Wenn der Dom schläft - Katrin Scheiding - E-Book

Wenn der Dom schläft E-Book

Katrin Scheiding

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Beschreibung

Im Dom wird Großartiges erwartet: Ein weiteres beeindruckendes Kirchenfenster mit Totentanz-Motiven ist fertiggestellt worden. Besonders der Novize Johannes kann es kaum erwarten, üben die Kunstwerke doch eine besondere Anziehungskraft auf ihn aus. Als jedoch plötzlich Menschen im Städtchen verschwinden, gerät Johannes' Welt aus den Fugen. Düstere Ahnungen treiben ihn an herauszufinden, welche finsteren Mächte in den tiefen Katakomben des Domes am Werk sind.

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Für meine Reisegefährten, mit denen ich hoffentlich noch viele besondere Orte entdecken werde.

Inhaltsverzeichnis

Prolog – Sommer 2015

Anno 1512

Sommer 2015

Anno 1512

Sommer 2015

Epilog – Heute

Prolog – Sommer 2015

„Zu Ihrer Linken sehen Sie die berühmten Kirchenfenster unseres Doms, die geschätzt aus dem frühen 16. Jahrhundert stammen“, dozierte der Fremdenführer, ein langhaariger Jungspund, vermutlich Student der Kulturwissenschaften oder Kunstgeschichte der hiesigen Universität. „Zum Urheber der kunstvollen Mosaikfenster ist leider nichts überliefert. In der Chronik der Benediktinerabtei, die in früheren Zeiten an den Dom angeschlossen war, ist so gut wie nichts notiert. Ein gewisser Novize Johannes schrieb einige rätselhafte Notizen, die als ungeordnete Loseblattsammlung zur Chronik der Abtei hinzugefügt wurden, die mit der Entstehung der Fenster im Zusammenhang stehen könnten. Die Wissenschaft ist sich aber nicht schlüssig, ob diese Aufzeichnungen irgendeine Relevanz aufweisen. Sie sind im Jahr 1980 bei Renovierungsarbeiten in einem Versteck hinter einem losen Stein in der Wand gefunden worden, wurden zwar wissenschaftlich ausgewertet, jedoch ohne zu stichhaltigen Ergebnissen zu führen. Wenn Sie mich fragen, zeugen sie eher von einem verwirrten Geist. Sie wissen sicherlich, dass Aberglaube und Angst vor Ketzerei in der frühen Neuzeit weit verbreitet waren. Völlig normale Vorkommnisse wurden auf diese Weise überhöht und fälschlicherweise als Zauberei oder schwarze Magie angesehen. Aber ich schweife ab. Jedenfalls berichtet der junge Mann in mehr als kryptischen Zeilen etwas über diese Fenster. Und in diesem Zusammenhang fällt die Jahreszahl 1512, die man eventuell als Entstehungsdatum annehmen kann.“

Julia zückte ihre Handykamera. Irgendwie fand sie die Mosaike faszinierend. Klassische Totentanzdarstellung, so viel erkannte sie auch als Laiin. Da war der Tod mit seiner Sense und dem Stundenglas im Tanz mit seinen menschlichen Opfern zu sehen. Mit Edelfrau, Tagelöhner, Priester, Bauer, Greis, Kind … Ein makabrer Reigen durch alle Schichten hindurch, wie Julia es aus Bildbänden kannte. Aber irgendwas war da noch. Sie wusste es nicht zu fassen – die Perspektive? Die Farben, die im Gegenlicht leuchteten? Oder was ganz anderes?

„Sie dürfen gern fotografieren, aber bitte schalten Sie den Blitz aus“, kam die Stimme des Fremdenführers in Richtung der klickenden Kameras. Julia machte mit ihrem Handy ein paar Selfies vor den Fenstern. Vielleicht zu Hause, bei einem guten Glas Wein, würde sie entdecken können, was an den Kirchenfenstern so besonders war.

„Wenn Sie mir bitte folgen wollen, wir besichtigen zum Schluss noch die Krypta.“ Wie eine Schafherde ihrem Hirten folgte die Touristentruppe dem Jüngling Richtung Kellerabgang, während die nächste Führung folgte, diesmal eine Gruppe Amerikaner, die mit andächtigschrillen Bekenntnissen wie „My dear, isn’t it looovely?“ oder „Oh my god, I love it, it’s sooo special“ ihr Entzücken kundtat.

Julia wandte sich ab und stieg die steile Treppe in die Katakomben hinunter. Muffige Kellerluft schlug ihr entgegen. Etwas in ihrem Rücken ließ ihre Härchen im Nacken zu Berge stehen. War das der kühle Luftzug, der aus dem Keller nach oben drang? Oder folgten ihr die Blicke der Totentänzer?

Anno 1512

Johannes hatte als Novize die undankbare Aufgabe, morgens noch vor der Laudes den Dom auf den Tag vorzubereiten. Dazu gehörten für den Jungen die profanen Aufgaben wie kehren, Wachsflecken entfernen und das Abstauben der Beichtstühle, eine ermüdende Tätigkeit, vor allem zu nachtschlafender Zeit, wenn seine Fratres noch im Reich der Träume weilen durften. Aber auch das Entzünden der Kerzen zählte zu Johannes’ Morgendienst, was für ihn stets eine besondere Aufgabe war, fast schon meditativ. Er liebte es, mit der langen Anzündekerze durch den finsteren Dom zu gehen, nur vom Licht der Kerze geleitet. Nach und nach wich die Finsternis und warmer Kerzenschein breitete sich aus.

So auch heute. Besonders die Kerzen an den Außensäulen des Domes mochte er. Diese verliehen den Wänden zwischen den prachtvollen Mosaikfenstern einen besonderen Glanz, der von den blank polierten Glasteilen reflektiert wurde und ein wundersames Farbenspiel erzeugte. Frühmorgens war dieses bunte Licht etwas ganz Besonderes. Draußen graute der Morgen, das Licht stieg im Osten empor, reichte aber noch nicht ganz, um den wunderbaren Fenstermosaiken ihre Kraft zu verleihen. Dafür flackerten die Kerzen und warfen immer wieder neues Licht auf die kunstvollen Glassteinchen, während sie andere in Schatten tauchten. In diesem Zwielicht gönnte sich Johannes gern eine kleine Pause. Andächtig betrachtete er die Fenster, die vom fahlen Licht des erwachenden Morgens langsam geweckt wurden. Wahre Kunstwerke, wie er fand. Zu gern hätte er dem Glasbaumeister einmal zugesehen, aber für ihn und die anderen Brüder war die Werkstatt versperrt. Irgendwo unten in den Katakomben hatte sich der Meister eine Künstlerklause eingerichtet und baute seine Werke. Erst, wenn in unregelmäßigen Abständen eines fertiggestellt und es in ein freies Fenster eingebaut worden war, konnten Johannes und alle anderen Gläubigen es betrachten, wenn es in einer kleinen, aber sehr feierlichen Zeremonie vom Abt enthüllt wurde. Nur der Meister war nie anwesend. Oder vielleicht doch, und Johannes erkannte ihn einfach nur nicht – seines Wissens hatten ihn die Brüder des Klosters noch nie zu Gesicht bekommen.

Viele Plätze für weitere Mosaikfenster waren nicht mehr frei, wie Johannes mit Bedauern abzählte. Mit Pergament waren noch vier Fenster provisorisch abgedichtet. Ein wenig kam es Johannes wie Blasphemie vor, dass er ausgerechnet diese Fenster im Gotteshaus so sehr mochte. Waren doch noch zahlreiche andere Kunstwerke vorhanden, allesamt von bester Beschaffenheit zum Lob des Herrn: Heiligendarstellungen, Bilder der Evangelisten, natürlich die Muttergottes. Aber ausgerechnet diese Fenster – der Totentanz. Nicht der Herrgott oder der Herr und Heiland Jesus Christus standen im Mittelpunkt, nein, es war Gevatter Tod mit Sense und Stundenglas, der seine makabren Späße mit den armen verdammten Seelen trieb. Aber Johannes meinte zu erkennen, wie im flackernden Licht der Kerzen die Gesichter mehr waren als bloße Darstellungen der Menschen, die mit dem Tod einen Reigen tanzten. Wahrscheinlich lag es an der spärlichen Beleuchtung und an den Spielen des Kerzenlichts, aber für Johannes sah es fast so aus, als würden die Darstellungen leben.

Wie ertappt blickte er sich bei dem Gedanken um. Welch ein ketzerischer Gedanke! Der Herrgott allein war in der Lage, durch seinen Odem Leben einzuhauchen. Rasch bekreuzigte sich der Novize. Ein Ave Maria murmelnd wandte er sich ab. Was das Zwielicht im einsamen Dom ihm für Hirngespinste einflößte! Aber doch ... Es war ihm, als folgten ihm verstohlene Blicke, als er sich in Richtung des Klosters entfernte.

Ein Raunen ging durch die Menge, als die Orgel bei der feierlichen Messe brausend zum Schlussakkord kam. An diesem Sonntag sollte ein neues Fenster enthüllt werden. Voller Spannung betrachtete die Gemeinde das bislang noch verhängte Fenster, das eine weitere Szene des Totentanzes enthalten sollte. Wahrlich makaber, das Ganze. Aber ein gewisser Reiz ging von den Darstellungen aus. Und für das einfache Volk war es manchmal auch ein köstlicher Spaß mitanzusehen, dass nicht nur sie, die Armen und vom Schicksal Geschundenen, dereinst zur Beute des Sensenmannes werden sollten, sondern auch die Großen und Mächtigen. Nicht nur ein Bettler war bereits in einer Szene beim Tanz mit dem Tod verewigt, sondern auch ein Reicher, ein Priester und sogar eine Edelfrau. Die Spannung war zum Greifen: Wer würde im neuen Kirchenfenster vom Tod zum Tanz geführt?

Der Abt trat vor. „Es ist mir eine besondere Freude, heute der Gemeinde unseres Domes das neueste Kirchfenster von Meister Megol zeigen zu dürfen. Man darf sagen, Meister Megol hat sich wieder einmal selbst übertroffen. Bitte!“ Mit diesen Worten zog der Abt an der Vorhangkordel, der schwere Samt glitt zur Seite und gab den Blick frei auf die neueste makabre Szene: Der Tod und die Jungfrau.

Ein hübsches blondes Mädchen, Hand in Hand mit dem grausamen Gevatter. Lächelnd wandte sie ihr Gesicht zu ihrem Tanzpartner, neigte sich ihm beinahe verliebt zu. Glänzend wanden sich die Locken über ihre Schultern, doch zeigten ihre Augen keine Fröhlichkeit. Höllenqualen waren darin zu lesen, die in makabrem Gegensatz zu ihrem strahlenden Lächeln standen. Und der Tod? Galant reichte der dem Mädchen seine knochige Hand, die andere legte er um ihre schmale Taille und schien die junge Schönheit an sich zu ziehen. War es Gier im Blick aus seinen leeren Augenhöhlen? Unverhohlene Geilheit in seinem zahnlosen Lächeln?

„Meine Anna!“ Ein gellender Schrei zerriss die atemlose Stille. Eine dicke Frau drängte nach vorn, direkt unter das Mosaik. „Anna!“, schrie sie erneut, bevor sie zusammenbrach. „Hulda, mach keinen Unfug.“ Ein Bauer eilte an die Seite seiner Frau und tätschelte ihr das Gesicht. „Komm zu dir, das ist nicht Anna. Anna ist tot.“

Johannes, der das Geschehen aus dem Hintergrund beobachtet hatte (seine Aufgabe war es, zur rechten Zeit mit dem Kollektenbeutel am Portal zu warten), erinnerte sich an den Vorfall. Ein junges Mädchen war vor kurzer Zeit zu Tode gekommen. Anna. Ein nicht hässliches, aber ziemlich nichtssagendes, einfältiges Ding. Es musste schrecklich für die gute Hulda gewesen sein. Sie war es, die ihre tote Tochter aus dem Mühlengraben gezogen hatte. Anna war eines Sonntags nicht wieder zu Hause angekommen. Auch Johannes hatte sich an der Suche beteiligt, ihm war die Aufgabe zugewiesen worden, die Wiesen und Felder rund um die Abtei abzusuchen. Man wusste noch, wo Anna in der Messe ihren Platz hatte, dann schien sie aber wie vom Erdboden verschluckt. Und erst einige Tage später fand man sie tot im Mühlengraben.

Gestützt von ihrem Mann verließ Hulda weinend den Dom, und auch die Gemeinde zerstreute sich nach und nach. Rasch trat Johannes an seinen Platz am Portal und nahm den Obolus für den Klingelbeutel in Empfang. Doch er war nicht bei der Sache. Während er geistesabwesend einige Segensformeln für die Gaben murmelte, betrachtete er das neue Fenster. Es war der Blick. Der Blick des Mädchens. Annas Blick? Der Blick schien zu schreien, schien ungeahnte Qualen herauszubrüllen, in seiner unhörbaren Ohnmacht. So lebendig – nein, tot – nicht von dieser Welt. Johannes spürte den Blick des Bildes gleichsam auf seiner Haut. Er brannte sich in sein Bewusstsein, tief in seine Seele wie ein lautloser Hilfeschrei.

Die Messe war heute voll gewesen. Das lag sicher daran, dass die Enthüllung des vorigen Kirchenfensters, „Der Tod und die Jungfrau“, mittlerweile Monate zurücklag und die Gemeinde mit Spannung darauf wartete, wann der Abt das neue Fenster ankündigte. Jedoch war noch nichts davon zu hören, wie Meister Megol in seiner Werkstatt vorankam und wann mit einem neuen Werk zu rechnen wäre.