. Doch bevor sie etwas sagen kann, redet ihr Vater schon weiter.

„Es wäre so schön, wenn du mitkommst. Frauke kommt auch.“

Da ist es. Da ist der Grund, warum er ihre Begleitung möchte. Frauke ist zu Besuch. Das Kind der Nachbarn, das ihren Erfolgsweg an der Uni in Münster begonnen hat. Annabelle überlegt kurz, ob Frauke mittlerweile ihren Abschluss in Betriebswirtschaft haben könnte. Doch sie weiß gar nicht, wie viele Jahre man überhaupt studieren muss.

„Weißt du, Bella, sie besucht Karsten grad. Sie hat ihren Abschluss gemacht und geht jetzt nach London zum Arbeiten. In eine Bank.“

Manfreds Augen funkeln. Als könnte er nicht stolzer sein, dass das Nachbarskind beruflich durchstartet.

„Oh, na da macht sie aber eine steile Karriere. Nach London.“

Manfred rümpft die Nase, als er den sarkastischen Tonfall seiner Tochter wahrnimmt.

„Jetzt sei doch nicht so, Bella.“

„Wie bin ich denn, Papa?“

„Naja so abwertend. Nur weil Frauke Karriere macht, ist sie doch nicht gleich anders als früher.“

„Nee, stimmt. Wahrscheinlich ist sie noch genauso doof wie früher.“

„Bella!“ sagt Manfred streng.

„Stimmt doch. Frauke war früher schon doof. Keine Ahnung, warum ich jetzt plötzlich auf best friends mit ihr machen soll.“

Annabelle verschränkt ihre Arme vor dem Bauch. Mit einem Fuß dreht sie sich auf dem Stuhl hin und her. Der Blick auf den Boden gerichtet.

„Ihr sollt ja keine Freundinnen werden. Aber ich dachte, du könntest dich mal mit ihr unterhalten. Wäre doch nett, sie wiederzusehen.“

„Nein, Papa. Das wäre überhaupt nicht nett.“ Beim letzten Wort zeichnet Annabelle mit ihren Fingern kleine Häkchen in die Luft. „Was soll das, Papa? Warum soll ich wirklich mitkommen?“

Manfred streicht sich mit der flachen Hand über den Kopf. Seine Haarstoppeln knistert leise. Danach zwängt er seine großen Hände in die Taschen seiner Jeans.

„Naja, ich dachte…“, druckst er herum, „vielleicht könntest du dich mit Frauke ein bisschen austauschen. So über Mädchensachen halt. Und über das Studium. Wäre es nicht toll, etwas über die Uni in Münster zu erfahren?“

„Echt jetzt, Papa?“ Annabelle rollt mit den Augen.

„Bella, du musst dir langsam mal überlegen, was du jetzt machen willst. Da ist es doch eine tolle Sache, dass Frauke sich anbietet dir einen Einblick in das Unileben zu geben. Sie möchte doch nur helfen. Und ich auch.“

„Aber vielleicht möchte ich gar keine Hilfe. Vor allem nicht von Frauke. Ich weiß nicht mal, was die eigentlich studiert hat“, lügt Annabelle.

„BWL“, flüstert Manfred in den Raum.

„Und warum sollte mich BWL interessieren, Papa? Ich weiß nicht mal, was das ist. Warum sollte ich das dann studieren wollen?“

„Betriebswirtschaftslehre“, sagt Manfred. Mit einem festen Schritt tritt er auf Annabelle zu. „Das ist ein bodenständiges Studium. Danach kannst du in so gut wie jedem Unternehmen anfangen. In der Bank, wie Frauke, aber auch in anderen Firmen. Bei VW in Wolfsburg zum Beispiel, oder…“

Annabelle zittert. Ihre Hände sind in die Stuhllehne gekrallt, so dass ihre Fingerkuppen weiß werden.

„Und warum sollte ich bei VW arbeiten wollen?“, fährt sie ihn an. Eine kalte, ausdruckslose Miene hat sich auf ihr Gesicht gelegt und verhüllt die tiefe Liebe, die sie sonst für ihren Vater empfindet. Selten ist sie wütend auf ihn und noch seltener brüllt sie ihn an. Sie kann sich nicht erinnern, dass sie ihn seit der Pubertät überhaupt irgendwann einmal so laut angeschrien hat wie jetzt. Aber ihre Gefühle bahnen sich ihren Weg frei und sind nicht mehr zu bremsen. All ihre Unsicherheit wandelt sich in Wut.

Natürlich wünscht sie sich, sie hätte bereits einen Plan für ihre Zukunft. Alle reden freudig über die Zeit nach dem Abitur. Welches Studium sie anfangen werden, in welche Länder sie reisen oder wo sie eine Ausbildung beginnen. Annabelle fühlt sich in solchen Momenten ziemlich allein mit ihrer Planlosigkeit.

Oft stellt sie sich dann vor, sie wäre jemand anders. Sophie zum Beispiel. Die möchte unbedingt im Tourismus arbeiten. In Annabelles Kopf wird sie dann selbst zu einer hübschen, blonden Frau in einem rosa Kostüm auf dem Weg zu einem Messestand. Hier würde Annabelle dann stehen, den Besuchern der Messe Auskunft über Reiseziele geben und selbstbewusst Fragen beantworten. Doch egal in welcher Traumwelt sie sich auch befindet, überall fühlt sich Annabelle fehl am Platz. Denn mit ihrem Feuermal könnte sie keinen der Traumberufe ausüben, da ist sie sich sicher. Einfach keine Zukunftsvorstellung der anderen passt für sie.

„Natürlich musst du nicht bei VW anfangen“, unterbricht Manfred ihre Gedanken. „Das war doch nur ein Beispiel. Mit BWL kann man so viel machen. Vielleicht hören wir uns mal an, was Frauke so erzählt.“

Die Wut auf ihren Vater und sich selbst hat Annabelle zum Schwitzen gebracht. Ihr Shirt klebt an ihrem Rücken und sie spürt wie sich ein kleiner Tropfen auf ihrem Scheitel bildet. Schnell streicht sie ihn mit einem Finger weg. Dann greift sie mit ihrer typischen Handbewegung in ihren Haaransatz und zieht die geraden braunen Haare vor ihr Gesicht. Sie liegen nun in gleichen Teilen rechts und links über ihren Wangen. Getrennt durch einen peniblen Mittelscheitel, den sie bereits seit ihrer Kindheit trägt. Denn genau so ist das rote Feuermal unter ihrem Auge kaum sichtbar. Unter den Strähnen blinzelt sie hindurch und versucht die sich langsam ausbreitende Scham auf ihren Wangen zu verbergen.

Zu Unsicherheit und Wut, gesellen sich nun allerlei Gefühle. Annabelle schämt sich ihren Vater so beschimpft zu haben. Gleichzeitig ist sie aber auch sauer auf ihn, dass er sie so in eine Ecke drängt. Sie hat doch kaum eine andere Wahl, als auf diesen blöden Spaziergang mitzugehen. Ansonsten würde sie ihren Vater ziemlich doof darstellen lassen und das könnte sie ihm nicht antun. Und trotzdem schnürt es ihren Hals zu. Sie hasst es mit anderen verglichen zu werden. Vor allem, wenn es hübsche, erfolgreiche, junge Frauen aus Amelinghausen sind, die etwas erreicht haben und ihr Leben in die Hand nehmen. Und das sind, ihrer Meinung nach, fast alle. Denn Annabelle ist bewusst, dass man mit 18 Jahren viele Träume haben sollte. Sie scheint die Einzige zu sein, die bisher keine hat.