Wenn der Mensch, den du liebst, depressiv ist - Laura Epstein Rosen - E-Book

Wenn der Mensch, den du liebst, depressiv ist E-Book

Laura Epstein Rosen

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Als Psychotherapeuten und Lehrende in der Psychotherapieausbildung haben die beiden Autoren immer wieder beobachtet, wie stark sich eine Depression auf diejenigen Menschen auswirkt, die einer depressiven Person nahestehen. Meist machen sich diese Freunde oder Angehörigen Sorgen und haben Fragen, die die Symptome oder die Behandlung der Depression betreffen. Oft genug wollen sie aber auch wissen, wie sie selbst damit umgehen und die Belastung der Beziehung bewältigen können. In diesem Buch stellen Rosen und Amador dazu Strategien vor, zeigen Handlungsoptionen und machen Mut, sich die Hilfe zu holen, die gebraucht wird – nicht nur für den depressiven Menschen, sondern auch für sich selbst.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 517

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Laura Epstein Rosen • Xavier F. Amador

Wenn der Mensch, den du liebst, depressiv ist

Wie man Angehörigen oder Freunden hilft

Aus dem Englischen von Olga Rinne

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Als Psychotherapeuten und Lehrende in der Psychotherapieausbildung haben die beiden Autoren immer wieder beobachtet, wie stark sich eine Depression auf diejenigen Menschen auswirkt, die einer depressiven Person nahestehen. Meist machen sich diese Freunde oder Angehörigen Sorgen und haben Fragen, die die Symptome oder die Behandlung der Depression betreffen. Oft genug wollen sie aber auch wissen, wie sie selbst damit umgehen und die Belastung der Beziehung bewältigen können. In diesem Buch stellen Rosen und Amador dazu Strategien vor, zeigen Handlungsoptionen und machen Mut, sich die Hilfe zu holen, die gebraucht wird – nicht nur für den depressiven Menschen, sondern auch für sich selbst.

Über Laura Epstein Rosen • Xavier F. Amador

Dr. Laura Epstein Rosen ist Familientherapeutin und klinische Psychologin. Sie hat sich auf die Behandlung von Depressionen und Beziehungsproblemen spezialisiert.

 

Dr. Xavier Francisco Amador ist Gastprofessor für Psychologie an der State University of New York. Über zwei Jahrzehnte lang war er Professor für Psychiatrie und klinische Psychologie an der Columbia University und Professor für Psychologie an der New York University.

Für meine Eltern Ellen und Leonard Epstein Ihr gabt mir Neugier, Liebe und Gemeinschaftsgeist mit.

Ihr lehrtet mich, was Familie wirklich bedeutet.

L.E.R.

 

Für Maria Christina Bielefeld und Aniceto Amadon, die mir ein neues Leben gaben.

Für Bernard F. Bielefeld und Richard Eichler, die mir neue Wege zeigten, es zu leben.

X.F.A.

Vorwort

Die Idee zu diesem Buch war in vieler Hinsicht die unvermeidliche Folge unserer Arbeit als Psychologen mit engen Freunden und Verwandten depressiver Menschen. Als Psychotherapeuten und Lehrende in der Psychotherapieausbildung haben wir immer wieder beobachtet, wie stark sich eine Depression auch auf diejenigen Menschen auswirkt, die einer depressiven Person nahestehen. Aus unterschiedlichsten Gründen wurden wir von Freunden oder Verwandten depressiver Patienten, mit denen wir psychotherapeutisch arbeiteten, um ein Gespräch gebeten. Meistens haben diese Freunde oder Angehörigen Fragen, die die Krankheit des von ihnen geliebten Menschen oder die Behandlung betreffen, aber sie machen sich unweigerlich auch Gedanken darüber, wie sie am besten mit ihm oder ihr umgehen sollten. «Soll ich sie aufmuntern?» fragen sie, «oder soll ich sie in Ruhe lassen?» «Ich möchte ihm sagen, wie ärgerlich ich bin, aber ich wage es nicht, weil er sich so schlecht fühlt», oder: «Warum erzählt sie mir nicht, was sie in der Therapie macht? Ich fühle mich ausgeschlossen.»

Durch unsere Arbeit mit Paaren und Familien wurde uns bewußt, daß die Freunde und Verwandten depressiver Menschen nicht nur Fragen haben, sondern daß sich die Depression des anderen auch auf sie selbst negativ auswirkt und ihre Beziehung zu der betroffenen Person stark belastet. Neuere Untersuchungen zu diesem Thema bestätigen unsere Praxiserfahrungen. Wir hätten ein Buch über Depression und die von Freunden und Angehörigen am häufigsten gestellten Fragen schreiben können, aber damit wären wir dem, was wir von unseren Klienten gelernt haben, nicht gerecht geworden. In diesem Buch geht es weniger um die Depression selbst als um die Frage, wie Depressionen Beziehungen beeinflussen. Es soll Ihnen helfen zu erkennen, in welcher Weise Depressionen Sie, Ihren geliebten Menschen und Ihre Beziehung zu ihm oder ihr beeinträchtigen. Unser Ziel ist, Ihnen Strategien zu vermitteln, mit deren Hilfe sie vielen dieser Beeinträchtigungen entgegenwirken können. Wie Sie sehen werden, kann eine Depression sich verschlimmern, wenn man ihre toxische Wirkung auf Beziehungen ignoriert, mit der Folge, daß Sie und Ihre Beziehung für andere Probleme anfälliger werden. Die Forschung hat zum Beispiel gezeigt, daß eine Depression sich verstärkt, wenn es in den Beziehungen der depressiven Person Spannungen gibt, daß die Menschen, die der depressiven Person am nächsten stehen, selbst für diverse Störungen anfälliger werden, und daß die Scheidungsrate bei Ehen, in denen einer der Partner depressiv ist, neunmal höher liegt als der statistische Durchschnitt.

Nun die gute Nachricht: Sie und Ihr depressiver Partner, Freund oder Angehöriger können gemeinsam einiges dazutun, um die Genesung zu beschleunigen und um die Belastung durch eine Depression für sich selbst und Ihre Beziehung zu verringern.

Wir informieren Sie über Depression, ihre Behandlung und die Hilfsangebote, die zur Verfügung stehen. Außerdem führen wir Beispiele für verbreitete Beziehungsprobleme an, die auftreten, wenn ein Mensch, der Ihnen nahesteht, depressiv ist. Viele dieser Themen sind Ihnen vielleicht bereits vertraut; andere stellen Problemfelder dar, mit denen Sie möglicherweise in Zukunft konfrontiert sein werden. Sie werden erfahren, welche Reaktionen und Gefühle der enge Kontakt mit einem depressiven Menschen gewöhnlich hervorruft, und wie Sie es vermeiden können, in die Sackgassen hineinzugeraten, die für Beziehungen mit Depressiven charakteristisch sind. Jedes Kapitel demonstriert Schritt für Schritt, wie Sie den negativen Auswirkungen der Depression auf Ihre Beziehung, Sie selbst und Ihren geliebten Menschen entgegenarbeiten können.

Im ersten Kapitel zeigen wir anhand von Fallbeispielen und Forschungsergebnissen, wie eine Depression Sie selbst, den anderen und Ihre Beziehung beeinflußt. Wir beschreiben die Stadien, durch die alle Beziehungen im Anpassungsprozeß an eine Depression gehen, und umreißen die Hilfsstrategien, die wir in der Folge im einzelnen darstellen werden. Im zweiten Kapitel erfahren Sie, wie Sie feststellen können, ob der Mensch, dem Sie nahestehen, depressiv ist, und wie Sie Ihre Beziehung als Barometer benutzen können, um eine Depression zu entdecken. Die Kapitel drei bis sechs gehen auf die unterschiedlichen Arten von Beziehungen ein und beschreiben Varianten, die sich ergeben, wenn es sich bei der depressiven Person zum Beispiel um einen Ehe- oder Liebespartner, ein Kind, ein Elternteil, einen Freund oder eine Freundin handelt. Aber unabhängig von dem Platz, den der depressive Mensch in Ihrem Leben einnimmt, möchten wir Ihnen dringend nahelegen, alle Kapitel zu lesen. Obwohl in diesen unterschiedlichen Szenarien ganz spezielle Probleme auftreten, sind die Strategien, die in jedem Kapitel präsentiert werden, grundsätzlich auch für Ihre Situation relevant. In den Kapiteln sieben bis neun werden Sie lernen, wie Sie mit einem depressiven Mann beziehungsweise einer depressiven Frau am effektivsten kommunizieren können, was Sie tun sollten, um die Befriedigung Ihrer eigenen Bedürfnisse sicherzustellen, und welche Möglichkeiten Ihnen offenstehen, wenn der andere Ihre Hilfe zurückweist. Das zehnte Kapitel schildert die besondere Situation, wenn eine Depression mit Drogenmißbrauch gepaart ist, und was Sie unter diesen Umständen tun können; und das elfte Kapitel gibt Ihnen Hilfestellung für den Fall, daß der Mensch, der Ihnen nahesteht, suizidal ist. In den letzten drei Kapiteln werden die verschiedenen Behandlungsformen diskutiert, die für depressive Störungen zur Verfügung stehen. Diese Kapitel können Ihnen auch helfen, Ihre eigenen Probleme mit der Behandlung, die der andere erhält, zu bewältigen und mit Ihren eigenen Reaktionen und Gefühlen umzugehen. Darüber hinaus: Wenn ein Mensch, der Ihnen nahesteht, depressiv ist und sich weigert, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, finden Sie hier guten Rat, wie Sie ihn ermutigen können, sich die Hilfe zu holen, die er braucht. Das letzte Kapitel informiert Sie auch darüber, wie Sie selbst Unterstützung finden können.

Ganz gleich, in welcher Beziehung Sie zu der depressiven Person stehen – ob Sie sich als Tochter durch die Depression Ihrer alten Mutter überlastet fühlen, ob Sie sich als Vater um ihren verschlossenen, depressiven Sohn sorgen, ob Sie es als Freundin nicht mehr ertragen, sich immer nur Klagen und Probleme anhören zu müssen, oder ob Sie als Ehepartner darüber verzweifeln, Ihrer Frau oder Ihrem Mann nicht helfen zu können – Sie werden erfahren, daß Sie mit Ihren Gefühlen nicht allein dastehen. Wichtiger noch: Sie werden lernen, die Depression des anderen zu verstehen, besser mit ihr umzugehen und können es so vermeiden, daß Ihre Beziehung diesem Krankheitsbild aus Unkenntnis zum Opfer fällt. Wir haben aus unserer Arbeit mit Paaren und Familien eine bedeutsame Lektion gelernt: es ist notwendig und überaus wichtig, mit einem geliebten Menschen, der depressiv ist, als Team zusammenzuarbeiten. Wir hoffen, daß Sie die konstruktive Kraft einer solchen Zusammenarbeit erkennen, wenn Sie unseren Leitlinien folgen, und daß es Ihnen gelingt, sich mit dem anderen im Kampf gegen die Depression zusammenzutun.

1.Was geschieht mit Ihnen, wenn ein Mensch, den Sie lieben, depressiv wird?

Jane, sechsunddreißig Jahre alt und als Managerin in einer Werbeagentur tätig, fühlt sich in letzter Zeit überfordert. Zusätzlich zu ihrem Ganztagsjob und der Fürsorge für ihre beiden Kinder hat sie seit kurzem Pflichten übernommen, die früher in den Verantwortungsbereich ihres Mannes fielen: Rechnungen bezahlen, das Auto in die Werkstatt bringen, kleine Reparaturen im Haus vornehmen. Seit einigen Monaten schläft ihr Mann schlecht, ist müde und demotiviert und klagt, daß er sich niedergeschlagen fühlt. Jane weiß, daß es ihm nicht gutgeht, und er tut ihr leid – aber allmählich wird sie wütend auf ihn.

Peter, ein achtundzwanzigjähriger Wirtschaftsprüfer, kommt kaum noch zum Schlafen und hat Schwierigkeiten, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Seit der Geburt ihres Sohnes vor vier Monaten ist seine Frau niedergeschlagen und launisch und hat kein Interesse an Sex. Peter vermißt die frühere Nähe und Intimität und ist traurig über den Zustand seiner Ehe. Er wagt jedoch nicht, mit seiner Frau über seine Sorgen zu sprechen, weil er befürchtet, sie dadurch noch mehr aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er behält seine Gefühle für sich und verbringt mehr Zeit mit seinen Freunden auf dem Golfplatz.

Gail, eine fünfundfünzigjährige Hausfrau, kommt seit Wochen nicht dazu, die Wäsche zu machen, in Ruhe einzukaufen oder sich mit ihren Freundinnen zu treffen. Sie ist ganz von der Sorge um ihre alte Mutter in Anspruch genommen, die in düsterster Stimmung ist und kürzlich äußerte: «Für mich gibt es nichts mehr, wofür es sich lohnt zu leben.» Da sie fürchtet, daß ihre Mutter sich etwas antun könnte, besucht Gail sie täglich – jedesmal eine Stunde Autofahrt – und versucht, sie aufzuheitern. Als Folge davon bleibt im Haushalt vieles liegen; Gail hat das Gefühl, ihre Freunde zu vernachlässigen, und ihr Mann hat angefangen, sich zu beschweren.

Jede dieser Situationen hat ihre Besonderheiten, aber eines haben Jane, Peter und Gail gemeinsam: Sie sind durch die Depression eines geliebten Menschen beeinträchtigt. Jane fühlt sich überfordert und ist wütend. Peter fühlt sich einsam und macht sich Sorgen um seine Ehe. Gail vernachlässigt ihre anderen Aufgaben und Verpflichtungen, weil der Zustand ihrer Mutter sie mit Ängsten und Schuldgefühlen erfüllt. Alle drei wollen der geliebten Person helfen, zeigen aber selbst Reaktionen auf die Depression. Weil sie so sehr damit beschäftigt sind, alles in die Hand zu nehmen und fürsorglich zu sein, haben Jane, Peter und Gail nicht bemerkt, daß – und wie – die Depression des anderen sich auch auf sie auswirkt.

Als Peter zum ersten Mal in die Therapie kam, um seine Eheprobleme zu diskutieren, sprach er lange und ausführlich über die Traurigkeit seiner Frau und ihren Mangel an Energie. Als fürsorglicher Ehemann war er verständlicherweise in Sorge über ihre Schwierigkeiten, die neue Situation der Mutterschaft zu bewältigen. Er schilderte in allen Einzelheiten, wie ihre depressive Stimmung ihre Persönlichkeit veränderte, von ihrem Desinteresse an Sex bis hin zu ihrer Reizbarkeit im Umgang mit dem Kind. Als wir ihn fragten, wie die Depression seiner Frau ihn beeinträchtige, zögerte er einen Augenblick und sagte dann: «Ich denke, nur insofern, als ich mir Sorgen über ihren Zustand mache.» Aber als er aufgefordert wurde, genauer über seine Reaktionen auf ihre Depression nachzudenken, gestand er sich schließlich ein, daß er sich einsam fühlte und Angst hatte. Peter erkannte, daß er sich keine Gedanken darüber gemacht hatte, wie er selbst mit der Situation umging, weil er so sehr mit den Problemen seiner Frau beschäftigt war. Erst nachdem er begonnen hatte, auf seine eigenen Gefühle und Reaktionen zu achten, war er in der Lage, mit seiner Frau über die Veränderungen in ihrer Beziehung zu sprechen und sie zu ermutigen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Wie kommt es, daß die Depression anderer Sie beeinflussen kann?

Wenn Sie jemanden lieben, der depressiv ist, nehmen Sie vielleicht nicht wahr, wie die Depression des anderen sich auf Sie auswirkt. Vielleicht sind Sie so sehr darauf bedacht, dem anderen zu helfen, daß Sie für Ihre eigenen Reaktionen blind sind. Wenn Sie aber anfangen, über Ihre Interaktionen mit der depressiven Person nachzudenken, wird ihnen allmählich bewußt, daß Sie in der Tat reagieren, daß Sie starke Gefühle haben. Vielleicht sind Sie frustriert darüber, daß Ihre Ehepartnerin in letzter Zeit so ungesellig und übermäßig pessimistisch ist. Vielleicht sind Sie verärgert über Ihren besten Freund, oder aber Sie machen sich Sorgen um ihn, weil er offensichtlich unfähig ist, sich aus seiner miesen Stimmung herauszureißen. Unsere Erfahrungen als Therapeuten und die Ergebnisse neuerer Studien haben uns davon überzeugt, daß alle Beteiligten profitieren, wenn Reaktionen auf die Depression eines geliebten Menschen verstanden und konstruktiv verarbeitet werden. Es ist wichtig für Ihr eigenes emotionales Wohlbefinden und für das des anderen, daß Sie Ihre Gefühle und Reaktionen bewußt wahrnehmen. Wenn Sie sich an die letzte Interaktion mit dem depressiven Menschen in Ihrem Leben zurückerinnern, werden Sie zweifellos auf einige Empfindungen oder Reaktionen stoßen, über die Sie vorher nicht nachgedacht haben.

Dieser Wechsel der Perspektive ist ein zentraler Bestandteil unserer Arbeit als Therapeuten. Erfahrung und Forschung lehrten uns, daß das Ignorieren von Gefühlen und Reaktionen oft die eigentliche Ursache vieler Beziehungsprobleme ist, die Menschen im Zusammensein mit einem Depressiven erfahren, und Beziehungsprobleme verschlimmern eine Depression in aller Regel. In den folgenden Kapiteln werden wir Ihnen helfen, die vielfältigen Auswirkungen, die die Depression eines Ihnen nahestehenden Menschen auf Sie haben kann, zu erkennen. Manchen von Ihnen wird dieses Erkennen leichter fallen als anderen. Für jene, die sich gewohnheitsmäßig in die Helferrolle begeben, ist es viel leichter, sich ausschließlich auf die depressive Person zu konzentrieren, als über sich selbst nachzudenken. Es lohnt sich aber durchaus, sich diese Mühe zu machen. Sie werden dadurch Hilfsmittel an die Hand bekommen, die Sie brauchen, wenn Ihre Beziehung die Depression überstehen soll.

Bei der Lektüre werden Sie vielleicht feststellen, daß Sie in mancher Hinsicht gar nicht wahrgenommen haben, wie die Depression des anderen Sie beeinflußt. Aber keine Sorge: Wir haben nicht vor, Sie mit diesem Wissen alleinzulassen, ohne Ihnen aufzuzeigen, was Sie unternehmen können. Wir werden Sie Schritt für Schritt anleiten, wie Sie Ihre eigenen Reaktionen nutzen können, um besser mit der depressiven Person zurechtzukommen, Ihre Hoffnungen aufrechtzuerhalten und im Kampf gegen die Depression ein stärkerer Verbündeter zu sein. Bevor wir zu diesen Strategien kommen, müssen Sie verstehen, auf welch unterschiedliche Weise die Depression einer nahestehenden Person Sie und Ihre Beziehung zu ihr beeinflussen kann. Wir werden die charakteristischen Auswirkungen einer Depression auf Beziehungen detailliert beschreiben. Nach einem kurzen Überblick über die Ergebnisse der neuesten Forschung werden wir die vier Stadien schildern, die Beziehungen im Anpassungsprozeß an eine Depression durchlaufen. Im folgenden Kapitel werden wir Ihnen zeigen, wie Sie diesen Prozeß verändern können, so daß sie angemessener reagieren und sich besser auf die Depression der anderen Person einstellen können.

Depression und Ihre Beziehung

Eine Depression ist für den davon betroffenen Menschen ein verheerender Zustand. Wie wir alle wissen, beeinträchtigen Depressionen die Stimmung, das Schlafmuster, den Appetit, die Motivation und sogar den Lebenswillen. Aber viele Menschen erkennen nicht, in welchem Ausmaß Depressionen Beziehungen beeinträchtigen. Wenn Ihr Partner depressiv ist, ist die Wahrscheinlichkeit, daß Ihre Ehe mit einer Scheidung endet, neunmal größer als wenn Sie mit einer nichtdepressiven Person verheiratet sind. Diese erschütternde Statistik ist nicht der einzige Indikator dafür, wie destruktiv Depressionen sich auf Beziehungen auswirken können. Die engen Beziehungen depressiver Menschen sind duch höheren Streß belastet und konfliktgeladener als die Beziehungen nichtdepressiver Menschen, und es gibt sehr viel häufiger Auseinandersetzungen und Mißverständnisse. Unter diesen Umständen überrascht es auch nicht, daß Depressionen und durch Depressionen verursachte sexuelle Probleme die häufigsten Gründe dafür sind, daß Paare Eheberatung suchen und daß etwa fünfzig Prozent der Frauen, die unter Depressionen leiden, über ernsthafte Eheprobleme klagen. Es stellte sich auch heraus, daß die Angehörigen depressiver Menschen mehr als andere unter Sorgen, Wutgefühlen und Erschöpfung leiden. Tatsächlich sind Menschen, die mit Depressiven zusammenleben, selbst anfälliger für Depressionen oder andere psychische Probleme wie Angstattacken und Phobien.

Warum wirken sich Depressionen auch auf nichtdepressive Familienmitglieder und Freunde so negativ aus? Denken Sie darüber nach. Wenn Sie sich einsam fühlen und verärgert sind, weil Ihre Frau seit Wochen trübsinnig und niedergeschlagen ist und nie etwas mit Ihnen unternehmen will, reagieren Sie auf ihre Bitte, irgendeine Haushaltsarbeit zu übernehmen, vielleicht mit einem mürrischen Seufzer und verziehen das Gesicht. Ihrer Frau entgeht Ihr Ärger nicht, und sie fühlt sich im Stich gelassen, noch hilfloser, noch niedergeschlagener – Reaktionen, die Ihrer Einsamkeit und Ihrer Wut wiederum neue Nahrung geben. Wissenschaftler haben diese Art der Interaktion als abwärtsgerichtete depressive Spirale beschrieben; das Verhalten der geliebten Person und Ihre Reaktionen auf dieses Verhalten verschlimmern die Depression und tragen nichts dazu bei, sie zu lindern.

Die frühen Stadien dieser abwärtsführenden Spirale können viele verschiedene Formen annehmen. Eine Möglichkeit: Weil Sie sich für Ihre Wut auf Ihre Frau schuldig fühlen, fällt es Ihnen schwer, offen über Ihre Gefühle zu sprechen, und sie spürt, daß Sie etwas zurückhalten und nicht aufrichtig sind. Als Folge davon bricht allmählich die Kommunikation zwischen Ihnen zusammen. Oder: Sie sind zu schnell damit bei der Hand, Ihrer Wut Ausdruck zu geben, und verstärken damit die Bereitschaft Ihrer Partnerin oder Ihres Partners zu explodieren, was eine konstruktive Auseinandersetzung praktisch unmöglich macht. Wie wir alle wissen, führt allzu hitziger Streit nie zu Lösungen. Was Sie aber vielleicht nicht erkennen: Diese Formen der Interaktion führen unvermeidlich zu verstärkter Depression und größerer Hoffnungslosigkeit, sowohl für Sie selbst als auch für den geliebten Menschen. Es ist fast wie die festgelegte Schrittfolge, die für ein Paar beim Tanzen verbindlich ist: Jeder Schritt des einen beeinflußt unweigerlich die Bewegung des anderen. Wenn Sie und die depressive Person, die Ihnen nahesteht, in Ihrer Beziehung Schwierigkeiten haben, sind Sie vermutlich schon in diesen depressiven Tanz verstrickt.

Wenn das, was wir bisher gesagt haben, mit Ihren Erfahrungen nicht übereinstimmt, wird ein Blick auf die neuesten Forschungsergebnisse Sie vielleicht davon überzeugen, daß die Depression Ihres geliebten Menschen Ihre Beziehung zu ihm oder ihr in ernstzunehmender Weise beeinträchtigt. Wir glauben, daß diese Forschungsergebnisse Ihnen helfen können, klarer zu sehen, welchen Belastungen Ihre Beziehung ausgesetzt ist. Erst in den letzten zehn Jahren hat die psychologische Forschung begonnen, ihre Aufmerksamkeit auf die Rolle zentraler Bezugspersonen im Leben depressiver Menschen zu richten. Zuvor wurde Depression in erster Linie als isoliertes Problem betrachtet, das nur die depressive Person selbst betraf, unabhängig von anderen Menschen, die ihr Alltagsleben teilten.

Neuere Studien über die Auswirkungen von Depressionen auf Familienmitglieder und Freunde

Die ersten Forschungsergebnisse, die bestätigten, daß Depressionen nicht nur die depressive Person selbst, sondern auch ihr soziales Umfeld beeinträchtigen, wurden aus Studien über die Interaktionen zwischen depressiven Patienten und Fremden gewonnen. Wenn Sie jemandem nahestehen, der depressiv ist, können Sie sich wahrscheinlich leicht vorstellen, wie Versuchspersonen reagierten, die für nur kurze Zeit mit einer depressiven Person, die sie nie zuvor gesehen hatten, zusammenkamen: Sie fühlten sich anschließend selbst bedrückt und niedergeschlagen. Überraschender ist vielleicht das folgende Ergebnis: Anders als Teilnehmer der Studie, die mit nichtdepressiven Fremden zusammentrafen, berichteten Versuchspersonen, die mit depressiven Fremden interagierten, auch über stärkere Ängste oder Aggressionsgefühle und äußerten Unwillen, mit diesen Personen in Zukunft noch einmal zusammenzukommen. Forscher schlossen daraus, daß allein im Zusammensein mit einer depressiven Person etwas liegt, das für andere, selbst völlig Femde, schwierig und befremdlich ist. Wichtiger noch: Diese Forschungsergebnisse zeigten, daß die Verhaltensweisen Depressiver als unangenehm empfunden werden und andere Menschen auf Distanz halten. Für depressive Menschen sind diese Erkenntnisse alles andere als erfreulich, denn enge, unterstützende Beziehungen sind für ihre Genesung von der Depression von ausschlaggebender Bedeutung.

Wenn Sie Ihre eigenen Interaktionen mit Ihrem geliebten Menschen vor Ihrem geistigen Auge Revue passieren lassen, können Sie vielleicht den Finger auf einige Verhaltensweisen legen, die Sie als unangenehm erlebten. Vielleicht erschien Ihnen Ihr Partner in sich selbst verkapselt, an Ihrer Gesellschaft uninteressiert oder gereizt. In der Studie mit Fremden klagten die Teilnehmer besonders häufig über die «negative Einstellung» der depressiven Person oder ihre «Lethargie». Wir alle haben die Erfahrung, wie es ist, mit jemandem umzugehen, der mieser Stimmung ist; Stimmungen können ansteckend sein, und es kann unangenehm sein, sich in der Nähe eines depressiven Menschen aufzuhalten. Aber worin besteht dieses Unangenehme eigentlich? Und was bedeutet das für engere, dauerhaftere Beziehungen? Sind die Auswirkungen, die bei Fremden beobachtet wurden, in engen Beziehungen noch stärker ausgeprägt?

Auf den Studien mit Fremden aufbauend, widmeten sich die Forscher als nächstes der Interaktion zwischen Studierenden, die in einem Studentenwohnheim ein Zimmer teilten. Sie fanden verblüffende Unterschiede zwischen Studierenden, die ihr Zimmer mit einer depressiven Person teilten und solchen, die mit einer nichtdepressiven Person zusammenwohnten. Die Zimmergenossen depressiver Studierender berichteten über wesentlich mehr Konflikte, häufigen Streit und weniger direkte Kommunikation. Außerdem waren sie selbst frustriert, traurig oder wütend. Nach ihren Beziehungen zu ihren Zimmergenossen befragt, zeigten diese Studierenden eine nur sehr geringe Bereitschaft, mit der betreffenden Person zusammenzusein; sie zogen es in der Regel vor, ihre Zeit mit anderen Freunden, vorzugsweise solchen, die nicht im Wohnheim lebten, zu verbringen. Aus dieser Studie ging ganz klar hervor, daß Depressionen auf Menschen, die mit einer depressiven Person zusammenleben, starken Einfluß haben können.

Wenn Sie mit jemandem zusammenleben, der depressiv ist, sind auch Sie vielleicht frustriert, traurig und wütend. Auch Sie haben mit dem anderen vielleicht viel öfter Streit als vor der Depression und viel weniger Lust, mit ihm oder ihr zusammenzusein. Wie zu erwarten, können solche Gefühle sich in engen, dauerhaften Beziehungen wesentlich stärker aufbauen als in den gewöhnlich eher lockeren und unverbindlichen Beziehungen, die zwischen Zimmergenossen in einem Studentenwohnheim bestehen.

Erst in jüngster Zeit wurden Studien durchgeführt, die sich den engen, intimen Beziehungen depressiver Menschen widmeten. Die Resultate waren denen der Studien mit Fremden und Mitbewohnern ähnlich, aber noch auffälliger und deutlicher. Auf den ersten Blick erscheint das vielleicht unlogisch – gewöhnlich gehen wir davon aus, daß enge Beziehungen belastbarer sind –, aber letztlich sind diese Ergebnisse doch einleuchtend. Ehepartner zum Beispiel verbringen sehr viel mehr Zeit miteinander und haben mehr Alltagsprobleme zu lösen als Studierende, die sich ein Zimmer teilen und nur für einen begrenzten Zeitraum zusammenleben.

Die Ergebnisse der Studien zeigen, daß die Menschen, die einer depressiven Person am nächsten stehen, oft wütend oder entmutigt sind und sich durch die Apathie, den Rückzug von der Außenwelt, die Hoffnungslosigkeit und die Reizbarkeit des anderen belastet fühlen. Außerdem treten Ängste und Niedergeschlagenheit bei Partnern depressiver Menschen wesentlich häufiger auf als bei Partnern nichtdepressiver Menschen.

Sowohl die Forschung als auch unsere Praxiserfahrungen bestätigen, daß das Zusammenleben mit einer depressiven Person für nahestehende Menschen oft eine enorme Belastung bedeutet. Als Sie unsere Schilderungen lasen, war Ihnen vermutlich klar, daß Jane, Peter und Gail durch die Depression eines geliebten Menschen beeinträchtigt waren. Aus den verschiedensten Gründen ist es jedoch nicht immer leicht, diese Gefühle und Reaktionen auch bei sich selbst zu erkennen. Als wir zum Beispiel den Ehemann einer depressiven Frau zum ersten Mal fragten, wie ihre Depression sich auf ihn auswirke, war er verblüfft. «Auf mich? Wieso? Das verstehe ich nicht. Sie ist diejenige die leidet. Ich will nur, daß es ihr besser geht.» Im nächsten Abschnitt geben wir Ihnen Informationen, die es Ihnen leichter machen werden zu erkennen, welche Auswirkungen die Depression Ihres geliebten Menschen auf Sie und Ihre Beziehung hat.

Die Stadien der Anpassung an eine Depression

Wir haben herausgefunden, daß die Beziehungen depressiver Menschen durch einen charakteristischen Veränderungsprozeß gehen, den wir die Stadien der Anpassung an die Depression – kurz SAD – nennen. Ähnlich wie ein Kleinkind die typischen Entwicklungsstufen durchläuft und erst krabbeln, dann laufen lernt, so gehen auch Beziehungen in der Reaktion auf eine Depression durch charakteristische Stadien. Wie und wann diese Übergänge sich ereignen, ist nicht in allen Beziehungen gleich, und die Stadien sind nicht immer klar abgegrenzt und eindeutig voneinander zu unterscheiden. Verhaltensmerkmale eines früheren Stadiums können auch in einem nächsten wieder auftreten – ähnlich wie ein Kleinkind, das bereits gehen gelernt hat, hin und wieder in das Krabbeln zurückfällt. Aber im wesentlichen schreitet der Prozeß immer in derselben Abfolge fort. Auf jeder Stufe müssen Entscheidungen getroffen werden, die den Verlauf der Depression und ihre Auswirkungen auf die Beziehung beeinflussen können.

Dies sind die vier Stadien:

1. Konflikt. In diesem Stadium bemerken einer der Partner oder beide Partner in der Beziehung Schwierigkeiten in ihren Interaktionen; ein neues Problem hat sich aufgetan, oder ein altes Problem hat sich verstärkt. Das Spektrum der Schwierigkeiten rangiert von Veränderungen in der Quantität oder Qualität der Zeit, die man miteinander verbringt, bis zu heftigen Auseinandersetzungen und ernsten Störungen der Kommunikation. Jane zum Beispiel bemerkte, daß sie sich einen immer höheren Anteil der Haushaltsarbeiten und Alltagspflichten aufbürdete; Peter und seine Frau wußten, daß ihr Sexualleben praktisch nicht mehr existierte, und Gail stellte fest, daß sie mehr Zeit mit ihrer Mutter verbrachte, als sie sich eigentlich leisten konnte.

2. Reaktion. Die anfängliche Reaktion auf den Konflikt in der Beziehung kann bewußt oder unbewußt sein – wie ein Reflex. Aber unabhängig davon, wie weit die bewußte Wahrnehmung geht, reagieren die Partner in der Beziehung auf die Schwierigkeiten, in konstruktiver oder destruktiver Weise. Janes Reaktion war, die Dinge in die Hand zu nehmen und ihren Groll nicht zu äußern. Peter reagierte, indem er sich seiner Frau gegenüber verschloß und mehr Zeit mit seinen Freunden verbrachte, um den Spannungen zu Hause auszuweichen. Gail folgte ihrem Impuls, ihrer Mutter zu Hilfe zu eilen, obwohl sie sich im Grunde nicht wohl dabei fühlte, ihr soviel Zeit opfern zu müssen.

3. Informationssuche. Die Suche nach Erklärungen für die Schwierigkeiten in der Beziehung kann die Form annehmen, daß man mit dem Partner oder mit Außenstehenden im Gespräch herauszufinden versucht, wo das eigentliche Problem liegt. Vielleicht durchforsten Sie Ihre Erinnerungen auch nach ähnlichen Erfahrungen, um sich durch den Vergleich ein Bild davon zu machen, was die Schwierigkeiten verursacht. Je nachdem, welche Vorstellungen Sie davon haben, wo das Problem liegt, suchen Sie vielleicht auch Rat bei anderen Menschen oder greifen zu Büchern wie diesem. Peter zum Beispiel fragte einen Freund, der ein zweijähriges Kind hatte, ob auch seine Frau nach der Geburt des Kindes das Interesse an Sex verloren habe. Der Freund bestätigte, in seiner Ehe sei es genauso gewesen, aber allmählich habe die Situation sich normalisiert, als das Baby anfing, nachts durchzuschlafen.

4. Problemlösung. Auf dieser Stufe werden die in der vorherigen Phase gesammelten Informationen genutzt, um einen neuen Aktionsplan zu entwickeln, der es erlaubt, weniger reflexhaft und statt dessen bewußter auf die Schwierigkeiten zu reagieren. Die beiden Partner in der Beziehung arbeiten manchmal jeder für sich, manchmal gemeinsam an der Lösung des Problems. Wenn der Aktionsplan auf falschen Voraussetzungen beruht (wie im Fall von Peter, der dachte, seine Frau sei lediglich erschöpft), wird dieses Stadium mit einer ineffektiven Lösung enden. Wenn die Ursache der Schwierigkeiten dagegen korrekt als Depression erkannt wird, kann eine effektive Lösung für die Beziehungsprobleme gefunden werden. Gail erkannte schließlich, daß ihre Mutter unter einer klinischen Depression litt und daß sie, Gail, die Situation nicht allein bewältigen konnte. Nachdem sie ihrer Mutter ihre Gedanken mitgeteilt hatte, entschieden beide gemeinsam, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.

In den folgenden Kapiteln werden wir Ihnen aufzeigen, wie Sie erkennen können, ob ein Mensch, der Ihnen nahesteht, unter einer Depression leidet, und auch um welchen Typus der Depression es sich vermutlich handelt. Sie werden lernen, sich Ihrer eigenen Reaktionen auf den «Streß in der Beziehung» gewahr zu werden, auf Ihren konstruktiven Impulsen aufzubauen und Ihre unproduktiven Lösungsversuche zu ändern und in andere Bahnen zu lenken. Wir werden Ihnen eine Reihe von Leitlinien an die Hand geben, die es Ihnen ermöglichen, sich auf eine konstruktive Weise durch den SAD-Prozeß hindurchzubewegen. Wenn Sie diesen Leitlinien folgen, werden Sie und die depressive Person, die Ihnen nahesteht, lernen, effektiver miteinander zu interagieren, Spannungen in der Beziehung abzubauen und eine angemessene Therapie für die Depression zu suchen.

Mit Hilfe von Fallbeispielen werden wir Ihnen aufzeigen, wie Sie in der Beziehung mit einem geliebten Menschen, der depressiv ist, die folgenden acht Leitlinien anwenden können:

Sammeln Sie soviel Wissen wie möglich.

Seien Sie realistisch in Ihren Erwartungen.

Geben Sie uneingeschränkte Unterstützung.

Erhalten Sie Ihre Alltagsroutine aufrecht.

Äußern Sie Ihre Gefühle.

Nehmen Sie es nicht persönlich.

Suchen Sie Hilfe.

Arbeiten Sie als Team zusammen.

Diese Leitlinien werden während des dritten und vierten Stadiums – Informationssuche und Problemlösung – am hilfreichsten sein. Wenn Sie sich an die typischen Phasen des SAD erinnern und diese Leitlinien im Auge behalten, werden Sie in der Lage sein, Ihre Wanderung durch diese Übergangsstadien zu beeinflussen und zu steuern. Wir werden Ihnen in kurzen Worten erläutern, wie Sie über die Depression und ihre Behandlung soviel Wissen wie möglich sammeln, wie Sie in bezug darauf, was Sie und Ihr Partner gegen die Depression tun können, realistisch bleiben, wie Sie uneingeschränkte Unterstützung geben und verlangen, wie Sie dem anderen gegenüber Ihre Gefühle ausdrücken, wie Sie es erreichen, die Symptome und Reaktionen der depressiven Person nicht persönlich zu nehmen, wie und wo Sie um Hilfe nachsuchen können, und, was vielleicht am wichtigsten ist, wie Sie und der andere als Team gegen die Depression arbeiten können, statt sich als Gegner aneinander aufzureiben.

Sammeln Sie soviel Wissen, wie Sie können

Kehren wir kurz zu den Beispielen zurück, die wir eingangs anführten. Im zweiten Kapitel finden Sie detaillierte Informationen, die Ihnen helfen werden, die vielfältigen Symptome und Erscheinungsformen der Depression zu identifizieren. Abgesehen davon gibt es aber eine andere wichtige Quelle des Wissens über Depressionen, an die Sie vielleicht noch nicht gedacht haben, nämlich Ihre eigenen Gefühle und Reaktionen auf den Konflikt in der Beziehung. Wir betrachten sie als frühe Warnzeichen oder Alarmsignale, die Sie nutzen können, um herauszufinden, ob die Schwierigkeiten in der Beziehung auf eine Depression zurückzuführen sind.

Wenn ein Mensch, an dem Sie interessiert sind, depressiv ist, werden Sie an sich selbst ein weites Spektrum an Emotionen und Reaktionen erfahren, von Wut bis Kummer, von Rückzug bis zu bissigen Bemerkungen wie «Nun nimm dich doch nicht so furchtbar wichtig!». Sie sind nicht der einzige Mensch, der dem geliebten anderen gegenüber solche Gedanken und Gefühle hat. Jeder, der sich um einen depressiven Menschen sorgt, macht einige oder alle dieser Empfindungen und Reaktionen durch. Sie sind absolut normal, und man sollte mit ihnen rechnen. Sie fragen sich vielleicht, was wir damit sagen wollen. Ist es für Gail nun normal, daß sie auf ihre alte Mutter, die depressiv ist und sterben will, wütend ist? Schlagen wir etwa vor, daß Gail ihrer Mutter sagen sollte, daß sie wütend ist oder daß sie aufhören sollte, sie zu besuchen? Wenn Gails Situation anders wäre, würden wir nicht im Traum daran denken, ihr ein so unsensibles Verhalten nahezulegen. Wenn nicht mehr, so fordert doch allein unser Gefühl für gute Manieren von uns, die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen und mitfühlend und hilfsbereit zu sein, wenn jemand auf dem Tiefpunkt ist. Wäre Gails Mutter nur einige Tage oder eine Woche lang niedergedrückt gewesen, hätte die Situation eine solche krasse Direktheit in der Tat nicht gerechtfertigt. Aber die alte Dame war schon einen Monat lang in diesem Zustand, und es war kein Ende ihres Leidens in Sicht. Lang anhaltende Verstimmungen sind ein typisches Kennzeichen der Depression; Gail und ihre Mutter waren also nicht einfach mit den normalen Stimmungsschwankungen konfrontiert, denen die meisten Menschen in ihrem Alltagsleben begegnen. Normalerweise fühlte Gail sich durch ihre Mutter überhaupt nicht belastet; sie hatten ein gutes Verhältnis, und Gail war gern mit ihrer Mutter zusammen. Die Tatsache, daß sie sich nun überfordert fühlte und Groll empfand, war eine wichtige Information, aber Gail ignorierte das Signal. Weil sie ihren Gefühlen nicht mehr Aufmerksamkeit schenkte, dauerte es lange, bis Gail erkannte, daß etwas Ungewöhnliches vor sich ging, und bis sie dazu kam, für ihre Mutter und für sich selbst Hilfe zu besorgen.

Reaktionen, auf die Sie achten sollten

Die üblichen, allgemein verbreiteten Reaktionen auf die Depression eines geliebten Menschen können sich über eine weite Skala erstrecken; an einem Pol liegt das Extrem des Überfunktionierens und Zu-Hilfe-Eilens, am anderen Pol das Extrem der Vermeidung und des Rückzugs von der depressiven Person. Gails erste Reaktion war, überzukompensieren und dauernd mit dem Auto hin- und herzufahren, um bei ihrer Mutter zu sein und sie durch ihre Gesellschaft aufzuheitern. Jane übernahm Aufgaben, die normalerweise zu den Pflichten ihres Mannes gehörten, weil er offenbar nicht in der Lage war, sie zu erfüllen. Peter wollte seine Frau nicht noch mehr belasten, also zog er sich zurück und vermied es, ernsthaft mit ihr zu reden oder sexuell die Initiative zu ergreifen. Über diese Beispiele hinaus gibt es tausende anderer verbreiteter Reaktionen. Eine häufige, natürliche Reaktion ist der Versuch, die depressive Person aufzumuntern, indem man vorschlägt oder darauf insistiert, sie solle aktiver sein. Ein Mann traf so viele Verabredungen für sich und seine depressive Frau, daß sie kaum noch Zeit hatten, miteinander allein zu sein oder sich einfach zu entspannen. Er gab zu, daß er auf diese Weise versuchte, sie «auf Trab zu halten». Er glaubte, wenn sie zu Hause bliebe, würde sie sich nur «in ihrer Traurigkeit suhlen» und sich nie besser fühlen. Eine weitere typische Reaktion, die auf den ersten Blick keinen Sinn zu ergeben scheint, ist, mit der depressiven Person Streit anzufangen. Wenn wir uns über den Rückzug und das Desinteresse unseres depressiven Partners ärgern, werden einige unter uns einen Streit vom Zaun brechen, einfach um ihn oder sie aus ihrer Lethargie aufzurütteln. Obwohl diese Reaktionen sehr unterschiedlich sind, haben sie doch alle einen gemeinsamen Nenner: Sie sind Versuche – wenn zum Teil auch sehr ineffektive –, der depressiven Person dazu zu verhelfen, daß sie sich besser fühlt.

Gefühle, auf die Sie hören sollten

Die Gefühle, die als die eigentlichen Auslöser hinter unseren Reaktionen auf einen depressiven Menschen stehen, reichen ebenfalls von einem Extrem bis zum anderen. Wenn jemand depressiv wird, sind Sie anfangs vielleicht verwirrt und verunsichert über die Veränderungen. Wenn die Depression sich fortsetzt, vermissen Sie die frühere Lebendigkeit und Aufgeschlossenheit des anderen und werden traurig; Sie fühlen sich einsam und der anderen Person entfremdet. Wahrscheinlich leiden Sie unter dem Gefühl der Hilflosigkeit, weil es Ihnen offenbar nicht gelingt, ihr oder ihm aus der Talsohle herauszuhelfen. Mit dieser Hilflosigkeit geht vielleicht Frustration oder Wut auf den anderen einher, der scheinbar nicht fähig ist, sich «zusammenzunehmen», und gleichzeitig haben Sie Schuldgefühle, weil Sie so denken und empfinden. Viele Angehörige depressiver Patienten berichten uns, daß sie ein ganzes Spektrum solcher Gefühle erfahren, die sich von einem Augenblick auf den anderen verändern können. In unseren Beispielen sahen Sie, daß Jane Ärger und Groll empfand, Peter traurig war, und Gail sich sorgte und unter Schuldgefühlen litt. Vielleicht beobachten Sie an sich selbst, daß Ihre Gefühle manchmal sehr schnell wechseln; in diesem Augenblick tut Ihnen der andere noch leid, weil er so traurig ist, im nächsten Moment sind Sie wütend, weil er oder sie sich weigert, an einem gesellschaftlichen Ereignis oder einer Aktivität, auf die Sie sich gefreut haben, teilzunehmen.

 

Die Gefühle und Reaktionen, die wir hier beschreiben, können frühe Warnsignale dafür sein, daß ein Partner in einer Beziehung depressiv ist. Gail zum Beispiel machte sich Sorgen, und ihre Sorge trieb sie dazu, jeden Nachmittag zu ihrer Mutter hinauszufahren, um ein Auge auf sie zu haben. Gail kam zu dem vorschnellen Schluß, daß ihre Mutter einfach einsam war und daß sie ihr am besten helfen könnte, wenn sie ihr Gesellschaft leistete. Peters Frustration und Sorge waren dafür verantwortlich, daß er es vermied, mit seiner Frau ins Gespräch zu kommen; er nahm irrtümlich an, daß es am besten sei, sie in Ruhe zu lassen. Wenn Gail gleich zu Anfang mit ihrer Mutter über ihre Gefühle gesprochen hätte, oder Peter mit seiner Frau, hätten sie einen konstruktiven Dialog beginnen und schließlich erkennen können, daß Depression die Ursache der Schwierigkeiten in ihren Beziehungen war. So hätten sie das Wissen erlangt, das notwendig ist, um der anderen Person in ihren Bedürfnissen entgegenzukommen und ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Aber indem sie vorschnelle Schlüsse zogen und auf die Situation reagierten, ohne sich mit der anderen Person in der Beziehung zu beraten, erkannten Gail und Peter die Depression ihres geliebten Menschen erst sehr spät und verzögerten dadurch ihren Eintritt in das Stadium der konstruktiven Problemlösung. Sie blieben in den Stadien der Reaktion und der Informationssuche stecken, weil sie annahmen, daß sie wüßten, wo das Problem lag und wie sie am besten damit umgehen könnten.

Als Gail schließlich einen konstruktiven Weg fand, mit ihrer Mutter über ihren Ärger und ihre Sorge zu sprechen, sagte die alte Dame, sie verstehe, wie stark die Belastung sei, und Gail brauche sich nicht mehr die Mühe zu machen, zu ihr zu kommen. Gail merkte, daß sich hier etwas ganz und gar Außergewöhnliches abspielte – ihre Mutter hatte ihr nie gesagt, daß sie nicht kommen solle –, und sie fragte nach, was die alte Dame mit dieser Äußerung eigentlich meinte. Die beiden lachten sogar, als sie weiter über das Thema sprachen, denn diese Gefühle und dieser Kommentar waren für Gails Mutter völlig untypisch. Nach diesem Gespräch wurde Gail bewußt, wie sehr das, was mit ihrer Mutter geschah, aus dem gewohnten Rahmen fiel, und nun bemühte sie sich darum, ihre Mutter davon zu überzeugen, daß es gut und sinnvoll wäre, kompetenten professionellen Rat einzuholen. Mit anderen Worten: Sie erkannte, daß die Erwartung, ihrer Mutter würde es besser gehen, wenn sie, Gail, sie öfter besuchte, nicht realistisch war. Dadurch daß Gail ihre Wut und ihre Besorgnis bewußt wahrnahm und mit ihrer Mutter darüber sprach, gelang es beiden gemeinsam, die Dinge in die richtige Richtung zu lenken. Gail sah ein, wo ihre eigenen Grenzen lagen, und schließlich konnte sie ihre Mutter dazu bringen, einen Psychiater zu konsultieren. Seine Empfehlung an die Mutter war, ein Antidepressivum einzunehmen, und drei Wochen später berichtete Gail mit großer Erleichterung, daß die alte Dame wieder zu ihrem früheren Selbst zurückgefunden hatte.

Wenn Sie bei einem Menschen, der Ihnen nahesteht, mit der Möglichkeit einer Depression konfrontiert sind, bringen Sie darüber in Erfahrung, soviel Sie können, so daß Sie schneller erkennen, ob es sich in der Tat um eine solche Störung handelt. Achten Sie genauer auf Ihre Gefühle, werden Sie wachsamer für auffällige Veränderungen in der Beziehung, und seien Sie bereit, auf konstruktive Weise über Ihre Empfindungen zu sprechen. Konstruktive Kommunikation ist der Schlüssel zu einer erfolgreichen Bewältigung des SAD-Prozesses, und daher kommen wir immer wieder darauf zurück und haben diesem Thema sogar das gesamte 7. Kapitel gewidmet. Natürlich sind nicht alle Umbrüche und Konflikte in einer Beziehung Folgen einer Depression. Dennoch können gewisse Veränderungen Sie auf die Möglichkeit aufmerksam machen, daß die Schwierigkeiten durch eine Depression verursacht sind. Im nächsten Kapitel zeigen wir Ihnen, wie Sie die charakteristischen Merkmale der Depression erkennen können.

2.Wie Sie erkennen, ob ein Mensch, den Sie lieben, depressiv ist

William ist zweiundvierzig Jahre alt und von Beruf Einzelhandelskaufmann; er ist verheiratet und hat drei kleine Kinder. Seine Frau und seine Arbeitskollegen haben seit einiger Zeit Veränderungen in seinen Verhaltensweisen bemerkt. William, der vorher einfacher Angestellter war, wurde vor einigen Monaten zum Geschäftsführer ernannt, und es gehört zu seiner neuen Position, Kollegen, mit denen er jahrelang auf der gleichen Ebene zusammengearbeitet hat, Anweisungen zu geben und ihre Arbeit zu überwachen. Bis zu seiner Beförderung hatten die anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihn immer als fairen Kollegen und unkomplizierten Menschen betrachtet. Aber bald danach bemerkten sie, daß er viel reizbarer, schwieriger und unzugänglicher wurde.

Als einem Verkäufer ein alltäglicher Irrtum unterlief – er buchte einen Fehlbetrag –, fuhr William aus der Haut, schrie ihn an und verlangte, daß er Überstunden machte, um seinen Fehler wiedergutzumachen. Als eine andere Mitarbeiterin sich krank meldete, forschte er mißtrauisch nach, ob sie wirklich erkrankt war und murrte, daß der Laden personell unterbesetzt sei. Außerdem erschien William morgens immer später zur Arbeit und schien sein früheres Engagement für das Geschäft verloren zu haben. Er nahm nicht mehr wie früher an den wöchentlichen Personalversammlungen teil, er war wortkarg und verschlossen und vergaß wichtige Einzelheiten, die ein neue Lieferung betrafen. Als ein Kollege ihm sagte, sein Verhalten in letzter Zeit sähe ihm gar nicht ähnlich, gab er zurück: «Ach, laß mich doch in Ruhe! Ich bin einfach erschöpft. Du weißt ja gar nicht wie es ist, soviel Verantwortung zu tragen!» Hinter seinem Rücken klatschten die Angestellten darüber, daß die Beförderung ihm zu Kopf gestiegen sei. Manche glaubten, William zeige jetzt, nach seinem Aufstieg, erst «sein wahres Gesicht»; andere fragten sich, ob er vielleicht gesundheitliche Probleme habe. Die meisten Mitarbeiter gingen ihm lieber aus dem Weg als sich mit seiner Launenhaftigkeit und Ungeduld zu konfrontieren, aber einige versuchten, mit ihm zu reden und an sein Gefühl für Gerechtigkeit und Verhältnismäßigkeit zu appellieren. William weigerte sich jedoch, seine Management-Entscheidungen zu diskutieren, und zog sich immer häufiger allein in sein Büro zurück.

Zu Hause war William noch unduldsamer und reizbarer. Früher war er gelassen und freundlich im Umgang mit seiner Familie, aber nun löste jede Kleinigkeit bei ihm eine Überreaktion aus. Eines Morgens fuhr er Karen, seine Frau, ohne offensichtlichen Grund wütend an: «Die Schlamperei in diesem Haushalt tötet mir den letzten Nerv!», und stampfte wütend zur Haustür hinaus. Karen bemerkte auch, daß William neuerdings viel später schlafen ging, und an Sex schien er jedes Interesse verloren zu haben. Anfangs hatte Karen sich gefragt, ob William Probleme damit hatte, die höhere Verantwortung zu bewältigen, die seine neue Position mit sich brachte. Aber als sie versuchte, mit ihm darüber zu sprechen, sagte er nur: «Es ist alles in Ordnung. Hör auf, aus jeder Mücke einen Elefanten zu machen», und beendete das Gespräch, indem er sich hinter seine Zeitung zurückzog. Wenn die Kinder abends spielten und herumtobten, schien William noch mürrischer und mißmutiger zu sein. Karen versuchte, sich etwas einfallen zu lassen, damit er sich wohler fühlte; sie brachte die Kinder für eine Nacht bei ihrer Mutter unter und bereitete ein besonders festliches Abendessen zu. Aber sie wurde in ihrer Hoffnung auf einen romantischen Abend zu zweit enttäuscht, denn als William von der Arbeit nach Hause kam, erklärte er, er habe keinen Hunger und hockte sich im Wohnzimmer vor den Fernseher. Als sie an diesem Abend schließlich zu Bett gingen, fiel Karen auf, daß der «Rettungsring» um Williams Bauch und Hüften verschwunden war und daß ihr Mann dünner aussah als vor ihrer Heirat.

Karen war bestürzt. Warum benahm William sich so eigenartig und warum war er so unzugänglich? So hatte sie ihren Mann noch nie erlebt. Sie hatte das Gefühl, daß er sie nicht mehr anziehend fand, und er schien immer weniger Interesse daran zu haben, mit ihr und den Kindern zusammenzusein. Schließlich argwöhnte sie, daß er eine Affäre haben könnte. Wie sonst war sein merkwürdig verändertes Benehmen zu erklären? Aus ihrer Unsicherheit und Angst vor seiner vermeintlichen Untreue heraus fing sie an, sein Kommen und Gehen genau zu überwachen. William reagierte gereizt auf ihre erhöhte Aufmerksamkeit und fuhr sie an, sie solle aufhören, sich wie ein Wachhund zu benehmen. Obwohl Karen keine Anhaltspunkte für die Existenz einer anderen Frau in Williams Leben entdecken konnte, war sie ängstlich und nervös, weil ihr ihre Ehe gefährdet erschien. Als die Tage und Wochen vergingen, stellte Karen fest, daß sie selbst gereizter auf William reagierte und daß sie sich immer öfter stritten. Sie machte sich immer noch Sorgen um William und fragte sich, was ihm fehlte, aber sie konnte nicht anders als sich auch über ihn zu ärgern, weil er so unleidlich und schwierig war.

Anfangs erkannten weder Karen noch die Arbeitskollegen, daß William depressiv war. Seine Einstellung und sein Verhalten hatten sich im Verlauf weniger Monate drastisch verändert. Vielleicht hatten Williams neue Position und die damit verbundenen erhöhten Anforderungen zu seiner Depression beigetragen, aber die Art der Veränderungen, die seine Frau und seine Kollegen an ihm bemerkten, ließ sich daraus allein nicht erklären. Williams Rückzug auf sich selbst, seine Reizbarkeit, das Desinteresse an seinen gewohnten Aktivitäten, der Verlust seines Appetits und seines Interesses an sexueller Aktivität – das alles sind charakteristische Symptome einer Depression. Obwohl William nicht offensichtlich niedergeschlagen und deprimiert war, reichen diese Symptome aus, um die Kriterien für die Diagnose «Depression» zu erfüllen. Die Menschen, die William nahestanden, kamen überhaupt nicht auf den Gedanken, daß er depressiv sein könnte. Sie schrieben die Veränderungen in ihrer Beziehung zu William vielmehr anderen Faktoren zu, wie der Beförderung, die er nicht zu verkraften schien, oder einer Affäre mit einer anderen Frau.

Was weder Karen noch die Arbeitskollegen wußten: William hatte vor vielen Jahren bereits zwei depressive Episoden durchlebt; vermutlich war er biologisch dazu disponiert, auf extremen Streß mit Depression zu reagieren. Während seiner Studienzeit im College, als seine Eltern sich scheiden ließen, hatte William eine ziemlich schwere Depression durchgemacht. Später, als eine ernsthafte Liebesbeziehung in die Brüche ging, war er wieder durch eine Phase der Verstimmung und lähmender Teilnahmslosigkeit gegangen. William selbst hielt diese Episoden der Traurigkeit und Niedergeschlagenheit nie für etwas anderes als natürliche Reaktionen auf leidvolle Lebensereignisse. Die kurz zurückliegende Beförderung und der damit einhergehende erhöhte Streß in Kombination mit Williams Tendenz, auf starken Streß mit Depression zu reagieren, waren vermutlich für die gegenwärtige Entwicklung verantwortlich.

Wie passen Beziehungen sich einer Depression an?

Wenn wir uns an den typischen Verlauf des SAD-Prozesses erinnern, der im ersten Kapitel dargestellt wurde, können wir sehen, wie Karen und Williams Arbeitskollegen sich durch die Phasen des Konflikts, der Reaktion und der Informationssuche hindurchbewegten; sie erkannten jedoch nicht, daß William depressiv war, und drangen letztlich nicht bis zur Problemlösungsphase vor. Um zu verdeutlichen, wie Beziehungen sich der Depression eines geliebten Menschen anpassen, wollen wir genauer darauf eingehen, wie William und die Menschen, die ihm nahestanden, in die Sackgasse gerieten, während sie den SAD-Prozeß durchliefen, und was ihnen ermöglicht hätte, umsichtiger auf die Veränderungen, die sie bemerkten, zu reagieren.

Das Konfliktstadium ist gewöhnlich dadurch gekennzeichnet, daß in der Beziehung Spannungen auftauchen, die man nicht mehr ignorieren kann. Williams Arbeitskollegen fiel auf, wie reizbar ihr neuer Chef plötzlich war, und daß er auf kleine Probleme im Arbeitsalltag mit übertriebener Schärfe und Ungeduld reagierte. Karen beobachtete noch einschneidendere Veränderungen in ihrer Beziehung zu William; er zeigte kein Interesse mehr an ihrem Sexualleben, er war mürrisch und unduldsam und zog sich von ihr und den Kindern zurück.

Da Sie dieses Buch sicherlich nicht ohne Grund zur Hand genommen haben, liegt die Vermutung nahe, daß Sie und die Person, um die Sie sich Sorgen machen, bereits in das Konfliktstadium eingetreten sind. Vielleicht ging es Ihnen ähnlich wie Karen, und Sie haben bemerkt, daß der Mensch, der Ihnen nahesteht, sich auf sich selbst zurückgezogen hat und daß es schwierig geworden ist, mit ihm oder ihr zurechtzukommen. Anders als Karen hatten Sie jedoch schon eine Ahnung, daß die Schwierigkeiten in der Beziehung mit einer Depression zusammenhängen könnten. Also sind Sie bereits einen Schritt weiter – in dem Sinn, daß sie die Depression als den Tatverdächtigen ausgemacht haben und sich nun bemühen, sich über dieses Problem zu informieren, um sich selbst und Ihren geliebten Menschen vor weiterem Schaden zu bewahren. Es ist gar nicht so leicht, im Konfliktstadium eine Depression zu erkennen.

Im Reaktionsstadium versuchte Karen, mit William ins Gespräch zu kommen und herauszufinden, was mit ihm vorging, aber als sie damit keinen Erfolg hatte, zog sie vorschnelle Schlüsse. Sie versuchte, die verlorengegangene Intimität durch ein romantisches Abendessen zu zweit wiederherzustellen. Williams Mitarbeiter reagierten anders. Ein Kollege sprach ihn direkt auf sein verändertes Verhalten an; andere versuchten, mit ihm zu argumentieren, wenn er sich ungerecht und unduldsam verhielt. Bemühungen und Interventionen dieser Art sind typische Reaktionen auf Spannungen in einer Beziehung. Wenn wir mit jemandem nicht zurechtkommen, versuchen wir impulsiv, Kontaktangebote zu machen, um die Differenzen beizulegen. Karen und Williams Arbeitskollegen wußten jedoch nicht weiter, als William auf ihre Angebote nicht reagierte; er war auch nicht in der Lage, aus sich herauszugehen und ihnen zu sagen, daß er Depressionen hatte. Um herauszufinden, ob jemand depressiv ist, müssen wir in der Regel sehr spezifische Fragen stellen.

In der Phase der Informationssuche stellten die Menschen, die William nahestanden, verschiedene Theorien darüber auf, was ihm fehlte oder ihn belastete. Sie versuchten herauszufinden, wo die Ursachen der Schwierigkeiten in ihren Beziehungen zu William lagen. Manche Arbeitskollegen klatschten über ihn und fragten sich, ob seine neue Position ihm zu Kopf gestiegen war. Andere vermuteten, daß ihm ein medizinisches Problem zu schaffen machte; sie beobachteten ihn, um zu sehen, ob er Medikamente einnahm oder vom Büro aus mit seinem Arzt telefonierte. Karen vermutete, daß William in ihrer Ehe nicht mehr glücklich war und suchte nach Anhaltspunkten für eine Affäre. Da sie über die Anzeichen und Symptome der Depression nichts wußten, kamen die Menschen in Williams nächster Umgebung überhaupt nicht auf die Idee, daß er depressiv sein könnte. Nur wenn sie zumindest einige grundlegende Kenntnisse über Depressionen gehabt hätten, wären sie in der Lage gewesen, zu erkennen, was mit William vor sich ging.

Problemlösung ist das letzte Stadium im Anpassungsprozeß einer Beziehung an die Depression. Weder Karen noch Williams Arbeitskollegen drangen bis zu diesem Stadium vor. Eine konstruktive Lösung für das Problem zu finden würde bedeuten, eine adäquate Therapie für die Depression einzuleiten und die depressive Person in einer Weise zu unterstützen, die geeignet ist, das Konfliktniveau in der Beziehung zu reduzieren. In den folgenden Kapiteln geben wir ihnen detaillierte Ratschläge, wie sie in unterschiedlichen Situationen geeignete Problemlösungen entwickeln können. Oft sind Problemlösungsstrategien ineffizient, insbesondere wenn das notwendige Wissen über das Problem nicht vorhanden ist. Da Karen und Williams Arbeitskollegen nicht genügend Informationen über Williams Problem hatten, konnten sie nicht erreichen, daß er sich mit ihrer Hilfe besser fühlte, und sie konnten auch sich selbst nicht helfen, die veränderte Situation besser zu bewältigen. Da sie von falschen Voraussetzungen ausgingen, führte ihr Handeln vielmehr dazu, daß das Konfliktniveau in ihren Beziehungen zu William weiter anstieg. Wir sind der Ansicht, daß nur ein klares Verständnis der Depression und ihrer Auswirkungen auf Beziehungen Ihnen helfen kann, die Situation mit dem depressiven Menschen, den Sie lieben, in den Griff zu bekommen. Obwohl der Rest dieses Buches darauf abzielt, Ihnen und Ihrem geliebten Menschen aufzuzeigen, wie Sie der Depression gemeinsam entgegenwirken können, konzentriert sich dieses Kapitel auf die Informationen, die Sie brauchen, um zu erkennen, ob die Person, die ihnen nahesteht, in der Tat depressiv ist.

Retrospektiv betrachtet kann man sagen, daß Karen und Williams Arbeitskollegen in den ersten beiden Phasen – Konflikt und Reaktion – durchaus adäquat reagierten; sie bemerkten das Problem und versuchten, mit William darüber zu sprechen. Aber in der Phase der Informationssuche gerieten sie in eine Sackgasse. Mit dem entsprechenden Wissen hätten sie erkannt, daß Williams erhöhte Reizbarkeit und Launenhaftigkeit, seine Schlafstörungen, sein Appetit- und Gewichtsverlust und sein mangelndes Interesse an den gewohnten Aktivitäten typische Kennzeichen einer klinischen Depression waren. Ohne dieses Wissen hatten sie jedoch nicht die geringste Möglichkeit, ihm bei der Überwindung seiner Depression behilflich zu sein.

Diese Situation ist durchaus nicht ungewöhnlich. Wenn ein geliebter Mensch anfängt, sich anders zu verhalten als wir es von ihm kennen, suchen wir nach Erklärungen, aber daß eine klinische Depression der Grund sein könnte, kommt uns im allgemeinen nicht in den Sinn, weil wir nicht genug darüber wissen, oder weil wir nicht wahrhaben wollen, daß jemand, den wir lieben, depressiv ist. Wir denken vielleicht eher an Belastungen von außen, Streß im Beruf, familiäre Probleme, eine unerkannte physische Krankheit. Und die meisten von uns machen sich natürlich Gedanken darüber, ob wir den anderen gekränkt oder verärgert haben, oder ob er oder sie sich in der Beziehung nicht mehr wohlfühlt. In unserer Praxis hören wir von Angehörigen, Partnern oder Freunden depressiver Patienten oft, daß sie eine Depression anfangs nicht in Betracht zogen, weil der andere «eigentlich gar nicht so niedergeschmettert» erschien oder «nicht die ganze Zeit weinte». Manche sagten sogar, daß sie bis zu dem Zeitpunkt, zu dem bei ihrem geliebten Menschen eine Depression diagnostiziert wurde, angenommen hatten, der Begriff «Depression» sei für «Geisteskranke» oder Leute mit Selbstmordideen reserviert. Tatsächlich können Depressionen aber viele unterschiedliche Formen annehmen, und auch die Art der Veränderungen in der Persönlichkeit und im Verhalten kann sehr unterschiedlich sein. Die gute Nachricht ist, daß eine Depression, sobald sie korrekt diagnostiziert wurde, fast immer erfolgreich behandelt werden kann.

Da klinische Depressionen in sehr unterschiedlichem Gewand auftreten, sind sie manchmal schwer zu erkennen. Eines der Probleme ist, daß die Symptome sich manchmal erst allmählich und über einen längeren Zeitraum hinweg auffällig entwickeln und daß die Veränderungen nicht immer sofort wahrnehmbar sind. Wenn wir über das Syndrom der klinischen Depression sprechen, meinen wir einen Komplex von Symptomen, der sich in der Regel im Lauf von einigen Wochen entwickelt. Ihre eigenen Gefühle und Reaktionen sind die besten seismographischen Instrumente, die Sie benutzen können, um solche Veränderungen zu registrieren und die charakteristischen Merkmale einer klinischen Depression zu erkennen.

Was ist eine Depression?

Das Wort «Depression» wird in sehr unterschiedlichen Bedeutungen gebraucht. Im Alltag hören wir oft, daß jemand sagt «ich bin heute depressiv», und gemeint ist eines der normalen Stimmungstiefs, die kommen und gehen. Wenn Psychiater oder Psychologen von Depression sprechen, sind diese vorübergehenden Verstimmungen jedoch nicht gemeint. Der Begriff «klinische Depression» bezieht sich auf eine Konstellation von Merkmalen und Symptomen, die das Verhalten und Leistungsvermögen einer Person wesentlich beeinträchtigen und über einen längeren Zeitraum hinweg bestehen bleiben. Traurigkeit ist eine natürliche Reaktion auf leidvolle Lebenserfahrungen wie das Ende einer Liebesbeziehung, eine Enttäuschung im Beruf oder einen Konflikt, der nicht lösbar ist. Wir alle gehen durch Phasen der Niedergeschlagenheit mit vorübergehenden Symptomen der depressiven Verstimmung, aber im allgemeinen bewältigen wir unseren Alltag und unser Leben in gewohnter Weise weiter und erholen uns schließlich ohne Behandlung. Eine wirkliche Depression dauert länger, geht gewöhnlich mit heftigeren Symptomen einher und bedarf in aller Regel der Behandlung, um überwunden zu werden. Sie beeinträchtigt das Fühlen und Denken, das Verhalten und die physische Leistungsfähigkeit.

Es kann schwierig sein, diese Störung zu erkennen, denn alle ihre Symptome kommen periodisch bei praktisch jedem normalen Menschen vor, und sie sind als definitive diagnostische Kriterien schlecht geeignet. Aus zahlreichen Studien geht hervor, daß im Durchschnitt einer von fünf Patienten, die ärztliche Beratung suchen, schwer depressiv ist, aber häufig bleiben Depressionen unbemerkt. Die National Depressive Foundation berichtet, daß zwei von drei Menschen mit psychischen Störungen wie Depression keine angemessene Behandlung erhalten, weil ihre Symptome nicht erkannt oder falsch diagnostiziert werden. Depressionen treten oft maskiert auf oder werden verschwiegen, entweder vom Patienten selbst oder von Familienmitgliedern, zum einen, weil die Störung schwer zu erkennen ist, und zum anderen, weil viele Menschen sich schwer damit tun, sich einzugestehen, daß etwas nicht in Ordnung ist.

Ein weiteres Problem bei der Diagnose der Depression liegt darin, daß sie oft in Verbindung mit anderen psychischen Störungen oder physischen Krankheiten auftritt. Wenn jemand über gesundheitliche Probleme klagt, kann eine bestehende Depression leicht übersehen werden. Es ist seit langem bekannt, daß Depressionen mit Herzerkrankungen, Schlaganfällen oder Krebsleiden einhergehen können. Von Ärzten wurde das durchaus erkannt; sie fanden es verständlich, daß Patienten mit schweren Erkrankungen unter Streß standen oder niedergeschmettert waren, aber die Depression als solche galt lange Zeit nicht als behandlungsbedürftig. In jüngster Zeit hat sich unter Ärzten jedoch die Erkenntnis durchgesetzt, daß physisch kranke Patienten unter Umständen auch klinisch depressiv sein können. Aus Studien geht hervor, daß diagnostizierbare Depressionen bei 50% der Patienten auftreten, die nach einem Schlaganfall ins Krankenhaus eingeliefert wurden, bei 15 bis 20% der Patienten, die einen Herzinfarkt erlitten, und bei 8,5 bis 27% der Patienten, die an Diabetes leiden. Nach den gegenwärtigen Erkenntnissen muß die Depression gesondert behandelt werden, weil sie eine wirkliche Krankheit ist, und weil sie die Genesung und Rehabilitation des Patienten von der physischen Erkrankung ernsthaft behindern kann. Die meisten Psychiater und Psychotherapeuten bestehen auf einer medizinischen Untersuchung, um auszuschließen, daß physische Krankheiten vorliegen, die zu einer Depression beitragen oder die Symptomatik einer Depression imitieren können. Umgekehrt werden mehr und mehr Ärzte auf das Problem der Depression aufmerksam und berücksichtigen es, wenn sie allgemeine medizinische Untersuchungen vornehmen.

Auf Karens Drängen ging William schließlich zu seinem Hausarzt und sagte ihm, er leide unter Erschöpfung und Konzentrationsschwäche. Der Arzt nahm ihm Blut ab, um einige Labortests zu machen, verschrieb ihm Vitamine und verordnete ihm mehr Ruhe, aber die Depression erkannte er nicht. Daß der Hausarzt Williams Zustand nicht korrekt als Depression diagnostizierte, lag wahrscheinlich unter anderem daran, daß William selbst sich nicht als depressiv sah und keine Andeutung machte, die in diese Richtung ging. William wußte vermutlich, daß mit ihm etwas nicht in Ordnung war, aber die Vorstellung, daß er unter einer Depression leiden könnte, kam ihm gar nicht in den Sinn, oder wenn doch, dann schob er sie schnell beiseite. Das Eingeständnis, daß man sich depressiv fühlt, kommt für viele Leute dem Bekenntnis gleich, man sei verrückt oder ein Schwächling. Verleugnung ist bei Menschen wie William, die der Ansicht sind, daß man seine persönlichen Probleme am besten für sich behält, eine sehr verbreitete Reaktion. Menschen, die sich als unabhängig und tatkräftig betrachten und stolz darauf sind, haben es besonders schwer, sich einzugestehen, daß sie nicht fähig sind, sich aus eigener Kraft aus ihrem Tief herauszureißen, und daß sie Hilfe brauchen.

Auch Angehörige oder Freunde wollen sich vielleicht nicht mit der Tatsache konfrontieren, daß jemand, den sie lieben, depressiv ist, und sie suchen verzweifelt nach anderen Erklärungen für die Veränderungen im Verhalten des geliebten Menschen. Ein Ehepartner einer depressiven Frau war zum Beispiel felsenfest davon überzeugt, daß es ihr besser gehen würde, wenn er nur mehr Geld verdienen würde. Er suchte sich einen neuen Job und brachte wesentlich mehr Geld nach Hause, aber die Symptome seiner Frau blieben dennoch bestehen. Erst an diesem Punkt begann er, die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, daß sie depressiv sein könnte. Später gab er zu, er habe den Gedanken an eine Depression weit von sich geschoben, weil er Angst vor der Reaktion von Angehörigen und Freunden hatte, wenn sie von der «Geisteskrankheit» seiner Frau erfahren würden. Unglücklicherweise haftet psychiatrischen Diagnosen immer noch ein soziales Stigma an, und viele Menschen wissen nicht, wie ungemein verbreitet Depressionen sind und daß sie erfolgreich behandelt werden können.

Von allen psychischen Störungen spricht die Depression am besten auf Behandlung an. Wenn sie eine adäquate Therapie erhalten, können 80 bis 90% der Menschen, die unter Depressionen leiden, geheilt werden. Bei den restlichen 10 oder 20% kann zumindest eine Milderung ihrer depressiven Symptome erreicht werden. Diese Situation ist eindeutig hoffnungsvoll, aber eines der größten Hindernisse bei der Behandlung der Depression ist leider die Tatsache, daß sie so oft übersehen oder ignoriert wird. Nur wenn Sie die Depression eines geliebten Menschen erkennen und vor dieser Erkenntnis nicht die Augen verschließen, können Sie mehr darüber lernen, was es mit dieser komplizierten Störung auf sich hat, und was Sie tun können, um sowohl sich selbst als auch dem anderen zu helfen.

Wodurch werden Depressionen verursacht?

Wenn wir erfahren, daß jemand, den wir lieben, depressiv ist, fragen wir uns als erstes, woher das kommt. Wo liegen die Ursachen? Ist es genetisch? Habe ich etwa irgendwie dazu beigetragen? Es ist nur natürlich, daß wir uns darüber den Kopf zerbrechen. Zum Glück finden wir heute einige Antworten auf unsere Fragen, denn in den letzten zwei Jahrzehnten wurde sehr viel nach den Ursachen der Depression geforscht.

Obwohl die genauen Mechanismen, die für die Depression verantwortlich sind, nicht isoliert werden konnten, und obwohl immer noch kontrovers diskutiert wird, ob biochemische oder psychosoziale Faktoren ausschlaggebend sind, stimmen die meisten Wissenschaftler darin überein, daß gewöhnlich eine Reihe von Faktoren – biochemische und psychologische – in ihrem Zusammenwirken zum Auslöser einer Depression werden. Aufgrund ihrer biochemischen und genetischen Anlagen sind manche Menschen anfälliger für Depressionen, wenn sie mit belastenden Lebenssituationen konfrontiert sind, als andere, die denselben Streßfaktoren unterliegen. (Im 12. und 13. Kapitel kommen wir im Zusammenhang mit medizinischen Behandlungsmethoden für Depressionen auf das Thema biochemische versus psychologische Ursachen zurück.)

Depressionen wurden mit Funktionsstörungen gewisser Neurotransmitter im Gehirn in Verbindung gebracht. Neurotransmitter sind chemische Botenstoffe, die elektrische Signale von einer Nervenzelle zur anderen überleiten und so letztlich Verhaltensweisen, Fühlen und Denken bestimmen. Man nimmt an, daß ein Defizit der Neurotransmitter Serotonin und Norepinephrin für depressive Symptome mitverantwortlich ist, aber auch andere Botenstoffe wie Dopamin, die noch nicht vollständig erforscht sind, könnten bei der Entwicklung der Depression eine Schlüsselrolle spielen. Andere Wissenschaftler vertreten die Auffassung, daß bei Menschen, die unter Depressionen leiden, möglicherweise endokrine Anomalien vorliegen. Die endokrinen Drüsen sind für die Produktion und die Wirkungsweise der körpereigenen Hormone verantwortlich. In manchen Studien wurden Depressionen mit Hypothyreose, einer Unterfunktion der Schilddrüse, in Zusammenhang gebracht.