Wenn der Schläfer erwacht - H.G. Wells - E-Book

Wenn der Schläfer erwacht E-Book

H G Wells

4,4

Beschreibung

"Wenn der Schläfer erwacht" (engl: "When the Sleeper Wakes") ist ein dystopischer Roman des britischen Autors H. G. Wells aus dem Jahre 1899. Es handelt sich um einen von Wells ehrgeizigsten Romanen, der aber den Autor selbst und die Kritiker kaum zufriedenstellte. Erzählungsaufbau, Plotstruktur und Figurendarstellung schienen zu diesem Zeitpunkt noch verbesserungsbedürftig. Anlässlich der Neuauflage des Werkes im Jahre 1911 nutzte Wells deshalb die Gelegenheit zu etlichen Veränderungen. Die Neuauflage des Romans erschien im englischsprachigen Raum fortan unter dem Titel "The Sleeper Awakes".

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Inhaltsverzeichnis

Schlaflosigkeit

Scheintod

Das Erwachen

Der Lärm eines Aufruhr

Die gleitenden Straßen

Die Halle des Atlas

In den stillen Zimmern

Die Dachräume

Das Volk marschiert

Die Schlacht des Dunkels

Der Alte, der alles wußte

Ostrog

Hervorragende Leute

Aus dem Krähennest

Das Ende der alten Ordnung

Der Aeropile

Drei Tage

Graham besinnt sich

Ostrogs Gesichtspunkt

Auf den Wegen der Stadt

Unten

Der Kampf im Rathaus

Während die Aeroplanen heranzogen

Die Ankunft der Aeroplanen

1. Schlaflosigkeit

Eines Nachmittags ging Mr. Isbister, ein junger Künstler, der in Boscastle wohnte, zur Ebbezeit von diesem Ort nach der malerischen Bucht von Pentargen, weil er die Höhlen dort zu untersuchen wünschte. Halbwegs den steilen Pfad zum Strand von Pentargen hinunter traf er plötzlich auf einen Menschen, der in der Stellung tiefen Grames unter einer vorspringenden Felsmasse saß. Die Hände hingen diesem jungen Mann schlaff herab, seine Augen waren rot, er starrte vor sich hin, und sein Gesicht war von Tränen naß.

Bei dem Geräusch von Isbisters Schritten blickte er sich um. Beide Männer waren aus der Fassung gebracht, Isbister am meisten, und um die Verlegenheit seiner unwillkürlichen Pause zu überwinden, bemerkte er mit einer Miene reifer Überzeugung, das Wetter sei heiß für die Jahreszeit.

»Sehr,« antwortete der Fremde kurz, zögerte eine Sekunde und fügte in farblosem Tone hinzu: »Ich kann nicht schlafen.«

Isbister blieb abrupt stehen. »Nein?« war alles, was er sagte, aber seine Haltung verriet seinen hilfreichen Impuls.

»Es mag unglaublich klingen,« sagte der Fremde, indem er müde Augen auf Isbisters Gesicht wandte und seinen Worten mit einer schlaffen Hand Nachdruck lieh, »aber ich habe keinen Schlaf, überhaupt keinen Schlaf, schon seit sechs Nächten.«

»Rat eingeholt?«

»Ja. Schlechten Rat zum größten Teil. Medizinen. Mein Nervensystem ... Sie sind für die meisten Leute ja recht schön und gut. Es ist schwer zu erklären. Ich wage nicht ... genügend starke Dosen zu nehmen.«

»Das macht es schwierig,« sagte Isbister.

Er stand hilflos auf dem engen Pfad, in Verlegenheit, was er tun sollte. Offenbar wollte der Fremde reden. Ein unter den Umständen ziemlich natürlicher Gedanke trieb ihn, das Gespräch in Gang zu halten. »Ich selber habe nie unter Schlaflosigkeit gelitten,« sagte er im Ton der Alltagsplauderei, »aber in den Fällen, die ich gekannt habe, haben die Leute gewöhnlich etwas gefunden –«

»Ich wage nicht zu experimentieren.«

Er sprach müde. Er machte eine Geste der Abweisung, und eine Zeitlang waren beide Männer still.

»Bewegung?« regte Isbister ohne Vertrauen an, indem er von des anderen elendem Gesicht auf den Touristenanzug blickte, den er trug.

»Das habe ich versucht. Unklugerweise, vielleicht. Ich bin Tag für Tag der Küste gefolgt – von New Quai her. Das hat zu der geistigen Ermüdung nur die der Muskeln hinzugefügt. Die Ursache dieser Unrast war Überarbeitung – Aufregung. Ich hatte etwas –«

Er hielt wie vor bloßer Ermüdung inne. Er rieb sich mit einer hageren Hand die Stirn. Er begann wieder zu sprechen, wie einer, der mit sich selber redet.

»Ich bin ein einzelner Wolf, ein einsamer Mensch, der durch eine Welt wandert, an der er keinen Teil hat. Ich habe keine Frau – kein Kind – wer spricht doch noch von den Kinderlosen als den toten Zweigen auf dem Baum des Lebens? Ich habe keine Frau, kein Kind – ich konnte keine Aufgabe finden, die ich zu erfüllen hatte. Nicht einmal einen Wunsch in meinem Herzen. Eins nahm ich mir schließlich vor.

»Ich sagte, ich will dies tun, und um es zu tun, um die Trägheit dieses stumpfen Körpers zu überwinden, nahm ich meine Zuflucht zu Arzneien! Ich weiß nicht, ob Sie fühlen, wie schwer und unbequem der Körper ist, wie seine Forderung der Zeit vom Geist – der Zeit – des Lebens erbittert! Leben! Wir leben nur stoßweise. Wir müssen essen, und dann kommt die stumpfe Selbstgefälligkeit der Verdauung – oder ihre Gereiztheit. Wir müssen Luft schöpfen, oder unsere Gedanken werden träg, stupid, sie laufen in Abgründe und blinde Gassen. Tausend Ablenkungen steigen drinnen und draußen auf, und dann kommt die Schläfrigkeit und der Schlaf. Die Menschen scheinen für den Schlaf zu leben. Wie wenig vom Tag des Menschen gehört ihm – selbst im besten Falle! Und dann kommen diese falschen Freunde, diese Taghelfer, die Alkaloide, die die natürliche Ermattung ersticken und die Ruhe töten – schwarzer Kaffee, Kokain –«

»Ich verstehe,« sagte Isbister.

»Ich habe meine Arbeit getan,« sagte der schlaflose Mann mit klagendem Tonfall.

»Und dies ist der Preis?«

»Ja.«

Eine kleine Zeitlang verharrten die beiden schweigend.

»Sie können sich das Verlangen nach Ruhe, das ich fühle, nicht vorstellen – einen Hunger und Durst. Seit sechs langen Tagen, seit meine Arbeit getan war, ist mein Geist ein Wirbel gewesen, rasch, unaufhörlich, ohne von der Stelle zu rücken, ein Gießbach von Gedanken, der nirgends hinführt, der sich schnell und stetig herumwirbelt –«

Er machte eine Pause. »Auf den Abgrund zu.«

»Sie müssen schlafen,« sagte Isbister entschieden und mit der Miene, als habe er ein Mittel entdeckt. »Auf jeden Fall müssen Sie schlafen.«

»Mein Geist ist vollkommen klar. Er ist nie klarer gewesen. Aber ich weiß, ich schieße auf den Wirbel zu. Plötzlich –«

»Ja?«

»Sie haben Dinge einen Wirbel hinunterschießen sehen? Aus dem Licht des Tages, aus dieser frischen Welt der Gesundheit – hinunter –«

»Aber,« protestierte Isbister.

Der Fremde streckte eine Hand gegen ihn aus, und seine Augen waren wild, und seine Stimme plötzlich stark. »Ich werde mich töten. Wenn auf keine andere Art – am Fuße des dunklen Abhangs da, wo die grünen Wellen sind, und wo sich die weiße Brandung hebt und senkt, und der kleine Wasserfaden hinabzittert. Da ist auf jeden Fall ... Schlaf.«

»Das ist unvernünftig,« sagte Isbister, erschreckt durch den hysterischen Gefühlsausbruch des Menschen. »Da sind Arzneien immer noch besser.«

»Auf jeden Fall gibt es mir Schlaf,« wiederholte der Fremde, ohne auf ihn zu achten.

Isbister blickte ihn an und fragte sich flüchtig, ob wohl wirklich irgendeine komplizierte Vorsehung sie an diesem Nachmittag zusammengeführt habe. »Das ist nicht so sicher, wissen Sie,« bemerkte er. »In Lulworth Cove steht eine ähnliche Klippe – auf jeden Fall ebenso hoch – und da ist ein kleines Mädchen von oben bis unten hinuntergefallen. Und lebt heute noch – gesund und munter.«

»Aber diese Felsen?«

»Da könnte man eine kalte Nacht hindurch ziemlich unangenehm liegen, wenn einem die zerbrochenen Knochen knirschen, sobald man fröstelt, und kaltes Wasser über einen spritzt. Eh?«

Ihre Augen begegneten sich. »Tut mir leid, Ihre Ideale zu zerstören,« sagte Isbister mit einem Gefühl kecken Glanzes. »Aber ein Selbstmord über die Klippe da (oder über irgendeine Klippe) – wahrhaftig – als Künstler –« Er lachte. »Es ist so verdammt dilettantisch.«

»Aber das andere,« sagte der Schlaflose gereizt, »das andere. Kein Mensch kann gesund bleiben, wenn er Nacht für Nacht –«

»Sind Sie diese Küste entlang gewandert?«

»Ja.«

»Das törichteste, was man tun kann. Entschuldigen Sie, daß ich das sage. Allein! Wie Sie sagen: Körperermüdung ist kein Mittel gegen Gehirnermüdung. Wer hat Ihnen das geraten? Kein Wunder; Gehen! Und diese Sonne auf dem Kopf, Hitze, Anstrengung, Einsamkeit, den ganzen Tag lang, und dann, denk ich mir, gehn Sie zu Bett und geben sich rechte Mühe – eh?«

Isbister hielt inne und blickte zweifelhaft auf den Leidenden.

»Sehn Sie diese Felsen an!« rief der Sitzende mit einer plötzlichen Kraft der Geste. »Sehn Sie die See an, die da seit ewig geglänzt und gezittert hat! Sehn Sie den weißen Schaum da unter der großen Klippe ins Dunkel stürzen. Und dies blaue Gewölbe, aus dessen Kuppel die blendende Sonne hinunterstrahlt. Sie nehmen das hin. Sie freuen sich darüber. Es wärmt und stützt und ergötzt Sie. Und für mich –«

Er wandte den Kopf und zeigte ein gespenstisches Gesicht, blutunterlaufene, bleiche Augen und blutlose Lippen. Er sprach fast flüsternd. »Das ist das Kleid meines Elends. Die ganze Welt ... ist das Kleid meines Elends.«

Isbister blickte auf die ganze wilde Schönheit der sonnenbeleuchteten Klippen rings und zurück auf jenes Gesicht der Verzweiflung. Einen Moment schwieg er.

Er fuhr zusammen und machte eine Geste ungeduldiger Abwehr. »Sie sollen eine Nacht schlafen,« sagte er, »und da sehn Sie hier draußen nicht mehr viel Elend. Nehmen Sie mein Wort drauf.«

Er war jetzt ganz sicher, daß dies eine Begegnung der Vorsehung war. Noch vor einer halben Stunde hatte er sich furchtbar gelangweilt gefühlt. Hier war Beschäftigung, an die nur zu denken, aufrichtiger Selbstbeifall war. Er ergriff alsbald Besitz. Ihm schien, das erste Bedürfnis dieses erschöpften Wesens war Gesellschaft. Er warf sich auf die steil abfallende Wiese neben der reglos sitzenden Gestalt hin und entfaltete alsbald eine scharmützelnde Linie von Geplauder.

Sein Zuhörer schien wieder in Apathie versunken zu sein; er starrte finster aufs Meer und sprach nur, wenn er Isbister auf direkte Fragen antwortete – und auch da nicht bei allen. Aber er gab kein Zeichen des Protestes gegen diese wohlwollende Unterbrechung seiner Verzweiflung von sich.

Auf eine hilflose Art schien er sogar dankbar, und als dann Isbister, der fühlte, daß sein Gespräch ohne die Hilfe des andern an Kraft verlor, vorschlug, den Abhang wieder hinaufzusteigen und nach Boscastle zurückzukehren, indem er die Aussicht nach Blackapit rühmte, fügte er sich ruhig. Halbwegs hinauf, begann er mit sich selbst zu reden und wandte seinem Helfer unvermutet ein gespenstisches Gesicht zu. »Was kann nur los sein?« fragte er, während seine hagere Hand illustrierte, »was kann nur los sein? Spinn, spinn, spinn, spinn. Es geht rund und rund, immerfort rund und rund.«

Er stand still und beschrieb mit der Hand Kreise.

»Alles in Ordnung, alter Junge,« sagte Isbister mit der Miene eines alten Freundes. »Plagen Sie sich nicht. Vertrauen Sie mir.«

Der Fremde ließ den Kopf sinken und drehte sich wieder um. Sie gingen hintereinander den Kamm entlang, und dann zu der Landzunge hinter Penally, und immer gestikulierte der Schlaflose von Zeit zu Zeit und sagte fragmentarische Dinge über sein wirbelndes Gehirn. Auf dem Vorgebirge standen sie eine Zeitlang neben der Bank, von der man in die schwarzen Geheimnisse von Blackapit hinabblickt, und dann setzte er sich. Isbister hatte sein Gespräch wieder aufgenommen, so oft der Pfad breit genug gewesen war, daß sie nebeneinander gehen konnten. Er erging sich darüber, wie schwierig es sei, Boscastle Hafen bei schlechtem Wetter zu nehmen, als sein Gefährte ihn plötzlich und ganz unvermittelt von neuem unterbrach.

»Mein Kopf ist nicht, wie er war,« sagte er und gestikulierte aus Mangel an ausdrucksvollen Worten. »Er ist nicht mehr, wie er war. Ich fühle eine Art von Druck, ein Gewicht. Nein – keine Schläfrigkeit, wollte Gott, das wäre es! Es ist wie ein Schatten, ein tiefer Schatten, der plötzlich und schnell über etwas Geschäftiges fällt. Es spinnt und spinnt ins Dunkel. Der Tumult der Gedanken, der Wirrwarr, der Wirbel und Wirbel! Ich kann es nicht ausdrücken. Ich kann kaum den Geist darauf konzentrieren – nicht stetig genug, um es Ihnen zu sagen.«

Er hielt vor Schwäche inne.

»Keine Angst, alter Junge,« sagte Isbister. »Ich glaube, ich kann es verstehen. Auf jeden Fall kommt es vorläufig nicht sehr darauf an, ob Sie's mir sagen können.«

Der Schlaflose drückte sich die Finger in die Augen und rieb sie. Isbister redete eine Weile, während dieses Reiben fortdauerte, und dann hatte er einen neuen Gedanken. »Kommen Sie in mein Zimmer hinunter und versuchen Sie eine Pfeife. Ich kann Ihnen ein paar Skizzen von diesem Blackapit zeigen. Wenn Sie mögen?«

Der andere stand gehorsam auf und folgte ihm den Abhang hinunter.

Mehrere Male hörte Isbister ihn stolpern, als sie hinunterstiegen, und seine Bewegungen waren langsam und zögernd. »Kommen Sie mit hinein,« sagte Isbister, »und probieren Sie ein paar Zigaretten und die gesegnete Gabe des Alkohols. Wenn Sie Alkohol trinken?«

Der Fremde zögerte an der Gartenpforte. Er schien sich seiner Handlungen nicht mehr klar bewußt zu sein. »Ich trinke nicht,« sagte er langsam, als er den Gartenpfad entlang ging, und nach einer momentanen Pause wiederholte er geistesabwesend: »Nein – ich trinke nicht. Es geht herum. Spinn, geht es – spinn –«

Er stolperte auf der Schwelle und trat in der Haltung eines Menschen, der nichts sieht, ins Zimmer.

Dann setzte er sich plötzlich und schwer in den Lehnstuhl, schien fast hineinzufallen. Er lehnte sich mit der Stirn in den Händen nach vorn und wurde regungslos.

Dann gab er ein leichtes Geräusch in der Kehle von sich. Isbister ging mit der Nervosität eines unerfahrenen Gastgebers im Zimmer umher und ließ kleine Bemerkungen fallen, die kaum einer Antwort bedurften. Er ging durchs Zimmer zu seiner Mappe, legte sie auf den Tisch und sah auf die Kaminuhr.

»Ich weiß nicht, ob Sie bei mir zu Nacht essen mögen,« sagte er mit einer noch nicht angezündeten Zigarette in der Hand – sein Geist brütete unruhig über dem Plan, dem Fremden heimlich Chloral beizubringen. »Nur kalter Hammel, wissen Sie, aber wundervoll frisch. Aus Wales. Und eine Pastete, glaube ich.« Er wiederholte dies nach einem kurzen Schweigen.

Der Sitzende gab keine Antwort. Isbister unterbrach sich mit dem Streichholz in der Hand und sah ihn an.

Die Stille dauerte fort. Das Streichholz erlosch, die Zigarette wurde unangezündet hingelegt. Der Fremde war auf jeden Fall sehr still. Isbister nahm die Mappe auf, öffnete sie, legte sie wieder hin, zögerte, schien sprechen zu wollen. »Vielleicht,« flüsterte er zweifelnd. Er blickte auf die Tür und wieder auf die Gestalt zurück. Dann stahl er sich auf den Zehenspitzen aus dem Zimmer, indem er bei jedem vorsichtigen Schritt auf seinen Gefährten blickte.

Er schloß die Tür geräuschlos. Die Haustür stand offen, und er trat hinaus und blieb da stehen, wo an der Ecke des Gartenbeetes der Eisenhut stand. Von diesem Punkt aus konnte er durch das offene Fenster den Fremden sehen, der still und dunkel, mit dem Kopf auf der Hand, dasaß. Er hatte sich nicht gerührt.

Eine Anzahl Kinder, die die Straße entlang gingen, blieben stehen und sahen den Künstler neugierig an. Ein Bootsmann tauschte Höflichkeiten mit ihm aus. Er empfand, diese umsichtige Stellung und Haltung mochte eigentümlich und unerklärlich erscheinen. Wenn er rauchte, würde es vielleicht natürlicher erscheinen. Er zog die Pfeife und den Tabaksbeutel aus der Tasche und füllte die Pfeife langsam.

»Ich möchte wissen« ... sagte er mit einer kaum merklichen Einbuße an Selbstgefälligkeit. »Auf jeden Fall muß man ihm eine Möglichkeit geben.« Er zündete sich an der Fußsohle ein Streichholz und mit ihm seine Pfeife an.

Plötzlich hörte er seine Wirtin hinter sich, die mit seiner brennenden Lampe aus der Küche kam. Er drehte sich um und gestikulierte mit der Pfeife und brachte sie an der Tür seines Wohnzimmers zum Stehen. Er hatte einige Mühe, die Situation im Flüstern auseinanderzusetzen, denn sie wußte nicht, daß er Besuch hatte. Sie zog sich mit der Lampe zurück, immer noch, nach ihrem Wesen zu urteilen, ein wenig mystifiziert, und er trat wieder in die Tür, leicht erregt und weniger unbefangen.

Lange, nachdem er seine Pfeife ausgeraucht hatte, und als schon die Fledermäuse herumflogen, besiegte seine Neugier all die komplizierten Bedenken, und er stahl sich in sein dunkles Wohnzimmer zurück. Er blieb in der Tür stehen. Der Fremde saß noch in derselben Haltung dunkel vorm Fenster. Abgesehen davon, daß ein paar Seeleute an Bord der kleinen Schiefertransportschiffe im Hafen sangen, war der Abend sehr still. Draußen standen die Spitzen des Eisenhuts und Delphiniums reglos und aufrecht vor dem Schatten des Hügels. Irgend etwas blitzte in Isbisters Geist auf; er fuhr zusammen, lehnte sich über den Tisch und lauschte. Ein unangenehmer Verdacht wurde stärker, wurde Überzeugung. Erstaunen faßte ihn und wurde zur – Angst!

Die sitzende Gestalt gab kein Geräusch des Atmens von sich.

Er schlich langsam und geräuschlos um den Tisch und hielt zweimal inne, um zu lauschen. Schließlich konnte er die Hand auf den Rücken des Lehnstuhls legen. Er bückte sich, bis die beiden Köpfe mit den Ohren nebeneinander standen.

Dann bückte er sich noch tiefer, um von unten her in das Gesicht seines Besuchers zu blicken. Er fuhr heftig zusammen und stieß einen Ausruf aus. Die Augen waren leere weiße Flecken.

Er blickte noch einmal hin und sah, daß sie offen, und daß die Pupillen unter das Lid hinaufgerollt waren. Er fürchtete sich plötzlich. Von der Unheimlichkeit der Lage des Mannes überwältigt, faßte er ihn an der Schulter und schüttelte ihn. »Schlafen Sie?« sagte er, und seine Stimme schnappte über; und nochmals: »Schlafen Sie?«

Seinen Geist ergriff die Überzeugung, daß der Mann tot war. Er wurde plötzlich beweglich und geräuschvoll, ging durchs Zimmer und schellte.

»Bitte, bringen Sie sofort Licht,« sagte er im Gang. »Mit meinem Freund ist etwas nicht in Ordnung.«

Dann kehrte er zu der reglosen, sitzenden Gestalt zurück, faßte die Schulter, schüttelte sie und schrie. Das Zimmer wurde von gelbem Licht überflutet, als seine erstaunte Wirtin mit der Lampe eintrat. Sein Gesicht war weiß, als er sich ihr blinzelnd zuwandte. »Ich muß sofort einen Doktor holen,« sagte er. »Es ist entweder der Tod oder ein Anfall. Gibt es einen Doktor im Dorf? Wo ist ein Doktor zu finden?«

2. Scheintod

Der Zustand kataleptischer Starrsucht, in den dieser Fremde verfallen war, dauerte eine noch nie dagewesene Zeit, und dann ging er langsam in den schlaffen Zustand über, in eine lose Haltung, die an tiefe Ruhe erinnerte. Da erst konnte man ihm die Augen schließen.

Aus dem Hotel wurde er in das Hospital von Boscastle geschafft, und aus dem Hospital einige Wochen darauf nach London. Aber noch widerstand er jedem Versuch der Wiederbelebung. Nach einiger Zeit wurden diese Versuche aus Gründen, die sich später zeigen werden, nicht mehr fortgesetzt. Lange lag er in jenem seltsamen Zustand, reglos und still – weder tot noch lebendig, sondern gleichsam in der Schwebe, aufgehängt zwischen dem Nichts und dem Dasein. Sein Dunkel war durch keinen Strahl des Gedankens oder der Empfindung gebrochen, es war eine traumlose Leere, ein ungeheurer Raum des Friedens. Der Tumult seines Geistes war zu einer unvermittelten Klimax des Schweigens geschwellt und gestiegen. Wo war der Mann? Wo ist der Mensch, wenn die Besinnungslosigkeit ihn faßt?

»Es ist, als sei es gestern gewesen,« sagte Isbister. »Ich weiß noch alles, wie wenn es gestern gewesen wäre – klarer vielleicht, als wenn es gestern gewesen wäre.«

Es war der Isbister des letzten Kapitels. Aber er war kein junger Mann mehr. Das Haar, das braun und ein wenig länger gewesen war, als die elegante Mode erforderte, war eisengrau und kurz geschoren, und das Gesicht, das rosa und weiß gewesen war, war lederbraun und rot. Er trug einen spitzen und graugesprenkelten Bart. Er sprach mit einem ältlichen Herrn, der einen Sommeranzug aus Drillich anhatte (der Sommer dieses Jahres war ungewöhnlich heiß). Das war Warming, ein Londoner Anwalt und der nächste Verwandte Grahams, des Fremden, der in den Starrkrampf gefallen war. Und die beiden Männer standen Seite an Seite in einem Hause in London und blickten auf seine liegende Gestalt.

Es war eine gelbe Gestalt, die lose auf einem Wasserbett lag und ein langes Hemd trug, eine Gestalt mit verrunzeltem Gesicht und langem Stoppelbart, mit hageren Gliedern und langen Nägeln, und ihn umgab ein Gehäuse aus dünnem Glas. Dieses Glas schien den Schläfer von der Realität des Lebens um ihn abzutrennen, er war ein Ding für sich, eine seltsame, isolierte Anormalität. Die beiden Männer standen nah am Glas und spähten hinein.

»Die Sache gab mir einen Stoß,« sagte Isbister. »Ich spüre noch jetzt ein sonderbares überraschtes Grauen, wenn ich an seine weißen Augen denke. Sie waren ganz weiß, wissen Sie, nach oben gedreht. Jetzt, da ich hier vor ihm stehe, kommt mir all das ins Gedächtnis zurück.«

»Haben Sie ihn seit der Zeit nie gesehen?« fragte Warming.

»Wollte oft kommen,« sagte Isbister; »aber das Geschäft ist heutzutage eine zu ernsthafte Sache, als daß es viel Ferien zu machen erlaubte. Ich bin die meiste Zeit in Amerika gewesen.«

»Wenn ich mich recht erinnere,« sagte Warming, »waren Sie Künstler.«

»War. Und dann wurde ich Ehemann. Ich sah sehr bald, daß es mit der Schwarz- und Weißkunst aus war – wenigstens für einen mittelmäßigen Künstler, und ging mit dem Fortschritt weiter. Die Plakate auf den Klippen bei Dover sind von meinen Leuten.«

»Gute Plakate,« gab der Anwalt zu, »obgleich es mir leid tat, sie da zu sehen.«

»Halten so lange wie die Klippen, wenn's sein muß,« rief Isbister mit Genugtuung aus. »Die Welt ändert sich. Als er vor zwanzig Jahren einschlief, saß ich da unten in Boscastle mit einem Kasten voll Wasserfarben und einem edlen, altmodischen Ehrgeiz. Ich erwartete nicht, daß meine Pigmente noch einmal die ganze englische Küste von Lands End herum bis wieder zum Lizard schmücken würden. Das Glück kommt oft zum Menschen, wenn er nicht daran denkt.«

Warming schien zu zweifeln, ob dies ein Glück war. »Ich verfehlte Sie nur gerade, wenn ich mich recht erinnere.«

»Sie kamen mit dem Wagen zurück, der mich zum Camelford-Bahnhof gebracht hatte. Es war kurz vor dem Jubiläum, Viktorias Jubiläum, denn ich erinnere mich der Tribünen und Fahnen in Westminster und des Streits mit dem Kutscher in Chelsea.«

»Das Diamantjubiläum war es,« sagte Warming; »das zweite.«

»Ah ja! bei dem eigentlichen Jubiläum – der Fünfzig Jahrs-Geschichte – war ich unten in Wookey – als Junge. All das hab' ich versäumt... Was für eine Aufregung wir mit ihm hatten! Meine Wirtin wollte ihn nicht haben – wollte ihn nicht bleiben lassen – er sah so wunderlich aus, als er starr war. Wir mußten ihn auf einem Stuhl ins Hotel hinauftragen. Und der Doktor in Boscastle – es war nicht der jetzige Bursch', sondern der vor ihm – war bis fast zwei Uhr an der Arbeit, und ich und der Wirt hielten ihm die Lampen und so weiter.«

»Es war erst eine kataleptische Starrsucht, nicht wahr?«

»Steif! – wie man ihn auch bog, so blieb er. Man hätte ihn auf den Kopf stellen können, und er wäre da geblieben. Solche Steifheit hab ich nie wiedergesehen. Natürlich ist dies« – er zeigte mit einer Bewegung des Kopfes auf die liegende Gestalt – »ganz anders. Und natürlich hatte der kleine Doktor – wie hieß er gleich?«

»Smithers?«

»Ganz recht, Smithers – nach allen Berichten vollständig unrecht, als er versuchte, ihn so schnell wie möglich zu wecken. Was er alles anfing! Noch jetzt fühl ich mich ganz – uh! Senf, Schnupftabak, Nadeln. Und eins von den scheußlichen kleinen Dingen – nicht Dynamos –«

»Induktionsapparaten.«

»Ja. Man konnte seine Muskeln zucken und springen sehen, und er wand sich umher. Wir hatten gerade zwei flackernde Kerzen, und all die Schatten zitterten, der kleine Doktor war nervös und aufgeregt, und er – wand sich auf die unnatürlichsten Arten, trotz seiner Starrheit. Ah, ich habe noch lange davon geträumt.«

Pause.

»Es ist ein unheimlicher Zustand,« sagte Warming.

»Es ist eine Art vollständiger Abwesenheit,« sagte Isbister. »Hier ist der Körper, leer. Tot keine Spur und doch nicht lebendig. Er ist wie ein leerer Stuhl, auf dem ›belegt‹ steht. Kein Gefühl, keine Verdauung, kein Herzschlag, keine Zuckung. Das gibt mir nicht das Gefühl, wie wenn ein Mensch anwesend wäre. In gewissem Sinn ist er vollständiger tot als der Tod selber, denn die Doktoren sagen mir, selbst das Haar habe zu wachsen aufgehört. Aber bei den richtigen Toten wächst das Haar weiter fort –«

»Ich weiß,« sagte Warming mit einem Blitz des Schmerzes in seinem Ausdruck.

Sie blickten wieder durch das Glas. Graham war freilich in einem seltsamen Zustand, er lag in der schlaffen Phase eines Starrkrampfs da, aber eines in der Geschichte der Medizin unerhörten Starrkrampfs. Starrkrämpfe hatten wohl schon bis zu einem Jahr gedauert – aber nach der Zeit war entweder das Erwachen oder der Tod eingetreten; bisweilen erst das eine und dann das andere. Isbister sah die Stellen, wo der Arzt die Nahrung injiziert hatte, denn um die Entkräftung hinauszuschieben, hatte man zu diesem Ausweg gegriffen; er zeigte sie Warming, der versucht hatte, sie nicht zu sehen.

»Und während er hier gelegen hat,« sagte Isbister mit dem Wohlgefühl eines frei verbrachten Lebens, »habe ich meine Lebenspläne geändert, geheiratet, eine Familie gegründet, mein ältester Junge – damals hatte ich noch nicht angefangen, an Söhne zu denken – ist amerikanischer Bürger und soll demnächst Harvard verlassen. In meinem Haar ist eine Spur von Grau. Und dieser Mensch, keinen Tag älter oder klüger (tatsächlich), als ich in meinen Flaumtagen war. Es ist ein wunderlicher Gedanke.«

Warming drehte sich um. »Und ich bin auch alt geworden. Ich habe mit ihm Kricket gespielt, als ich ein Bursch war. Und er sieht trotzdem jung aus. Gelb vielleicht. Aber er ist trotzdem ein junger Mensch.«

»Und dann liegt der Krieg dazwischen,« sagte Isbister.

»Von Anfang bis zu Ende.«

»Und diese Leute vom Mars.«

»Ich habe gehört,« sagte Isbister nach einer Pause, »er hatte selber ein bescheidenes Vermögen?«

»Das ist richtig,« sagte Warming. Er hustete gezwungen. »Zufällig habe ich die Verwaltung.«

»Ah!« Isbister dachte nach, zögerte und sprach: »Ohne Zweifel – sein Unterhalt hier ist nicht sehr teuer – ohne Zweifel wird es sich aufbessern – sich vermehren?«

»Das tut es. Wenn er aufwacht – wenn er eben aufwacht – wird er sich viel besser stehen, als zur Zeit seines Einschlafens.«

»Als Geschäftsmann«, sagte Isbister, »hat mich der Gedanke natürlich beschäftigt. Ich habe sogar bisweilen gemeint, natürlich kommerziell gesprochen, dieser Schlaf könne für ihn eine sehr gute Sache sein. Er wird wissen, woran er ist, sozusagen, daß er so lange besinnungslos bleibt. Wenn er ruhig weiter gelebt hätte –«

»Ich zweifle, ob er sich das überlegt hätte,« sagte Warming. »Er war kein weitsichtiger Mann. Kurz –«

»Ja?«

»Wir waren da verschiedener Ansicht. Ich vertrat ihm gegenüber ein wenig die Stelle des Vormunds. Sie haben wahrscheinlich genug von der Welt gesehen, um anzuerkennen, daß gelegentlich eine gewisse Reibung – Aber selbst wenn das der Fall wäre, so ist es zweifelhaft, ob er je erwachen wird. Dieser Schlaf erschöpft langsam, aber er erschöpft. Offenbar gleitet er langsam, sehr langsam und lässig einen langen Hang hinunter, wenn Sie mich verstehen?«

»Es wäre schade, wenn man um seine Überraschung käme. In diesen zwanzig Jahren hat sich eine Menge verändert. Es wäre, als würde das Märchen von Rip Van Winkle zur Wirklichkeit.«

»Es wäre Bellamy,« sagte Warming. »Sicherlich hat sich eine Menge verändert. Und unter anderem habe ich mich verändert. Ich bin ein alter Mann.«

Isbister zögerte und spielte dann ein nachträgliches Erstaunen. »Das hätte ich nicht gedacht.«

»Ich war dreiundvierzig, als sein Bankier – Sie wissen, Sie telegraphierten an seinen Bankier – zu mir schickte.«

»Ich fand seine Adresse in dem Scheckbuch in seiner Tasche,« sagte Isbister.

»Nun, die Addition ist nicht schwierig,« sagte Warming.

Es folgte wieder eine Pause, und dann gab Isbister einer unvermeidlichen Neugier nach. »Er kann noch Jahre so liegen bleiben,« sagte er und zögerte einen Moment. »Das haben wir zu bedenken. Sie wissen, seine Angelegenheiten können eines Tages in die Hände von – von jemand anders fallen, wissen Sie.«

»Das, wenn Sie mir glauben wollen, Mr. Isbister, ist eins von den Problemen, die mir beständig vor Augen stehen. Wir sind – tatsächlich existieren keine sehr vertrauenswürdigen Verwandten von uns mehr. Es ist eine groteske und unerhörte Lage.«

»Das ist es,« sagte Isbister. »Es ist wirklich ein Fall für einen öffentlichen Betrauten, wenn wir nur einen solchen Beamten hätten.«

»Mir scheint, es ist ein Fall für eine öffentliche Körperschaft, für einen praktisch unsterblichen Verwalter. Wenn er wirklich weiterleben sollte – wie die Doktoren, einige von ihnen, glauben. Ich bin auch tatsächlich schon damit an ein oder zwei Leute der Öffentlichkeit herangetreten. Aber bislang ist nichts geschehen.«

»Es wäre kein schlechter Gedanke, ihn einer öffentlichen Körperschaft zu übergeben – der Verwaltung des Britischen Museums oder dem königlichen Ärztekollegium. Klingt natürlich etwas wunderlich, aber der ganze Fall ist wunderlich.«

»Die Schwierigkeit ist die, sie zu veranlassen, daß sie ihn nehmen.«

»Beamtenzopf, vermutlich?«

»Zum Teil.«

Pause. »Es ist auf jeden Fall eine sonderbare Geschichte,« sagte Isbister. »Und Zinseszinsen haben eine Art, in die Höhe zu laufen!«

»Ja,« sagte Warming. »Und jetzt, wo die Goldzufuhr ausgeht, ist die Tendenz steigend ... Preiserhöhung.«

»Das hab ich fühlen müssen,« sagte Isbister mit einer Grimasse. »Aber für ihn wird es dadurch nur besser.«

» Wenn er erwacht.«

»Wenn er erwacht,« echote Isbister. »Sehen Sie, wie eingekniffen seine Nase aussieht, und wie sonderbar seine Augenlider zugefallen sind?«

Warming blickte eine Zeitlang hin und sann. »Ich zweifle, ob er aufwachen wird,« sagte er schließlich.

»Ich habe nie recht verstanden,« sagte Isbister, »welche Ursache dies eigentlich herbeigeführt hat. Er sagte mir etwas von Überarbeitung. Ich habe mich oft gewundert.«

»Er war ein Mensch von bedeutenden Gaben, aber nervös, von Gefühlen abhängig. Er hatte schweren, häuslichen Kummer, ließ sich von seiner Frau scheiden, und ich glaube, um sich davon zu erholen, begann er Politik von der wildesten Art zu treiben. Er war ein fanatischer Radikaler – Sozialist – oder, wie sie sich zu nennen pflegten, ein typischer Liberaler von der Fortschrittsschule. Energisch – phantastisch – undiszipliniert. Überarbeitung in einer Streitsache hatte diese Folgen. Ich erinnere mich seiner Broschüre noch – eine merkwürdige Produktion. Wildes, wirbelndes Zeug. Ein oder zwei Prophezeiungen standen drin. Einiges davon ist schon explodiert, anderes ist anerkannte Tatsache. Aber meist, wenn man solche Sätze liest, fühlt man, wie voll die Welt von ungeahnten Dingen ist. Er wird viel zu lernen haben, wenn er erwacht, viel zu verlernen. Wenn ein Erwachen jemals kommt.«

»Ich würde alles darum geben, wenn ich dabei sein könnte,« sagte Isbister, »nur um zu hören, was er zu all dem sagen würde.«

»Ich auch,« sagte Warming. »Ah ja, ich auch,« mit der plötzlichen Wendung des alten Mannes zum Selbstmitleid. »Aber ich werde ihn nie erwachen sehen.«

Er stand da und blickte nachdenklich auf die wächserne Gestalt. »Er wird nie erwachen,« sagte er schließlich. Er seufzte. »Er wird nie wieder aufwachen.«

3. Das Erwachen

Aber darin hatte Warming unrecht. Es kam ein Erwachen.

Was für ein wunderbar kompliziertes Wesen! Diese einfach scheinende Einheit – das Selbst! Wer kann seine Nachbildung verfolgen, wie wir Morgen für Morgen erwachen, den Fluß und Zusammenstrom seiner zahllosen Faktoren, die sich verschlingen und wieder aufbauen, die dunklen, ersten Regungen der Seele, das Wachstum und die Synthese des Unbewußten zum Unterbewußten, des Unterbewußten zur dämmernden Bewußtheit, bis wir uns schließlich selber wiedererkennen. Und wie es den meisten von uns nach dem Schlaf der Nacht geht, so war es mit Graham am Schluß seines ungeheuren Schlafes. Eine dunkle Wolke der Empfindung, die Gestalt annahm, eine wolkige Öde, und er fühlte sich unbestimmt irgendwo, wo er lag, schwach, aber lebendig.

Die Pilgerfahrt zu einem persönlichen Sein schien durch ungeheure Abgründe zu gehen, Epochen zu dauern. Gigantische Träume, die zu der Zeit furchtbare Wirklichkeiten waren, hinterließen unbestimmte, verwirrende Erinnerungen seltsamer Geschöpfe, seltsamer Landschaft, wie von einem andern Planeten. Auch ein deutlicher Eindruck von einer gewichtigen Unterhaltung war vorhanden, von einem Namen – er konnte nicht sagen, von welchem Namen – der später wieder auftauchen sollte, von einer wunderlichen, lang vergessenen Empfindung der Adern und Muskeln, von einem Gefühl riesiger, hoffnungsloser Anstrengung, der Anstrengung eines Menschen, der im Dunkeln nahezu ertrinkt. Dann kam ein Panorama von blendenden, unstabilen, verschwimmenden Szenen.

Graham merkte, daß seine Augen offen waren und etwas Ungewohntes ansahen.

Es war etwas Weißes, irgendein Rand, ein Holzrahmen. Er bewegte den Kopf ein wenig, indem er dem Umriß dieses Gegenstandes folgte. Er ging über den Bereich seiner Augen hinaus. Er versuchte nachzudenken, wo er sein mochte. Kam es darauf an, wo er so elend war? Die Farbe seiner Gedanken war die düsterer Depression. Er fühlte das ausdruckslose Elend dessen, der gegen die Stunde der Dämmerung aufwacht. Er hatte die unbestimmte Empfindung, daß Geflüster und Schritte sich rasch entfernten.

Die Bewegung seines Kopfes deutete auf das Bewußtsein äußerer physischer Schwäche. Er nahm an, er liege im Bett des Hotels in dem Ort im Tal – aber er konnte sich nicht auf den weißen Rand besinnen. Er mußte geschlafen haben. Er erinnerte sich jetzt, daß er hatte schlafen wollen. Er entsann sich wieder der Klippe und des Wasserfalls, und dann besann er sich auf etwas wie ein Gespräch mit einem Vorübergehenden ...

Wie lange hatte er geschlafen? Was war das für ein Geräusch von klappernden Füßen? Und dies Steigen und Fallen, wie das Murmeln brechender Wellen und Kiesel? Er streckte seine matte Hand aus, um seine Uhr von dem Stuhl zu nehmen, auf den es seine Gewohnheit gewesen war, sie zu legen, und er berührte eine glatte harte Oberfläche, etwas wie Glas. Das war so unerwartet, daß es ihn außerordentlich erschreckte. Ganz plötzlich wälzte er sich herum, starrte einen Moment um sich und arbeitete sich dann in eine sitzende Stellung empor. Die Anstrengung war unerwartet schwer, und er war schwindlig und schwach – und verblüfft.

Er rieb sich die Augen. Das Rätsel seiner Umgebung war verwirrend, aber sein Geist war ganz klar – offenbar hatte sein Schlaf ihm wohlgetan. Er lag überhaupt in keinem Bett, wie er das Wort verstand, sondern er lag nackt auf einer sehr weichen und nachgiebigen Matratze in einer Mulde aus dunklem Glas. Die Matratze war zum Teil durchsichtig, eine Tatsache, die er mit einem seltsamen Gefühl der Unsicherheit beobachtete, und darunter lag ein Spiegel, der ihn grau zurückwarf. Um seinen Arm – und er sah mit einem Schreck, daß seine Haut seltsam trocken und gelb war – war ein merkwürdiger Gummiapparat gebunden, so kunstvoll gebunden, daß er oben und unten in die Haut überzugehen schien. Und dieses seltsame Bett lag in einem Gehäuse aus grünlich gefärbtem Glas (wie ihm schien), zu dessen weißem Rahmenwerk die Leiste gehörte, die zuerst seine Aufmerksamkeit gefesselt hatte. Im Winkel des Gehäuses stand ein Ständer mit glitzernden und fein gearbeiteten Apparaten, zum größten Teil ihm ganz fremdartigen Erfindungen, obgleich er ein Maximal- und Minimalthermometer erkannte.

Der leicht grünliche Ton der glasartigen Substanz, die ihn auf allen Seiten umgab, verdunkelte, was dahinter lag, aber er sah, daß es ein riesiges Gemach von prachtvoller Architektur war, das ihm gegenüber einen sehr großen und einfachen weißen Bogendurchgang zeigte. Nah an den Wänden seines Käfigs standen Einrichtungsgegenstände, ein mit einem silbrigen Tuch gedeckter Tisch – silbrig wie die Seite eines Fisches, ein Paar anmutiger Stühle, und auf dem Tisch eine Anzahl von Schüsseln, auf denen allerlei lag, eine Flasche und zwei Gläser. Er wurde sich bewußt, daß er intensiven Hunger hatte.

Er konnte kein menschliches Wesen sehen, und nach einer Zeit des Zögerns kletterte er von der durchscheinenden Matratze herunter und versuchte auf dem sauberen, weißen Boden seines kleinen Gemaches zu stehen. Er hatte sich jedoch mit seiner Kraft verrechnet, stolperte und streckte die Hand nach einer glasartigen Scheibe aus, um sich zu stützen. Einen Moment widerstand sie seiner Hand, indem sie sich wie eine aufgeblasene Blase nach außen bog, dann zerbrach sie mit einem leisen Knall und verschwand – wie eine angestochene Seifenblase. Er taumelte in den Raum der Halle hinaus. Er war sehr erstaunt. Er griff nach dem Tisch, um sich zu halten und warf dabei eins der Gläser zu Boden – es klang, zerbrach aber nicht. Dann setzte er sich in einen der Sessel.

Als er sich ein wenig erholt hatte, füllte er das andere Glas aus der Flasche und trank – es war eine farblose Flüssigkeit, aber kein Wasser – von angenehmem, leichtem Aroma und Geschmack und unmittelbar kräftigend und anregend. Er setzte das Gefäß hin und blickte sich um.

Das Gemach verlor nichts an Größe und Pracht, jetzt, wo der grüne, durchscheinende Stoff, der dazwischen gelegen hatte, beseitigt war. Der Bogen, den er sah, führte zu einer Treppenflucht, die ohne trennende Tür zu einem geräumigen Quergang hinabführte. Dieser Gang lief zwischen polierten Pfeilern aus einer weißgeäderten, tief ultramarinblauen Substanz hin und von dort drang der Schall menschlicher Bewegungen und Stimmen, und ein tiefer, unablässiger, summender Ton herauf. Er saß jetzt völlig wach da und lauschte aufmerksam; er vergaß in seiner Spannung die Speisen.

Dann besann er sich mit einem Schreck, daß er nackt war, und als er sich nach einer Bedeckung umblickte, sah er ein langes, schwarzes Gewand, das auf einen der Stühle neben ihm geworfen war. Das hüllte er um sich und setzte sich zitternd wieder nieder.

Sein Geist war noch immer eine wogende Verwirrung. Offenbar hatte er geschlafen und war in seinem Schlaf anderswohin gebracht worden. Aber wohin? Und wer waren diese Menschen, die ferne Menge hinter den tiefblauen Pfeilern? Boscastle? Er schenkte sich ein zweites Glas von der farblosen Flüssigkeit ein und trank es halb aus.

Was für ein Ort war dies? Dieser Ort, der seinen Sinnen so fein wie ein lebendig Ding zu beben schien? Er blickte um sich auf die saubere und schöne Form des Gemachs, das durch keinen Zierat befleckt wurde, und sah, daß das Dach an einer Stelle von einem kreisrunden Schacht voller Licht durchbrochen wurde, und während er hinsah, kam ein stetiger, fliegender Schatten und löschte es aus und verschwand, und kam wieder und verschwand wieder. »Schlag, Schlag;« dieser Schatten hatte in dem gedämpften Tumult, der die Luft erfüllte, einen eigenen Ton.

Er wollte rufen, aber seiner Kehle entrang sich nur ein leiser Ton. Dann stand er auf, und mit den unsicheren Schritten eines Betrunkenen ging er auf das Bogentor zu. Er stolperte die Stufen hinunter, trat auf einen der Zipfel des schwarzen Mantels, den er um sich geschlungen hatte, und hielt sich aufrecht, indem er nach einem der blauen Pfeiler griff.

Der Gang lief an einer kühlen Halle aus Blau und Purpur hin und endete fern in einem wie ein Balkon umfriedigten Raum, der hell erleuchtet war und in einen Raum des Nebels vorsprang, einen Raum, der dem Inneren eines gigantischen Baues glich. Dahinter und in der Ferne sah er riesige und unbestimmte Architekturformen. Der Tumult der Stimmen stieg jetzt laut und klar herauf, und auf dem Balkon standen, den Rücken ihm zugekehrt, gestikulierend und offenbar in lebhafter Unterhaltung, drei reich in lose und leichte Gewänder von hellen, weichen Farben gekleidete Gestalten. Der Lärm einer großen Volksmenge strömte über den Balkon herauf, und einmal schien es, als ziehe die Spitze eines Banners vorüber und einmal blitzte ein hellfarbener Gegenstand, vielleicht eine in die Luft geworfene blaßblaue Mütze oder ein Gewand quer über den offenen Raum und fiel wieder nieder. Die Rufe klangen wie Englisch: das Wort »Erwache!« kam häufig vor. Er hörte einen undeutlichen schrillen Schrei, und plötzlich begannen diese drei Männer zu lachen.

»Ha, ha, ha!« lachte einer – ein rothaariger Mensch in einem kurzen Purpurgewand. »Wenn der Schläfer erwacht – Wenn!«

Er wandte die Augen lachend den Gang entlang. Sein Gesicht verwandelte sich, der ganze Mensch verwandelte sich, wurde starr. Die beiden anderen wandten sich auf seinen Ausruf rasch um und standen reglos da. Ihre Gesichter nahmen den Ausdruck der Bestürzung an, einen Ausdruck, der sich bis zur Scheu vertiefte.

Plötzlich knickten Grahams Knie unter ihm zusammen, sein gegen den Pfeiler gelehnter Arm sank schlaff herab, er taumelte vorwärts und fiel aufs Gesicht.

4. Der Lärm eines Aufruhr

Grahams letzter Eindruck, ehe er ohnmächtig wurde, war der eines lärmenden Glockenläutens. Er erfuhr später, daß er den größeren Teil einer Stunde besinnungslos zwischen Tod und Leben hing. Als er zu Sinnen kam, lag er wieder auf seinem durchscheinenden Lager, und er fühlte in Herz und Kehle eine belebende Wärme. Der dunkle Apparat an seinem Arm war, wie er sah, abgenommen und durch einen Verband ersetzt. Das weiße Rahmenwerk umgab ihn noch, aber die grünliche, durchsichtige Substanz, die es gefüllt hatte, war fort. Ein Mann in einem tief violetten Gewand, einer von denen, die auf dem Balkon gestanden hatten, blickte ihm scharf ins Gesicht.

Fern aber beharrlich hörte er ein Glockenläuten und wirre Töne, die in seinem Geist das Bild einer großen Anzahl durcheinanderschreiender Leute weckten. Irgend etwas schien sich über diesen Aufruhr zu senken, eine Tür schloß sich plötzlich.

Graham bewegte den Kopf. »Was bedeutet dies alles?« sagte er langsam. »Wo bin ich?«

Er sah den rothaarigen Menschen, der ihn zuerst entdeckt hatte. Es schien, als fragte eine Stimme, was er gesagt habe, und dann wurde sie plötzlich zum Schweigen gebracht.

Der Mann in Violett antwortete, indem er das Englische mit einem leichten ausländischen Akzent sprach – oder wenigstens schien es den Ohren des Schläfers so –: »Sie sind ganz sicher. Sie sind von da aus, wo Sie einschliefen, hierhergebracht. Sie sind ganz sicher. Sie haben einige Zeit hier gelegen – geschlafen. In einem Starrkrampf.«

Er sagte noch etwas, was Graham nicht hören konnte, und ihm wurde eine kleine Phiole gereicht. Graham fühlte kühlende Tropfen, ein duftiger Nebel spielte ihm einen Moment über die Stirn, und das Gefühl der Erfrischung wuchs. Er schloß befriedigt die Augen.

Besser?« fragte der Mann in Violett, als Graham die Augen wieder aufschlug. Es war ein Mann von dreißig Jahren, mit heiterem Gesicht, spitzem Flachsbart und einer goldenen Schnalle am Hals seines violetten Gewandes.

»Ja,« sagte Graham.

»Sie haben einige Zeit geschlafen. In einem kataleptischen Starrkrampf. Sie haben davon gehört? Katalepsis? Es mag Ihnen zuerst seltsam erscheinen, aber ich kann Sie versichern, daß alles gut ist.«

Graham antwortete nicht, aber diese Worte erfüllten ihren beruhigenden Zweck. Seine Augen schweiften von Gesicht zu Gesicht über die drei Männer, die ihn umgaben. Sie sahen ihn sonderbar an. Er wußte, er sollte irgendwo in Cornwall sein, aber er konnte all dies nicht damit in Einklang bringen.

Etwas, was ihm während seiner letzten wachen Momente in Boscastle im Sinn gelegen hatte, fiel ihm wieder ein, etwas, was er beschlossen aber irgendwie vernachlässigt hatte. Er räusperte sich.

»Haben Sie meinem Vetter gedrahtet?« fragte er. »E. Warming, 27, Chancery Lane.«

Sie mühten sich alle, ihn zu verstehen. Aber er mußte es wiederholen. »Was für ein komisches Ziehen in seinem Akzent!« flüsterte der Rothaarige. »Gedrahtet, Herr?« fragte der junge Mann mit dem Flachsbart in offenbarer Verlegenheit.

»Er meint, ein elektrisches Telegramm geschickt,« erklärte der dritte, ein angenehmer Jüngling von neunzehn oder zwanzig. Der Flachsbärtige stieß einen Ruf des Verstehens aus. »Wie stupid von mir! Sie können sicher sein, daß alles geschehen soll, Sir,« sagte er zu Graham. »Ich fürchte, es wäre schwierig, Ihrem Vetter zu – drahten. Er ist nicht mehr in London. Aber machen Sie sich noch keinerlei Sorge um irgendwelche Arrangements; Sie haben sehr lange geschlafen, und die Hauptsache ist, darüber fortzukommen, Sir.« (Graham sagte sich, er müsse »Sir« gesagt haben, aber dieser Mann sprach das Wort wie »Sire« aus.)

»O!« sagte Graham und verstummte.

Es war alles sehr rätselhaft, aber offenbar wußten diese Leute in der ungewohnten Kleidung, woran sie waren. Aber sehr sonderbar waren sie, und auch der Raum war sonderbar. Es schien, er war in einem neu errichteten Gebäude. Ihm blitzte ein plötzlicher Argwohn auf. Dies war doch nicht etwa eine öffentliche Ausstellungshalle? Wenn ja, wollte er Warming einmal seine Meinung sagen. Aber danach sah sie kaum aus. Und an einem öffentlichen Ausstellungsort hätte er nicht nackt gelegen.

Dann plötzlich, ganz unvermittelt, wurde ihm klar, was geschehen war. Er machte keinen merklichen Übergang des Argwohns durch, keine Dämmerung bis zu diesem Wissen. Plötzlich wußte er, daß dieser Starrkrampf eine ungeheure Zeit gedauert hatte; als hätte er durch geheime Prozesse des Gedankenlesens die Ehrfurcht in den Gesichtern gedeutet, die ihm in seines blickten. Er blickte sie seltsam, voll intensiver Erregung an. Es schien, sie lasen in seinen Augen. Er bewegte die Lippen zum Sprechen und konnte nicht. Ein wunderlicher Impuls, sein Wissen zu verbergen, trat fast im Moment seiner Entdeckung in seinen Geist. Er blickte auf seine nackten Füße und sah sie schweigend an. Sein Verlangen zu reden ging vorüber. Er zitterte stark.

Sie gaben ihm eine rosige Flüssigkeit mit grünlicher Fluoreszenz und von Fleischgeschmack, und die Gewißheit zurückkehrender Kraft wuchs.

»Das – das macht mir besser,« sagte er heiser, und er hörte Gemurmel respektvollen Beifalls. Jetzt wußte er es ganz klar. Er mühte sich noch einmal, zu sprechen, und wieder konnte er nicht.

Er drückte sich die Kehle und versuchte ein drittes Mal. »Wie lange?« fragte er mit ruhiger Stimme. »Wie lange habe ich geschlafen?«

»Eine beträchtliche Zeit,« sagte der Flachsbärtige und warf einen raschen Blick auf die anderen.

»Wie lange?«

»Eine sehr lange Zeit.«

»Ja – ja,« sagte Graham plötzlich eigensinnig. »Aber ich will – sind es – sind es – ein paar Jahre? Viele Jahre? Da war etwas – ich weiß nicht mehr. Ich fühle mich – wirr. Aber Sie – « Er schluchzte. »Sie brauchen nicht mit mir fechten. Wie lange –?«

Er hielt unregelmäßig atmend inne. Er preßte die Augen mit den Fingern und saß und wartete auf eine Antwort.

Sie sprachen im Flüsterton.

»Fünf oder sechs?« fragte er schwach. »Mehr?«

»Sehr viel mehr als das.«

»Mehr?«

»Mehr.«

Er sah sie an, und es war, als zuckten Fäden in seinen Gesichtsmuskeln. Er blickte seine Frage.

»Viele Jahre,« sagte der Mann mit dem roten Bart.

Graham arbeitete sich in sitzende Stellung empor. Er wischte sich mit einer hageren Hand eine nasse Träne aus dem Gesicht. »Viele Jahre!« wiederholte er. Er schloß die Augen fest, öffnete sie wieder und saß da und blickte von einem ungewohnten Ding aufs andere.

»Wie viele Jahre?«

»Sie müssen auf eine Überraschung gefaßt sein.«

»Ja?«

»Mehr als ein Gros Jahre.«

Ihn reizte das fremde Wort. »Mehr als ein was?«

Zwei von ihnen sprachen miteinander. Einige schnelle Bemerkungen, die über das »Dezimalsystem« gemacht wurden, verstand er nicht.

»Wie lange, sagten Sie?« fragte Graham. »Wie lange? Blicken Sie nicht so. Sagen Sie es mir!«

Unter den Bemerkungen im Flüsterton fing sein Ohr fünf Worte auf: »Mehr als ein Paar Jahrhunderte.«

» Was?« rief er und wandte sich dem Jüngling zu, der, wie er meinte, gesprochen hatte. »Wer sagt –? Was war das? Ein Paar Jahrhunderte?«

»Ja,« sagte der Rotbärtige. »Zweihundert Jahre.«

Graham wiederholte die Worte. Er war darauf gefaßt gewesen, von einer sehr langen Ruhe zu hören, und doch entnervten ihn diese konkreten Jahrhunderte.

»Zweihundert Jahre,« sagte er noch einmal, und in seinem Geist öffnete sich sehr langsam das Bild eines großen Abgrunds; und dann: »O, aber –!«

Sie sagten nichts.

»Sie – sagten Sie –?«

»Zweihundert Jahre. Zwei Jahrhunderte,« sagte der Mann mit dem roten Bart.

Es folgte eine Pause. Graham blickte auf ihre Gesichter und sah, daß das, was er gehört hatte, wirklich wahr sei.

»Aber es ist unmöglich,« sagte er klagend. »Ich träume. Starrkrämpfe. Starrkrämpfe dauern nicht. Das ist nicht recht – dies ist ein Scherz, den Sie mit mir treiben! Sagen Sie mir – – noch vor vielleicht ein paar Tagen ging ich an der Küste von Cornwall entlang –«

Ihm versagte die Stimme.

Der Mann mit dem Flachsbart zögerte. »Die Geschichte ist nicht meine starke Seite,« sagte er leise und blickte auf die anderen.

»Ganz richtig, Sir,« sagte der Jüngling. »Boscastle im alten Herzogtum Cornwall – es liegt im Südwesten, hinter den Milchweiden. Es steht noch heute ein Haus. Ich bin dagewesen.«

»Boscastle!« Graham wandte seine Augen auf den jungen Mann. »So hieß es – Boscastle. Das kleine Boscastle. Irgendwo da herum – bin ich eingeschlafen. Ich weiß nicht mehr genau.«

Er drückte sich die Stirn und flüsterte: »Mehr als zweihundert Jahre!«

Er begann rasch und mit zuckendem Gesicht zu sprechen, aber das Herz in ihm war kalt. »Aber wenn es zweihundert Jahre her ist, so muß jede Seele, die ich kenne, jedes menschliche Wesen, das ich je gesehen oder gesprochen habe, ehe ich einschlief, tot sein.«

Sie antworteten ihm nicht.

»Die Königin und die königliche Familie, ihre Minister, die Kirche und der Staat. Hoch und niedrig, reich und arm, einer wie der andere –«

»Existiert England noch?«

»Das ist ein Trost! Und London?«

»Dies ist London, eh? Und Sie sind mein Kustodenassistent; Kustodenassistent. Und diese –? Eh? Auch Kustodenassistenten?«

Er saß mit entsetztem Starren da. »Aber warum bin ich hier? Nein! Reden Sie nicht. Sein Sie still. Lassen Sie mich –«

Er verstummte, rieb sich die Augen und fand, als er sie wieder aufschlug, daß man ihm wieder ein kleines Glas voll rosiger Flüssigkeit hinhielt. Er nahm die Dosis. Sie stärkte fast unmittelbar. Sowie er sie genommen hatte, begann er natürlich und erfrischend zu weinen.

Dann blickte er ihnen ins Gesicht und lachte plötzlich durch seine Tränen, ein wenig töricht. »Aber zwei – hun – dert Jahre!« sagte er. Er schnitt hysterische Grimassen und verbarg das Gesicht von neuem.

Nach einiger Zeit wurde er ruhig. Er setzte sich auf, und seine Hände hingen ihm fast genau in derselben Haltung über die Knie, in der Isbister ihn auf der Klippe von Pentargen gefunden hatte. Seine Aufmerksamkeit wurde von einer schweren, gebietenden Stimme und den Schritten einer sich nähernden Person gefesselt. »Was tun Sie? Warum bin ich nicht benachrichtigt worden? Sicher haben Sie es voraus gewußt? Dafür wird jemand zu büßen haben. Der Mann muß ruhig gehalten werden. Sind die Türen geschlossen? Alle Türen? Er muß völlig ruhig gehalten werden. Er darf nichts erfahren. Hat man ihm schon etwas gesagt?«