Wenn die Tannen Trauer tragen - Markus Fix - E-Book

Wenn die Tannen Trauer tragen E-Book

Markus Fix

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Beschreibung

Bissiger Humor, filmreife Dialoge und ordentlich Action. Eine ermordete Frau gibt Hauptkommissar Thomas Häberle und seinem Team Rätsel auf. Sie war ein Phantom, niemand scheint etwas über sie zu wissen. Einziger Hinweis: ein Fotoalbum mit kleinen Gemäldeausschnitten. Kann das der Schlüssel zur Lösung des Falls sein? Die Spur führt die Ermittler in die Schwarzwälder Kunstszene, zu Bildern mit traditionellen Bollenhüten und zu einer legendären historischen Landkarte. Aber auch zu raffinierten Verbrechern und dubiosen Auftraggebern. Schon bald scheinen die Grenzen zwischen Kunst und Kriminalität zu verschwimmen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 493

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Markus Fix, Jahrgang 1974, ist Journalist, Autor und Pressereferent. Nach seinem Magisterstudium (Germanistik, Politik und Ethnologie) an der Universität Freiburg und ausgedehnten Radreisen folgte ein Volontariat bei einer Tageszeitung in Offenburg. Fünfzehn Jahre arbeitete er anschließend als Redakteur in der dortigen Nachrichtenredaktion. 2021 wechselte er in die Pressestelle einer Behörde. Er lebt mit seiner Frau in Emmendingen nahe Freiburg. Den Schwarzwald kennt er durch viele Touren auf dem Rennrad, dem Mountainbike und in Wanderschuhen. Er liebt die steilen Höhen und die einsamen Täler dieser Berge.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2025 Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, 50667 Köln

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Shutterstock/Radiocat

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Hilla Czinczoll

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-252-9

Schwarzwald Krimi

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literaturagentur Beate Riess.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Für alle hier, die den Regenbogen auch im Dunkeln seh’n.

Wind: »Für alle«, 1985

Prolog

»Melde dich. Du weißt, was ich will.«

Sie starrte auf das Foto, das sie gerade zusammen mit der WhatsApp-Nachricht geschickt bekommen hatte. Sie konnte das Gesicht der Person nicht wirklich erkennen, die auf dem Bauch liegend auf einer ausgetrockneten Wiese zu sehen war. Trotzdem gab es keinen Zweifel, um wen es sich handelte. Körpergröße, Körperbau, Haarfarbe – das war Tessa. Und sie war tot. Tessa war tot. Ihre Knie gaben nach, und sie rang nach Luft, während sie zitternd auf einen Stuhl sank.

Die Telefonnummer des Absenders war unterdrückt, aber natürlich wusste sie, wer ihr die Nachricht geschickt hatte. Er hatte Tessa getötet, nachdem er erfahren hatte, was sie plante. Tessa war leichtsinnig und naiv genug gewesen, es ihm anzukündigen. Geschockt ließ sie das Smartphone sinken. Was einst wie ein Spiel angefangen hatte, war jetzt endgültig und komplett in einer Katastrophe geendet.

Sie versuchte, sich auf ihre Atmung zu konzentrieren. Sich zu beruhigen. Langsam durch die Nase einatmen – kurz die Luft anhalten – und gleichmäßig durch den Mund wieder ausatmen. Sie konnte das, in brenzligen Situationen nicht die Nerven zu verlieren, war sozusagen ihr Job. Nachdem sie sich gezwungen hatte, diese Übung mehrmals zu wiederholen, wurde sie etwas ruhiger.

Ihre Freundin und Geschäftspartnerin Tessa war tot. Das war eine Tatsache. Daran konnte sie nichts mehr ändern. Und auch sie selbst war in Gefahr, das war ebenfalls eine Tatsache, das Foto war definitiv als Drohung gedacht. Darum musste das Trauern warten. Es würde nicht reichen, ihm einfach nur zu geben, was er wollte. Sie war eine Mitwisserin, sie wusste alles, was Tessa wusste, und sogar mehr, und mit dem Mord an ihrer Freundin hatte er klargemacht, dass er komplett reinen Tisch machen wollte. Diese Gefahr musste sie ernst nehmen, denn wenn sie etwas in den vergangenen Jahren gelernt hatte, dann, dass es ein gewaltiger Fehler wäre, ihn und seinen Geschäftspartner zu unterschätzen, nur weil sie vordergründig freundlich waren und das Ansehen der nichts ahnenden Freiburger Gesellschaft genossen. Er war skrupellos. Ihre langjährige Geschäftsbeziehung, wenn man es denn so nennen wollte, bedeutete ihm nichts.

Sollte sie also die Polizei einschalten? Sich verstecken? Ihm die Karte aushändigen? Oder gar selbst in die Offensive gehen? Vier Möglichkeiten, von denen sie drei sofort wieder streichen konnte. Zur Polizei konnte sie nicht gehen, die würde Fragen stellen, die sie entweder nicht beantworten konnte oder nur, indem sie sich selbst extrem belastete und dadurch für lange Zeit hinter Gittern landete. Ihm die Karte zu geben, würde nichts ändern, er würde sie trotzdem tot sehen wollen. Außerdem würde sie dadurch Verrat an Tessas letztem Wunsch begehen. Dann wäre ihr Tod völlig umsonst gewesen.

Tessa hatte den letzten ihrer drei Tannenzapfen für den Wunsch verwendet, dass sie die Karte nicht aushändigen sollte. Daran würde sie sich halten. Das war sie ihrer kleinen Popelka schuldig.

Was also tun? In die Offensive zu gehen, würde bedeuten, dass sie ihm zuvorkommen und ihn ausschalten musste, bevor er sie tötete. Aber das war natürlich Unsinn. Körperliche Gewalt war genau das, was für sie und Tessa nie in Frage gekommen war. Sicher, sie hatten gegen das Gesetz verstoßen, immer und immer wieder. Aber niemand war dabei körperlich zu Schaden gekommen, das war die rote Linie, die sie nie überschritten hatten.

Blieb also nur die Flucht. Sie sah sich in ihrer Wohnung um. Seit über zehn Jahren war diese bereits ihr Rückzugsort, sie hatte viel Arbeit und Energie hineingesteckt. Nicht nur in die Einrichtung, sondern auch in die Person, die die Nachbarn unter dem Namen Kerstin Meier kannten. Die beliebt war und die ihr hier ein völlig normales Leben ermöglicht hatte, wenn sie mal wieder eine längere Pause von ihrer absolut und ganz und gar nicht normalen wahren Identität gebraucht hatte.

Sie seufzte. Es führte kein Weg daran vorbei. Und da Tessa tot war, würde sie so schnell sowieso nicht mehr arbeiten können oder wollen. Wenn überhaupt jemals wieder. Wobei sie schon jetzt stark bezweifelte, dass sie für den Rest ihres Lebens auf das Adrenalin und den Nervenkitzel verzichten konnte.

Sie ging ins Schlafzimmer, schob die Schiebetür ihres Schranks auf und zog den kleinen Reisekoffer hinter den Wintermänteln hervor. Alles gepackt, alles fertig. Sie hatte gehofft, diesen Koffer niemals benutzen zu müssen, aber nun war es so weit. Sie musste untertauchen, und zwar sofort.

Gesehen hatten er und sein Geschäftspartner sie nie, und dass sie hier unter dem Namen Kerstin Meier wohnte, wussten sie nicht, sie kannten sie nur als Lisa. Wobei sie sich natürlich nicht sicher sein konnte, ob ihr nicht einer von beiden trotz ihrer Vorsicht in der Vergangenheit zu ihrer Wohnung gefolgt war. Zehn Jahre waren schließlich eine lange Zeit. Egal, sie war sich sicher: Sobald sie hier weg war, hatten sie nur geringe Chancen, sie aufzuspüren. Selbst wenn er mehr über sie wusste, als sie glaubte, würde er bestimmt nicht damit rechnen, dass sie so schnell von der Bildfläche verschwand.

Sie schaute noch kurz in das kleine Fach des Koffers, um sich zu vergewissern, dass sich darin ihr zweites Smartphone und die beiden perfekt gefälschten Pässe sowie ihr originaler Pass befanden, und nahm dann die zehntausend Euro in Fünfziger-Scheinen aus der Innentasche eines Wintermantels, in dem sie immer etwas Bares für den Notfall aufbewahrte. Zumindest um Geld würde sie sich keine Sorgen machen müssen. Dafür hatte sie zusammen mit Tessa in den vergangenen Jahren gesorgt. Dann holte sie die Karte aus dem Versteck. Was sie mit ihr machen würde, wusste sie noch nicht. Vielleicht zurückgeben? So wie Tessa es sich bestimmt gewünscht hätte?

Auf jeden Fall würden er und sein Partner sie nicht bekommen. Sie nahm noch einmal ihr Smartphone in die Hand und schaute die Nachricht an, die er ihr geschickt hatte. »Melde dich. Du weißt, was ich will.« Sollte sie antworten? Warum eigentlich nicht? Er sollte nicht glauben, dass er sie einschüchtern konnte.

Sie überlegte kurz und tippte dann lächelnd einen Satz ein, an den sie sich noch aus ihrer Kinderzeit erinnerte. Sie hatten ihn immer beim Fangenspielen gerufen. Anschließend nahm sie die SIM-Karte aus dem Handy, brach sie in der Mitte durch und ging zur Wohnungstür.

Sie schaute sich mit dem Türknauf in der Hand noch ein letztes Mal um. Also gut. Tessa war tot. Und Kerstin Meier würde es ab der Sekunde, in der sie die Tür hinter sich zuzog, auch nicht mehr geben. Sie würde sich eine neue Identität aufbauen und hoffen, dass er sie nicht fand. Und sie würde um Tessa trauern. Sobald sie in Sicherheit war. Sie drehte sich um, ging über die schöne alte Holzschwelle der Wohnung, ließ die Tür ins Schloss fallen und lief die Treppen hinunter.

Teil 1

Montag

Thomas Häberle lag schwitzend in seinem Bett. Er schaute auf sein Smartphone. Sechs Uhr fünfundzwanzig. Und es war schon wieder oder, besser gesagt, noch immer so warm, dass ihm der Schweiß am Körper hinunterlief. »Verdammte Hitze«, fluchte er matt. Für einen richtigen Gefühlsausbruch fehlte ihm die Energie.

Tropische Nächte, was für ein Mist! Das hörte sich ja erst mal wirklich toll an, die meisten dachten dabei wahrscheinlich an durchzechte Nächte am Strand von Rio de Janeiro, in kurzen Hosen und aufgeknöpftem Hemd, mit jeder Menge Cocktails und hübschen Pärchen, die sich auf der Tanzfläche zu Sambarhythmen tief in die Augen schauten. Nicht, dass Häberle sich als Teil eines solchen Paares gesehen hätte. Aber die Vorstellung, eine solche Szene als stiller Beobachter zu genießen, fand er allemal besser, als sich in der bereits zwei Wochen andauernden Hitzewelle, die Freiburg und Umgebung fest im Griff hatte, jede Nacht bei zwanzig Grad Celsius und mehr schlaflos im Bett herumzuwälzen. Immer im Bewusstsein, dass er am nächsten Tag wieder bei Temperaturen von bis zu unglaublichen vierzig Grad seinen Job erledigen musste.

Die dicken und seit den Sanierungsarbeiten der letzten Monate einigermaßen gut isolierten Wände seiner geerbten Villa im Stadtteil Herdern hatten die Temperaturen im Innern während der ersten Tage der Hitzewelle noch einigermaßen erträglich gehalten. Inzwischen war aber das komplette Haus so stark aufgeheizt, dass Häberle keine Abkühlung mehr spürte, wenn er von draußen durch die Haustür trat. Die Luft war stickig, er schwitzte ununterbrochen und war von morgens bis abends schlecht gelaunt und sehr leicht reizbar. Womit er nicht allein war. Selbst seine beiden Kolleginnen, Kommissarin Julia Specht und Hauptkommissarin Maria Dupont, sonst mustergültig in Sachen Ausgeglichenheit und guter Laune, fuhren ihm seit ein paar Tagen dauernd über den Mund, wenn er ihn ihrer Meinung nach mal wieder besser gehalten hätte.

Sich selbst bemitleidend seufzte er leise. Verdammt, fühlte er sich alt! Früher hatte ihm so etwas doch nichts ausgemacht, oder? Sein inzwischen siebenundvierzig Jahre alter Körper hatte tatsächlich Probleme, sich durch die heißen Tage zu schleppen. Wenn zumindest Aussicht auf Besserung bestanden hätte! Aber der Wetterdienst sagte für die kommenden Tage keine Abkühlung voraus, geschweige denn Regen, den die Natur so dringend nötig hatte. Mehrere Flüsse im Schwarzwald, darunter auch die durch Freiburg fließende Dreisam, führten momentan kein Wasser mehr, man konnte trockenen Fußes durch das Flussbett laufen. So etwas hatte er noch nie erlebt. Und im gesamten Schwarzwald herrschte akute Waldbrandgefahr, schon mehrfach hatte es kleine Feuer gegeben, die glücklicherweise schnell entdeckt und gelöscht worden waren.

Langsam drehte er sich vom Rücken auf den Bauch, um sich für die schier unmöglich scheinende Aufgabe zu wappnen, sich für einen weiteren Arbeitstag in die Hitze hinauszuschleppen. Zumindest konnte er gleich eine kalte Dusche nehmen, ohne erst bei seiner Mitbewohnerin fragen zu müssen, ob das Bad frei war. Seit zwei Wochen waren nämlich endlich – endlich, endlich, endlich! – die Handwerker aus dem Haus, und er war nun stolzer Bewohner von zwei Zimmern mit Bad, genau wie Lotte Merckheim. Vier weitere Zimmer mit Gemeinschaftsbad und einer kleinen Gemeinschaftsküche standen zudem für noch zu findende Mieter oder Mieterinnen bereit. Ursprünglich hatten sie sieben Zimmer und zwei Bäder geplant, aber sie hatten noch einmal darüber nachgedacht und waren schließlich beide der Meinung gewesen, dass vier Mitbewohner das Maximum waren, schließlich wollten sie keine Jugendherberge eröffnen.

Jetzt war alles fertig, kein Klempner, Elektriker, Maurer, Installateur, Fliesenleger, Tischler, Dachdecker, Fensterbauer, Statiker, Bauingenieur – hatte er jemanden vergessen? – arbeitete mehr hier, es herrschte nach monatelangen Renovierungsarbeiten endlich Ruhe in der Villa. Nur Philipp Wagner, den Architekten, der das Ganze geleitet hatte, musste er zähneknirschend hin und wieder weiterhin ertragen. Anscheinend lief da etwas zwischen ihm und Lotte. Und das war ihm völlig egal, versicherte er sich bei dem Gedanken daran sofort selbst. Er konnte den Typen nur einfach nicht leiden, mit seinen Bundfaltenhosen, den bunten Polohemden und seiner seltsamen Föhnfrisur. Und noch mal, diese Antipathie hatte nichts damit zu tun, dass er sich an seine Mitbewohnerin ranmachte! Eher mit den vielen, vielen Rechnungen, die seit Monaten zu bezahlen waren und den Bankkredit inzwischen fast komplett aufgebraucht hatten. Es war dringend nötig, dass durch die vier Zimmermieten endlich etwas Geld reinkam.

In den kommenden Tagen wollten sie die ersten der unfassbar vielen Bewerber und Bewerberinnen einladen, die sich auf ihre Annonce hin gemeldet hatten. Häberle war sich jetzt schon sicher, dass es zwischen ihm und Lotte, die von seiner Erbtante lebenslanges Wohnrecht zugesichert bekommen und wie er ihre gesamten Ersparnisse in den Umbau gesteckt hatte, Ärger bei der Auswahl geben würde. Er wollte ruhige, möglichst unsichtbare Mitbewohner, die zuverlässig zu jedem Ersten des Monats die Miete überwiesen. Lotte hatte hingegen schon angedeutet, dass sie die Zimmer gern an Studierende und Auszubildende vermieten würde, die sich nichts anderes leisten konnten und froh wären, nette Vermieter zu haben, die auch ab und zu etwas länger auf die Miete warten würden, wenn sie finanziell mal klamm waren. Häberle hatte aber absolut nicht vor, ein solcher Vermieter zu sein.

Wieder seufzte er und stemmte sich dann vom Bett hoch, wobei das von seinem Schweiß feuchte Laken an ihm hängen blieb und sich nur langsam von seinem Körper löste. Er nahm sein Smartphone und ließ über die Sonos-App seine »Arschtritt«-Playlist auf den drei in seinen beiden Zimmern und im Badezimmer verteilten Boxen ertönen, die er sich vergangenen Monat geleistet hatte. Er brauchte die harten E-Gitarren-Riffs, den hämmernden Bass und die Drums ausgewählter Songs von Bands wie Muse, Pearl Jam, Queens of the Stone Age, Beastie Boys und anderen, um morgens in Fahrt zu kommen. Einen echten musikalischen Arschtritt eben.

Die ersten Klänge eines Beatsteaks-Songs waren zu hören. Sehr gut. Der Gute-Laune-Punkrock aus seiner Heimatstadt Berlin half ihm dabei, die Augen endlich richtig aufzubekommen. »Jane became insane …«, sang er leise mit. Warum Jane wohl verrückt geworden war? In dem Liedtext gab es keine Erklärung dafür, aber momentan konnte Häberle sich gut vorstellen, dass Jane während einer Hitzewelle den Verstand verloren hatte.

Er schlurfte durch sein bis auf das bei Ikea gekaufte Bett und den im Keller der Villa gefundenen uralten Schrank noch immer leeres Schlafzimmer zum Fenster, zog den Rollladen hoch, betrachtete kurz mit angewidertem Gesichtsausdruck den natürlich mal wieder wolkenlosen Himmel und ging dann in sein Badezimmer. Waschbecken, Toilette und Dusche waren hier auf engstem Raum untergebracht, aber mehr brauchte er ja auch nicht. Er ging in die Duschkabine und drehte das kalte Wasser auf. Prustend und nach Luft schnappend stellte er sich unter den Strahl und hüpfte dabei von einem Bein auf das andere. Jetzt war er endgültig wach. Aber so was von!

Er seifte sich ein, wusch das Haar und sprang weiter unter dem Wasserstrahl hin und her. Verdammt, war das kalt! Aber anders kam er derzeit nicht in die Gänge, er brauchte diesen Schockmoment, um morgens seinen Kreislauf in Schwung zu bekommen. Wieder dachte er an sein Alter. Siebenundvierzig. Es war nicht zu leugnen.

Schließlich drehte er das Wasser ab und entspannte sich. Zufrieden holte er tief Luft. Herrlich. Das waren momentan die einzigen Minuten am Tag, in denen er sich wohlfühlte in seinem Körper. Direkt nach der kalten Dusche, wenn er die warme Luft als angenehm empfand und für einen kurzen Augenblick nicht schwitzte.

»Kaffee. Müsli. Jetzt«, murmelte Häberle, nachdem er sich die Zähne geputzt und beschlossen hatte, dass die Rasur noch mindestens einen Tag warten konnte. Eine Ansicht, die Polizeidirektor Thorsten Furtwängler mit Sicherheit nicht teilen würde. Aber den konnte Häberle derzeit sowieso nicht leiden. Wie konnte es sein, dass dieser Mann jeden Morgen gut gelaunt in Anzug und Krawatte in seinem überhitzten Büro saß, dabei keinen einzigen Schweißtropfen zu vergießen schien und jedem, der ihm nicht schnell genug aus dem Weg ging – auch Häberle hatte er schon erwischt –, leutselig erzählte, dass er dieses Wetter liebe und am Wochenende wieder einen toskanischen Abend mit seiner Frau zelebriert habe, bei dem sie diese wunderbare Wärme – »Diese gottverdammte Hitze!«, hätte Häberle ihn fast lautstark berichtigt – bei einem hervorragenden Vernaccia di San Gimignano und leckeren Bruschette genossen hätten.

Häberle hatte nur den Kopf schütteln können. Alkohol ging bei dieser Hitze gar nicht, davon bekam er sofort Kopfweh. Und essen war auch nur noch Pflichterfüllung, er hatte keinen Appetit mehr, seit es so heiß war. Zumindest etwas Gutes, dachte er. Drei Kilo hatte er schon abgenommen. Mit seinen hundertzweiundneunzig Zentimetern Größe und jetzt nur noch zweiundachtzig Kilogramm war er sich fast schon zu dünn. Ein Luxusproblem, das bestimmt nicht viele Siebenundvierzigjährige hatten.

An den grauer werdenden Haaren, die er sich beim vergangenen Friseurbesuch auf zwei Zentimeter Länge hatte kürzen lassen, um weniger zu schwitzen und sie nach dem ständigen Duschen einfacher trocken rubbeln zu können, sah man ihm trotzdem an, dass er auf die fünfzig zuging. Das war eine Tatsache, auch wenn er sich eigentlich jünger fühlte. Meistens. Wenn es nicht so heiß war.

Er zog sich eine Jeans und ein kurzärmeliges graues Hemd an, schlüpfte in Socken und Sneaker und ging durch sein Wohnzimmer – ebenfalls noch ziemlich leer bis auf einen einsam in der Ecke stehenden Sessel und eine große Kiste voller CDs, die er nach dem Kauf der Sonos-Boxen und dem Verschrotten seiner Musikanlage aus dem vorigen Jahrhundert jetzt nur noch in seinem alten Dienstwagen mit noch älterem CD-Radio abspielen konnte – raus auf den Flur und hinunter in die Küche.

Lotte war auch schon auf und werkelte gerade an ihrer riesigen Siebträger-Kaffeemaschine, als er durch die Tür trat. Dies war das Reich der Profiköchin, die in der Fünfzigtausend-Euro-Küche ihre von Gourmet-Magazinen in den höchsten Tönen gelobten Schwarzwälder Spezialitäten zur Probe kochte, bevor sie sie im Kirchzartener Gasthaus Zum Goldenen Hirschen, wo sie Küchenchefin war, auf die Menükarte setzte.

»Guten Morgen, Thomas. Kaffee?«, schmetterte sie ihm gut gelaunt entgegen. Beim Anblick seiner hübschen, wie fast immer eine Latzhose tragenden Mitbewohnerin, die zudem auch noch einen Kaffee für ihn zu machen gedachte, wurde seine Laune sofort etwas besser – nur um in der nächsten Sekunde so richtig mies zu werden.

»Guten Morgen, Herr Häberle! Na, bereit, einen weiteren Tag für Recht und Ordnung in Freiburg zu sorgen?« Philipp Wagner saß mit einer Tasse Kaffee am Küchentisch und grinste ihn in Boxershorts und T-Shirt und mit seltsamerweise schon zu dieser Uhrzeit perfekt sitzender Haarpracht an. Na prima. Er hatte also hier übernachtet.

Halt einfach den Mund, hätte Häberle fast als Antwort geknurrt, riss sich aber gerade noch rechtzeitig zusammen. »Aha, der Herr Architekt. Guten Morgen.« Am liebsten wäre er gleich wieder aus der Küche verschwunden. Aber warum eigentlich? Es war schließlich auch seine Küche. »Na, schauen Sie sich an, ob die Handwerker alles zu Ihrer Zufriedenheit erledigt haben und die horrenden Kosten auch gerechtfertigt sind?« Er biss sich auf die Zunge. Verdammt, das war sehr viel unfreundlicher aus seinem Mund gekommen als beabsichtigt.

Philipp Wagner reagierte nur mit einem fragenden Blick, aber Lotte Merckheim war da eine andere Nummer. »He, Herr Häberle, wie sprichst du denn mit meinem Gast?«, fragte die Dreiunddreißigjährige aufbrausend und schüttelte missbilligend ihren dunklen Lockenkopf. »Sei nett, sonst war es das für dich mit meinem guten Kaffee für die nächsten Wochen!«

Sie hielt ihm seine Tasse hin, zog sie aber wieder zurück, als Häberle nach ihr greifen wollte, und sah ihn auffordernd an. Was sollte das denn jetzt, wollte sie ihn etwa erziehen? Wenn der Kaffee doch bloß nicht so verführerisch gut gerochen hätte.

»’tschuldigung«, murmelte er, nahm dann mit einer übertriebenen Verbeugung seinen Kaffee entgegen und ging zur Tür. Er würde hier bestimmt nicht gemeinsam mit Philipp Wagner am Küchentisch sitzen und sein Müsli löffeln. »Ich gehe arbeiten. Und sorge für Recht und Ordnung«, konnte er sich mit Blick in Richtung des Architekten nicht verkneifen zu sagen, bevor er aus der Küche verschwand.

»Eingebildeter Fatzke«, brummelte er, als er in seinen alten Passat stieg und den Kaffee vorsichtig auf der Mittelkonsole abstellte. Ja, genau das war er, ein Fatzke. Häberle freute sich an dem Wort. Das hatte er nicht mehr gehört, seit er aus seiner Heimatstadt Berlin nach Freiburg gezogen war.

»Und ’ne Flitzpiepe ist er auch«, grummelte er vor sich hin. »Mit ’nem richtigen Backpfeifenjesicht.« Er musste grinsen und an seine alte Deutschlehrerin denken, die den Berliner Dialekt perfekt beherrscht und immer in den richtigen Momenten zum Besten gegeben hatte. Was hätte die jetzt wohl gesagt? »Oh, der feine Graf Rotz von die Popelsburg würd et also jut finden, wenn ick für Recht und Ordnung in seiner Stadt sorg. Na, denn mach ick ma’ lieber een Abgang und kümmer ma drum«, machte er einen Versuch und musste lachen. Genau so hatte seine Deutschlehrerin tatsächlich gesprochen, wenn ihr jemand auf die Nerven gegangen war. Er hatte sie dafür geliebt.

Er legte den ersten Gang ein und fuhr langsam los, um möglichst wenig Kaffee zu verschütten. Zumindest war jetzt seine Stimmung wieder besser. Der badische Dialekt mochte ja auch seine Vorzüge haben. Aber wenn es darum ging, sich über andere lustig zu machen, ging doch nichts über eine echte Berliner Schnauze.

Als Häberle am Café Liebes Bisschen vorbeifuhr, schaute er kurz auf die Uhr. Mist, erst kurz nach sieben und somit noch zu früh, um sich ein Stück seines geliebten Apfelkuchens zu holen. Um die Zeit waren die Türen seines Stammcafés noch verschlossen. Er würde also darauf vertrauen müssen, dass Julia Specht etwas in den Tiefen ihres Rucksacks hatte, das ihm als Frühstück dienen konnte. Neben Gummibärchen und Schokoriegeln hatte sie meistens auch ein paar Kekse zur Hand. Vielleicht hatte er ja auch Glück, und sie brachte mal wieder eine Tüte mit Hefeschnecken vom Bäcker ihres Vertrauens mit. Wobei sie das seit Beginn der Hitzewelle nicht mehr gemacht hatte, die hohen Temperaturen schienen sogar der ansonsten gefühlt immer essenden Kollegin auf den Magen zu schlagen.

Er war kurz vor dem Polizeipräsidium, als sein Smartphone »Summer’s End« von den Foo Fighters erklingen ließ. Den Klingelton hatte er sich in der Hoffnung eingestellt, dass der entspannte Song ihn etwas mit der vom Himmel brennenden Sonne versöhnen würde. Und wegen der Zeile »Just keep starin’ at the sun, pray for summer’s end«. Die Bereitschaft, wie er mit einem Blick auf das Display feststellte.

Er runzelte die Stirn und überlegte kurz, ob er noch schnell auf den Parkplatz vor dem Polizeipräsidium fahren und zurückrufen sollte, drückte dann aber über die Freisprechanlage auf Annehmen. »Häberle hier. Was gibt es?«

Es knackte ein paarmal. Die Verbindung war nicht sehr gut, obwohl er mitten in Freiburg war und es somit keine Entschuldigung für den Mobilfunkanbieter gab.

»Hauptkommissar Häberle?«, hörte er eine Stimme fragen und bestätigte kurz mit einem zustimmenden Brummeln. »Guten Morgen. Hier Kommissar Edgar Brühn. Wo befinden Sie sich gerade?«

»Ich biege in wenigen Sekunden auf den Parkplatz vor dem Polizeipräsidium ein.«

»Sie können direkt umkehren, wir haben eine tote Frau am Flückigersee gemeldet bekommen, das ist der See im Seepark. Anscheinend mit Schusswunde am Kopf. Sie liegt in der Nähe des Seeparkturms, am besten fahren Sie über die Ensisheimer Straße. Mehr weiß ich noch nicht, ich habe bereits drei Streifen hingeschickt, es ist momentan aber noch alles ein ziemliches Durcheinander. Der Spurensicherung sage ich auch gleich Bescheid. Fahren Sie hin und übernehmen Sie bitte die Leitung. Und melden Sie sich, sobald Sie mehr wissen. Vor allem alles, was bei einer Fahndung helfen könnte.«

Häberle hatte bereits mitten auf der Straße gewendet, wofür er von den entgegenkommenden Autofahrern unter wildem Hupen zweimal den Vogel und einmal den Mittelfinger gezeigt bekommen hatte, bestätigte die Anweisung von Kommissar Brühn mit einem kurzen »Bin unterwegs« und gab Gas. Mehr gab es momentan nicht zu sagen, der Kollege hatte klargemacht, dass er alles im Griff hatte und von ihm jetzt nur erwartet wurde, so schnell wie möglich zu dem Tatort zu fahren. Alles andere würde sich ergeben.

Das Adrenalin schoss in Häberles Blutbahn, er war jetzt endgültig hellwach und unter Spannung.

Schusswaffengebrauch an einem Ort, an dem um diese Zeit bestimmt schon Frühsportler und somit Zeugen unterwegs waren. Das war sehr ungewöhnlich, fand Häberle. Immerhin war das hier Deutschland, da lief man nicht einfach so mit einer Knarre durch die Gegend. Er hatte erst zweimal in einem Mordfall mit Schusswaffe ermittelt, einmal war ein Streit in einer Rockergang eskaliert, ein anderes Mal war es eine Beziehungstat gewesen. Bei beiden Waffen hatte es sich um uralte Pistolen gehandelt, die seit dem Zweiten Weltkrieg durch die Jahrzehnte weitergegeben worden waren. Und beide Male waren die Waffen nicht in öffentlichen Räumen zum Gebrauch gekommen, sondern einmal in einem Vereinsheim in Berlin-Reinickendorf und das andere Mal in der Wohnung des Paares in Berlin-Neukölln. Einen Mord auf offener Straße mit einer Schusswaffe und möglicherweise einigen Passanten als Zeugen hatte er noch nie gehabt. Er beschleunigte noch ein bisschen mehr und war zwei Minuten später am Seepark.

Häberle musste nicht suchen. Sobald er den Seeparkturm vor sich sah, entdeckte er ein Stück weiter Richtung Seeufer drei Streifenwagen sowie eine für diese Uhrzeit nicht kleine Menschenmenge von etwa zwanzig Personen. Er rollte langsam über den schmalen, natürlich nicht für Fahrzeuge freigegebenen Weg. Da sein Passat nicht auf den ersten Blick als Polizeiauto erkennbar war, sah er in dem Moment auch schon einen Polizisten energisch auf ihn zukommen, dann aber langsamer werden. Er hatte wohl am Nummernschild erkannt, dass hier nicht ein neugieriger Autofahrer oder – noch schlimmer – ein Pressevertreter auf den Tatort zufuhr.

Häberle parkte am Wegrand, stieg aus und hielt seinen Dienstausweis hoch. »Guten Morgen, Hauptkommissar Thomas Häberle von der Mordkommission. Kommissar Brühn schickt mich. Können Sie mir schon etwas sagen?«

Der Beamte schaute ihn erleichtert an. Nicht nur musste er sich nicht mit irgendeinem Passanten auseinandersetzen, sondern es war sogar jemand da, der ab sofort die Verantwortung übernehmen würde.

»Hallo, Polizeiobermeister Pabst. Wir sind seit zehn Minuten hier und gerade mit der Absperrung fertig. Bei der Treppe liegt eine junge Frau, tot. Schuss in die Stirn, so wie es aussieht. Die Zeugin, die sie gefunden und bei der Bereitschaft angerufen hat, ist noch da. Kommen Sie, ich bringe Sie zu ihr.«

Häberle war positiv überrascht. Erst die klare Ansage von Kommissar Brühn, jetzt dieser kompetente Vortrag. Er nickte und wollte dem Kollegen gerade folgen, als hinter ihnen ein VW-Bus mit quietschenden Reifen von der Straße in den Park abbog und auf sie zufuhr, ohne merklich langsamer zu werden. Pabst sah ihn alarmiert an und griff bereits nach seiner Dienstwaffe, aber Häberle hob beschwichtigend seine Hände.

»Keine Gefahr«, rief er beruhigend. »Das ist die Spurensicherung.« Und etwas leiser zu sich selbst: »Und dem Fahrstil nach zu urteilen, sitzt der große Meister höchstpersönlich am Steuer.«

Der VW-Bus kam direkt vor ihnen in einer Staubwolke zum Stehen, und wie Häberle vermutet hatte, war Manuel Palmer, der Chef der Spurensicherung, für den an die TV-Serie »Alarm für Cobra 11« erinnernden Auftritt verantwortlich. Auf dem Beifahrersitz saß ein junger Kollege, der sich noch immer verkrampft am Haltegriff über der Tür festklammerte und gerade erst erleichtert festzustellen schien, dass die rasante Fahrt beendet war.

»Guten Morgen!« Manuel Palmer war ausgestiegen und zu Häberle und Polizeiobermeister Pabst getreten. Wie immer schien er bester Laune zu sein. »Jetzt habe ich mich extra beeilt, um vor Ihnen hier zu sein, und komme trotzdem zu spät. Sie haben wohl das Gaspedal voll durchgetreten, Herr Schwabe. Und das bei den Benzinpreisen!« Grinsend sah er Häberle an und schien sich in keinster Weise durch den genervten Blick des Hauptkommissars gestört zu fühlen.

Häberle hatte ihm schon Dutzende Male erklärt, dass er kein Schwabe, sondern waschechter Berliner war und sein Nachname sich auf seinen Großvater zurückführen ließ, der nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen mit seiner Großmutter von Stuttgart in die Hauptstadt umgezogen war. Den einundsechzigjährigen Palmer interessierte das aber nicht wirklich, der Nachname »Häberle« war für ihn immer wieder ein willkommener Grund, sämtliche Vorurteile und Witze, die er als stolzer Badener über Schwaben kannte, zum Besten zu geben.

Er sah Häberle neugierig an. »Wir haben einen Mord, ist das richtig? Verrückt, erst gestern war ich hier mit meiner Frau zum Baden. Da vorne, auf der FKK-Wiese. Herrlich, sollten Sie auch mal machen, Herr Häberle. Es gibt nichts Schöneres, als die Sonne auf dem Körper zu spüren. Und zwar an jeder Stelle des Körpers!« Er zwinkerte ihm zu. »Wir können gerne mal zusammen herkommen.«

Immer noch grinste er, obwohl ihm mit Sicherheit bewusst war, dass Häberle das Angebot des gemeinsamen Nacktbadens nicht einmal dann in Erwägung ziehen würde, wenn ihm dafür Geld angeboten würde.

»Ich habe Ihnen übrigens jemanden mitgebracht. Hab sie auf dem Parkplatz aufgegabelt.«

In dem Moment kam Julia Specht um den VW-Bus herumgelaufen. »Hui, das war ja mal eine wilde Fahrt. Guten Morgen!«

Häberle nickte ihr zu. Sehr gut, dann war ja schon die Hälfte seines Teams vor Ort. Fehlte nur noch Maria Dupont.

»Ich habe Maria eine WhatsApp geschickt, so gut es eben bei der Höllenfahrt hinten im Bus ging.«

Palmer schaute die zierliche neunundzwanzigjährige Kommissarin mitfühlend an, so als ob er das Gleiche wie sie hatte erleben müssen und nicht etwa selbst der für die Höllenfahrt Verantwortliche war.

»Sie hat gerade geantwortet, sie ist gleich hier.«

»Okay, dann gehen wir jetzt zum Tatort. Herr Pabst, was wissen wir über den Täter?«

Der Beamte schüttelte den Kopf. »Absolut nichts. Nicht einmal, ob es ein Täter oder eine Täterin ist. Wir haben bisher auch keine Uhrzeit für den Mord, niemand von denen, die wir bisher befragt haben, hat einen Schuss gehört. Es kann also sein, dass die Frau schon länger hier liegt. Dafür spricht, dass sie eine Stirnlampe aufhat, sie scheint also entweder sehr spät oder sehr früh gelaufen zu sein, in der Dunkelheit.«

Häberle zog eine Grimasse, als hätte er Zahnschmerzen. Also keine Infos und keine Zeugen. Außer dass der Mord entweder extrem gut geplant war oder der Täter unverschämtes Glück gehabt hatte. Denn hier im Park war nachts selten nichts los, wie er aus diversen Zeitungsartikeln wusste. Hier wurde viel gefeiert, oft bis in die frühen Morgenstunden, mit lauter Musik. Was den Anwohnern alles andere als recht war, weshalb sie sich immer wieder bei der Stadt beschwerten und ein Partyverbot forderten. Aber so etwas war natürlich schwer durchzusetzen und zu kontrollieren, gerade in einer Uni-Stadt mit so vielen jungen Menschen.

Häberle überlegte. Bei den momentanen tropischen Nächten war hier mit Sicherheit nachts noch mehr los als sonst, sie würden einen Zeugenaufruf starten, vielleicht hatte ja jemand von den Feiernden etwas gesehen oder zumindest den Schuss gehört. »Wann ging der Anruf der Zeugin denn ein?«, wandte er sich an den Polizeibeamten.

Pabst schaute auf seinen Notizblock. »Sechs Uhr sechsundfünfzig.«

Häberle nickte. »Sobald Sie uns die Frau vorgestellt haben, die die tote Person gemeldet hat, befragen Sie bitte die Umstehenden, ob sie sich an jemanden erinnern, der sich hier aufgehalten hat.«

Sie waren inzwischen bei den Schaulustigen angekommen, die sich am Absperrband aufgereiht hatten und neugierig zu einer silbernen Rettungsdecke starrten, unter der man einen menschlichen Körper erahnen konnte.

»Michael, geh bitte zum Kombi und hol das große Zelt.« Grimmig schaute Palmer zu den Passanten. »Ich möchte mich später nicht in kleinen Filmchen auf diversen Social-Media-Kanälen beim Untersuchen einer Leiche sehen müssen.«

Der junge Mann, der so verkrampft auf dem Beifahrersitz gesessen hatte, machte kehrt und lief zusammen mit einem weiteren Kollegen der Spurensicherung zurück zum VW-Bus, während Palmer zum Mordopfer ging.

Polizeiobermeister Pabst gab Häberle und Julia Specht ein Zeichen und ging mit ihnen zu einer Frau, die etwas abseits stand und gerade telefonierte.

»… ja, Elenor. Ja. Ich weiß, du hast mir schon oft gesagt, dass ich lieber nicht alleine joggen gehen soll«, hörten sie sie in ihr Handy sprechen. »Aber wer rechnet denn damit, dass hier jemand erschossen werden könnte?«

Sie sah die drei auf sich zukommen und nickte ihnen mit einem Gesichtsausdruck zu, der wohl zeigen sollte, dass sie sich sehr wohl der Wichtigkeit ihrer Person bewusst war und gleich für sie zur Verfügung stehen würde. »Ich muss jetzt Schluss machen, ich glaube, die Polizei braucht mich. Ich melde mich später wieder.«

Sie steckte das Smartphone in eine Bauchtasche und kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu. »Guten Morgen. Mein Name ist Gaby Bär, wohnhaft in der Hofackerstraße, gleich dahinten, hinter dem Bürgerhaus und dem japanischen Garten. Ich habe die Tote gefunden und die Polizei verständigt. Wie kann ich Ihnen helfen?«

Oberpolizeimeister Pabst, der die Anwesenden gerade einander hatte vorstellen wollen, blieb stehen und ging mit einem gemurmelten »Na, dann befrage ich mal die Leute« zu den neugierigen Passanten zurück.

Häberle betrachtete die Frau, die sich gerade so forsch als Gaby Bär vorgestellt hatte. Er schätzte sie auf Mitte dreißig, gut in Form, in teuer aussehenden Joggingschuhen und perfekt farblich abgestimmten Laufklamotten. Obwohl es noch früh und sie offensichtlich zum Joggen hier war, hatte sie sich heute Morgen schon dezent geschminkt und die langen blonden Haare zu einem eleganten Dutt hochgesteckt. Sie schien den Fund gut wegzustecken, keine Spur von Schock oder Unsicherheit, nachdem sie eine ermordete Frau entdeckt hatte. Ungewöhnlich, fand Häberle.

»Guten Morgen. Hauptkommissar Häberle, Kommissarin Julia Specht«, stellte Häberle sie vor. »Danke, dass Sie so schnell reagiert und die Kollegen gerufen haben.« Erst mal loben, das brach das Eis. »Haben Sie irgendetwas gesehen, als Sie die Frau gefunden haben? Eine Person, die weglief? Ein Auto mit Fahrer, der wartete, oder eins, das mit laufendem Motor am Weg stand?«

Schon während er fragte, hatte die Frau angefangen, den Kopf zu schütteln. »Nein. Da war sonst niemand. Nur auf der gegenüberliegenden Seeseite waren zu der Zeit noch zwei Jogger unterwegs.« Sie zeigte nach Süden über den See. »Dahinten, etwas rechts, bei den Bäumen.«

»Und Sie haben die Frau hier unten am See im Vorbeilaufen liegen sehen?«, fragte Julia Specht. »Das ist ja doch etwas abseits vom Weg.«

Gaby Bär nickte eifrig. »Das stimmt. Aber ich habe ihre Beine gesehen, mit den Laufschuhen. Deshalb habe ich auch nachgeschaut, das fand ich nämlich seltsam.«

»Nur wegen der Laufschuhe?« Julia Specht sah sie fragend an. »Sonst hätten Sie es nicht seltsam gefunden, dass so früh jemand am See liegt?«

»Nein. Kein bisschen.« Gaby Bär bekam einen harten Gesichtsausdruck. »Hier liegen morgens oft Leute, die ihren Rausch ausschlafen oder ihre Drogen oder was auch immer. Wie gesagt, ich wohne direkt da vorne, deshalb bekomme ich das oft mit. Leider. Ich dachte deshalb zuerst, dass das wieder mal so ein Saufkopf ist. Bis ich dann eben die Laufschuhe sah.«

»Also haben Sie nachgeschaut.«

»Also habe ich nachgeschaut, genau. Und da sah ich Teresa dann liegen. Irgendwie habe ich gleich erkannt, dass sie tot ist, so legt man sich nicht zum Ausruhen hin. Ja, und dann habe ich das Loch in der Stirn gesehen und die 110 angerufen.« Zufrieden mit sich selbst sah sie Häberle und Specht an, die erstaunt zurückblickten.

»Sie kennen die Frau?«, fragten sie beide gleichzeitig, und Häberle konnte sein Glück kaum fassen. Das würde einiges beschleunigen, falls bei dem Opfer keine Ausweispapiere zu finden waren!

»Kannte sie. Vergangenheitsform. Sie ist ja tot«, berichtigte Gaby Bär sie lächelnd, und Häberle schaute sie böse an.

Sie hatte ja recht, aber ob die Frage grammatikalisch richtig gestellt worden war, sollte jetzt wirklich nicht das Thema sein.

»Kannte ist zu viel gesagt«, sagte die Zeugin. »Ich sah sie öfter beim Laufen, ich denke mal, sie wohnte auch hier in der Nähe. Ich hatte anfangs gehofft, dass wir Lauffreundinnen werden könnten, und sie angesprochen. Aber sie meinte, dass sie beim Laufen nicht gerne redet, und außerdem muss ich zugeben, dass sie sehr viel schneller ist als ich.«

»Schneller war als Sie. Vergangenheitsform«, konnte sich Julia Specht nicht verkneifen, sie zu berichtigen, und Häberle unterdrückte ein Grinsen. Die Hitze der letzten Tage hatte tatsächlich bewirkt, dass selbst seine junge Kollegin ein Miesmuffel geworden und von den gleichen Dingen wie er sehr schnell genervt war.

»Ja, stimmt!« Gaby Bär lachte sie an. Entweder machte ihr der Fund einer Leiche tatsächlich nichts aus, oder die fröhliche Gesprächigkeit war eine sehr ungewöhnliche Schockverarbeitung ihres Gehirns.

»Was wissen Sie denn noch über Teresa? Vielleicht den Nachnamen?«, fragte Häberle.

Die Zeugin schüttelte den Kopf. »Nein. Wie gesagt, ich habe sie vor ungefähr zwei Monaten mal gefragt, ob wir hin und wieder zusammen laufen wollen. Wobei ich nicht wusste, dass sie sogar nachts läuft. Sie hat nämlich eine Stirnlampe auf.« Sie zeigte Richtung Fundort. »Sie war damals ehrlich gesagt ziemlich abweisend, hat nur ihren Vornamen genannt, und das auch erst nach längerem Zögern. Na ja, und dann hat sie wie gesagt abgelehnt, weil sie eben nicht gerne beim Laufen redet – und ich glaube, sonst auch nicht.« Wieder überlegte sie. »Mehr weiß ich nicht. Aber ich denke, dass sie hier in der Gegend wohnt. Und keinen Job hat. Zumindest keinen Bürojob mit festen Arbeitszeiten.«

Julia Specht schaute sie fragend an. »Wie kommen Sie denn darauf?«

Gaby Bär blickte stolz zwischen ihr und Häberle hin und her. »Das habe ich kombiniert! Wissen Sie, ich gehe zu den unterschiedlichsten Zeiten laufen, weil ich selbstständige Schmuckdesignerin bin. Und Teresa habe ich dabei oft getroffen, eben auch zu unterschiedlichsten Zeiten. Und das ginge ja nicht, wenn sie feste Arbeitszeiten hätte, nicht wahr?«

»Gut kombiniert«, lobte Häberle sie. »Und durch welche Indizien kommen Sie zu der Annahme, dass Teresa hier in der Nähe gewohnt hat? Das haben Sie vorhin schon mal erwähnt.«

»Das ist einfach. Sie kam nicht mit einem Auto, um hier zu laufen, sondern immer zu Fuß. Sie ist also höchstwahrscheinlich zu Hause losgelaufen, hat hier ihre Runden gedreht und ist dann wieder nach Hause. Ich denke nicht, dass sie von der anderen Seite Freiburgs hierhergerannt ist. Also muss sie in der Nähe wohnen. Oder?«

Häberle brummte zustimmend. »Wenn das alles so stimmt, wie Sie es sagen, ist das sehr wahrscheinlich, ja.« Er überlegte kurz, aber ihm fiel momentan keine weitere Frage ein. »Vielen Dank, Frau Bär, das war es fürs Erste. Wir würden uns melden, wenn wir noch Fragen haben. Hier ist meine Karte, falls Ihnen noch etwas einfällt. Julia, nimmst du bitte kurz ihre Personalien auf?«

Bevor er eine Antwort erhielt, hatte er der Frau schon zugenickt und sich umgedreht. Er wollte jetzt die Leiche sehen und hören, ob Manuel Palmer schon etwas Hilfreiches sagen konnte.

Häberle wollte gerade unter der Absperrung durchschlüpfen, als er Maria Dupont auf sich zuhumpeln sah. Seit sie sich im vergangenen Herbst bei einer Verfolgung eines Verdächtigen zu Fuß durch den Wald oben am Schluchsee den Knöchel gebrochen hatte, hatte die Dreiundvierzigjährige Probleme mit dem Laufen. Neben der momentanen Hitze war das ein weiterer Grund für die begeisterte Marathonläuferin, des Öfteren schlecht drauf zu sein. Er hoffte sehr, dass die Physiotherapie demnächst endlich anschlug und seine Kollegin ihre Energie wieder auf der Laufstrecke ausleben konnte. Er ging auf sie zu und erzählte ihr in kurzen Sätzen, was passiert war und was sie bisher wussten.

»Okay. Und jetzt? Gehen wir zu Palmer?« Sie schaute Häberle ungeduldig an.

»Nach dir«, sagte er und ließ sie an ihm vorbeigehen.

Ein Polizist hielt das Absperrband hoch. Der Beamte tat Häberle leid in seiner Uniform, die er trotz der Hitze tragen musste. Aber zumindest durfte er die kurzärmelige Variante des Diensthemdes tragen, und vor einer Woche war sogar von höchster Stelle entschieden worden, dass die Pflicht zum Tragen der Dienstmütze bis zum Ende der Hitzewelle aufgehoben wurde. Im inzwischen aufgestellten Zelt stand Palmer entspannt neben dem Mordopfer und plauderte mit zwei seiner drei Assistenten, während der dritte ein Formular auszufüllen schien.

Häberle betrachtete die junge Frau, die vor ihm lag. Irgendwie kam sie ihm bekannt vor. Aber er konnte sie nicht zuordnen. Sie war etwa hundertsiebzig Zentimeter groß, dünn, hatte lange, lockige schwarze Haare und ein etwas kindlich anmutendes Gesicht. Er schätzte sie auf Mitte dreißig. Hatte er sie vielleicht schon mal in Freiburg gesehen? Nein. Sein Gedächtnis brachte sie mit dem Fernsehen oder dem Kino in Verbindung, allerdings nichts aus der neueren Zeit.

»Wow, tolle Schuhe.«

Häberle grübelte noch immer, drehte sich jetzt aber zu Maria Dupont um und sah sie fragend an. »Bitte?«

»Die Schuhe. Das sind Adizero Prime X von Adidas. Kosten um die zweihundertfünfzig Euro. Damit läufst du einen Marathon gleich mal um ein paar Minuten schneller.« Sie schaute die Schuhe sehnsüchtig an, und Häberle war klar, dass es hier nicht um die Schuhe, sondern um das Laufen an sich ging.

»Auch der Rest der Kleidung ist absolute Spitzenklasse. Und die Smartwatch am Handgelenk. Und die Stirnlampe. Nur der alte MP3-Player an ihrem Oberarm mit Kabel-Kopfhörern passt nicht dazu.« Sie beugte sich über die Leiche. »Da läuft ja sogar noch Musik. Was ist das? Klassik?«

»Ja. Georg Friedrich Händel. Orgelkonzerte. Vorhin lief ›Messiah‹, jetzt ›Wassermusik‹.« Manuel Palmer war zu ihnen getreten und schaute sie zufrieden an.

Inzwischen war auch Julia Specht ins Zelt getreten. »Wehe, du behandelst mich noch mal wie eine Polizeianwärterin oder Schlimmeres!«, zischte sie Häberle an. »Personalien kann ja wohl auch jemand anders aufnehmen.« Die Kommissarin mit ihrem rotblonden Pferdeschwanz schaute ihn mit vor Wut blitzenden Augen an.

»Entschuldigung!«, erwiderte er erstaunt. Hoffentlich ließ die Hitze bald nach, das war ja nicht auszuhalten, wie gereizt hier alle waren! »Seit wann sind Sie denn Experte für klassische Musik?«, wandte er sich an Palmer.

Der zuckte mit den Schultern. »Als Badener bin ich von Natur aus Experte für alles, das kommt direkt bei der Geburt mit dem ersten Atemzug, zusammen mit der außergewöhnlichen Intelligenz. In dem Fall muss ich aber zugeben, dass mir ein Landsmann von Ihnen auf die Sprünge geholfen hat.«

Er zeigte auf den jungen Mann, den er vorhin das Zelt holen geschickt hatte. »Herr Eisele hat die Musik gleich erkannt, sein Vater ist Organist in der katholischen Kirchengemeinde in Nürtingen, hat er mir erzählt. Sie können ja nachher ein paar Spätzlerezepte austauschen, so von Schwabe zu Schwabe, falls Sie Zeit dafür finden.«

Bevor Häberle etwas auf diesen erneuten doofen Spruch zum Thema Schwabe erwidern konnte, ergriff Maria Dupont die Initiative.

»Na, dann legen Sie mal los, Sie badische Intelligenzbestie. Wir haben hier eine Leiche liegen und sollten so schnell wie möglich mit den Ermittlungen beginnen. Haben Sie irgendwelche Anhaltspunkte für uns? Können Sie uns vielleicht sagen, ob Sie Schwäbin oder Badenerin war? Oder zumindest den ungefähren Todeszeitpunkt?«

Palmer schaute sie irritiert an. So schnippisch kannte er Maria Dupont gar nicht. Er räusperte sich. »Okay. Was wir hier haben, ist ein sauberer Mord mit einer Kleinkaliberpistole aus nächster Nähe.« Er hob die Hände, als Häberle eine Frage stellen wollte.

»Dass es eine Kleinkaliberpistole war, erkenne ich an der Größe der Eintrittswunde. Aus nächster Nähe, sage ich, weil an der Leiche Pulverspuren zu finden sind. Der Schütze dürfte keine zwei Meter von ihr entfernt gewesen sein, als er abdrückte. Nur die Frage, warum es keine Austrittswunde gibt, bereitet mir Kopfzerbrechen – Entschuldigung, blöde Wortwahl. Aus der kurzen Entfernung müsste die Kugel eigentlich genug Bums gehabt haben, um den Schädel wieder zu verlassen. Vielleicht kann ja Frau Dr. Endlich von der Gerichtsmedizin das Rätsel lösen, wenn sie die Kugel im Schädel untersucht. Was den Todeszeitpunkt angeht: Der Körper ist noch nicht vollständig ausgekühlt, aber bei den derzeitigen hohen Nachttemperaturen hält die Körperwärme sich auch länger als sonst. Ich würde ganz grob schätzen, dass die Frau seit mindestens einer Stunde und höchstens drei Stunden tot ist.«

Er wischte sich mit einem großen karierten Tuch, das er aus seiner Hosentasche gezogen hatte, den Schweiß aus dem Gesicht, so als wolle er seinen Hinweis auf die hohen Temperaturen unterstreichen. »Was ich noch sagen kann, ist, dass die Tote nicht hier unten am See erschossen wurde, sondern fünf Meter weiter oben, auf dem Weg, der um den See führt. Es sind leichte Schleifspuren zu sehen, wahrscheinlich wollte der Mörder verhindern, dass die Leiche sofort entdeckt wird.«

Er überlegte kurz. »Was noch?«, fragte er sich selbst und kratzte sich am Hinterkopf. »Sie dürfte um die dreißig Jahre alt sein, sie ist fit, und sie war sofort tot. Bis auf die Kleidung, die Smartwatch, die Stirnlampe und den MP3-Player samt Kopfhörern hatte sie nichts außer einer Packung Taschentücher dabei, die sich in der kleinen Tasche hinten in der Laufhose befand. Zur Tat an sich kann ich bisher nur sagen, dass ich nichts außer dem Offensichtlichen sagen kann. Die Frau scheint hier am Ufer entlanggelaufen zu sein, begegnete ihrem Mörder, wurde erschossen und am See abgelegt. Ich würde vermuten, dass sie ihn nicht gekannt hat, da sie ja sonst versucht hätte zu flüchten. Oder sie kannte ihn, hat aber nicht erwartet, dass er sie erschießt. Oder sie hat ihn ganz einfach nicht gesehen.« Er schaute sie der Reihe nach an. »Fragen?«

»Gibt es irgendwelche Spuren eines Kampfes?«, fragte Häberle.

Palmer schüttelte den Kopf. »Nichts. Weder an der Leiche noch am Boden. Das Ganze hat sich dort oben auf dem Rasen abgespielt, aber der ist so knochentrocken, dass es keinerlei Abdrücke gibt, außer eben den leichten Schleifspuren. Eine Patronenhülse haben wir nicht gefunden, da kommen wir also auch nicht weiter.«

»Was ist mit einem Haustürschlüssel?«, fragte Julia Specht. »Sie muss ja nach dem Joggen wieder in ihre Wohnung hineinkommen.«

»Nix, es sei denn, sie hat ihn verschluckt. An ihrem Körper hat sie ihn jedenfalls nicht getragen. Vielleicht hat ihn ja der Mörder mitgenommen.«

Häberle schaute Palmer nachdenklich an. Wenn dem so war, mussten sie schnellstens herausfinden, wer die Tote war und wo sie gewohnt hatte. Denn dann würde der Mörder dort möglicherweise bald auftauchen. Ansonsten war das wirklich nicht viel, was der Chef der Spurensicherung ihnen sagen konnte. Er schaute zu seinen beiden Kolleginnen, aber auch ihnen fiel momentan anscheinend keine kluge Frage mehr ein.

»Okay, dann wären wir hier wohl erst mal fertig. Tod durch Schuss aus nächster Nähe. Das Opfer heißt Teresa und wohnte vermutlich in der Nähe. Sie joggte nachts, was vielleicht den hohen Tagestemperaturen geschuldet ist, trug teure Laufschuhe, hörte gerne klassische Musik und hatte keinen Haustürschlüssel bei sich.«

Der Hauptkommissar schaute in die Runde, offensichtlich hatte keiner etwas hinzuzufügen. Alle hatten verschwitzte Gesichter und teilweise auch schon Schweißflecken an Hemden, Blusen und T-Shirts, da es in dem Zelt selbst um diese frühe Uhrzeit schon wieder unerträglich heiß war.

»Dann gehen wir jetzt zurück ins Büro, setzen uns vor unsere Ventilatoren, versuchen, mehr über die Frau herauszufinden, und warten auf Infos von Gerichtsmedizinerin Dr. Endlich.«

Als Thomas Häberle und Julia Specht, die er in seinem Passat mitgenommen hatte, auf den Parkplatz vor dem Polizeipräsidium fuhren, piepte das Smartphone der Kommissarin plötzlich zweimal laut auf. Sie zog es aus der Tasche und schaute drauf. »Eilmeldung der Badischen Zeitung: Mord im Seepark.«

Häberle knurrte unwillig. Das war zu erwarten gewesen, schließlich hatten genügend Schaulustige am Tatort gestanden, die sicher ganz heiß darauf gewesen waren, als Erstes ein Foto mit nichtssagendem, aber bestimmt reißerischem Text auf ihren Instagram-Accounts hochzuladen und dadurch möglichst viele Likes zu bekommen. Die Redakteure der BZ würden ihren Job nicht richtig machen, wenn sie das nicht mitbekommen hätten.

»Was haben sie bisher an Infos?«, fragte er Julia Specht, die bereits auf den weiterführenden Link gedrückt hatte, während er parkte und den Motor ausmachte.

»›Wie Polizeisprecher Peter Hahn von der Kripo Freiburg gerade eben bestätigt hat, wurde heute am frühen Morgen am Freiburger Seepark in der Nähe des Seeparkturms eine Frau erschossen. Eine Passantin, die die Leiche fand, verständigte die Polizei. Weitere Infos folgen in Kürze‹«, las sie vor. »Na, zumindest wissen wir, wer die Passantin ist«, sagte sie trocken. »Frau Bär kann sich bestimmt über viel Aufmerksamkeit auf ihrem Insta-Account freuen.«

Sie tippte auf ihrem Smartphone auf die Instagram-App, suchte kurz nach dem Namen Gaby Bär und wurde fündig. »Zum Glück hat sie zumindest kein Foto der Toten online gestellt, sondern eins vom See.«

Sie hielt Häberle ihr Smartphone hin, der es nahm und sich den Beitrag genauer ansah. Unter dem Foto las er: »Wie schrecklich, ich habe soeben eine tote Joggerin im Seepark gefunden, mit einem Einschussloch im Kopf!!!!!!! Habe natürlich sofort die Polizei verständigt.«

»Wieso zum Glück?«, fragte er und gab Julia Specht das Smartphone zurück. Die Kommissarin schaute ihn fragend an.

»Wahrscheinlich wüssten wir dann bereits, wer die tote Frau ist. Irgendjemand hätte wahrscheinlich schon einen Namen in die Kommentare geschrieben«, erklärte er. »Ich weiß, moralisch nicht sauber und natürlich offiziell nicht tragbar, wir oder die Angehörigen könnten Frau Bär wahrscheinlich sogar verklagen. Aber bis wir ermittelt haben, wer genau Teresa ist, können Tage vergehen, und immerhin suchen wir nach einem Mörder, wir sind also unter Zeitdruck.«

»Also, dass ich dich mal die sozialen Medien loben höre, hätte ich auch nicht für möglich gehalten.« Julia Specht schaute ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und Belustigung an.

»Von Loben kann keine Rede sein«, stellte Häberle klar. »Wenn ich sehe, dass Frau Bär nichts Besseres zu tun hat, als sich selbst in den Vordergrund zu stellen, könnte ich kotzen. Aber manchmal kommt mit dem großen Übel eben auch ein kleiner Nutzen. Und bis wir auf den offiziellen Wegen mit allen bürokratischen und juristischen Hürden so weit sind, ein Foto der Toten zu veröffentlichen und die Allgemeinheit um Hilfe zu bitten, werden Tage vergehen. Frau Bärs Indiskretion über die sozialen Medien wäre der einfachere und schnellere Weg gewesen. Und auch wenn der private Social-Media-Hasser Thomas Häberle nur tiefe Verachtung für Frau Bär übriggehabt hätte, hätte der professionelle Hauptkommissar Häberle die daraus resultierenden Informationen sehr willkommen geheißen.«

Sie waren inzwischen in ihrem gemeinsamen Büro angekommen und setzten sich hinter ihre Schreibtische. Gleichzeitig schalteten sie erst ihre Ventilatoren und dann die Laptops ein, eine Klimaanlage hatten sie leider nicht. Häberle nahm noch kurz seine Gießkanne zur Hand und gab seinem Benjamini etwas Wasser, während Julia Specht auf ihrem Handy herumwischte.

»Dachte ich es mir doch«, sagte sie plötzlich triumphierend. »Hätte mich auch gewundert, wenn einer der Schaulustigen nicht dafür gesorgt hätte, den professionellen Hauptkommissar Häberle zufriedenzustellen und den privaten Herrn Häberle zu enttäuschen.«

»Was meinst du?« Er hatte gerade seinen rechten Zeigefinger in den Topf des Benjaminis gesteckt und überlegt, ob die Erde feucht genug war. Jetzt schaute er fragend auf.

»Na, da waren doch mindestens zwanzig Personen an der Absperrung, und ein paar von denen waren ja bestimmt schon vor der Polizei da. Und natürlich hat heutzutage jeder ein Smartphone und somit auch eine Kamera dabei. Also habe ich unter den Hashtags ›Freiburg‹, ›Mord‹, ›Seepark‹ gerade ein bisschen gesucht, und siehe da, hier haben wir es, ein Foto unserer Toten, wenn auch mit wirklich sehr geschmacklos anonymisiertem Gesicht.« Sie hielt ihm ihr Handy hin.

Häberle sah ein Foto der toten Frau, aus schätzungsweise nicht einmal drei Metern Entfernung aufgenommen. Über den Kopf des Opfers hatte der Instagram-User Mark_Freibierburg sehr unbeholfen ein knallgelbes, rundes Emoji mit traurigem Gesicht gelegt, ansonsten war aber nichts verdeckt oder unkenntlich gemacht worden.

Häberle schüttelte den Kopf. Was für ein Arschloch. Er las, was darunter stand. »Bin gerade im #SeeparkFreiburg den Alkohol von der gestrigen Feier im #schlappenfreiburg ausschwitzen, und plötzlich liegt da eine Leiche.« Häberle schüttelte erneut ungläubig den Kopf. Der Typ hatte tatsächlich einen lachenden Smiley eingefügt.

»Polizei ist bereits verständigt, ich mach mich mal lieber aus dem Staub, hab keine Lust, den Bullen von meinem Morgen zu erzählen.« Wieder ein paar Emojis, einer lachend, einer anscheinend betrunken und einer mit einem vor den Mund gelegten Finger.

»Okay, den Typen werden wir uns auf jeden Fall vornehmen. Schreib ihn gleich an, dass er drei Stunden Zeit hat, sich auf dem Polizeipräsidium zu melden und uns von seinem Morgen zu erzählen, ansonsten geht eine Suchanzeige raus. Ich weiß, können wir nicht machen, das weiß er ja aber nicht. Gib ihm die Nummer von Frau Weiß, ich gehe gleich zu ihr und erzähle ihr, dass demnächst wahrscheinlich ein Zeuge anruft und sie ihn an mich weiterleiten soll.«

Häberle hatte, während er sprach, selbst seinen Instagram-Account geöffnet – keine eigenen Beiträge, keinen Follower, selbst folgte er nur Spiegel Online und der Tagesschau – und suchte den Beitrag von Mark_Freibierburg. Als er auf den Hashtag »SeeparkFreiburg« klickte, sah er, dass der Beitrag bereits zweiundvierzig Mal geteilt worden war. Bei den ersten acht, die er anklickte, stand nur das typische »Rest in peace« darunter, aber als er den neunten öffnete, entfuhr ihm ein überraschter Schrei.

Julia Specht sah auf, sie schrieb Mark_Freibierburg gerade die Nachricht. »Was gibt’s? Etwas gefunden?«

»Das kannst du laut sagen.« Häberle schaute sie zufrieden an. »Wenn ich in Zukunft mal wieder über die sozialen Medien schimpfen sollte, erinnere mich bitte an diesen Moment. Hier, EvaausFreiburg hat den Beitrag geteilt und Folgendes daruntergeschrieben: ›Um Himmels willen, ich glaube, das ist unsere Nachbarin!!!‹«

»Ernsthaft? Wie cool ist das denn? Also ich meine, wie arschig ist das denn, aber zumindest hat sie nicht den Namen der Nachbarin daruntergeschrieben.«

Häberle musste grinsen. »Ich sehe schon, die private Julia Specht hat nur tiefe Verachtung für EvaausFreiburg übrig, Kommissarin Specht hingegen heißt die Informationen sehr willkommen.«

Sie grinste ebenfalls. »Genau. Ich schreib sie an, die soll mich direkt auf dem Handy anrufen …«

»Nix da«, grätschte Häberle dazwischen. »So weit kommt es noch, dass wir unsere Kontaktdaten einfach so in die Öffentlichkeit raushauen, wo ich mich doch sowieso schon dauernd darüber aufrege, dass es die Presse immer wieder irgendwie schafft, unsere Handynummern herauszufinden. Es wundert mich, dass die BZ, wie es sich gehört, bei Peter Hahn nach einer Bestätigung für den Mord gefragt und nicht mich direkt angerufen hat. Gleiches Spiel wie mit Mark_Freibierburg – schicke der Frau die Nummer von Frau Weiß im Sekretariat.« Er stand auf und ging zum Büro der Sekretärin am anderen Ende des Flurs.

Als er durch die Tür trat, schaute ihn die etwas rundliche, knapp über Sechzigjährige, die hier seit über dreißig Jahren den Laden am Laufen hielt, wie immer und jeden kurz mit ihrem »Wer sind Sie denn bitte schön?«-Blick an, um dann sofort ein Lächeln über ihr Gesicht gleiten zu lassen.

»Guten Morgen, Herr Häberle. Wie kann ich Ihnen helfen?« Sie strich sich die grauen Haare ihres Pagenschnitts aus dem Gesicht. Häberles Laune wurde gleich ein bisschen besser. Was ein paar nette Worte und ein freundliches Lächeln doch bewirken konnten.

Er hielt sehr viel von Frau Weiß, sie war eine unverzichtbare Mitarbeiterin des Morddezernats. Sie hatte ein fast schon unheimlich anmutendes Erinnerungsvermögen, wenn es um lang zurückliegende Fälle ging, und ihn mit ihrem phantastischen Gedächtnis schon öfter zum Staunen gebracht. Zudem war sie immer auf dem neuesten Stand, was aktuelle Vorkommnisse anging, sei es der neueste Klatsch über das britische Königshaus, Bürgerinitiativen gegen ein geplantes Freiburger Baugebiet oder Gerüchte über Streitereien oder Liebeleien in der Polizeidirektion Freiburg. Ihr blieb nichts verborgen. Woher sie das alles wusste, war und blieb ihr Geheimnis.

»Geht es um die Tote im Seepark?«, machte sie ihrem Ruf, immer Bescheid zu wissen, sofort alle Ehre.

Häberle sah, dass sie ihr Smartphone in den Händen hielt, daher erübrigte sich die Frage, woher sie bereits von dem Mord wusste.

»Genau. Wir hoffen, dass in den nächsten Minuten zwei Personen anrufen, die auf Instagram Informationen veröffentlicht haben, über die wir gerne mehr wüssten. Frau Specht hat die beiden angeschrieben und sie gebeten, sich unter Ihrer Nummer zu melden. Stellen Sie sie bitte an mich durch.« Er überlegte kurz. »Und können Sie mir einen Gefallen tun?«

Sie schaute ihn weiterhin freundlich an, was Häberle als ein Ja auffasste.

»Sie sind ja vermutlich auch auf Instagram unterwegs. Könnten Sie ein bisschen darauf achten, ob da noch mehr unter den Hashtags ›Freiburg‹, ›Seepark‹ und ›Mord‹ reinkommt? Es waren schon mehrere Leute vor Ort, bevor die Polizei absperren konnte. Kann gut sein, dass sich noch weitere auf Insta zu erkennen geben, die sich vielleicht verdrückt haben, bevor die Kollegen die Personalien aufnehmen konnten.«

»Ich bin Ihnen schon weit voraus, Herr Häberle«, sagte die Sekretärin lächelnd. »Ich folge seit eben auf Insta, X, Facebook und Mastodon den von Ihnen genannten Hashtags und außerdem noch ›Mörderischesfreiburg‹, ›Todinfreiburg‹ und ›Freiburgerverbrechen‹. Da ist auch schon einiges los, aber das muss ich erst mal sortieren, den Großteil machen natürlich die rechten Schwurbelköpfe aus, die sofort wieder ausländische Mitbürger verdächtigen. Ich melde mich, sobald ich etwas Brauchbares finde.«

Er wollte sich gerade bedanken, als das Telefon der Sekretärin klingelte. Sie nahm sofort ab.

»Sibylle Weiß, Sekretariat Morddezernat Freiburg.« Kurz hörte sie zu. »Ja, das ist richtig. Ihr Anruf wird schon erwartet.« Sie sah Häberle an und nickte ihm zu. »Dürfte ich nach Ihrem Namen fragen?« Sie schrieb ihn auf. »Alles klar, Frau Lehr, dann verbinde ich Sie jetzt mit Herrn Hauptkommissar Häberle.« Sie hielt die Sprachmuschel des Telefons zu und schaute ihn fragend an. »Infos zum Bürgerpark. Wollen Sie schnell in Ihr Büro sprinten oder hier den Anruf entgegennehmen?«

Häberle überlegte kurz. Es würde nichts zur Sprache kommen, was Frau Weiß – er hatte gar nicht gewusst, dass sie mit Vornamen Sibylle hieß – nicht wissen durfte, oder? »Können Sie mir einen Kugelschreiber und ein Blatt Papier geben? Dann rede ich hier mit Frau Lehr.«

Sie reichte ihm beides über ihren Schreibtisch und gab ihm den Hörer, nachdem er sich schnell einen Stuhl aus einer Ecke gezogen und sich hingesetzt hatte.

»Frau Lehr? Guten Morgen, Hauptkommissar Thomas Häberle am Apparat. Vielen Dank, dass Sie sich so schnell melden.«

»Ja, hallo, Eva Lehr hier, Sie haben mir an meinen Instagram-Account EvaausFreiburg geschrieben. Habe ich etwas falsch gemacht? Das hätte ich nicht unter das Foto schreiben dürfen, oder? Tut mir leid. Aber ich bin so erschrocken, als ich das Foto gesehen habe.« Die Stimme von Frau Lehr klang extrem aufgeregt.

»Keine Sorge, Frau Lehr, Sie haben nichts falsch gemacht«, versuchte Häberle sie zu beruhigen, während sie weiterredete und immer wieder versicherte, dass es ihr leidtue.

»Frau Lehr, noch mal, Sie haben nichts falsch gemacht. Hören Sie mir bitte kurz zu«, sagte er etwas lauter, und endlich war am anderen Ende der Leitung Ruhe.

»Wir haben Sie kontaktiert, weil wir die Identität der toten Person im Seepark noch nicht kennen und wir aufgrund Ihres Kommentars auf Instagram hoffen, dass Sie uns weiterhelfen können.«

»Oh. Okay«, kam es leise und verunsichert zurück. »Ja. Da kann ich helfen. Das ist Tessa Ptak. Sie wohnt in unserem Haus in der Wohnung im dritten Stock.«

Falscher Vorname, dachte Häberle. Wir suchen nach einer Teresa. Wobei – vielleicht war Tessa die Kurzform von Teresa? »Sind Sie sicher?«, fragte er nach und überlegte, wie sich schnell und unkompliziert herausfinden ließe, ob die Tote wirklich die Nachbarin von Frau Lehr war.

»Fragen Sie nach Haarfarbe und Frisur der Ermordeten«, flüsterte ihm in dem Moment Sibylle Weiß zu. Sie hob ihr Smartphone hoch und zeigte auf das Foto, unter das Frau Lehr ihren Kommentar geschrieben hatte. Richtig! Der Kopf war ja von dem furchtbaren Emoji verdeckt.

Er nickte der Sekretärin anerkennend zu und unterbrach dann wieder seine Gesprächspartnerin, die inzwischen schon mehrfach versichert hatte, dass sie sich vermutlich ganz sicher sei – was nicht sehr vertrauenserweckend klang.

»Frau Lehr, können Sie mir kurz sagen, welche Frisur und welche Haarfarbe Tessa hat?«

Kurz war es ruhig. »Ja. Natürlich. Also momentan hat sie, glaube ich, schwarze Haare. Das ändert sich aber manchmal. Eigentlich ist sie blond. Und sie hat Locken. Die Haare trägt sie ziemlich lang, also bis über die Schultern.«

Passt, dachte Häberle. »Okay, Frau Lehr. Sagen Sie mir bitte, wo Sie wohnen? Ich würde Sie gerne auf ein Foto des Opfers schauen und mir bestätigen lassen, dass es wirklich Ihre Nachbarin ist. Sind Sie zu Hause?«

»Ja. Ich bin zu Hause. Ich wohne in der Büggenreuterstraße 14.«

»Das ist im Stühlinger, richtig?«

»Ja, genau. Geht von der Breisacher Straße ab.«

Häberle nickte. Das passte zu der Annahme, dass die Ermordete in der Nähe des Seeparks gewohnt hatte.

»Alles klar, ich bin in spätestens fünfzehn Minuten mit meiner Kollegin bei Ihnen. Vielen Dank, Frau Lehr. Und bis gleich.«