Wenn das Leben am Tod zerbricht - Sylvia Brathuhn - E-Book

Wenn das Leben am Tod zerbricht E-Book

Sylvia Brathuhn

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Beschreibung

"Einen Menschen lieben, heißt ihm sagen, du wirst nicht sterben", heißt es bei dem französischen Philosophen Gabriel Marcel. Und dann geschieht es doch. Der geliebte Mensch, mit dem eine sinnerfüllte Wir-Welt bestand, stirbt. Unwiderruflich. Da, wo vorher Fülle und Zukunft waren, gähnen nun Leere und Abgrund. Alles, was bleibt, sind Erinnerungen, bloße Vergangenheit. Für die Zurückbleibenden ist dies in unterschiedlicher Intensität ein radikaler Einschnitt in ihr bisheriges Leben. Der erlebte Tod lässt die Ambivalenz des Lebens spüren und fordert sie auf schmerzvolle Weise zu einer Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen auf. Im bewussten Erleben der Grenzsituation erlangt die Trauernde ihr bisher ungekannte Einsichten in ihr individuelles Selbst wie auch in das Wesentliche überhaupt. Im Verlauf dieses Prozesses ist es möglich, nicht nur die zerstörerische Seite des Todes zu erfahren, sondern auch seinen konstruktiven und sinngebenden Aspekt. Dafür bedarf die oder der Trauernde des Mitmenschen. Und hier kann auch ehrenamtliche oder professionelle Trauerbegleitung ansetzen, für die dieses Buch profundes Hintergrundwissen sowohl über das Phänomen des Trauerns selbst als auch über die Not-wendenden Begleitkompetenzen zu vermittelt.

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EDITION Leidfaden

Hrsg. von Monika Müller, Petra Rechenberg-Winter, Katharina Kautzsch, Michael Clausing

 

Die Buchreihe Edition Leidfaden – Begleiten bei Krisen, Leid, Trauer ist Teil des Programmschwerpunkts »Trauerbegleitung« bei Vandenhoeck & Ruprecht, in dessen Zentrum seit 2012 die Zeitschrift »Leidfaden – Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer« steht. Die Edition bietet Grundlagen zu wichtigen Einzelthemen und Fragestellungen für Tätige in der Begleitung, Beratung und Therapie von Menschen in Krisen, Leid und Trauer.

Sylvia Brathuhn

Wenn das Leben am Tod zerbricht

Philosophisch-praktische Impulse zur Begleitung trauernder Menschen

Vandenhoeck & Ruprecht

Für Christa und Terry in großer Liebe und tiefem Respekt vor ihrem allumfassenden Verlustschmerz. Stephanie fehlt und Stephanie bleibt. Für immer!

Mit 2 Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe

(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Sylvia Brathuhn

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99392-8

Inhalt

I   Trauer-Ein-Sichten

I.1 Der Mensch als Werde-Sein

I.2 Alle Menschen sind sterblich – so auch ich und mein mir liebster Mensch

I.3 Das Band der Liebe und die Erfahrung des Todes

I.4 Der Einbruch des Todes und der Zerriss des Wir

I.5 Leben in einer Fragewelt

I.6 Wenn das Wesentliche verloren gegangen ist

I.7 Trauerarbeit: Harte innere Anstrengung – Experiment und Wagnis

II Begleitung – Methodisch-praktische Zugänge

II.1 Begegnungs- und Beziehungsraum

II.2 Trauerbegleitung: Eine dreifache Feldkompetenz

II.2.1 Rollen- und Positionskompetenz

II.2.2 Wissenskompetenz

II.2.3 Menschkompetenz

II.3 Begleitkompetenz – Sei da!

II.3.1 Situation

II.3.2 Einfühlung

II.3.3 Interesse

II.3.4 Durchhalten

II.3.5 Abschied

III WEGgeDANKEN

Literatur

 

 

»Wenn ein Seestern einen seiner Arme verliert, so wächst ihm dieser Arm wieder neu. Diese Tatsache mag uns ein Symbol dafür sein, dass am Ende des schmerzhaften Trauerweges Heilung möglich ist. Unser Seestern wird jedoch zeitlebens eine Narbe tragen. Seine Narbe ist beides: Zeichen für den Schmerz, den wir durch den Verlust eines geliebten Menschen tragen mussten, aber auch ein Zeichen dafür, dass dieser Mensch auf immer ein Teil unseres Lebens bleiben wird.«

(Leittext des »Hospice of Palm Beach County, Horizons Bereavement Center«, mit freundlicher Genehmigung der genannten Institution; übersetzt von Sylvia Brathuhn)

I Trauer-Ein-Sichten

»Ich habe keine Lehre. Ich zeige nur etwas. Ich zeige Wirklichkeit, ich zeige etwas an der Wirklichkeit, was nicht oder zu wenig gesehen worden ist. Ich nehme ihn, der mir zuhört, an der Hand und führe ihn zum Fenster. Ich stoße das Fenster auf und zeige hinaus.« (Martin Buber, 1978, S. 45)

Jeder Mensch wird im Laufe seines Lebens mit gewollten oder nicht gewollten Trennungen und Verlusten konfrontiert. Beide Erfahrnisse rufen dann Trauer hervor, wenn das Verlorengegangene eine sinnstiftende Bedeutung für das Leben des jeweiligen Menschen hatte. Trennungen gehen zwar vielfach mit der Erfahrung des Verlustes einher, können jedoch durchaus selbstbestimmt erfolgen und schon ab der frühesten Kindheit eingeübt und erlernt werden. Sie schmerzen, sie tun weh, sie sind jedoch oft genug auch begründet sowie verstehbar und werden damit handhabbar. Die Trennung durch den Tod und der damit einhergehende Verlust, den ein Mensch beim Tod eines nahestehenden, eines geliebten Menschen erfährt, ist jedoch ein existenzieller Einschnitt im Leben des Zurückbleibenden, der über die bisher beschriebenen Erfahrungen hinausgeht. Dieser Verlust hat den Charakter der »Grenzsituation«, wie sie durch den Existenzphilosophen Karl Jaspers entfaltet wird. Grenzsituationen überraschen, gleichen einem Überfall und überwältigen. Der Zurückbleibende steht diesem Erleben nicht selten ohnmächtig gegenüber. Das Verstehen ist nicht mehr gegeben, der Verstand stößt an Grenzen, versucht sich in Erklärungen, stellt Fragen und muss doch passen. Der Verlust, der durch den Tod hervorgerufen wird, beinhaltet das Nie-wieder, das Nimmermehr, den endgültigen Schlusspunkt, den der Tod hinter ein (gemeinsames) Leben setzt. Nichts kann diesem Leben mehr hinzugefügt werden. Das Leben mit dem geliebten Menschen gehört der vollendeten Vergangenheit an. Mit dem Erleben des letzten und definitiven Abschieds ist ein Gefühl von Trauer verbunden, das Teil eines jeden Menschenlebens ist und das menschliche Dasein unabhängig von Alter, Geschlecht, Glauben oder religiöser Zugehörigkeit bis in die letzten Tiefen ersucht, verändert und dabei weder nach Wohlstand, Ausbildung oder Profession fragt.

Der Terminus »Gefühl« ist hier im Scheler’schen Sinne zu verstehen, der die Trauer nicht nur als rein seelisches Gefühl kennzeichnet, sondern auch als geistiges Gefühl. Er ordnet die Trauer einerseits dem Bereich der »rein seelischen Gefühle« zu, da sie »von Hause aus eine Ichqualität« sei, die in ihrer Bewusstheit über den stumpfen Schmerz hinausragt und zum Zustand des Ich wird (Ichzuständlichkeit). In Bezug auf den trauernden Menschen ist hierbei von Bedeutung, dass die »rein seelischen Gefühle« eine mannigfach intensivierte Färbung aufweisen können: Sie können unterschiedlich »ichfern« oder »ichnah« sein. Je näher die Trauer am Ich ist, umso mehr wird der Mensch sie spüren und erleiden. Wenn Scheler formuliert, dass in echter Verzweiflung – und so auch in der Trauer – »alles Ichzuständliche wie ausgelöscht« (1954, S. 355) erscheint, dann wird deutlich, dass die Klassifizierung der Trauer als »rein seelisches Gefühl« nicht umfassend genug ist, sondern die Trauer andererseits auch im Gewand des »geistigen Gefühls« wirkt. Trauer erfüllt den zurückbleibenden Menschen gleichsam vom Kern der Person her, sie durchtönt und durchprägt das Ganze seiner Existenz und seiner Welt.

Nahezu immer stellt sich beim Verlust eines geliebten Menschen ein durchdringendes und allumfassendes Gefühlschaos ein. In welchem Maße dieses Gefühlschaos ausgeprägt ist und wie es sich ausdrückt, das wird individuell empfunden und unterschiedlich erlebt. Hieran wird bereits deutlich, dass in diesem Buch kein einheitliches Trauerempfinden postuliert werden soll. Vielmehr geht es darum, zu verstehen, dass sich einerseits grundlegende Übereinstimmungen in dem Gefühlserleben »Trauer« finden lassen und dass andererseits jeder Mensch seine eigene Trauergeschichte hat, die ihm durch seine persönliche Biografie und die je eigene Beziehung zu dem verstorbenen Menschen aufgegeben ist. Die Trennung durch den Tod versetzt die Zurückbleibende1 in einen Abgrund des Leides, in dem sie sich leer und ausgebrannt fühlt. Trauernde Menschen berichten immer wieder, dass sie angesichts der Abgründigkeit des erlittenen Verlustes den Boden unter den Füßen verloren haben, dass sie für einen Moment, für einen Augenblick, wie lang auch immer dieser dauern mag, nichts mehr haben, woran sie sich halten können, dass da nichts mehr ist, das ihnen Orientierung bietet. Das bisherige Leben zerbricht und stürzt ein. Zer-Bruch und Ein-Bruch zwingen die Zurückbleibende in eine Situation, die ihr bisheriges Welt- und Selbstverständnis im höchsten Maße erschüttert und sie – ob sie will oder nicht – dazu auffordert, sich zu bewegen, sich neu zu orientieren, den Auf-Bruch zu wagen und sich selbst sowie das eigene Leben neu- bzw. anders oder umzugestalten (vgl. Brathuhn u. Müller, 2020, S. 64 ff.).

Die in dieser Aufgabe enthaltene Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass die Hinterbliebene durch den Einbruch des Todes auf passive Weise einem Wandlungszwang ausgesetzt ist. Wie ihre Antwort auf diesen Zwang zur Wandlung ausfallen wird, ist von ihrer aktiven Reaktion abhängig. Da jedoch mit dem Tod des geliebten Menschen alle Aktivität zunächst einmal eingefroren scheint, wird hier schon deutlich, wie schwierig gerade zu Beginn des Trauerweges eine konstruktive Trauerantwort sein kann. All das, was dem trauernden Menschen bis zu diesem Zeitpunkt selbstverständlich und auch verstehbar war, wird durch den erlebten Tod infrage gestellt. Selbstverständlichkeit und Verstehbarkeit sind aufgehoben. Für die Zurückbleibende entsteht eine umfassende Unsicherheit ihrer Bestimmung, und es ist gerade diese Unsicherheit, die sie zunächst einmal lähmt. Unsicherheit kann Lähmung hervorrufen und gleichzeitig Fragen aufwerfen. Die Fragen, die sich in dieser Situation dem Menschen aufdrängen, können ihm zum Motor werden, die ihn auf eine Suchreise schicken: Wer bin ich jetzt noch? Was hat mein Leben für einen Sinn? Wo ist mein geliebter Mensch hingegangen? Wird es je wieder hell werden? Was soll das alles noch? Wie kann ich ohne ihn leben? Wer ist jetzt für mich da? Welche Bedeutung hat unsere Beziehung für mich gehabt? – Solche und viele Fragen mehr kennzeichnen die Situation der Betroffenen. Die Zurückbleibende erlebt sich selbst als Suchende, erlebt ihr Handeln als ein Ringen um Sinnerfüllung und macht sich sowohl allein als auch in der Begegnung und Begleitung mit anderen auf den Weg, sich selbst und ihr Leben – ohne den verstorbenen Menschen – wahrzunehmen, zu erkennen und anzunehmen, um so ein neues Selbst- und Weltverständnis aufzubauen und zu gestalten. Dieser Trauerweg hält sich nicht an Regeln oder Gebote, nicht an Zeitpläne oder zur Verfügung stehende Kräfte. Er entsteht mit dem Tod und will gegangen werden: Trauerschritte sind Werdeschritte.

Fassen wir das bisher Gesagte zusammen, um zu verdeutlichen, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema »Tod und Trauer« letztlich aus einem philosophisch-praktischen Kontext heraus erfolgen muss: Der Tod eines geliebten Menschen reißt die Zurückbleibende mit Gewalt aus dem bisher geführten Alltagsleben heraus, verweist auf die Brüchigkeit und Begrenztheit des eigenen Lebens und zeigt auf, wie verletzlich und endlich dieses ist. Der erlebte Tod lässt sie etwas spüren von der Ambivalenz des Lebens, der Kontingenz des Seins, der Ausgesetztheit der menschlichen Existenz. Er bringt sie in Berührung mit ihren eigenen Begrenzungen, holt ihre eigene Sterblichkeit aus der Überschattung durch den Alltag heraus, stellt sie ungefragt in eine Grenzsituation hinein und fordert sie auf schmerzvolle Weise zu einer Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen auf.

Um dieser Aufgabe nachkommen zu können, bedarf die Trauernde des Mitmenschen. Sie ist meist nicht in der Lage, den Weg der Verwirklichung eines Lebens ohne den geliebten Verstorbenen, den Weg der Verselbstung, allein, das heißt nur im Rückgang auf sich selbst, zu gehen, sondern sie braucht den Mitmenschen, um im begleiteten Gehen ihres Trauerweges Schritt für Schritt ein neues Verständnis ihrer selbst zu entwickeln, sich selbst wieder Gestalt, Kontur und Eigen-Sinn zu geben. Das Begleitungsgeschehen soll hier jedoch nicht per se auf den Vorgang der professionellen Begleitung eingeengt werden, denn »Trauerbegleitung ist nicht etwas, was ausschließlich professionellen Helfern vorbehalten bleibt – Trauerbegleitung wird für jeden Menschen in seinem Leben zu einer speziellen Beziehungsaufgabe und betrifft somit alle!« (Specht-Tomann u. Tropper, 2001, S. 239). Auch Müller und Schnegg verstehen unter Trauerbegleitung »zunächst und in erster Linie die Einbettung der Trauer in das Gemeinwesen, in den Familien- und Freundeskreis, in Nachbarschaften, Kollegengruppen, Kirchengemeinden und andere Gemeinschaften« (1997, S, 144 f.). Vor diesem Hintergrund richtet sich dieses Buch an Trauerbegleiterinnen und an dem Thema »Trauer« Interessierte.

Im Durchleben ihrer Trauer, im bewussten Erleben der Grenzsituation, erhält die Trauernde Einblicke in sich selbst, die ihr nicht nur bisher ungekannte Einsichten in ihr individuelles Selbst, sondern auch Einsichten in das Wesentliche, in ihr Menschsein überhaupt, gewähren. Indem im Verlauf dieses Prozesses nicht nur die zerstörerische Seite des Todes gesehen, sondern auch sein konstruktiver und sinngebender Aspekt betrachtet wird, kann das Phänomen »Trauer« als ein Existenzial gefasst werden, das es der Zurückbleibenden ermöglicht, »sich selbst zu erkennen« und so »die zu werden, die sie ist«. Wenn Nietzsche in »Die fröhliche Wissenschaft« (1882/1959, S. 93) postuliert: »Das Rezept gegen die ›Not‹ lautet: Not«, dann kann hier analog festgehalten werden: »Das Rezept gegen ›die Trauer‹ lautet: Trauer.« Trauer ist ein natürlicher Selbstheilungsprozess, und jeder Schritt führt ins Leben, auch wenn sich dies strecken- weise nicht so anfühlt und auch nicht so aussieht: Trauerschritte sind »Werdeschritte« und damit Lebensschritte.

Die in diesem Buch ausgeführten grundlegenden und orientierenden Gedanken zur Begleitung Trauernder sollen demnach nicht nur für den professionellen Bereich gelten, denn nur ein geringer Teil der trauernden Menschen wendet sich an professionelle Trauerbegleiterinnen. Die meisten trauernden Menschen versuchen, ihre Trauer im alltäglichen Umfeld »irgendwie« durchzustehen, und sind dabei auf die begleitende Unterstützung aus dem nahen und persönlichen Umfeld angewiesen. Deshalb wäre laut dem Psycho- und Thanatologen Joachim Wittkowski »eine routinemäßige Zuweisung von Personen mit einem akuten Verlusterlebnis zu einer Trauerberatung […] nicht nur mit Blick auf den Nutzeffekt fragwürdig, sondern sogar kontraproduktiv, wenn sich Familienangehörige und Freunde als überflüssig erleben und sich vom Trauernden zurückziehen« (2003, S. 279).

Der Untertitel dieses Buches heißt: »Philosophisch-praktische Impulse zur Begleitung trauernder Menschen«. Um wirklich nah an der Praxis zu sein, habe ich an vielen Stellen Gesprächsauszüge aus der Begleitung trauernder Menschen eingefügt, und hier insbesondere Auszüge aus den Gesprächen mit der trauernden Marla Meesters, die zwei Jahre in meiner Begleitung war, und der trauernden Mutter Anna Kalweit, die ebenfalls fast zwei Jahre von mir begleitet wurde. Einige Gespräche wurden aufgenommen und in Teilen transkribiert. Die Namen sind aus Datenschutzgründen verändert. Die Gefühle, Gedanken, Worte und Reaktionen der Betroffenen sind jedoch unverändert und werden im Verlauf des Buches immer wieder herangezogen, um theoretische Gedanken und praktisches Erleben in Einklang zu bringen. Eine Theorie ist dann gut, wenn sie sich an der Praxis bewährt und diese befruchtet. Die Erfahrungen der hier zitierten Menschen sollen sozusagen als Verstehensfolie das Erleben von trauernden Menschen abbilden, um die daraus folgenden Überlegungen zur Begleitung Trauernder nachvollziehbar zu machen: »Das Individuelle erleuchtet das Universelle« (Landsberg, 2009, S. 55). So gilt die Trauer von Marla Meesters ihrem Ehemann und die von Anna Kalweit ihrer Tochter. An den Trauererfahrungen der beiden Frauen können entscheidende Einsichten in das Thema »Trauer« gewonnen werden, die auch dann ihre Gültigkeit haben, wenn ein Mensch um seinen Freund, Bruder, seine Mutter, Schwester, seinen Vater, Sohn, seine Tante oder einen anderen von ihm geliebten Menschen trauert. Jede dieser Trauererfahrungen wird individuelle Eigenheiten haben, und doch gibt es grundlegende Gemeinsamkeiten, die hier dargestellt werden.

Marla Meesters ist 54 Jahre alt, als ihr Mann an einem Prostatakarzinom erkrankt. Das Ehepaar ist seit 31 Jahren verheiratet, die Ehe ist kinderlos geblieben. Marla Meesters ist Grundschullehrerin und lässt sich im letzten Jahr der Erkrankung ihres Mannes beurlauben. Als ihr Mann stirbt, ist sie 57 Jahre alt.

»Wir haben drei Jahre mit der Erkrankung gelebt und gerungen und gekämpft und am Ende doch verloren. Mit seinem Tod hat sich alles verändert. Kein Stein steht mehr auf dem anderen. Wie kann und soll ich jemals aus diesem Zusammenbruch von allem, was mir wichtig war, wieder herausfinden? Ich sehe keinen Weg. Nur Ödnis, Schatten und eine grenzenlose Fremdheit. Mein Leben ist mit ihm gestorben.« (Marla Meesters)

Es findet hier ein Verlust von Weltbezug, eine Negation von Welt statt, die bildlich gesprochen darin zum Ausdruck kommt, dass die Zurückbleibende nur auf Bruchstücke und Fragmente zurückschaut, nur Wege sieht, die ins Leere laufen und darauf verweisen, dass die Welt – ihre Welt – fremd, arm und leer geworden ist. Bei Freud heißt es: »In der Trauer ist die Welt arm und leer geworden« (1991a, S. 431). Ihre gegenwärtige Welt entbehrt jeglicher Geborgenheit und Vertrautheit mit der Folge von Fremdheit und Einsamkeit. Es gibt nicht mehr »unsere« Welt, es gibt nicht mehr »meine« Welt: Mit dem geliebten Menschen »stirbt auch die Welt, die mit ihm verbunden war, und ist nicht zuletzt auch der Trauernde der Welt und sich selber gestorben. Er ist tot für die Welt, wie die Welt für ihn gestorben ist« (Spiegel, 1981, S. 98). Mit dem Verstorbenen scheint Vergangenheit entschwunden, Gegenwart nicht mehr lebbar, die eigene Zukunft mit ihren Perspektivmöglichkeiten – wie ein schwarzes Loch – unvorstellbar geworden zu sein.

I.1 Der Mensch als Werde-Sein

Wenn wir einen trauernden Menschen in seinem Verlusterleben gut und aufrichtig begleiten wollen, kommen wir nicht darum herum, den Menschen an sich in seinem Menschsein in den Blick zu nehmen. Immanuel Kant hat in seiner »Kritik der reinen Vernunft« (1781) einst die grundlegende Frage gestellt: »Was ist der Mensch?« Kant stellte diese Frage nicht nur als Philosoph, sondern auch als Mensch. Es ist eine Frage, die darum ringt, den Menschen – und so auch sich selbst – in seiner besonderen Seinsweise zu verstehen. Diese Frage initiiert einen Weg des Verstehens, der es dem Begleitenden ermöglicht, sich der Verlust- und Lebenssituation eines trauernden Menschen anzunähern bzw. sich annähernd in die Lage eines trauernden Menschen zu versetzen, um mit ihm angemessene Begleitschritte zu gehen. Gehen wir also zunächst dieser Frage nach.

Was (oder wer) ist der Mensch? Kant selbst gibt zur Antwort, dass der Mensch als Individuum ein frei handelndes Wesen ist, befähigt, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, um seine Lebenssituation da, wo nötig, zu verändern. Der Mensch ist qua seines Menschseins nicht dazu verurteilt, in einer für ihn unglücklichen Lage auszuharren. Dies scheint mit Blick auf einen trauernden Menschen ein wichtiger Gedanke. Kein Trauernder muss in der Situation bleiben, in die ihn der Tod eines geliebten Menschen gestoßen hat. Er ist grundsätzlich in der Lage, diese unglückliche Situation zu verändern. Was dies im Einzelnen bedeutet, was der Mensch dafür braucht, welche Herausforderungen auf ihn warten, wird im Verlauf dieser Schrift ausgeführt.

Im Laufe der Jahrhunderte haben viele Philosophen sich mit der Frage beschäftigt, wer oder was der Mensch sei, und auf diese Frage erhellende Antworten gesucht. Eine mögliche Antwort auf die kantianische Frage »Was ist der Mensch?« wurde fast 200 Jahre später durch den Philosophen Paul Ludwig Landsberg formuliert. Nach Landsberg ist »der Mensch ein Werde-Sein« (1934, S. 74 ff.). Was genau bedeutet das? Wie ist der Mensch vor dem Hintergrund der Landsberg’schen Aussage zu verstehen? Im Verständnis von Landsberg wird das Werde-Sein des Menschen durch die innere Erfahrung erfasst und ist »absolute, teillose Ganzheit« (1934, S. 196). Das Werden des Menschen und sein Sein gehören für Landsberg zur Wesenswirklichkeit des Menschen. Der Mensch entwickelt sich in der Weise, dass sein Wesen sich verändert und grundlegend dasselbe bleibt. Insofern darf das Werden nicht nur rein faktisch verstanden werden, dann wäre die Entwicklungsidee nicht mehr als eine »triviale und unfruchtbare Feststellung, dass die Dinge nicht so bleiben, wie sie sind« (Landsberg, 1934, S. 123).

Es sei an dieser Stelle eine lebenspraktische Interpretation erlaubt, da diese für das Verstehen des Menschen schlechthin wie auch insbesondere für das Verstehen eines trauernden Menschen hilfreich erscheint. Gekürzt ausgedrückt bedeutet es, dass der Mensch gleichzeitig wird und ist. Er ist Entfaltung und Aufenthalt in einem. Landsberg versteht den Menschen in seiner lebensgeschichtlichen Entwicklung zwischen zwei Polen pendelnd und oszillierend eingespannt: dem Werden und dem Sein. Auf der Werde-Seite ist er in Bewegung, in Entwicklung, er sehnt sich nach Freiheit, Entfaltung, und er ist getrieben von der Suche nach Glück. Auf der Sein(s)-Seite ist er ein Wesen, das gekennzeichnet ist durch die Bestrebungen, (sich) zu bewahren, sich zu halten und Wurzeln zu schlagen. Die Seins-Seite des Menschen sehnt sich nach Stabilität, Halt, Sicherheit, Orientierung und ist auf der Suche nach Gewissheiten, nach der Wahrheit. Der Mensch ist folglich unterwegs zwischen Selbsterhaltung und Selbststeigerung (vgl. Zwierlein, 2013, S. 23).

Die Lebensreise des Menschen ist demnach von einer beständigen Suchbewegung gekennzeichnet, die sich jedoch zu Lebzeiten nie letztgültig erfüllt, sondern auf alle Fragen immer nur provisorische, vorübergehende Antworten finden kann. Beflügelt oder abgebremst von den ausgehenden Impulsen seiner beiden Achsenendpunkte erwandert sich der Mensch als Homo viator, als ein Reisender (Marcel, 1949) seine in oszillierenden Bewegungen entstehende Lebenslinie, die sich mit jedem seiner Schritte, ausgehend von seiner Geburt auf den unbestimmten Zeitpunkt des Todes hingehend, entfaltet und auf der er seinen individuellen Lebensraum ausdeutet. Je nach Wesensart und je nachdem, was (und wer) ihm in dieser Welt begegnet und was (und wer) ihn prägt, sind diese beiden Pole in ihrer lebensbestimmenden Impulsgebung unterschiedlich stark ausgeprägt. Wenn einer der beiden Pole sehr hervorstechend und richtungsbestimmend ist, so käme dies auf der Seite des Werdens in Form von Fanatismus oder Prozessualismus zum Ausdruck. Auf der Seite des Seins könnte sich die am Extremen orientierte Lebensform im Gewand des ontologischen Fixismus zeigen bzw. des moralischen Zynismus – als Sein ohne Sinn. Das heißt, wenn einer dieser beiden Momente in der Lebensführung übertrieben wird, verliert der Mensch seine empfundene, gedachte Mitte, er gerät aus der Balance und droht, sich in seinem Werdeprozess zu verfehlen.

Die lebensgeschichtliche Aufgabe eines jeden Menschen ist es, zwischen diesen beiden Polen sein Leben, sein Werde-Sein, in einer gesunden Art und Weise zu gestalten. Natürlich ist es nicht dauerhaft möglich, in einer sogenannten ausbalancierten Mitte zu leben. Was jedoch möglich ist: sich immer wieder neu auszurichten und in eine Art Gleichgewicht zu bringen – zumindest für den Moment. Hierfür sind Aufmerksamkeit, Wachheit, Achtsamkeit, Reflexionsfähigkeit, Bewusstheit für die eigene Lebensführung und durchaus auch Feedback von anderen Menschen notwendig.

»Bevor mein Mann starb, war mein Leben in Ordnung. Wir waren beide berufstätig. Wir lebten finanziell zwar nicht auf einem superhohen Niveau, jedoch ein schöner Urlaub, ein-, zweimal im Monat essen gehen, den Nichten und Neffen was schenken und auch kulturellen Unternehmungen nachgehen waren ohne Schwierigkeiten drin. Für mich war es immer wichtig, dass wir